Johann Gottlieb Fichte

Reden an die deutsche Nation

Veröffentlicht im Good Press Verlag, 2020
goodpress@okpublishing.info
EAN 4064066114121

Inhaltsverzeichnis


Erste Rede. Vorerinnerungen und Uebersicht des Ganzen.
Zweite Rede. Vom Wesen der neuen Erziehung im allgemeinen.
Dritte Rede. Fortsetzung der Schilderung der neuen Erziehung.
Vierte Rede. Hauptverschiedenheit zwischen den deutschen und den übrigen Völkern germanischer Abkunft.
Fünfte Rede. Folgen aus der aufgestellten Verschiedenheit.
Sechste Rede. Darlegung der deutschen Grundzüge in der Geschichte.
Siebente Rede. Noch tiefere Erfassung der Ursprünglichkeit und Deutschheit eines Volkes.
Achte Rede. Was ein Volk sei, in der höhern Bedeutung des Worts, und was Vaterlandsliebe.
Neunte Rede. An welchen in der Wirklichkeit vorhandenen Punkt die neue Nationalerziehung der Deutschen anzuknüpfen sei.
Zehnte Rede. Zur nähern Bestimmung der deutschen Nationalerziehung.
Elfte Rede. Wem die Ausführung dieses Erziehungsplanes anheimfallen werde.
Zwölfte Rede. Ueber die Mittel, uns bis zur Erreichung unsers Hauptzwecks aufrecht zu erhalten.
Dreizehnte Rede. Fortsetzung der angefangenen Betrachtung.
Vierzehnte Rede. Beschluß des Ganzen.

Erste Rede.
Vorerinnerungen und Uebersicht des Ganzen.

Inhaltsverzeichnis

Als eine Fortsetzung der Vorlesungen, die ich im Winter vor drei Jahren allhier an derselben Stätte gehalten, und welche unter dem Titel: »Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters« gedruckt sind, habe ich die Reden,[1] die ich hiermit beginne, angekündigt. Ich hatte in jenen Vorlesungen gezeigt, daß unsre Zeit in dem dritten Hauptabschnitte der gesamten Weltzeit stehe, welcher Abschnitt den bloßen sinnlichen Eigennutz zum Antriebe aller seiner lebendigen Regungen und Bewegungen habe; daß diese Zeit in der einzigen Möglichkeit des genannten Antriebes sich selbst auch vollkommen verstehe und begreife; und daß sie durch diese klare Einsicht ihres Wesens in diesem ihren lebendigen Wesen, tief begründet und unerschütterlich befestigt werde.

[1] Diese Reden sind im Jahre 1808 zum erstenmal im Druck erschienen.

Mit uns gehet, mehr als mit irgendeinem Zeitalter, seitdem es eine Weltgeschichte gab, die Zeit Riesenschritte. Innerhalb der drei Jahre, welche seit dieser meiner Deutung des laufenden Zeitabschnittes verflossen sind, ist irgendwo dieser Abschnitt vollkommen abgelaufen und beschlossen. Irgendwo hat die Selbstsucht durch ihre vollständige Entwicklung sich selbst vernichtet, indem sie darüber ihr Selbst, und dessen Selbständigkeit, verloren; und ihr, da sie gutwillig keinen andern Zweck, denn sich selbst, sich setzen wollte, durch äußerliche Gewalt ein solcher andrer und fremder Zweck aufgedrungen worden. Wer es einmal unternommen hat, seine Zeit zu deuten, der muß mit seiner Deutung auch ihren Fortgang begleiten, falls sie einen solchen Fortgang gewinnt; und so wird es mir denn zur Pflicht, vor demselben Publikum, vor welchem ich etwas als Gegenwart bezeichnete, dasselbe als vergangen anzuerkennen, nachdem es aufgehört hat, die Gegenwart zu sein.

Was seine Selbständigkeit verloren hat, hat zugleich verloren das Vermögen einzugreifen in den Zeitfluß, und den Inhalt desselben frei zu bestimmen; es wird ihm, wenn es in diesem Zustande verharret, seine Zeit, und es selber mit dieser seiner Zeit, abgewickelt durch die fremde Gewalt, die über sein Schicksal gebietet; es hat von nun an gar keine eigne Zeit mehr, sondern zählt seine Jahre nach den Begebenheiten und Abschnitten fremder Völkerschaften und Reiche. Es könnte sich erheben aus diesem Zustande, in welchem die ganze bisherige Welt seinem selbsttätigen Eingreifen entrückt ist, und in dieser ihm nur der Ruhm des Gehorchens übrigbleibt, lediglich unter der Bedingung, daß ihm eine neue Welt aufginge, mit deren Erschaffung es einen neuen und ihm eignen Abschnitt in der Zeit begönne, und mit ihrer Fortbildung ihn ausfüllte; doch müßte, da es einmal unterworfen ist fremder Gewalt, diese neue Welt also beschaffen sein, daß sie unvernommen bliebe jener Gewalt, und ihre Eifersucht auf keine Weise erregte, ja, daß diese durch ihren eignen Vorteil bewegt würde, der Gestaltung einer solchen kein Hindernis in den Weg zu legen. Falls es nun eine also beschaffene Welt als Erzeugungsmittel eines neuen Selbst und einer neuen Zeit, geben sollte, für ein Geschlecht, daß sein bisheriges Selbst und seine bisherige Zeit und Welt verloren hat, so käme es einer allseitigen Deutung selbst der möglichen Zeit zu, diese also beschaffene Welt anzugeben.

Nun halte ich meines Orts dafür, daß es eine solche Welt gebe, und es ist der Zweck dieser Reden, Ihnen das Dasein und den wahren Eigentümer derselben nachzuweisen, ein lebendiges Bild derselben vor ihre Augen zu bringen, und die Mittel ihrer Erzeugung anzugeben. In dieser Weise demnach werden diese Reden eine Fortsetzung der ehemals gehaltenen Vorlesungen über die damals gegenwärtige Zeit sein, indem sie enthüllen werden das neue Zeitalter, das der Zerstörung des Reichs der Selbstsucht durch fremde Gewalt unmittelbar folgen kann und soll.

