Agnes Sapper

Frau Pauline Brater: Lebensbild einer deutschen Frau

Veröffentlicht im Good Press Verlag, 2020
goodpress@okpublishing.info
EAN 4064066118198

Inhaltsverzeichnis


Vorwort
Erster Teil Mädchenjahre
I. 1827–1835
II. 1835–1849
III. 1849–1850
Zweiter Teil Gattin und Mutter
IV. 1850–1851
V. 1851–1855
VI. 1855–1858
VII. 1858–1862
VIII. 1862–1863
IX. 1863–1866
X. 1866–1869
Dritter Teil Die Witwe
XI. 1869–1870
XII. 1870–1875
XIII. 1875–1883
XIV. 1883–1886
XV. 1886–1896
XVI. 1896–1907

Vorwort

Inhaltsverzeichnis

Wer ist Frau Brater, oder wer war sie?

Warum sollen wir uns für sie interessieren? Ist sie eine Künstlerin, eine Gelehrte, eine Wohltäterin für die Menschheit gewesen? Hat sie auf irgend einem Gebiet Hervorragendes geleistet und sich in der Welt einen Namen gemacht?

Diese so berechtigten Fragen haben mir viele Bedenken verursacht, denn sie müssen alle verneint werden. Frau Brater ist nie in die Öffentlichkeit getreten, sie war nichts weiter als eine deutsche Frau. Wer sie nicht persönlich kannte, weiß nichts von ihr. Aber das ist eben der Punkt: wer sie persönlich kannte, der hatte einen tiefen Eindruck von ihrer Eigenart, der empfing von ihr, was er gerade bedurfte; denn sie konnte vieles geben: Klarheit in schwierigen Lebensfragen, Erheiterung in bedrückter Stimmung, Aufrüttelung der Energielosigkeit, Wahrheit im Scheinwesen, Hinweisung zum Göttlichen.

Sollten von diesen vielseitigen Wirkungen nicht auch jetzt noch welche ausgehen, wenn wir im Geist mit dieser Frau verkehren? Gewiß, wenn es gelingen würde, ihr Leben und Wesen recht lebendig zu schildern, so müßten wir in dieser Darstellung etwas von dem Reiz empfinden, den ihr persönlicher Umgang gewährte.

Das ist der Gedanke, der mich trieb, ihr Lebensbild zu zeichnen. Und mit ihrem Bild zugleich wird ein anderes auftauchen, das Karl Braters, des edlen Vorkämpfers für die deutsche Einheit, von dem Professor Robert Piloty in einer eben erschienenen Schrift sagt: »Offenen und ehrlichen Kampf für Staat, Recht und Freiheit hat er zeitlebens geführt, sein Andenken wird stets verbunden sein mit den Erinnerungen an Bayerns schwerste Zeiten, in denen er mit energischem Willen und klarem Verstand auf der Seite der guten Sache beharrte und kämpfte.«

Wenn meine Feder nicht zu ungeschickt ist zu schildern, was mich selbst, während es an meinem Geist vorüberzog, tief bewegte, so könnte sich durch dieses Buch das Wort bewahrheiten, das nach Frau Braters Tod über sie gesprochen wurde: »An solchen geisteskräftigen Persönlichkeiten erhält das sittliche Streben neuen Schwung und Antrieb, sie wirken nach, auch wenn sie längst nicht mehr in unserer Mitte sind.«

Würzburg, im Sommer 1908.

Die Verfasserin.

Erster Teil
Mädchenjahre

Inhaltsverzeichnis

I.
1827–1835

Inhaltsverzeichnis

Ein Familienereignis ersten Ranges war es nicht, als am 27. August 1827 dem Professor der Mathematik in Erlangen Wilhelm Pfaff von seiner Ehefrau Luise, verwitwete Kraz, ein Töchterlein geboren wurde. Waren doch schon Kinder in stattlicher Zahl vorhanden! Gab es doch schon:

  • Aurora,
  • Heinrich,
  • Luise,
  • Siegfried,
  • Hans,
  • Colomann,
  • Friedrich;

vielleicht wären die Eltern auch mit diesen sieben zufrieden gewesen, die Leben und Bewegung genug in das Haus brachten, während nicht übergenug vorhanden war von dem, was zur Erhaltung solchen Lebens nötig ist. Da nun dies kleine Wesen von niemandem begehrt war, so mag es wohl von der ersten Stunde seines Erscheinens an die Richtung mit bekommen haben, die es Zeit seines Lebens einhielt: sich nicht für etwas Hervorragendes zu halten und es als ein unverdientes Glück zu empfinden, wenn ihm im Laufe des Lebens einmal mehr als das Nötige zuteil wurde.

Ob ersehnt oder nicht, das achte Kind lag in der Wiege und die Familie nahm freundlich Stellung zu ihm. Man mußte freilich eng zusammenrücken, damit der Platz reichte in der beschränkten Wohnung. Vielleicht war es eben in dieser Zeit, da der Vater, der nicht nur als Professor der Mathematik und Astronomie wirkte, sondern auch eifrig das Studium des Sanskrit betrieb, eine originelle Einrichtung traf, um trotz der lärmenden Kinderschar an seinem Schreibtisch ungestört arbeiten zu können. Ein eigenes Studierzimmer konnte er sich bei den beschränkten Geldverhältnissen nicht gönnen. So zog er denn in dem großen gemeinsamen Zimmer einen festen Kreidestrich um seinen Arbeitstisch und diese Ecke durfte keines der Kinder betreten. Mochten sie im übrigen Teil des Zimmers herumtoben wie sie wollten, das störte den Gelehrten nicht in seiner Arbeit und er ließ sie gutmütig gewähren. Betrat aber einer der Jungen unbedacht des Vaters Reservat, so war ein derber Schlag die sichere Folge dieses Übertritts in das verbotene Gebiet.