Bevor ich jedoch dieses Geschäft beginne, muß ich Sie ersuchen vorauszusetzen, also daß es Ihnen niemals entfalle, und einverstanden zu sein mit mir, wo und inwiefern dies nötig ist, über die folgenden Punkte:

1. Ich rede für Deutsche schlechtweg, von Deutschen schlechtweg, nicht anerkennend, sondern durchaus beiseite setzend und wegwerfend alle die trennenden Unterscheidungen, welche unselige Ereignisse seit Jahrhunderten in der einen Nation gemacht haben. Sie, E. V., sind zwar meinem leiblichen Auge die ersten und unmittelbaren Stellvertreter, welche die geliebten Nationalzüge mir vergegenwärtigen, und der sichtbare Brennpunkt, in welchem die Flamme meiner Rede sich entzündet; aber mein Geist versammelt den gebildeten Teil der ganzen deutschen Nation, aus allen den Ländern, über welche er verbreitet ist, um sich her, bedenkt und beachtet unser aller gemeinsame Lage und Verhältnisse, und wünscht, daß ein Teil der lebendigen Kraft, mit welcher diese Reden vielleicht Sie ergreifen, auch in dem stummen Abdrucke, welcher allein unter die Augen der Abwesenden kommen wird, verbleibe, und aus ihm atme, und an allen Orten deutsche Gemüter zu Entschluß und Tat entzünde. Bloß von Deutschen und für Deutsche schlechtweg, sagte ich. Wir werden zu seiner Zeit zeigen, daß jedwede andre Einheitsbezeichnung oder Nationalband entweder niemals Wahrheit und Bedeutung hatte, oder, falls es sie gehabt hätte, daß diese Vereinigungspunkte durch unsre dermalige Lage vernichtet, und uns entrissen sind, und niemals wiederkehren können; und daß es lediglich der gemeinsame Grundzug der Deutschheit ist, wodurch wir den Untergang unsrer Nation im Zusammenfließen derselben mit dem Auslande, abwehren, und worin wir ein auf ihm selber ruhendes, und aller Abhängigkeit durchaus unfähiges Selbst, wiederum gewinnen können. Es wird, sowie wir dieses letztere einsehen werden, zugleich der scheinbare Widerspruch dieser Behauptung mit anderweitigen Pflichten, und für heilig gehaltenen Angelegenheiten, den vielleicht dermalen mancher fürchtet, vollkommen verschwinden.

Ich werde darum, da ich ja nur von Deutschen überhaupt rede, manches, das von den allhier Versammelten nicht zunächst gilt, aussprechen, als dennoch von uns geltend, so wie ich andres, das zunächst nur von uns gilt, aussprechen werde, als für alle Deutsche geltend. Ich erblicke in dem Geiste, dessen Ausfluß diese Reden sind, die durcheinander verwachsene Einheit, in der kein Glied irgendeines andern Gliedes Schicksal, für ein ihm fremdes Schicksal hält, die da entstehen soll und muß, wenn wir nicht ganz zugrunde gehen sollen — ich erblicke diese Einheit schon als entstanden, vollendet, und gegenwärtig dastehend.

2. Ich setze voraus solche deutsche Zuhörer, welche nicht etwa mit allem was sie sind, rein aufgehen in dem Gefühle des Schmerzes über den erlittenen Verlust, und in diesem Schmerze sich wohlgefallen, und an ihrer Untröstlichkeit sich weiden, und durch dieses Gefühl sich abzufinden gedenken mit der an sie ergehenden Anforderung zur Tat; sondern solche, die selbst über diesen gerechten Schmerz zu klarer Besonnenheit und Betrachtung sich schon erhoben haben, oder wenigstens fähig sind, sich dazu zu erheben. Ich kenne jenen Schmerz, ich habe ihn gefühlt wie einer, ich ehre ihn; die Dumpfheit, welche zufrieden ist, wenn sie Speise und Trank findet, und kein körperlicher Schmerz ihr zugefügt wird, und für welche Ehre, Freiheit, Selbständigkeit leere Namen sind, ist seiner unfähig: aber auch er ist lediglich dazu da, um zu Besinnung, Entschluß und Tat uns anzuspornen; dieses Endzwecks verfehlend, beraubt er uns der Besinnung, und aller uns noch übriggebliebenen Kräfte, und vollendet so unser Elend, indem er noch überdies, als Zeugnis von unsrer Trägheit und Feigheit, den sichtbaren Beweis gibt, daß wir unser Elend verdienen. Keineswegs aber gedenke ich Sie zu erheben über diesen Schmerz, durch Vertröstungen auf eine Hilfe, die von außen her kommen solle, und durch Verweisungen auf allerlei mögliche Ereignisse, und Veränderungen, die etwa die Zeit herbeiführen könne; denn, falls auch nicht diese Denkart, die lieber in der wankenden Welt der Möglichkeiten schweift, als auf das Notwendige sich heften mag, und die ihre Rettung lieber dem blinden Ohngefähr, als sich selber, verdanken will, schon an sich von dem sträflichsten Leichtsinne, und der tiefsten Verachtung seiner selbst zeugte, so wie sie es tut, so haben auch noch überdies alle Vertröstungen und Verweisungen dieser Art durchaus keine Anwendung auf unsre Lage. Es läßt sich der strenge Beweis führen, und wir werden ihn zu seiner Zeit führen, daß kein Mensch, und kein Gott, und keines von allen im Gebiete der Möglichkeit liegenden Ereignissen uns helfen kann, sondern daß allein wir selber uns helfen müssen, falls uns geholfen werden soll. Vielmehr werde ich Sie zu erheben suchen über den Schmerz, durch klare Einsicht in unsre Lage, in unsre noch übriggebliebene Kraft, in die Mittel unsrer Rettung. Ich werde darum allerdings einen gewissen Grad der Besinnung, eine gewisse Selbsttätigkeit, und einige Aufopferung anmuten, und rechne darum auf Zuhörer, denen sich soviel anmuten läßt. Uebrigens sind die Gegenstände dieser Anmutung insgesamt leicht, und setzen kein größeres Maß von Kraft voraus, als man, wie ich glaube, unserm Zeitalter zutrauen kann; was aber die Gefahr betrifft, so ist dabei durchaus keine.

3. Indem ich eine klare Einsicht der Deutschen, als solcher, in ihre gegenwärtige Lage hervorzubringen gedenke: setze ich voraus Zuhörer, die da geneigt sind, mit eignen Augen die Dinge dieser Art zu sehen, keineswegs aber solche, die es bequemer finden, ein fremdes und ausländisches Sehwerkzeug, das entweder absichtlich auf Täuschung berechnet ist, oder das auch natürlich, durch seinen andern Standpunkt, und durch das geringere Maß von Schärfe, niemals auf ein deutsches Auge paßt, bei Betrachtung dieser Gegenstände sich unterschieben zu lassen. Ferner setze ich voraus, daß diese Zuhörer in dieser Betrachtung mit eignen Augen den Mut haben, redlich hinzusehen auf das, was da ist, und redlich sich zu gestehen, was sie sehen, und daß sie jene häufig sich zeigende Neigung, über die eignen Angelegenheiten sich zu täuschen, und ein weniger unerfreuliches Bild von denselben, als mit der Wahrheit bestehen kann, sich vorzuhalten, entweder schon besiegt haben, oder doch fähig sind, sie zu besiegen. Jene Neigung ist ein feiges Entfliehen vor seinen eignen Gedanken, und kindischer Sinn, der da zu glauben scheint, wenn er nur nicht sehe sein Elend, oder wenigstens sich nicht gestehe, daß er es sehe, so werde dieses Elend dadurch auch in der Wirklichkeit aufgehoben, wie es aufgehoben ist in seinem Denken. Dagegen ist es mannhafte Kühnheit, das Uebel fest ins Auge zu fassen, es zu nötigen standzuhalten, es ruhig, kalt und frei zu durchdringen, und es aufzulösen in seine Bestandteile. Auch wird man nur durch diese klare Einsicht des Uebels Meister, und geht in der Bekämpfung desselben einher mit sicherem Schritte, indem man, in jedem Teile das Ganze übersehend, immer weiß, wo man sich befinde, und durch die einmal erlangte Klarheit seiner Sache gewiß ist, dagegen der andre, ohne festen Leitfaden, und ohne sichere Gewißheit blind und träumend herumtappt.