Als sein achtes Kind zur Welt kam, war Professor Pfaff mit dem Dichter und damaligen Professor Friedrich Rückert an einer gemeinsamen Arbeit, an der Übertragung der indischen Dichtung Nal und Damajanti ins Deutsche. Da nun Rückert ebenso sparsam wie Pfaff war – hatte sich doch einer der beiden Professoren von dem andern das Sanskritlexikon abgeschrieben, um es nicht kaufen zu müssen – so behalfen sich auch die beiden Gelehrten mit einem Exemplar dieser Dichtung und täglich wanderte das Buch über die Straße hinüber und herüber. Den Kindern der beiden Häuser, die die Boten machen mußten, waren Nal und Damajanti vertraute Namen, lange bevor sie dem deutschen Volk bekannt wurden. Weil nun Pfaffs Jüngste auf die Welt kam, während ihres Vaters Gedanken auf Damajanti gerichtet waren, so erhielt das Kind den Namen Damajanti, den der Pfarrer nicht ohne Bedenken in das Kirchenbuch eintrug, doch wurde ihr zum täglichen Gebrauch neben diesem poetischen noch der gut bürgerliche Name Pauline beigelegt.

Die sieben Geschwister, in deren Kreis die kleine Pauline eintrat, waren aus drei Ehen zusammengekommen, denn sowohl Pfaff als seine Frau Luise geb. Plank waren vor dieser Ehe schon verheiratet gewesen.

Sie beide stammten aus Württemberg, hatten sich dort schon als junge Leute gekannt und im stillen geliebt, aber es kam zwischen ihnen nicht zur Aussprache, denn der junge Mann strebte zunächst noch in die Ferne. Er folgte einem Ruf als Professor der Astronomie nach Rußland an die neu gegründete Universität Dorpat und wurde dort zum Direktor der Sternwarte und zum russischen Hofrat ernannt. In dieser neuen Heimat gründete er seinen Hausstand, indem er sich mit einer livländischen Adeligen, Fräulein von Patkul, verheiratete. Zwei Kinder entsprossen dieser Ehe, doch ist nur eines derselben, Aurora am Leben geblieben. Die Sehnsucht nach der alten Heimat trieb Pfaff, die glänzende Stellung aufzugeben und mit Frau und Kind nach Deutschland zurückzukehren, wo er auch Anstellung fand, aber bald seine Gattin durch den Tod verlor.

Inzwischen hatte auch seine Jugendliebe, Luise Plank, sich verheiratet und in glücklicher Ehe mit einem jungen Geistlichen, Kraz, in Württemberg gelebt. Aber auch diese Ehe wurde schon nach vier Jahren durch den Tod getrennt; der jungen Witwe blieben zwei Kinder, Heinrich und Luise. So fanden sich nach wohl zehnjähriger Trennung die Verwitweten wieder. Als eine gereifte dreißigjährige Frau trat sie ihm entgegen, gesund an Leib und Seele, voll warmen Gemüts. Die alte Liebe erwachte und führte diesmal zu glücklicher Verbindung. An Geld und Gut brachten die beiden nicht viel mit in die Ehe und es ist bezeichnend für ihre Lebensanschauung, daß Pfaff sich von seiner Luise erbat, sie möchte ihm statt eines Eherings ein hebräisches Lexikon geben. Die Vermählten zogen zunächst nach Würzburg, von wo Pfaff bald einem Ruf an die Universität Erlangen folgend dorthin übersiedelte. Durch diese Ehe kamen die Kinder der livländischen Adeligen und des schwäbischen Geistlichen als Geschwister zusammen.

Die beiden in die Ehe gebrachten Töchter Aurora Pfaff und Luise Kraz lebten in geschwisterlicher Liebe miteinander und waren schon erwachsene Mädchen, als nach vier Brüdern die kleine Pauline zur Welt kam. Die in jungen Jahren verstorbene Schwester Aurora wäre vielleicht längst in der Familie verschollen, wenn nicht ihr poetischer Name und ihr tragisches Geschick sie mit einem gewissen Nimbus umgeben hätten. Als Aurora zu einem schönen Mädchen erblüht war, bewarb sich um ihre Gunst ein junger Mann, der durch den Schein besonderer Frömmigkeit ihre Seele für sich gewann. Vater und Mutter mißtrauten seinem Wesen und waren gegen die Verbindung. Aber in sanfter, beharrlicher Weise hielt Aurora an dem Geliebten fest und beeinflußte endlich die Eltern, die keine Tatsachen gegen ihn vorbringen konnten, sondern bloß eine Antipathie empfanden, dem Wunsch der beiden nachzugeben. Einige Tage vor der Hochzeit als die Braut allein mit den Eltern und Geschwistern zusammen war, und der Vater in bewegter Stimmung, da er seine erstgeborene Tochter hergeben sollte, nahm er ein Spiel Karten, um daraus der jungen Braut ihr Schicksal vorauszusagen. Kunstgerecht, nach damaliger Sitte, schlug er die Karten und da fiel auf die ihrige der Pik Bube, die schwarze Unglückskarte. Lachend erklärte er das Spiel für mißlungen, mischte die Karten aufs neue, legte sie nach der Regel des Kartenschlägers und zum zweitenmale kam der Pik Bube auf die Karte der Braut. Diese erblaßte. Dem Vater war es leid. Er wollte den übeln Eindruck verwischen, nahm das Spiel, mischte und gab zum drittenmal und zum drittenmal erschien der Pik Bube. Da warf er heftig das Spiel aus der Hand und verließ das Zimmer.

Den Geschwistern ist der Eindruck dieser unheimlichen Szene durchs Leben geblieben. Aurora erkannte bald nach der Hochzeit den wahren Charakter ihres Mannes, den die Eltern richtig durchschaut hatten. Ihr früher Tod machte schon nach wenigen Jahren der traurigen Ehe ein Ende. Daß der naturwissenschaftlich gebildete, gelehrte Mann sich zum Kartenschlagen verstand, wundert uns heute, aber es lag in der damaligen Zeit, ebenso wie die Sitte, dem Neugeborenen das Horoskop zu stellen, wie es uns Goethe im Eingang von »Dichtung und Wahrheit« erzählt. Auch Pfaff hat um seines Töchterleins Schicksal die Sterne befragt, denn er gab sich ganz speziell mit Astrologie ab, wenn auch mehr vom Standpunkte des Völkerstudiums aus. Leider blieb uns nicht erhalten, was er damals aus den Sternen las. So müssen wir dir selbst das Horoskop stellen, kleine Pauline Damajanti, indem wir die Sterne betrachten, die in deinem Kreis leuchten und die Atmosphäre prüfen, in der du aufwachsen sollst. Dann ahnen wir, wie sich etwa dein Wesen gestalten wird, und wer kann leugnen, daß das Wesen eines Menschen vielfach sein Schicksal beeinflußt, ja oft bestimmt?

Das Oberhaupt der Familie stand im Geburtsjahre der kleinen Tochter mitten im besten Wirken und Schaffen. Ein Zeitgenosse hat ihn uns geschildert als einen Mann von herrlichen Anlagen, von edlen Gedanken und hohem Sinn, mit Begeisterung forschend nach den Geheimnissen der Natur und dem darin waltenden Gott; im Umgang mit der Familie und den Freunden liebevoll und anspruchslos, ein Humorist im besten Sinne des Wortes; im Streben nach dem Wesen oft den äußern Schein allzusehr verschmähend; in mildtätiger Liebe fast zu weit gehend, so daß er von bedürftigen Studierenden oft über Gebühr ausgenützt wurde.

Ähnlich lautet die Schilderung seiner Gattin: Eine originelle, heitere Schwäbin mit köstlichem Humor, voll Herzensgüte und aufopfernder Liebe, von größter persönlicher Anspruchslosigkeit und unermüdlichem Fleiß, auch sie das Äußere geringachtend, Ordnung und Schönheit hintansetzend. Beide beliebt in hohem Maße, denn die Bedenken pedantischer Leute über die originelle Haushaltung und äußere Erscheinung konnten nicht aufkommen gegen das herzgewinnende, erfrischende und dabei so bescheidene Wesen dieses glücklichen und Glück verbreitenden Paares. Man sah es der Frau Hofrätin gerne nach, wenn es ihr einmal vorkam, daß sie in einer Kaffeegesellschaft anstatt des Taschentuchs einen Hemdärmel ihrer Buben aus der Tasche zog, der wohl in den Flickkorb gehörte; man gewöhnte sich daran, daß bei ihren Kleidern nicht jeder Knopf pedantisch in das für ihn bestimmte Knopfloch kam. Wer achtete darauf, während sie so heiter und gemütvoll zu plaudern wußte, wer verstand nicht, daß sie in unermüdlichem Schaffen und Sorgen für ihre große Familie an die äußere Erscheinung wenig denken konnte? Überdies wurde sie auch außerhalb der eigenen Familie vielfach in Anspruch genommen. Sie hatte sich als Tochter eines Arztes manche medizinische Kenntnis erworben, zu der noch ihre reiche Erfahrung als Mutter und eine entschiedene natürliche Begabung kam. Dadurch wurde es in weiten Bekanntenkreisen bei arm und reich der Brauch, zunächst nach Frau Pfaff zu schicken, wenn ein Kind nicht gedeihen wollte oder erkrankte. Sie wußte oft guten Rat und in ihrer großen Herzensgüte fand sie es nur natürlich, wenn sie von allen Seiten in Anspruch genommen wurde.

So waren die Eltern. Darf man dem Kind dieser harmonischen Ehe nicht gute Geistesgaben, edlen Sinn und fröhlichen Humor voraussagen? Und müssen wir nicht andererseits Bedenken haben, ob ihr auch der Blick für die äußere Erscheinung, Ordnungs- und Schönheitssinn nicht ganz abgehen wird? Wir werden ja sehen. Unendlich mannigfaltig sind die Einflüsse, die dem in der Entwicklung stehenden Menschenkinde zuströmen, bald hemmend bald fördernd, was ihm von der Natur eigen ist.

Nächst den Eltern kamen die sieben Geschwister in Betracht, zu denen sich später noch eine kleine Schwester Sophie gesellte, die aber früh verstarb. Am nächsten im Alter standen Pauline ihre vier Brüder, »Friedel, Hans, Co und Fritz«, ihre täglichen Spielkameraden, die Genossen ihrer Jugend, vier prächtige Jungen voll Geist und Leben, treuherzig und wahrhaftig. Trotzdem waren diese vier »Pfaffsbuben« bekannt in Erlangen um ihrer vielen Streiche willen, und Pauline tat mit, wo sie nur konnte. Der Vater, in seine gelehrten Arbeiten vertieft, ließ sie gewähren, wenn sie es nicht gar zu toll trieben, und auch die Mutter sah der Jugend ihren Übermut nach. Sie nahm es z. B. nicht schwer, als sie einmal von der Kirche heimkommend von sechs Stühlen fünf mit etwas abgesägten Beinen vorfand, schön regelmäßig abgestuft, einer immer etwas kürzer als der andere, damit die ungleich großen Kinder am Tisch sitzend alle gleich groß erschienen. Dieses merkwürdige Mobiliar fand sich noch lange in der Familie. Ehrfurcht vor dem Heiligen aber wurde gefordert. Als einstmals einer der Jungen den Bibelspruch lernte: »Aus Adern und Knochen hast du den Menschen gebildet« und darüber bemerkte, das müßte ein sonderbarer Mensch sein, gab die Mutter dem kleinen Spötter mit dem Kochlöffel einen solchen Treff, daß ihm und den anderen klar wurde: Die göttlichen Dinge dürften nicht herabgezogen werden.

Denken wir uns zu solchen vier Brüdern eine kleine Schwester, so dürfen wir ihr prophezeien, daß sie fröhlich und unternehmend, nicht zimpferlich und pedantisch werden wird, freilich müssen wir auch fürchten, daß diese Fröhlichkeit manchmal in bubenhafte Wildheit ausarten und die Unternehmungslust sie auf allerlei Einfälle bringen wird, die einem artigen Professorentöchterchen nicht wohl anstehen. So lesen wir auch in dem Brief einer Tante, die zu Besuch kam, folgendes Urteil über die damals vierjährige Pauline: »Sie ist so wild und unbändig als die Knaben, was ihr als Mädchen viel übler ansteht, recht gutmütig ist sie wohl, auch recht hübsch, allein ein wahrer Husar.«

Aber als Gegengewicht standen obenan zwei erwachsene Schwestern, solche sind immer die geborenen Erzieherinnen für das jüngste Kind, und bald wird sich noch ein anderer Einfluß bemerkbar machen: eine gesittete Freundin tritt auf. Ehe wir aber diese schildern, müssen wir auch die Stadt besehen, den Heimatboden aus dem das Pflänzchen hervorwächst.