Warum sollten wir denn auch uns scheuen vor dieser Klarheit? Das Uebel wird durch die Unbekanntschaft damit nicht kleiner, noch durch die Erkenntnis größer; es wird nur heilbar durch die letztere; die Schuld aber soll hier gar nicht vorgerückt werden. Züchtige man durch bittere Strafrede, durch beißenden Spott, durch schneidende Verachtung die Trägheit und die Selbstsucht, und reize sie, wenn auch zu nichts Besserem, doch wenigstens zum Hasse und zur Erbitterung gegen den Erinnerer selbst, als doch auch einer kräftigen Regung, an — solange die notwendige Folge, das Uebel, noch nicht vollendet ist, und von der Besserung noch Rettung oder Milderung sich erwarten läßt. Nachdem aber dieses Uebel also vollendet ist, daß es uns auch die Möglichkeit auf diese Weise fortzusündigen benimmt, wird es zwecklos, und sieht aus wie Schadenfreude, gegen die nicht mehr zu begehende Sünde noch ferner zu schelten; und die Betrachtung fällt sodann aus dem Gebiete der Sittenlehre in das der Geschichte, für welche die Freiheit vorüber ist, und die das Geschehene als notwendigen Erfolg aus dem Vorhergegangenen ansieht. Es bleibt für unsre Reden keine andre Ansicht der Gegenwart übrig, als diese letzte, und wir werden darum niemals eine andre nehmen.

Diese Denkart also, daß man sich als Deutschen schlechtweg denke, daß man nicht gefesselt sei durch den Schmerz, daß man die Wahrheit sehen wolle, und den Mut habe ihr ins Auge zu blicken, setze ich voraus, und rechne auf sie bei jedem Worte, das ich sagen werde, und so jemand eine andre in diese Versammlung mitbrächte, so würde derselbe die unangenehmen Empfindungen, die ihm hier gemacht werden könnten, lediglich sich selbst zuzuschreiben haben. Dies sei hiermit gesagt für immer, und abgetan: und ich gehe nun an das andre Geschäft, Ihnen den Grundinhalt aller folgenden Reden in einer allgemeinen Uebersicht vorzulegen.

Irgendwo, sagte ich im Eingange meiner Rede, habe die Selbstsucht durch ihre vollständige Entwicklung sich selbst vernichtet, indem sie darüber ihr Selbst, und das Vermögen, sich selbständig ihre Zwecke zu setzen, verloren habe. Diese nunmehr erfolgte Vernichtung der Selbstsucht war der von mir angegebene Fortgang der Zeit, und das durchaus neue Ereignis in derselben, das nach mir eine Fortsetzung meiner ehemaligen Schilderung der Zeit so möglich wie notwendig machte; diese Vernichtung wäre somit unsre eigentliche Gegenwart, an welche unser neues Leben in einer neuen Welt, deren Dasein ich gleichfalls behauptete, unmittelbar angeknüpft werden müßte, sie wäre daher auch der eigentliche Ausgangspunkt meiner Reden; und ich hätte vor allen Dingen zu zeigen, wie und warum eine solche Vernichtung der Selbstsucht aus ihrer höchsten Entwicklung notwendig erfolge.

Bis zu ihrem höchsten Grade entwickelt ist die Selbstsucht, wenn, nachdem sie erst mit unbedeutender Ausnahme die Gesamtheit der Regierten ergriffen, sie von diesen aus sich auch der Regierenden bemächtigt, und deren alleiniger Lebenstrieb wird. Es entsteht einer solchen Regierung zuförderst nach außen die Vernachlässigung aller Bande, durch welche ihre eigne Sicherheit an die Sicherheit andrer Staaten geknüpft ist, das Aufgeben des Ganzen, dessen Glied sie ist, lediglich darum, damit sie nicht aus ihrer trägen Ruhe aufgestört werde, und die traurige Täuschung der Selbstsucht, daß sie Frieden habe, solange nur die eignen Grenzen nicht angegriffen sind; sodann nach innen jene weichliche Führung der Zügel des Staats, die mit ausländischen Worten sich Humanität, Liberalität und Popularität nennt, die aber richtiger in deutscher Sprache Schlaffheit und ein Betragen ohne Würde zu nennen ist.

Wenn sie auch der Regierenden sich bemächtigt, habe ich gesagt. Ein Volk kann durchaus verdorben sein, d. i. selbstsüchtig, denn die Selbstsucht ist die Wurzel aller andern Verderbtheit — und dennoch dabei nicht nur bestehen, sondern sogar äußerlich glänzende Taten verrichten, wenn nur nicht seine Regierung eben also verdirbt; ja die letztere sogar kann auch nach außen treulos und pflicht- und ehrvergessen handeln, wenn sie nur nach innen den Mut hat, die Zügel des Regiments mit straffer Hand anzuhalten, und die größere Furcht für sich zu gewinnen. Wo aber alles eben genannte sich vereinigt, da geht das gemeine Wesen bei dem ersten ernstlichen Angriffe, der auf dasselbe geschieht, zugrunde, und so, wie es selbst erst treulos sich ablöste von dem Körper, dessen Glied es war, so lösen jetzt seine Glieder, die keine Furcht vor ihm hält, und die die größere Furcht vor dem Fremden treibt, mit derselben Treulosigkeit sich ab von ihm, und gehen hin, ein jeder in das Seine. Hier ergreift die nun vereinzelt stehenden abermals die größere Furcht, und sie geben in reichlicher Spende, und mit erzwungen fröhlichem Gesichte dem Feinde, was sie kärglich und äußerst unwillig dem Verteidiger des Vaterlandes geben; bis späterhin auch die von allen Seiten verlassenen und verratenen Regierenden genötigt werden, durch Unterwerfung und Folgsamkeit gegen fremde Pläne ihre Fortdauer zu erkaufen; und so nun auch diejenigen, die im Kampfe für das Vaterland die Waffen wegwarfen, unter fremden Panieren lernen, dieselben gegen das Vaterland tapfer zu führen. So geschieht es, daß die Selbstsucht durch ihre höchste Entwicklung vernichtet, und denen, die gutwillig keinen andern Zweck, denn sich selbst, sich setzen wollten, durch fremde Gewalt ein solcher andrer Zweck aufgedrungen wird.