Die bayerische Universitätsstadt Erlangen liegt in Mittelfranken, demjenigen Kreise des Königreichs, in dem die protestantische Bevölkerung vorherrscht. So ist auch auf dieser Universität die theologische Fakultät von jeher bedeutend gewesen. Die kleine bescheidene Stadt läßt Muße zu fleißigen Studien. Daneben entwickelt sich dort auch ein fröhliches Burschenleben sowie ein traulicher Verkehr zwischen den Professorenfamilien. Viele bedeutende Namen klingen zu uns aus dieser Stadt. Von den Zeitgenossen Pfaffs, die dort gelebt und mit denen er in Berührung war, wollen wir nur einige nennen: Schelling, Rückert, Platen, Raumer – Namen, die keinem gebildeten Deutschen fremd klingen.

Führt uns heute unser Weg nach Erlangen und sind wir begierig, den Ort zu sehen, in dem so viele geistig bedeutende Menschen sich entwickelten oder anderen zur Entwicklung halfen, so wundern wir uns über die stille Stadt mit den auffallend kleinen Häusern; nur wenig von modernem Leben und Treiben tritt uns da entgegen, Ruhe herrscht in den weiten Straßen und auf den großen Plätzen. Manche der Einwohnerzahl nach kleinere Städte machen durch höhere Häuser, engere Straßen und allerlei laute Gewerbe einen belebteren Eindruck als Erlangen, gar nicht zu reden von manch andern Universitätsstädten, in denen Fremdenverkehr mit Hotelomnibus, Automobilen und eleganten Gefährten der Stadt ein vornehmes Gepräge verleihen. Davon ist in Erlangen nichts zu sehen. Zwar würden die Großeltern der jetzigen jungen Generation staunen über die Reinlichkeit der kanalisierten Straßen, in denen zu ihrer Zeit trübe Lachen vor den Häusern standen, staunen über die nächtliche Beleuchtung, die ihre kleinen Handlaternen in die Rumpelkammern verwiesen hat; manches Häuserviertel wäre ihnen vollständig unbekannt, die neuen Universitätsgebäude, die sorgfältig gepflegten Anlagen und schönen Brunnen würden ihre Bewunderung erregen. Aber dennoch, im Vergleiche mit andern war und ist Erlangen eine einfache Stadt, sie gab und gibt noch den Beweis, daß der menschliche Geist, der in einer so kleinen Schale eingeschlossen ist, auch keine große, stattliche Behausung braucht.

Manche mögen ungünstig über die kleine Universitätsstadt urteilen und sie langweilig nennen, aber es wird immer auch solche geben, denen sie lieb ist und sinnbildlich erscheint für einen in sich gekehrten deutschen Gelehrten.

In der Atmosphäre dieser kleinen Stadt ist Pauline aufgewachsen und unser Horoskop verspricht ein mehr dem Schlichten als dem Vornehmen zugewandtes Wesen ohne Streberei, mit Sinn für fröhliches Behagen und mit der Anschauung, daß nicht Geld, sondern Geist die Welt regiert.

In der Spitalstraße stand das Haus, dessen unteren Stock die Familie Pfaff bewohnte. Es war eine kalte Parterrewohnung und so ist auch die Erinnerung an die erlittene Kälte eine der frühesten, die Pauline aus ihrer Kindheit behielt. Sie stand in dem besonders kalten Winter von 1830 auf 31 erst in ihrem vierten Lebensjahre, doch hat sie einen unauslöschlichen Eindruck davon behalten, der wohl begreiflich ist, wenn man liest, was ihre Mutter damals an die Tochter Luise Kraz schrieb, die bei dem verheirateten Bruder Heinrich über Weihnachten zu Gast war. Es heißt in diesem Brief: »Ich lege dir ein Paar warme Schuhe bei, denn bei der heftigen Kälte wirst du sie wohl brauchen können. Bei uns ist es fürchterlich kalt, zwei Tage brachten wir keine Fenster auf und da die Läden zu waren, so mußten wir in völliger Dunkelheit leben; nun hat Siegfried mit Kohlen aufgetaut und so haben wir doch wieder Licht. Meine Pauline leidet sehr, weil sie sich Hand und Füße erfroren hat.«

Bis ins Frühjahr hinein dauerte die grausame Kälte, die bis zu 30° stieg, so daß das Quecksilber einfror, und es ist wohl zu begreifen, daß in der Seele des Kindes dieser Eindruck haften blieb, trat ihr doch hier zum erstenmal ein großes Leiden entgegen, an dem sie selbst ihr kleines Teil mittragen mußte und das Menschen und Tiere zugleich betraf; nie vergaß sie den Anblick erfrorener Tauben, die man morgens auf der Straße liegen sah. Es folgten damals noch viele kalte Winter, doppelt empfindlich in den schlecht verwahrten Wohnungen. Treppentüren gab es noch nicht, so oft die Haustüre aufging, drang der eisige Luftstrom bis an die Zimmer; Winterfenster waren unbekannt, die Küchen hatten noch offene Kamine, durch die der Schnee in die Feuerstätte hereingeweht wurde. Eine Eigenart der Erlanger Häuser waren lange unverglaste Gänge auf der Rückseite, durch die die Kälte überall Einlaß fand. Die Türschlösser, die nach außen gingen, konnte man während der grimmigsten Kälte nicht mit der bloßen Hand berühren, weil die Haut daran kleben blieb.

Darum schütteln die alten Leute aus jener Zeit die Köpfe, wenn wir in unseren wohlverwahrten Wohnungen über Kälte klagen wollen. »Ihr wißt gar nicht, was Kälte heißt« sagen uns die Erlanger der alten Zeit.

Die Parterrewohnungen waren sehr niedrig, man konnte sie von der Straße aus ganz überblicken. Die Pfaffsjugend wußte daraus Vorteil zu ziehen. In der besseren Jahreszeit, wo die Fenster immer offen standen, brauchte man nicht erst an der Haustüre zu klingeln und auf Einlaß zu warten, man nahm den kürzeren Weg durchs Fenster. Gegen solch zweckmäßige Einrichtungen hatten die Eltern gewöhnlich nichts einzuwenden, nur geschah es dann auch in Fällen, wo es ihnen nicht passend erschien. So erzählte Frau Pfaff in späteren Jahren, wie einmal ein würdiger alter Herr von auswärts gekommen sei, um den Herrn Hofrat zu sprechen, und bei ihr sitzend auf dessen Heimkehr wartete, als plötzlich ein paar der Buben nacheinander und zuletzt auch Pauline zum Fenster hereinsprangen, worüber, da es nicht ohne Gepolter abging, der Fremde jedesmal zusammenschrak und sich wohl im stillen über die Sitte wunderte, die im Hause des Hofrates herrschte. Aber es wird ihm ergangen sein wie so vielen, daß ihm im Gespräch mit der frischen, herzgewinnenden Frau diese Dinge als nebensächlich, ja als Ausfluß ihres unbefangenen Wesens ganz natürlich erschienen.

Fragten so Vater und Mutter nicht viel nach der sonst üblichen Form und Sitte, so war doch ein Element in dem Haus, das manchmal danach sah, was denn in anderen Professorenfamilien Brauch sei und diese Sitten auch einführen wollte, und das war Anne, der dienstbare Geist des Hauses. Diese treue Person liebte vor allem die kleine Pauline und hätte sie gerne feiner gekleidet gesehen. Besonders eines war es, das sie immer wieder beantragte, das Kind sollte auch, wie andere seines Standes, Ohrringe bekommen. Sie wandte sich an die Mutter, ja an den Herrn Hofrat selbst, aber ihre Bitte fand kein Gehör, denn für solchen Luxus war man nicht zu haben. Anne aber konnte die schmucklosen Ohren ihres Lieblings nimmer ertragen. Sie wartete, bis sie wieder ihren Lohn erhalten hatte, nahm dann heimlich das Kind mit sich, kaufte ihm nach ihrem Geschmack goldene Ohrringe, stach sie ihm selbst kunstgerecht und führte stolz die so geschmückte Kleine den Eltern vor, indem sie sagte, die Pauline sei so gut ein Professorenkind wie andere auch, darum müsse sie auch wie diese Ohrringe tragen. Und die Eltern, obgleich sie solchen Schmuck nicht leiden konnten, waren doch viel zu gutmütig, um dem Mädchen, das sein Geld daran gewendet hatte, die Freude zu verderben, und Pauline trug Ohrringe wenigstens so lange Anne im Hause blieb.

Der Einfluß dieser treuen Dienerin war kein geringer auf Pauline, die später oft scherzhaft von Anne als ihrer Erzieherin sprach. Für eine solche wäre nur etwas weniger Aberglauben zu wünschen gewesen. Der naive Standpunkt, auf dem in dieser Hinsicht die wackere Person stand, geht aus folgendem Zuge hervor: Am Himmelfahrtsfest hatte sie an eine Schürze ein neues Band angenäht, war sich dabei aber einer Feiertagsentheiligung bewußt. Als nun am Nachmittag ein schweres Gewitter heraufzog, fühlte sie sich durch diese Sünde um so mehr beunruhigt, je heftiger es blitzte und donnerte. In ihrer Seelenangst eilte sie endlich hinauf in den obersten Bodenraum, hing die Schürze mit dem sündhaften Band zur Dachlucke hinaus und rief: »So Blitz, jetzt schlag in den Bändel!«

Solche Eindrücke blieben der kleinen Pauline ebenso wie die unheimlichen Gespenstergeschichten, die Anne erzählte und von deren Wahrheit sie ganz überzeugt war. Dadurch wurde in der Kinderseele eine Furcht erweckt, die sich in einsamen und in nächtlichen Stunden oft zur Qual steigerte. War Pauline zufällig abends allein zu Hause, so kam mit der Dunkelheit die Furcht über sie, aber nur die Gespensterfurcht war es, eine andere kannte sie nicht. Deshalb verfiel sie auch auf eine eigentümliche Schutzmaßregel. Sobald es dunkelte, öffnete sie weit alle Türen und Fenster der Parterrewohnung, um Gelegenheit zur Flucht zu haben. Dann blickte sie wachsam nach allen Seiten, um nach der einen zu entfliehen, sobald von der andern das Gespenst auftauchen würde. Sie war überzeugt, daß kein Besuch aus der vierten Dimension es hinsichtlich der Schnelligkeit der Beine mit ihr aufnehmen könne.

Oft erwachte sie nachts und horchte mit Bangen und Herzklopfen nach irgend einem unerklärlichen Geräusch. Es gab deren so viele in dem alten Haus, und besonders in der Dachkammer, die zeitweise ihre Schlafstätte war. Oft wehte der Schnee oder drang der Regen durch die Schindeln des Daches und das Bett mußte hin- und hergeschoben werden, bis sich eine trockene Stelle fand. Sie erinnerte sich noch in ihrem Alter einer Schreckensnacht, in der sie an einem Geräusch erwachte und deutlich spürte, daß etwas auf ihrer Decke sich auf sie zu bewegte. Ihre erregte Phantasie hatte im Nu ein Gespenst daraus gemacht. Sie wagte sich nicht zu rühren und nicht zu schreien und empfand buchstäblich, was wir meist nur bildlich so ausdrücken, daß ihre Haare sich vor Entsetzen sträubten, bis sie erkannte, daß es nur eine Katze war, die den Weg in die Kammer gefunden hatte. Pauline hat die Gespensterfurcht als das schrecklichste Leiden ihrer Kinderzeit im Gedächtnis behalten.

Hat die treue Anne in diesem Punkt Unheil angerichtet, so tat sie doch sonst den Kindern nur Gutes und nahm an Freud und Leid der Familie Anteil, wie wenn sie ein Glied derselben gewesen wäre, ja sogar das auf Reichtum und Ehre am meisten bedachte Glied. Einmal hatte es auch den Anschein, als sollte ihr Ehrgeiz befriedigt werden und Reichtum in die Familie Pfaff einkehren. Die französische Akademie hatte einen Ehrenpreis ausgesetzt für die Lösung einer ungemein schwierigen astronomischen Berechnung. Pfaff, der sich für die gestellte Aufgabe interessierte, machte sich an die mühsame Arbeit. Vierzehn Bogen Papier – so sagt wenigstens die Familientradition – mußte seine Frau aneinanderkleben, damit die Berechnung darauf Platz fand. Die Lösung gelang, wurde eingesandt und von der Akademie als preiswürdig erkannt. Jeden Tag konnte der ausgesetzte Preis eintreffen. Statt seiner kam in den Zeitungen die Nachricht von dem neuen régime in Frankreich, welches das alte gestürzt hatte, und in den Wirren der Julirevolution blieb der erwartete Goldregen aus. Die Enttäuschung wäre wohl noch bitterer gewesen, wenn sie auf einmal gekommen wäre, aber man konnte ja noch immer hoffen auf günstigen Umschlag, auf Rückkehr der alten Zeiten, und über diesen Hoffnungen vergingen sachte die Jahre und die vierzehn Bögen gerieten allmählich in Vergessenheit.