Keine Nation, die in diesen Zustand der Abhängigkeit herabgesunken, kann durch die gewöhnlichen und bisher gebrauchten Mittel sich aus demselben erheben. War ihr Widerstand fruchtlos, als sie noch im Besitze aller ihrer Kräfte war, was kann derselbe sodann fruchten, nachdem sie des größten Teils derselben beraubt ist? Was vorher hätte helfen können, nämlich wenn die Regierung derselben die Zügel kräftig und straff angehalten hätte, ist nun nicht mehr anwendbar, nachdem diese Zügel nur noch zum Scheine in ihrer Hand ruhen, und diese ihre Hand selbst durch eine fremde Hand gelenkt und geleitet wird. Auf sich selbst kann eine solche Nation nicht länger rechnen; und ebensowenig sie auf den Sieger rechnen. Dieser müßte ebenso unbesonnen, und ebenso feige und verzagt sein, als jene Nation selbst erst war, wenn er die errungenen Vorteile nicht festhielte, und sie nicht auf alle Weise verfolgte. Oder wenn er einst im Verlauf der Zeiten doch so unbesonnen und feige würde, so würde er zwar ebenso zugrunde gehen, wie wir, aber nicht zu unserm Vorteile, sondern er würde die Beute eines neuen Siegers und wir würden die sich von selbst verstehende, wenig bedeutende Zugabe zu dieser Beute. Sollte eine so gesunkene Nation dennoch sich retten können, so müßte dies durch ein ganz neues, bisher noch niemals gebrauchtes Mittel, vermittelst der Erschaffung einer ganz neuen Ordnung der Dinge, geschehen. Lassen Sie uns also sehen, welches in der bisherigen Ordnung der Dinge der Grund war, warum es mit dieser Ordnung irgend einmal notwendig ein Ende nehmen mußte, damit wir an dem Gegenteile dieses Grundes des Untergangs das neue Glied finden, welches in die Zeit eingefügt werden müßte, damit an ihm die gesunkene Nation sich aufrichte zu einem neuen Leben.

Man wird in Erforschung jenes Grundes finden, daß in allen bisherigen Verfassungen die Teilnahme am Ganzen geknüpft war an die Teilnahme des Einzelnen an sich selbst, vermittelst solcher Bande, die irgendwo so gänzlich zerrissen, daß es gar keine Teilnahme für das Ganze mehr gab — durch die Bande der Furcht und Hoffnung für die Angelegenheiten des Einzelnen aus dem Schicksale des Ganzen, in einem künftigen, und in dem gegenwärtigen Leben. Aufklärung des nur sinnlich berechnenden Verstandes war die Kraft, welche die Verbindung eines künftigen Lebens mit dem gegenwärtigen durch Religion aufhob, zugleich auch andre Ergänzungs- und stellvertretende Mittel der sittlichen Denkart, als da sind Liebe zum Ruhm, und Nationalehre, als täuschende Trugbilder begriff; die Schwäche der Regierungen war es, welche die Furcht für die Angelegenheiten des einzelnen aus seinem Betragen gegen das Ganze, selbst für das gegenwärtige Leben, durch häufige Straflosigkeit der Pflichtvergessenheit aufhob, und ebenso auch die Hoffnung unwirksam machte, indem sie dieselbe gar oft, ohne alle Rücksicht auf Verdienste um das Ganze, nach ganz andern Regeln und Bewegungsgründen, befriedigte. Bande solcher Art waren es, die irgendwo gänzlich zerrissen, und durch deren Zerreißung das gemeine Wesen sich auflöste.

Immerhin mag von nun an der Sieger das, was allein auch er kann, emsiglich tun, nämlich den letzten Teil des Bindungsmittels, die Furcht und Hoffnung für das gegenwärtige Leben, wiederum anknüpfen und verstärken; damit ist nur ihm geholfen, keineswegs aber uns, denn so gewiß er seinen Vorteil versteht, knüpft er an dieses erneute Band zu allererst nur seine Angelegenheit, die unsrige aber nur insoweit, inwiefern die Erhaltung unsrer, als Mittel für seine Zwecke, ihm selbst zur Angelegenheit wird. Für eine so verfallene Nation ist von nun an Furcht und Hoffnung völlig aufgehoben, indem deren Leitung ihrer Hand entfallen ist, und sie zwar selber zu fürchten hat und zu hoffen, vor ihr aber von nun an kein Mensch sich weiter fürchtet, oder von ihr etwas hofft; und es bleibt ihr nichts übrig, als ein ganz andres und neues, über Furcht und Hoffnung erhabenes Bindungsmittel zu finden, um die Angelegenheiten ihrer Gesamtheit an die Teilnahme eines jeden aus ihr für sich selber anzuknüpfen.

Ueber den sinnlichen Antrieb der Furcht oder Hoffnung hinaus, und zunächst an ihn angrenzend, liegt der geistige Antrieb der sittlichen Billigung oder Mißbilligung, und der höhere Affekt des Wohlgefallens oder Mißfallens an unserm und andrer Zustände. So wie das an Reinlichkeit und Ordnung gewöhnte äußere Auge durch einen Flecken, der ja unmittelbar dem Leibe keinen Schmerz zufügt, oder durch den Anblick verworren durcheinander liegender Gegenstände dennoch gepeinigt und geängstigt wird, wie vom unmittelbaren Schmerze, indes der des Schmutzes und der Unordnung Gewohnte sich in demselben recht wohl befindet: eben also kann auch das innere geistige Auge des Menschen so gewöhnt und gebildet werden, daß der bloße Anblick eines verworrenen und unordentlichen, eines unwürdigen und ehrlosen Daseins seiner selbst und seines verbrüderten Stammes, ohne Rücksicht auf das, was davon für sein sinnliches Wohlsein zu fürchten oder zu hoffen sei, ihm innig wehe tue, und daß dieser Schmerz dem Besitzer eines solchen Auges, abermals ganz unabhängig von sinnlicher Furcht oder Hoffnung, keine Ruhe lasse, bis er, soviel an ihm ist, den ihm mißfälligen Zustand aufgehoben, und den, der ihm allein gefallen kann, an seine Stelle gesetzt habe. Im Besitzer eines solchen Auges ist die Angelegenheit des ihn umgebenden Ganzen, durch das treibende Gefühl der Billigung oder Mißbilligung, an die Angelegenheit seines eignen erweiterten Selbst, das nur als Teil des Ganzen sich fühlt, und nur im gefälligen Ganzen sich ertragen kann, unabtrennbar angeknüpft; die Sichbildung zu einem solchen Auge wäre somit ein sicheres und das einzige Mittel, das einer Nation, die ihre Selbständigkeit, und mit ihr allen Einfluß auf die öffentliche Furcht und Hoffnung verloren hat, übrigbliebe, um aus der erduldeten Vernichtung sich wieder ins Dasein zu erheben, und dem entstandenen neuen und höheren Gefühle ihre Nationalangelegenheiten, die seit ihrem Untergange kein Mensch und kein Gott weiter bedenkt, sicher anzuvertrauen. So ergibt sich denn also, daß das Rettungsmittel, dessen Anzeige ich versprochen, bestehe in der Bildung zu einem durchaus neuen, und bisher vielleicht als Ausnahme bei einzelnen, niemals aber als allgemeines und nationales Selbst, dagewesenen Selbst, und in der Erziehung der Nation, deren bisheriges Leben erloschen, und Zugabe eines fremden Lebens geworden, zu einem ganz neuen Leben, das entweder ihr ausschließendes Besitztum bleibt, oder, falls es auch von ihr aus an andre kommen sollte, ganz und unverringert bleibt bei unendlicher Teilung; mit einem Worte, eine gänzliche Veränderung des bisherigen Erziehungswesens ist es, was ich, als das einzige Mittel die deutsche Nation im Dasein zu erhalten, in Vorschlag bringe.

Daß man den Kindern eine gute Erziehung geben müsse, ist auch in unserm Zeitalter oft genug gesagt, und bis zum Ueberdrusse wiederholt worden, und es wäre ein Geringes, wenn auch wir unsres Ortes dies gleichfalls einmal sagen wollten. Vielmehr wird uns, so wir ein andres zu vermögen glauben, obliegen, genau und bestimmt zu untersuchen, was eigentlich der bisherigen Erziehung gefehlt habe, und anzugeben, welches durchaus neue Glied die veränderte Erziehung der bisherigen Menschenbildung hinzufügen müsse.

Man muß, nach einer solchen Untersuchung, der bisherigen Erziehung zugestehen, daß sie nicht ermangelt, irgendein Bild von religiöser, sittlicher, gesetzlicher Denkart, und von allerhand Ordnung und guter Sitte vor das Auge ihrer Zöglinge zu bringen, auch daß sie hier und da dieselben getreulich ermahnt habe, jenen Bildern in ihrem Leben einen Abdruck zu geben; aber mit höchst seltenen Ausnahmen, die somit nicht durch diese Erziehung begründet waren, indem sie sodann an allen durch diese Bildung hindurchgegangenen, und als die Regel, hätten eintreten müssen, sondern die durch andre Ursachen herbeigeführt worden — mit diesen höchstseltenen Ausnahmen, sage ich, sind die Zöglinge dieser Erziehung insgesamt nicht jenen sittlichen Vorstellungen und Ermahnungen, sondern sie sind den Antrieben ihrer, ihnen natürlich, und ohne alle Beihilfe der Erziehungskunst, erwachsenden Selbstsucht, gefolgt; zum unwidersprechlichen Beweise, daß diese Erziehungskunst zwar wohl das Gedächtnis mit einigen Worten und Redensarten, und die kalte und teilnehmungslose Phantasie mit einigen matten und blassen Bildern anzufüllen vermocht, daß es ihr aber niemals gelungen, ihr Gemälde einer sittlichen Weltordnung bis zu der Lebhaftigkeit zu steigern, daß ihr Zögling von der heißen Liebe und Sehnsucht dafür, und von dem glühenden Affekte, der zur Darstellung im Leben treibt, und vor welchem die Selbstsucht abfällt wie welkes Laub, ergriffen worden; daß somit diese Erziehung weit davon entfernt gewesen sei, bis zur Wurzel der wirklichen Lebensregung und Bewegung durchzugreifen, und diese zu bilden, indem diese vielmehr, unbeachtet von der blinden und ohnmächtigen, allenthalben wild aufgewachsen sei, wie sie gekonnt habe, zu guter Frucht bei wenigen durch Gott begeisterten, zu schlechter bei der großen Mehrzahl. Auch ist es dermalen vollkommen hinlänglich, diese Erziehung durch diesen ihren Erfolg zu zeichnen, und kann man für unsern Behuf sich des mühsamen Geschäfts überheben, die innern Säfte und Adern eines Baumes zu zergliedern, dessen Frucht dermalen vollständig reif ist, und abgefallen, und vor aller Welt Augen liegt, und höchst deutlich und verständlich ausspricht die innere Natur ihres Erzeugers. Der Strenge nach wäre dieser Ansicht zufolge, die bisherige Erziehung auf keine Weise die Kunst der Bildung zum Menschen gewesen, wie sie sich denn dessen auch eben nicht gerühmt, sondern gar oft ihre Ohnmacht, durch die Forderung, ihr ein natürliches Talent, oder Genie, als Bedingung ihres Erfolgs voraus zu geben, freimütig gestanden; sondern es wäre eine solche Kunst erst zu erfinden, und die Erfindung derselben wäre die eigentliche Aufgabe der neuen Erziehung. Das ermangelnde Durchgreifen bis in die Wurzel der Lebensregung und -bewegung hätte diese neue Erziehung der bisherigen hinzuzufügen, und wie die bisherige höchstens etwas am Menschen, so hätte diese den Menschen selbst zu bilden, und ihre Bildung keineswegs, wie bisher, zu einem Besitztume, sondern vielmehr zu einem persönlichen Bestandteile des Zöglings zu machen.

Ferner wurde bisher diese also beschränkte Bildung nur an die sehr geringe Minderzahl der ebendaher gebildet genannten Stände gebracht, die große Mehrzahl aber, auf welcher das gemeine Wesen recht eigentlich ruht, das Volk, wurde von der Erziehungskunst fast ganz vernachlässigt, und dem blinden Ohngefähr übergeben. Wir wollen durch die neue Erziehung die Deutschen zu einer Gesamtheit bilden, die in allen ihren einzelnen Gliedern getrieben und belebt sei durch dieselbe eine Angelegenheit; so wir aber etwa hierbei abermals einen gebildeten Stand, der etwa durch den neu entwickelten Antrieb der sittlichen Billigung belebt würde, absondern wollten von einem ungebildeten, so würde dieser letzte, da Hoffnung und Furcht, durch welche allein noch auf ihn gewirkt werden könnte, nicht mehr für uns, sondern gegen uns dienen, von uns abfallen, und uns verloren gehen. Es bleibt sonach uns nichts übrig, als schlechthin an alles ohne Ausnahme, was deutsch ist, die neue Bildung zu bringen, so daß dieselbe nicht Bildung eines besondern Standes, sondern daß sie Bildung der Nation schlechthin als solcher, und ohne alle Ausnahme einzelner Glieder derselben, werde, in welcher, in der Bildung zum innigen Wohlgefallen am Rechten nämlich, aller Unterschied der Stände, der in andern Zweigen der Entwicklung auch fernerhin stattfinden mag, völlig aufgehoben sei, und verschwinde; und daß auf diese Weise unter uns keineswegs Volkserziehung, sondern eigentümliche deutsche Nationalerziehung entstehe.

Ich werde Ihnen dartun, daß eine solche Erziehungskunst, wie wir sie begehren, wirklich schon erfunden ist und ausgeübt wird, so daß wir nichts mehr zu tun haben, als das sich uns Darbietende anzunehmen, welches, so wie ich dies oben von dem vorzuschlagenden Rettungsmittel versprach, ohne Zweifel kein größeres Maß von Kraft erfordert, als man bei unserm Zeitalter billig voraussetzen kann. Ich fügte diesem Versprechen noch ein andres bei, daß nämlich, was die Gefahr anbelange, bei unserm Vorschlage durchaus keine sei, indem es der eigne Vorteil der über uns gebietenden Gewalt erfordere, die Ausführung jenes Vorschlags eher zu befördern, als zu hindern. Ich finde zweckmäßig, sogleich in dieser ersten Rede über diesen Punkt mich deutlich auszusprechen.

Zwar sind so in alter wie in neuer Zeit gar häufig die Künste der Verführung und der sittlichen Herabwürdigung der Unterworfenen, als ein Mittel der Herrschaft mit Erfolg gebraucht worden; man hat durch lügenhafte Erdichtungen, und durch künstliche Verwirrung der Begriffe und der Sprache, die Fürsten vor den Völkern, und diese vor jenen verleumdet, um die entzweiten sicherer zu beherrschen, man hat alle Antriebe der Eitelkeit und des Eigennutzes listig aufgereizt und entwickelt, um die Unterworfenen verächtlich zu machen, und so mit einer Art von gutem Gewissen sie zu zertreten: aber man würde einen sicher zum Verderben führenden Irrtum begehen, wenn man mit uns Deutschen diesen Weg einschlagen wollte. Das Band der Furcht und der Hoffnung abgerechnet, beruht der Zusammenhang desjenigen Teils des Auslandes, mit dem wir dermalen in Berührung kommen, auf den Antrieben der Ehre und des Nationalruhms; aber die deutsche Klarheit hat vorlängst bis zur unerschütterlichen Ueberzeugung eingesehen, daß dieses leere Trugbilder sind, und daß keine Wunde und keine Verstümmelung des Einzelnen durch den Ruhm der ganzen Nation geheilt wird; und wir dürften wohl, so nicht eine höhere Ansicht des Lebens an uns gebracht wird, gefährliche Prediger dieser sehr begreiflichen und manchen Reiz bei sich führenden Lehre werden. Ohne darum noch neues Verderben an uns zu nehmen, sind wir schon in unsrer natürlichen Beschaffenheit eine unheilbringende Beute; nur durch die Ausführung des gemachten Vorschlages können wir eine heilbringende werden: und so wird denn, so gewiß das Ausland seinen Vorteil versteht, dasselbe durch diesen selbst bewegt, uns lieber auf die letzte Weise haben wollen, denn auf die erste.

Insbesondere nun wendet mit diesem Vorschlage meine Rede sich an die gebildeten Stände Deutschlands, indem sie diesen noch am ersten verständlich zu werden hofft, und trägt zu allernächst ihnen an, sich zu den Urhebern dieser neuen Schöpfung zu machen, und dadurch teils mit ihrer bisherigen Wirksamkeit die Welt auszusöhnen, teils ihre Fortdauer in der Zukunft zu verdienen. Wir werden im Fortgange dieser Reden ersehen, daß bis hierher alle Fortentwicklung der Menschheit in der deutschen Nation vom Volke ausgegangen, und daß an dieses immer zuerst die großen Nationalangelegenheiten gebracht, und von ihm besorgt und weiterbefördert worden; daß es somit jetzt zum erstenmal geschieht, daß den gebildeten Ständen die ursprüngliche Fortbildung der Nation angetragen wird, und daß, wenn sie diesen Antrag wirklich ergriffen, auch dies das erstemal geschehen würde. Wir werden ersehen, daß diese Stände nicht berechnen können, auf wie lange Zeit es noch in ihrer Gewalt stehen werde, sich an die Spitze dieser Angelegenheit zu stellen, indem dieselbe bis zum Vortrage an das Volk schon beinahe vorbereitet und reif sei, und an Gliedern aus dem Volke geübt werde, und dieses nach kurzer Zeit ohne alle unsre Beihilfe sich selbst werde helfen können, woraus für uns bloß das erfolgen werde, daß die jetzigen Gebildeten und ihre Nachkommen zum Volke werden, aus dem bisherigen Volke aber ein andrer höherer gebildeter Stand emporkomme.

Nach allem ist es der allgemeine Zweck dieser Reden, Mut und Hoffnung zu bringen in die Zerschlagenen, Freude zu verkündigen in die tiefe Trauer, über die Stunde der größten Bedrängnis leicht und sanft hinüber zu leiten. Die Zeit erscheint mir wie ein Schatten, der über seinem Leichname, aus dem soeben ein Heer von Krankheiten ihn herausgetrieben, steht und jammert, und seinen Blick nicht loszureißen vermag von der ehedem so geliebten Hülle, und verzweifelnd alle Mittel versucht, um wieder hineinzukommen in die Behausung der Seuchen. Zwar haben schon die belebenden Lüfte der andern Welt, in die die abgeschiedene eingetreten, sie aufgenommen in sich, und umgeben sie mit warmem Liebeshauche, zwar begrüßen sie schon freudig heimliche Stimmen der Schwestern, und heißen sie willkommen, zwar regt es sich schon und dehnt sich in ihrem Innern nach allen Richtungen hin, um die herrlichere Gestalt, zu der sie erwachsen soll, zu entwickeln; aber noch hat sie kein Gefühl für diese Lüfte, oder Gehör für diese Stimmen, oder wenn sie es hätte, so ist sie aufgegangen in Schmerz über ihren Verlust, mit welchem sie zugleich sich selbst verloren zu haben glaubt. Was ist mit ihr zu tun? Auch die Morgenröte der neuen Welt ist schon angebrochen, und vergoldet schon die Spitzen der Berge, und bildet vor den Tag, der da kommen soll. Ich will, so ich es kann, die Strahlen dieser Morgenröte fassen, und sie verdichten zu einem Spiegel, in welchem die trostlose Zeit sich erblicke, damit sie glaube, daß sie noch da ist, und in ihm ihr wahrer Kern sich ihr darstelle, und die Entfaltungen und Gestaltungen desselben in einem weissagenden Gesichte vor ihr vorüber gehen. In diese Anschauung hinein wird ihr denn ohne Zweifel auch das Bild ihres bisherigen Lebens versinken, und verschwinden, und der Tote wird ohne übermäßiges Wehklagen zu seiner Ruhestätte gebracht werden können.


Zweite Rede.
Vom Wesen der neuen Erziehung im allgemeinen.

Inhaltsverzeichnis

Das von mir vorgeschlagene Erhaltungsmittel einer deutschen Nation überhaupt, zu dessen klarer Einsicht diese Reden zunächst Sie, und nebst Ihnen die ganze Nation führen möchten, geht als ein solches Mittel hervor aus der Beschaffenheit der Zeit, sowie der deutschen Nationaleigentümlichkeiten, so wie dieses Mittel wiederum eingreifen soll in Zeit und Bildung der Nationaleigentümlichkeiten. Es ist somit dieses Mittel nicht eher vollkommen klar und verständlich gemacht, als bis es mit diesen, und diese mit ihm zusammen gehalten, und beide in vollkommener gegenseitiger Durchdringung dargestellt sind, welche Geschäfte einige Zeit erfordern, und so die vollkommene Klarheit nur am Ende unsrer Reden zu erwarten ist. Da wir jedoch bei irgendeinem einzelnen Teile anfangen müssen, so wird es am zweckmäßigsten sein, zuförderst jenes Mittel selbst, abgesondert von seinen Umgebungen in Zeit und Raum, für sich in seinem innern Wesen zu betrachten, und so soll denn diesem Geschäfte unsre heutige und nächstfolgende Rede gewidmet sein.

Das angegebene Mittel war eine durchaus neue, und vorher noch nie also bei irgendeiner Nation dagewesene Nationalerziehung der Deutschen. Diese neue Erziehung wurde schon in der vorigen Rede zur Unterscheidung von der bisher üblichen also bezeichnet: die bisherige Erziehung habe zu guter Ordnung und Sittlichkeit höchstens nur ermahnt, aber diese Ermahnungen seien unfruchtbar gewesen für das wirkliche Leben, welches nach ganz andern, dieser Erziehung durchaus unzugänglichen Gründen sich gebildet habe. Im Gegensatze mit dieser müsse die neue Erziehung die wirkliche Lebensregung und -bewegung ihrer Zöglinge, nach Regeln sicher und unfehlbar bilden, und bestimmen können.

So nun etwa hierauf jemand also gesagt hätte, wie denn auch wirklich diejenigen, welche die bisherige Erziehung leiten, fast ohne Ausnahme also sagen: Wie könnte man denn auch irgendeiner Erziehung mehr anmuten, als daß sie dem Zöglinge das Recht zeige, und ihn getreulich zu denselben anmahne; ob er diesen Ermahnungen folgen wolle, das sei seine eigne Sache, und wenn er es nicht tue, seine eigne Schuld; er habe freien Willen, den keine Erziehung ihm nehmen könne: so würde ich hierauf, um die von mir gedachte Erziehung noch schärfer zu bezeichnen, antworten: daß gerade in diesem Anerkennen, und in diesem Rechnen auf einen freien Willen des Zöglings der erste Irrtum der bisherigen Erziehung, und das deutliche Bekenntnis ihrer Ohnmacht und Nichtigkeit liege. Denn indem sie bekennt, daß nach aller ihrer kräftigsten Wirksamkeit der Wille dennoch frei, d. i. unentschieden schwankend zwischen Gutem und Bösem bleibe, bekennt sie, daß sie den Willen, und da dieser die eigentliche Grundwurzel des Menschen selbst ist, den Menschen selbst zu bilden durchaus weder vermöge, noch wolle oder begehre, und daß sie dies überhaupt für unmöglich halte. Dagegen würde die neue Erziehung gerade darin bestehen müssen, daß sie auf dem Boden, dessen Bearbeitung sie übernehme, die Freiheit des Willens gänzlich vernichtete, und dagegen strenge Notwendigkeit der Entschließungen, um die Unmöglichkeit des entgegengesetzten in dem Willen hervorbrächte, auf welchem Willen man nunmehr sicher rechnen und auf ihn sich verlassen könnte.

Alle Bildung strebt an, die Hervorbringung eines festen bestimmten und beharrlichen Seins, das nun nicht mehr wird, sondern ist, und nicht anders sein kann, denn so wie es ist. Strebte sie nicht an ein solches Sein, so wäre sie nicht Bildung, sondern irgendein zweckloses Spiel; hätte sie ein solches Sein nicht hervorgebracht, so wäre sie eben noch nicht vollendet. Wer sich noch ermahnen muß, und ermahnt werden, das Gute zu wollen, der hat noch kein bestimmtes und stets bereitstehendes Wollen, sondern er will sich dieses erst jedesmal im Falle des Gebrauches machen; wer ein solches festes Wollen hat, der will, was er will, für alle Ewigkeit, und er kann in keinem möglichen Falle anders wollen, denn also, wie er eben immer will; für ihn ist die Freiheit des Willens vernichtet und aufgegangen in der Notwendigkeit. Dadurch eben hat die bisherige Zeit gezeigt, daß sie von Bildung zum Menschen weder einen rechten Begriff, noch die Kraft hatte, diesen Begriff darzustellen, daß sie durch ermahnende Predigten die Menschen bessern wollte, und verdrießlich ward und schalt, wenn diese Predigten nichts fruchteten. Wie konnten sie doch fruchten? Der Wille des Menschen hat schon vor der Ermahnung vorher, und unabhängig von ihr, seine feste Richtung; stimmt diese zusammen mit deiner Ermahnung, so kommt die Ermahnung zu spät, und der Mensch hätte auch ohne dieselbe getan, wozu du ihn ermahntest, steht sie mit derselben im Widerspruche, so magst du ihn höchstens einige Augenblicke betäuben; wie die Gelegenheit kommt, vergißt er sich selbst und deine Ermahnung, und folgt seinem natürlichen Hange. Willst du etwas über ihn vermögen, so mußt du mehr tun, als ihn bloß anreden, du mußt ihn machen, ihn also machen, daß er gar nicht anders wollen könne, als du willst, daß er wolle. Es ist vergebens zu sagen, fliege — dem der keine Flügel hat, und er wird durch alle deine Ermahnungen nie zwei Schritte über den Boden empor kommen; aber entwickle, wenn du kannst, seine geistigen Schwungfedern, und lasse ihn dieselben üben und kräftig machen, und er wird ohne alle dein Ermahnen gar nicht anders mehr wollen oder können, denn fliegen.

Diesen festen und nicht weiter schwankenden Willen muß die neue Erziehung hervorbringen nach einer sichern, und ohne Ausnahme wirksamen Regel; sie muß selber mit Notwendigkeit erzeugen die Notwendigkeit, die sie beabsichtiget. Was bisher gut geworden ist, ist gut geworden durch seine natürliche Anlage, durch welche die Einwirkung der schlechten Umgebung überwogen wurde; keineswegs aber durch die Erziehung, denn sonst hätte alles durch dieselbe hindurch gegangene gut werden müssen: was da verdarb, verdarb ebensowenig durch die Erziehung, denn sonst hätte alles durch sie hindurchgehende verderben müssen, sondern durch sich selber und seine natürliche Anlage; die Erziehung war in dieser Rücksicht nur nichtig, keineswegs verderblich, das eigentliche bildende Mittel war die geistige Natur. Aus den Händen dieser dunklen, und nicht zu berechnenden Kraft nun soll hinfür die Bildung zum Menschen unter die Botmäßigkeit einer besonnenen Kunst gebracht werden, die an allem ohne Ausnahme, was ihr anvertraut wird, ihren Zweck sicher erreiche, oder, wo sie ihn etwa nicht erreichte, wenigstens weiß, daß sie ihn nicht erreicht hat, und daß somit die Erziehung noch nicht geschlossen ist. Eine sichere und besonnene Kunst, einen festen und unfehlbaren guten Willen im Menschen zu bilden, soll also die von mir vorgeschlagene Erziehung sein, und dieses ist ihr erstes Merkmal.

Weiter — der Mensch kann nur dasjenige wollen, was er liebt; seine Liebe ist der einzige, zugleich auch der unfehlbare Antrieb seines Wollens und aller seiner Lebensregung und -bewegung. Die bisherige Staatskunst, als die Erziehung des gesellschaftlichen Menschen, setzte als sichere und ohne Ausnahme geltende Regel voraus, daß jedermann sein eignes sinnliches Wohlsein liebe und wolle, und sie knüpfte an diese natürliche Liebe durch Furcht und Hoffnung künstlich den guten Willen, den sie wollte, das Interesse für das gemeine Wesen. Abgerechnet, daß bei dieser Erziehungsweise der äußerlich zum unschädlichen oder brauchbaren Bürger gewordene dennoch innerlich ein schlechter Mensch bleibt, denn darin eben besteht die Schlechtigkeit, daß man nur sein sinnliches Wohlsein liebe, und nur durch Furcht oder Hoffnung für dieses, sei es nun im gegenwärtigen, oder in einem künftigen Leben bewegt werden könne; — dieses abgerechnet, haben wir schon oben ersehen, daß diese Maßregel für uns nicht mehr anwendbar ist, indem Furcht und Hoffnung nicht mehr für uns, sondern gegen uns dienen, und die sinnliche Selbstliebe auf keine Weise in unsern Vorteil gezogen werden kann. Wir sind daher sogar durch die Not gedrungen, innerlich und im Grunde gute Menschen bilden zu wollen, indem nur in solchen die deutsche Nation noch fortdauern kann, durch schlechte aber notwendig mit dem Auslande zusammenfließt. Wir müssen darum an die Stelle jener Selbstliebe, an welche nichts Gutes für uns sich länger knüpfen läßt, eine andre Liebe, die unmittelbar auf das Gute, schlechtweg als solches, und um sein selbst willen gehe, in den Gemütern aller, die wir zu unsrer Nation rechnen, setzen und begründen.

Die Liebe für das Gute schlechtweg als solches, und nicht etwa um seiner Nützlichkeit willen für uns selber, trägt, wie wir schon ersehen haben, die Gestalt des Wohlgefallens an demselben: eines so innigen Wohlgefallens, daß man dadurch getrieben werde, es in seinem Leben darzustellen. Dieses innige Wohlgefallen also wäre es, was die neue Erziehung als festes und unwandelbares Sein ihres Zöglings hervorbringen müßte; worauf denn dieses Wohlgefallen durch sich selbst den unwandelbar guten Willen desselben Zöglings als notwendig begründen würde.

Ein Wohlgefallen, das da treibt einen gewissen Zustand der Dinge, der in der Wirklichkeit nicht vorhanden ist, hervorzubringen in derselben, setzt voraus ein Bild dieses Zustandes, das vor dem wirklichen Sein desselben vorher dem Geiste vorschwebt, und jenes zur Ausführung treibende Wohlgefallen auf sich zieht. Somit setzt dieses Wohlgefallen in der Person, die von ihm ergriffen werden soll, voraus das Vermögen, selbsttätig dergleichen Bilder, die unabhängig seien von der Wirklichkeit, und keineswegs Nachbilder derselben, sondern vielmehr Vorbilder, zu entwerfen. Ich habe jetzt zu allernächst von diesem Vermögen zu sprechen, und ich bitte, während dieser Betrachtung ja nicht zu vergessen, daß ein durch dieses Vermögen hervorgebrachtes Bild eben als bloßes Bild, und als dasjenige, worin wir unsre bildende Kraft fühlen, gefallen könne, ohne doch darum genommen zu werden als Vorbild einer Wirklichkeit, und ohne in dem Grade zu gefallen, daß es zur Ausführung treibe; daß dies letztere ein ganz andres, und unser eigentlicher Zweck ist, von dem wir später zu reden nicht unterlassen werden, jenes nächste aber lediglich die vorläufige Bedingung enthält zur Erreichung des wahren letzten Zwecks der Erziehung.

Jenes Vermögen, Bilder, die keineswegs bloße Nachbilder der Wirklichkeit seien, sondern die da fähig sind, Vorbilder derselben zu werden, selbsttätig zu entwerfen, wäre das erste, wovon die Bildung des Geschlechts durch die neue Erziehung ausgehen müßte. Selbsttätig zu entwerfen, habe ich gesagt, und also, daß der Zögling durch eigne Kraft sie sich erzeuge, keineswegs etwa, daß er nur fähig werde, das durch die Erziehung ihm hingegebene Bild, leidend aufzufassen, es hinlänglich zu verstehen, und es, also wie es ihm gegeben ist, zu wiederholen, als ob es nur um das Vorhandensein eines solchen Bildes zu tun wäre. Der Grund dieser Forderung der eignen Selbsttätigkeit in diesem Bilden ist folgender: nur unter dieser Bedingung kann das entworfene Bild das tätige Wohlgefallen des Zöglings an sich ziehen. Es ist nämlich ganz etwas andres, sich etwas nur gefallen zu lassen, und nichts dagegen zu haben, dergleichen leidendes Gefallenlassen allein höchstens aus einem leidenden Hingeben entstehen kann; wiederum aber etwas andres, von dem Wohlgefallen an etwas also ergriffen werden, daß dasselbe schöpferisch werde, und alle unsre Kraft zum Bilden anrege. Von dem ersten, das in allewege in der bisherigen Erziehung wohl auch vorkam, sprechen wir nicht, sondern von dem letzten. Dieses letzte Wohlgefallen aber wird allein dadurch angezündet, daß die Selbsttätigkeit des Zöglings zugleich angereizt, und an dem gegebenen Gegenstande ihm offenbar werde, und so dieser Gegenstand nicht bloß für sich, sondern zugleich auch als ein Gegenstand der geistigen Kraftäußerung gefalle, welche letztere unmittelbar, notwendig, und ohne alle Ausnahme wohlgefällt.

Diese im Zöglinge zu entwickelnde Tätigkeit des geistigen Bildens ist ohne Zweifel eine Tätigkeit nach Regeln, welche Regeln dem Tätigen kundwerden, bis zur Einsicht ihrer einzigen Möglichkeit in unmittelbarer Erfahrung an sich selber; also, diese Tätigkeit bringt hervor Erkenntnis, und zwar allgemeiner und ohne Ausnahme geltender Gesetze. Auch in dem von diesem Punkte aus sich anhebenden freien Fortbilden ist unmöglich, was gegen das Gesetz unternommen wird, und es erfolgt keine Tat, bis das Gesetz befolgt ist; wenn daher auch diese freie Fortbildung anfangs von blinden Versuchen ausginge, so müßte sie doch enden mit erweiterter Erkenntnis des Gesetzes. Diese Bildung ist daher in ihrem letzten Erfolge Bildung des Erkenntnisvermögens des Zöglings, und zwar keineswegs die historische an den stehenden Beschaffenheiten der Dinge, sondern die höhere und philosophische, an den Gesetzen, nach denen eine solche stehende Beschaffenheit der Dinge notwendig wird. Der Zögling lernt.