Es kamen andere Sorgen, die der Familie näher gingen. Da war zuerst der schon früher erwähnte Tod der Tochter Aurora, dann starb das nach Pauline geborene Töchterchen, Sophie, etwa sechsjährig, an Croup. Bis in ihr Alter erinnerte sich Pauline dieser lieblichen kleinen Schwester und des Augenblicks, da diese in ihrer Todesnot nach Atem ringend ihr Bettkittelchen von unten bis oben zerriß, um Luft zu bekommen. Noch trauernd um diesen Verlust sah die Mutter einen noch herberen nahen, fühlte sie die Grundfeste des Hauses wanken. Ihr bis dahin so gesunder Mann erlitt im Jahre 1834 einen Schlaganfall, dem später noch weitere folgten. Für ihn und die Seinen entstand daraus eine schwere Leidenszeit. In verschiedenen Briefen an ihre treue Schwester Adelheid, die mit Rektor Roth in Nürnberg verheiratet war und an die Verwandten in Württemberg spricht sich der tiefe Kummer über die Krankheit, die bange Sorge vor der Zukunft aus. Sie schreibt: »Ihr glaubt nicht, in welcher Spannung und Angst ich lebe, ich bin nur froh, wenn ein Tag wieder herum ist. Oft denke ich: nur auch einmal möchte ich mich wieder niederlegen, ohne daß die schweren Sorgen mich drücken, die werden mich aber wohl nicht mehr verlassen, besser kommt es wohl nimmer, aber schlimmer kann es ja noch werden.« Es gibt wohl kaum eine größere Qual als die, welche sie nun durchmachen mußte; zusehen, wie nicht nur die körperlichen, sondern auch die geistigen Kräfte des geliebten Mannes infolge jedes neuen Anfalls immer mehr abnahmen. Dazu kam, daß er selbst sich zeitweise dieses Zustands bewußt und dann im höchsten Grade erregt war.

Den Kindern blieb ein Auftritt in Erinnerung, unter dem sie ihre Mutter erzittern sahen. Sie saß am Bette des Mannes, der sie immer um sich haben wollte, und mit dem zu sprechen doch so qualvoll war, weil ihm oft die Worte nicht zu Gebote standen und er dadurch in wachsende Erregung geriet. So suchte er diesmal nach einem Namen, konnte ihn nicht finden und fragte seine Frau: »Wie heißt der Student, der so oft zu uns kommt?« Sie nannte einen Namen und wieder einen, jeder falsche Vorschlag regte ihn mehr auf und sie besann sich in wachsender Angst auf die zahllosen Studenten, die jemals aus- und eingegangen waren, bis er endlich in Wut ausbrechend ihr zurief: »Du Rabenmutter, es ist ja Dein eigener Sohn!« Der Sohn Heinrich war es, dessen Namen er gesucht hatte. Auf solche Stunden der Erregung folgten auch wieder ruhigere, in denen sein früheres liebevolles, anspruchloses Wesen zum Ausdruck kam, denn auch bei geistig Erkrankten tritt ihr eigentliches Naturell zeitweise zutage. Der selbstlose Mensch wird immer zu unterscheiden sein von dem Egoisten, der feinfühlende von dem gemeinen, und es hat etwas unendlich Rührendes, wenn solch edle Eigenschaften durchleuchten zwischen den durch die Krankheit verdunkelten Stunden.

So blieb auch diesem Kranken die Liebe und Verehrung der Seinen treu bis zu dem Augenblick, wo ihn der Tod erlöste, im Sommer 1835.

Wie es der Witwe zumute war, als sie allein stand mit ihrer Kinderschar, spricht sie aus gegen den ältesten Sohn Heinrich, der damals schon eine Anstellung hatte an dem theologischen Seminar im Kloster Schönthal in Württemberg.

Lieber Heinrich!

Schwere kummervolle Tage habe ich zurückgelegt seit Du von uns gingst und noch immer kann ich mich an den Gedanken nicht gewöhnen, daß Ihr für dieses Leben keinen Vater mehr habt und daß auch mir die Seele von meinem Leben fehlt. Die erste Zeit wurde mir dadurch leichter, weil der Gedanke, daß er nun Ruhe habe, mir so tröstlich war. Allein jetzt, seit die Erinnerung an seine Leiden schwächer wird und sein Bild wieder in meiner Seele lebendig wird, wie er früher war, mit welcher Liebe er an uns hing und mit welcher Treue er alle seine Pflichten erfüllte und wie sein Geist und Beispiel noch so wohltätig für seine Kinder gewesen wäre, da möchte ich wohl fragen: warum Du lieber Gott hast Du uns das wohl getan? und schwer wird es mir, mich mit Ergebung in Gottes Willen zu fügen. Ich habe mit der schmerzlichsten Sehnsucht gehofft, er werde vor seinem Ende noch so viel Bewußtsein bekommen, daß er seinen Kindern auch noch einen Segen, mir nur auch ein Trosteswort zurücklassen könne, denn schon bei einer kurzen Trennung tut es wohl, wenn man Abschied nehmen kann und ich mußte bei dieser schmerzlichen und vielleicht langen Trennung auch diesen Trost noch entbehren ....

II.
1835–1849

Inhaltsverzeichnis

Unsere kleine Pauline war inzwischen ein Schulmädchen geworden, ein begabtes, wenn auch nicht eben ein fleißiges. Sie konnte, wenn es darauf ankam, schon ganz ordentliche Briefe schreiben. Es ist uns solch ein Kinderbrief erhalten, den sie anläßlich der Verlobung ihres Bruders Kraz mit Luise Elsäßer an diese schrieb. Sie redet die neue Schwägerin gleich als Schwester an.

Liebe Schwester!

Es freut mich, daß Du einen Bräutigam hast und daß es mein Bruder ist. Heiratet Euch nur bald, ich freue mich recht bis die Hochzeit ist, denn ich komme auch dazu. Weil Du gesagt hast, ich soll Dir schreiben, so will ich es tun. Ich kenne Dich zwar noch nicht, aber ich kann mir schon denken, wie Du bist, wenn Du für den Heinrich recht bist. Schreibe mir in dem Brief, wo Du mir antwortest, wie Du bist, denn viel weiß ich noch nicht. Komme auch bald zu uns, es gefällt Dir gewiß, denn dem Herrn Vischer hat es auch gefallen, der doch schon weit in der Welt herum gekommen ist. Wir haben uns sehr geehrt gefühlt, daß Du uns geschrieben hast. Hast Du denn auch noch Geschwister? die dann meine Schwestern und Brüder sind. Ich kann nichts weiter schreiben, denn ich weiß nichts mehr. Wir grüßen Dich alle, besonders ich. Lebe wohl und habe lieb Deine

Antworte mir.

Pauline Pfaff.

Wenn auch Pauline im Lesen und Schreiben mit mancher fleißigeren Schülerin Schritt hielt, so hatte sie doch keinen rechten Ernst in den Schulstunden und wenig Eifer zum Lernen ihrer Aufgaben, aber unbewußt lernte sie mit den geistig regsamen Brüdern, die des Vaters naturwissenschaftliche Interessen und auch einige Kenntnisse in diesem Fach überkommen hatten; sie wußten mit den vorhandenen Mitteln, Elektrisiermaschine, Teleskop, Sternkarten u. dergl. umzugehen und Pauline nahm an diesem Treiben teil mit angeborenem Interesse und Verständnis. Jeder Lehrer hätte an dieser aufgeweckten Schülerin seine Freude haben können, wenn diese sich nur dazu verstanden hätte, den Unterricht, der ihr mit einer Anzahl anderer Mädchen privatim erteilt wurde, regelmäßig zu besuchen. Das hielt sie aber nicht für nötig und das Schwänzen der Schulstunden beschwerte durchaus nicht ihr Gewissen, das zurzeit auf solche kleine Vergehen noch nicht reagierte. Die Schulaufgaben wurden möglichst rasch erledigt, denn am Abend tummelte sie sich lieber auf dem nahen Kirchenplatz und trieb dort allerlei Schabernack. So flößte sie gern den Menschen Schrecken ein, indem sie in der Dunkelheit ein weiß behangenes Bügelbrett feierlich um die Kirche trug, was bei dem Gespensterglauben jener Zeit seine Wirkung nicht verfehlte.

Doch nun trat in ihren Lebensweg eine Freundin, die großen Einfluß auf sie gewinnen sollte, ein gesittetes, gewissenhaftes und wohlerzogenes Mädchen. Es war die Tochter einer als Witwe nach Erlangen gezogenen Oberappellationsgerichtsrätin, die in der Nähe Wohnung nahm. Dem Namen dieser Familie werden wir in diesem Buche noch oft begegnen – er heißt Brater.

Ob wohl eine Ahnung der guten Frau Pfaff sagte, von welcher Bedeutung es einst für sie sein würde, daß vor dem Haus ihr gegenüber ein bepackter Wagen aus München ankam, der den Hausrat der verwitweten Frau Brater brachte, und als diese selbst, eine feine, ernste Frau in Trauerkleidern, mit ihren drei Töchtern Einzug hielt in der bescheidenen Wohnung? Ihr einziger Sohn, Karl, studierte in München, von ihm war zunächst nichts zu sehen, aber die Töchter, Julie, Luise und Emilie, wurden freundlich in Erlangen empfangen durch ihre Verwandten, denn Frau Brater war ihrer ebenfalls verwitweten Schwester, Frau Schunck, nachgezogen und durch diese Pfaffs wohlbekannte Familie entstanden bald Beziehungen zu den Neuangekommenen.

Luise und Pauline wurden Schulkamerädinnen und ihre ungleichartigen Naturen zogen sich an. Die kleine Fremde war bald ganz eingenommen für die fröhliche Kamerädin, die vielerlei anzustellen wußte, allezeit lustig und guter Dinge war. Aber sie merkte auch, daß Pauline manches tat, was ihr unerlaubt schien, und während die Frische und Ungebundenheit der neuen Freundin sie anzog, machte das wohlerzogene Kind sich doch über dieses und jenes Gedanken, erzählte wohl auch der Mutter davon und diese richtete nun ihr Streben darauf, die wilde kleine Hummel, die auch ihr trotz mancher Unart gar wohl gefiel, in ihr Haus herein zu locken, damit die beiden Freundinnen unter ihrer Aufsicht miteinander verkehrten. Pauline hat nie die Eindrücke vergessen, die sie hier empfing. Es gingen ihr die Augen darüber auf, wie es in einem wohlgeordneten Haushalt eigentlich aussehen sollte. Mit Staunen bemerkte sie, daß hier jedes Ding seinen festen Platz hatte, daß täglich aufgeräumt und abgestaubt wurde und daß die bescheidenen Räume dadurch ein feines, wohnliches Aussehen erhielten. Der kleinen energischen Person war nicht sobald das Licht für Ordnung und Schönheit aufgegangen, als sie auch schon strebte, solche daheim einzuführen. Es wollte ihr nimmer gefallen, wenn das Frühstücksgeschirr bis zum Mittagessen auf dem Tische stand und jeder der vielen Hausgenossen allerlei dazwischen schob, sie wollte nun auch aufräumen und abstauben. Anfangs waren ihre Ordnungsversuche etwas roher Art: sie hob die Schürze auf, schob alles was da umherlag hinein und trug es in das nebenan liegende Schlafzimmer, denn ihr neuerwachter Ordnungssinn beschränkte sich zunächst auf das große Wohnzimmer. Aber je mehr sie heranwuchs, um so ausgeprägter wurde dieser Sinn und erstreckte sich auch auf andere Gebiete. Der eine und andere der Brüder fing an, auf ihre Bestrebungen einzugehen, besonders der älteste der vier Pfaffssöhne, Siegfried, der auch von Natur zur Ordnung geneigt war, sowie der jüngste, Fritz, unterstützten sie. Die andern Geschwister fanden wenigstens an der Schwester diese Anlage angenehm und wandten sich an sie, wenn die Mutter nicht Zeit fand, für Kleidung und Wäsche zu sorgen. Einer von ihnen, Colomann, gewöhnlich nur Co genannt, kam übrigens noch im Knabenalter nach Württemberg, um dort das theologische Seminar zu besuchen, in dessen strenge Zucht sich freilich ein so ganz in Freiheit aufgewachsener junger Bursche schwer einleben konnte. Ungemein frisch und fröhlich, voll übersprudelnden Humors und Lebenslust war er bei jedermann, nur bei den Lehrern nicht beliebt, die ihre schwere Not mit ihm hatten. Die Schwierigkeiten, die er in den Schuljahren und noch späterhin machte, verursachten seiner Mutter viel Kummer und es wäre ihr zu gönnen gewesen, hätte sie voraus gewußt, was wir wissen, daß auch er es schließlich zum wohlangesehenen Professor der Mathematik in Stuttgart brachte.

Bei aller Einfachheit und Sparsamkeit entwickelte sich doch, als die jungen Pfaffs heranwuchsen und fröhliche Studenten, meist Bubenreuther wurden, ein überaus beglückendes geselliges Leben im Haus, an dem die Mutter, trotz aller Arbeit und Sorge, die auf ihr lag, selbst ihre Freude hatte. Die älteste Tochter Luise, ein geistig bedeutendes Mädchen, und ihre Freundin, Hannchen Richter, sowie die Brüder mit ihren Freunden, vereinigten sich oft im Haus Pfaff zu Spielen und Darstellungen oder zu gemeinschaftlichen Ausflügen. Zu diesem Kreise gehörte nun auch Karl Brater, der sich mit Siegfried und Hans Pfaff eng befreundet hatte. Ganz anders geartet als diese, ernst, zurückhaltend, schon in den Studienjahren ein vielversprechender Jurist, von Haus aus an gesetzte Manieren gewohnt, unterschied er sich von der übermütig fröhlichen, unbefangenen und lauten Art seiner Freunde, fühlte sich aber angezogen von dem frischen, treuherzigen Ton des Hauses und nahm mit Begeisterung teil an den Aufführungen klassischer Werke, zu denen Frau Pfaff, bereitwilliger als wohl andere Hausfrauen, ihr Zimmer zur Verfügung stellte. Neben der erwachsenen Schwester und deren Freundinnen, der schönen Julie Nees v. Esenbeck, der geistig bedeutenden Julie Brater und dem originellen Hannchen Richter, die von den jungen Männern gefeiert wurden, kam die erst halb erwachsene Pauline und ihre Freundin Luise noch nicht zur Geltung und Beachtung, aber doch behielt Pauline eine beglückende Erinnerung an diese Geselligkeit und freute sich im späteren Leben, wenn sie Familien traf, die ebenso harmlos und ungezwungen ihr Haus für Freunde und Freundinnen öffneten. Was braucht die Jugend mehr als eben ihresgleichen, um vergnügt zu sein? Es ist ein Irrtum, zu meinen, daß es ohne Aufwand an Essen und Trinken, an Toilette und Bedienung keine Freude gäbe. Im Haus Pfaff war umständliches Vorbereiten und Einladen nicht Sitte, man kam meist nach dem Abendessen zusammen, die jungen Mädchen mit Laternen in der Hand, wie es für schicklich galt in den schlecht beleuchteten Straßen und eingehüllt in lange Kragen, die man »Tugendhüllen« nannte. Auf Tafelgenüsse wurde nicht gerechnet, denn während ihre Söhne studierten, wußte Frau Pfaff oft nicht, woher Geld zum Nötigsten nehmen, und ihre Kinder erinnerten sich später, wie sie gar manchmal an das Geldschublädchen gingen, das vertrauensvoll für alle zugänglich war, wie sie zu diesem oder jenem Einkaufe Geld herausnehmen wollten, aber nachdem sie den Inhalt visitiert hatten, gern auf alles verzichteten und die kleine Lade wieder zuschoben, weil sie allzu dünn belegt war mit dem, was doch für den ganzen Monat ausreichen mußte.

Lange Zeit besaßen die drei jüngsten Söhne nur einen gemeinsamen Sonntagsanzug. Derjenige, welcher am frühesten aufstand, nahm Besitz davon, die andern hatten das Nachsehen und konnten Sonntags nicht aus dem Hause gehen.

Viele Jahre wohnte die Familie Pfaff in einem Haus in der Karlstraße, das der Witwe des Professor Kopp gehörte. Die beiden Frauen, als Württembergerinnen schon vorher befreundet und nun in ähnlichen Verhältnissen lebend, schlossen sich eng aneinander, halfen sich auch getreulich aus. Einst brachte der Postbote für Frau Pfaff ein unfrankiertes Paket. Es war wohl Ende des Monats, denn die Pfaffsche Geldschublade war leer. In ihrer Verlegenheit wegen des Portos sprang Frau Pfaff die Treppe hinauf, um bei Frau Kopp das Sümmchen zu entlehnen. Diese gute Kollegin besaß aber im Augenblick auch nichts mehr, dagegen hatte sie ein wackeres Dienstmädchen, das war im Besitze der nötigen Groschen und konnte den beiden Professorinnen aus der Verlegenheit helfen.

In dieser Zeit war es wohl auch, daß ein Besuch im Spätherbst, als es schon recht unangenehm kühl war, ein kaltes Zimmer voll Rauch antraf. Frau Pfaff entschuldigte sich: sie habe grünes Holz gekauft, weil dies billiger sei und nicht brenne; für so junge Leute wie die ihrigen sei es genug, wenn sie auch nur am Rauch merkten, daß eingeheizt sei.

Der fröhliche, gesellige Kreis lichtete sich allmählich und verlor seinen Mittelpunkt, als Luise sich mit dem Studienlehrer Sartorius in Windsheim verheiratete. Zwischen ihr und Karl Brater hatte eine Freundschaft bestanden wie sie in damaliger Zeit häufiger als jetzt vorkam. Die poetischen Worte, in denen er dieser Jugendfreundschaft ein Denkmal setzte und die er in das Album der Freundin eintrug, sollen hier folgen: