Ch. Links Verlag, Berlin
Editorische Notiz
Bei Übertragungen aus dem Russischen wurde größtenteils nach den geläufigen Regeln der Duden-Transkription vorgegangen. Ausnahmen stellen das Weichheitszeichen (Ь) dar, das in diesem Buch als j dargestellt wird, sowie die originalgetreue Umschreibung von ий zu ij. Bei englischen Originaltiteln wurde die dort verwendete Umschrift aus dem Russischen beibehalten.
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.
1. Auflage, April 2020,
entspricht der 1. Druckauflage von April 2020
© Christoph Links Verlag GmbH
Prinzenstraße 85 D, 10969 Berlin, Tel.: (030) 44 02 32-0
www.christoph-links-verlag.de; mail@christoph-links-verlag.de
Lektorat: Dennis Grabowsky, Berlin
Umschlaggestaltung: Preuße & Hülpüsch Grafik-Design, Berlin (www.kunstistarbeit.de), unter Verwendung von Fotos vom Einsatz russischer Militärs 2019 in Syrien (news24-7.ru): Bildmontage
Satz: Nadja Caspar, Ch. Links Verlag
ISBN 978-3-96289-078-0
eISBN 978-3-86284-473-9
Einführung
Putins Säulen der Kleptokratie
Des Kremls Traum von der Großmacht
Moskau wendet sich vom Westen ab
China – der strategische Partner?
Putin, die Raketen und die Angst
Russland auf dem Weg zum Olymp?
Von der Arktis bis nach Zentralafrika
Putins graue Männer
Die Festung Russland
Der Bluff oder »pokasucha« – so tun, als ob
Anhang
Anmerkungen
Literaturverzeichnis
Personenregister
Dank
Angaben zum Autor
Es ist der 18. März 2019. Über den staatlichen Institutionen weht die russische Nationalflagge. Auch viele Moskauer haben Fahnen in weiß-blau-rot aus den Fenstern gehängt. Russland begeht den fünften Jahrestag der »Heimkehr der Krim in den Heimathafen«, wie die Okkupation der ukrainischen Halbinsel im offiziellen russischen Sprachgebrauch genannt wird.
Die Aufwallung patriotischer Gefühle, die damit einherging, ist inzwischen abgeebbt. Auch die Patrioten spüren, dass Russland sich damit keine Freunde gemacht hat, dass es nicht geliebt wird, pflegen aber einen trotzigen Stolz. Man tröstet sich mit dem Gedanken, dass dieses Nichtgeliebtwerden ja doch nur Ausdruck der allgegenwärtigen Russophobie sei, angereichert mit einer ordentlichen Prise Neid über die großartige Persönlichkeit ihres Präsidenten Wladimir Putin. Der, so meinen viele seiner Landsleute, habe dem Land den Respekt zurückgeholt, der ihm zusteht, immer zugestanden hat. Er habe, so die landläufige Meinung einer großen Mehrheit in der Russischen Föderation, dem Land den Status einer Großmacht wiedergegeben.
Noch fünf Jahre vorher, beim G20-Gipfel in Australien im November 2014, saß Wladimir Putin während eines Arbeitslunchs sehr lange sehr allein am großen runden Tisch. Das Foto ging um die Welt als Beleg für die Einsamkeit des Ausgestoßenen. Was er zu dem Zeitpunkt, im November 2014, auch war. Schließlich hatte er sich gerade mit der Krim ein Filetstück aus dem OSZE-Mitglied Ukraine herausgeschnitten und führte einen verdeckten Krieg im Ostteil des Nachbarstaates. Verärgert ob des fehlenden Verständnisses seiner westlichen Partner reiste Putin vorzeitig ab.
Fünf Jahre später sieht man ihn beim G20-Gipfel in Osaka lachend mit US-Präsident Donald Trump scherzen, auf einem Gruppenfoto steht er neben Chinas Staatspräsident Xi Jinping und dem japanischen Gastgeber Shinzo Abe. Der Kreml hat eine so nicht erwartete Wende in seiner Außenwahrnehmung erreicht, man ist wieder wer. Trotz – oder wegen – seiner Aggression gegen die Ukraine, seinem Militäreinsatz in Syrien, den Cyber-Attacken auf demokratische Institutionen unter anderem in den USA und Deutschland spielt Russland wieder eine Rolle auf der weltpolitischen Bühne.
Angela Stent, die US-Politologin, ist beeindruckt: »Einige Jahre zuvor hatte Präsident Obama Russland als ›Regionalmacht‹ bezeichnet. Aber Putin bewies das Gegenteil – Russlands Einflusssphäre ist heute eindeutig global.«1 Stent, deren Russland-Expertise zu den wichtigen Quellen für das Verständnis der Russischen Föderation und ihres politischen Systems zählt, spricht da allerdings ein großes Wort sehr gelassen aus.
Wie viel Großmacht steckt wirklich in Russland? Kann Moskau seine weitreichenden Ansprüche tatsächlich auch realisieren? Und wie groß ist die Gefahr, die davon für Europa und die Welt ausgeht? Diesen Fragen gehe ich in meinem Buch nach. Es basiert auf Erfahrungen, die ich in über 20 Jahren als Korrespondent in der Sowjetunion und in Russland gesammelt habe. Auch nach dem Ende meiner Tätigkeit besuchte ich Russland regelmäßig, traf politische Akteure und Menschen im Alltag. Ich wurde Zeuge wichtiger innenpolitischer Prozesse, die eng im Zusammenhang mit dem aggressiven Verhalten nach außen stehen. Neben dem fortgesetzten Demokratieabbau geht die Re-Stalinisierung des Landes in erschreckender Geschwindigkeit voran, ebenso die Militarisierung, die nach der Jugend greift und schon im Vorschulalter beginnt. Und es findet eine Neuinterpretation der Geschichte statt, die im Versuch des Kremls gipfelt, den sowjetischen Sieg im Großen Vaterländischen Krieg zu usurpieren und in einen russischen umzudeuten. Davon abweichende, an den Fakten orientierte Geschichtsinterpretationen können inzwischen gerichtlich verfolgt werden.
Wohin geht Russland? 20 Jahre nach der Installation Wladimir Putins als Präsident Russlands steht diese Frage wieder einmal im Raum. Und wieder einmal hat das System Putin keine zukunftsweisende Antwort. Es klammert sich an Begriffe wie »Stabilität« und »unbeschränkte Souveränität« in einem großeurasischen Raum, in dem Moskau die Führung innehat. Den westeuropäischen Staaten, so schreiben Kreml-Apologeten hoffnungsvoll, bleibe nur der Anschluss an dieses Konstrukt. Dabei ist der Blick rückwärtsgewandt. Die Herrschaft von Nikolai II. im 19. Jahrhundert gilt im Kreml inzwischen als das erstrebenswerte »goldene Zeitalter«.
Im Sommer 2019 habe ich in Moskau eine Reihe von Gesprächen mit Politologen, Historikern, Soziologen und Zeitungsmachern geführt, um frische Eindrücke und Informationen zu gewinnen. Sie vermittelten mir aufschlussreiche Einblicke in die aktuellen inneren Prozesse, die im Land ablaufen und die hinter dem Glanz der Metropolen Moskau und St. Petersburg auf den ersten Blick kaum erkennbar sind. Dabei drängte sich mir ganz beiläufig die Erkenntnis auf: Man sollte das russische Wort »pokasucha« kennen und in seinem Wesen begriffen haben, um die Entwicklung in Russland in den vergangenen Jahrzehnten verstehen und den Zustand des Landes heute begreifen zu können. Pokasucha heißt auf Deutsch: So tun, als ob.
Putinismus – das ist die Verachtung des Menschen und seiner Würde, die Unterdrückung der Freiheit, die Implantation von Angst, die Käuflichkeit, die Ignoranz gegenüber dem Völkerrecht und die wachsende Konfrontation mit den entwickelten Ländern der Welt.
Grigorij Jawlinskij,
Gründer der liberalen Jabloko-Partei
Silvester 1999. Der türkische Supermarkt am Moskauer Stadtrand war an diesem Tag besonders frequentiert. Die Moskauer wollten am letzten Tag des Jahres 1999 noch die letzten Einkäufe erledigen, ehe in der Nacht die Feierlichkeiten zur Begrüßung des neuen Jahres beginnen konnten. Das Wort Silvester und die damit verbundene Tradition, das alte Jahr zu verabschieden, ist eher in Westeuropa bekannt. Aber egal, woher die Kunden auch kommen mochten, gefeiert würde in jedem Fall. Die Einkaufswagen wurden noch einmal vollgepackt mit Lebensmitteln und diversen Getränken, als gäbe es kein Morgen. Acht Jahre nach dem Ende der Sowjetunion gehörten die permanenten Versorgungsmängel der Vergangenheit an. Vergessen waren sie freilich nicht. Saß man mit Freunden zusammen, warf bestimmt irgendjemand ein »Wisst ihr noch?« in die Runde, und es wurde in Erinnerungen gekramt, Geschichten über besonders pfiffige Lebensmittel-Beschaffungsaktionen wurden zum Besten gegeben.
Meine Frau und ich hatten uns ebenfalls ins Einkaufsgewühl gestürzt und kräftig eingekauft. Zufrieden fuhren wir zurück in unsere Wohnung am Kutusow-Prospekt. Der kleine Škoda Felicia, kürzlich erst erworben bei einer Firma, die ihren Sitz auf den British Virgin Islands und ihr Bankkonto in Amsterdam hatte, war beladen mit allerlei Festtagsköstlichkeiten.
Dieser Jahreswechsel stand unter einem besonderen Stern. Über allem lag eine leichte, kaum merkliche Spannung. Schlag Mitternacht würde das Jahr 2000 beginnen, über das in den Monaten und Wochen zuvor schon viel geschrieben und gesprochen worden war. Es drohte, wie manche glaubten, das »Jahr-2000-Syndrom«. Viele argwöhnten, die Computersysteme würden verrücktspielen, weil sie diesen Sprung ins nächste Jahrtausend nicht bewältigen könnten. Das warf auch die Frage auf, was mit den russischen Atomraketen werden würde, die in ihren Bunkern tagein, tagaus auf ihren Startbefehl warteten. Würden die Raketen brav in ihren Silos bleiben? Die gleiche Frage richtete sich natürlich auch an die Amerikaner, aber damit sollten sich ruhig meine Kollegen in New York und Washington beschäftigen.
Hier in Moskau hatte der Chef der russischen strategischen Raketenabwehr, General Sergej Martynow, schon Wochen vor dem Jahreswechsel auf einer Pressekonferenz beschwichtigende Worte gefunden. Es drohe keine Gefahr, und wer daran zweifle, könne ja die Neujahrsnacht mit ihm zusammen im zentralen Kommandostab in Odinzowo bei Moskau verbringen. Das war als leutseliger Scherz gedacht, aber ich beschloss, den Mann beim Wort zu nehmen. Ich dankte per Fax an die Raketentruppen für die freundliche Einladung, ich würde sie gern annehmen, schrieb ich ihm.
Es geschah ein kleines Wunder. Ich bekam einen Brief, unterschrieben vom Chef der strategischen Raketenabwehr. Er freue sich über den Humor des Korrespondenten, natürlich sei das mit der gemeinsamen Feier nicht ganz ernst gemeint gewesen. Aber ich würde die Telefonnummer des Diensthabenden bekommen, den ich in der Neujahrsnacht anrufen könne. Der Offizier würde mir alle meine Fragen beantworten. Die Telefonnummer erhielt ich tatsächlich, der spannende Anruf in der Neujahrsnacht war gesichert. Ich hatte ein »heißes« Thema, das mir die Heimatredaktionen am kommenden Tag ganz sicher freudig aus den Händen reißen würden. Es sollte anders kommen.
Wir fuhren in Richtung Stadtzentrum und näherten uns dem Triumphbogen, der an den Sieg General Kutusows über das napoleonische Heer im Jahr 1812 erinnert. Da drangen Nachrichtenfetzen des beliebten Moskauer Radiosenders Echo Moskwy an mein Ohr. Überrascht schaute ich meine Frau an. Hatte sie das auch gehört? Tatsächlich, kein Zweifel war möglich! Der Sender berichtete, dass Boris Jelzin, der erste Präsident der Russischen Föderation, die er mit seinem Sturz des sowjetischen Präsidenten Michail Gorbatschow 1991 ins Leben gerufen hatte, gerade zurückgetreten sei. Noch am gleichen Tag sollten wir im Fernsehen die permanent wiederholte Abschiedsrede mehrfach sehen. Darin verkündete Jelzin mit zittriger Stimme »Ja uchoschu. Ich trete zurück«.
Zum amtierenden Präsidenten wurde, wie es die Verfassung vorsah, zur gleichen Stunde der Premierminister der Russischen Föderation ernannt: Wladimir Wladimirowitsch Putin. Er war erst im Sommer 1999 vom Chefposten des Inlandsgeheimdienstes FSB auf den Sessel des Premiers gewechselt. Die Popularitätskurve des zunächst blassen Putin war innerhalb weniger Monate steil nach oben gestiegen. Der neue, weitgehend unbekannte Regierungschef hatte einen zweiten Tschetschenien-Krieg entfacht und dabei eine Art von Entschlossenheit bewiesen, wie es die Hardliner in Moskau gern sahen. Tschetschenische Opfer zählten nicht.
Putins erste Amtshandlung nach seiner Ernennung zum amtierenden Präsidenten bestand in der Unterzeichnung eines Dekrets, das dem scheidenden Boris Jelzin und seiner Familie Straffreiheit auf Lebenszeit garantierte. Damit erfüllte er ein zuvor gegebenes Versprechen. Mit seiner zweiten Unterschrift übernahm er den »Atomkoffer« und ein Land, zerrissen von Widersprüchen.
20 Jahre später. Entspannt sitze ich im Schatten einer Weide auf der Datscha meiner Freunde in Alatschkowo bei Moskau. Als wir die Weide vor vielen Jahren pflanzten, war sie klein und mickrig. Jetzt ist sie groß genug, uns vor der knalligen Sonne zu schützen. Mein Gegenüber, ein Nachbar meiner Gastgeber, streichelt seinen winzigen Schoßhund und gießt Wodka nach. »Aber ja«, sagt er leutselig, »wir befinden uns im dritten Weltkrieg mit euch, schon lange.« Und in dem werde eines Tages unzweifelhaft Russland obsiegen.
Ljoscha Pankin, der Sohn eines ehemaligen russischen Außenministers, kämpft in diesem »Krieg«, indem er in der staatlichen TV-Dachorganisation WGTRK jeden Tag russische national-patriotische Videos auswählt, die dann bei YouTube veröffentlicht werden. »Putinversteher« in Deutschland halten die Videos dann für eine empfehlenswerte alternative Informationsquelle, für den »fehlenden Part«, der ihnen angeblich vom deutschen »Mainstream« vorenthalten wird. Ljoschas Töchter leben derweil in dem Ausland, mit dem ihr Vater gerade »Krieg« führt. Die eine ist in Deutschland verheiratet, die andere studiert in den USA, wo sich auch Ljoschas Gattin gerade auf einer Dienstreise befindet. Sie ist Journalistin bei Radio Free Europe. Zoff in der heimatlichen Wohnung ist da nicht selten. Ljoschas Vater Boris Pankin, der zur Zeit Gorbatschows für ein paar Monate dem Außenministerium vorstand, verbringt seinen Lebensabend in Schweden. Er ist Rentner und akkreditiert als politscher Beobachter der russischen Regierungszeitung Rossijskaja Gaseta. Sieht da jemand Widersprüche? Ljoscha nicht.
Oleg, ein alter Bekannter, Ingenieur, Ende 40, schaut mit seiner Familie vorbei. Er fühlt sich verpflichtet, dem Ausländer die russische Politik nahezubringen. Selbst mein Einwand, dass ich dieses Mal nur Urlaub in Russland mache, kann seinen Eifer nicht bremsen. Es sind die üblichen Versatzstücke der russischen Propaganda: Die Krim gehört uns (Krim nasch!), sie ist schon immer russisch gewesen. Russen, die diese Meinung nicht teilen, eine Minderheit, nennen Leute wie ihn übrigens »Krimnaschisten«.
Nach dem Anschluss, so agitiert Oleg, seien die Menschen dort jetzt alle glücklich. Sie wollten nie zur Ukraine gehören, man habe sie sogar gezwungen, Ukrainisch zu sprechen. Was nicht stimmt. Der Westen bedrohe Russland, die Sanktionen sollen es in die Knie zwingen. Das habe aber nur dazu geführt, dass Russland sich auf die eigenen Stärken besonnen habe. Viele Lebensmittel, die nicht mehr importiert werden dürfen – übrigens wegen der »Kontersanktionen«, die Moskau selbst gegenüber dem Westen verfügte –, würden inzwischen durch einheimische Produktion ersetzt. »Wir stellen jetzt schon sehr ordentlichen Parmesan her!« Der Hausherr hat es längst aufgegeben, mit diesem Gast zu diskutieren. Ihre Begegnungen sind seltener geworden. Ihm ist es peinlich, dass ich diese, wie er sagt, primitiven patriotischen Sprüche hören muss.
Die haben nach der zur Fußball-Weltmeisterschaft verordneten freundlichen Weltoffenheit wieder die alte Schärfe gewonnen. Statt der weltumspannenden Freundschaftsrhetorik tauchten erneut markige Drohungen auf, die es auch vor der WM schon gegeben hatte: Moschno powtoritj! »Wir können das wiederholen«, sagen Leute wie Schirinowskij unter Anspielung auf den Zweiten Weltkrieg, wenn sich vor allem die Deutschen nach Meinung russischer Politiker Dinge erlauben, die ihnen nicht zustehen: Kritik an den politischen Zuständen in Russland, an der Krim-Annexion, am Krieg in der Ostukraine. Schließlich haben sie, die Deutschen, ja 1945 eine vernichtende Niederlage im Großen Vaterländischen Krieg erlitten. Der gerade, über 70 Jahre nach Kriegsende neu gestartete TV-Sender Pobjeda (Der Sieg), der ausschließlich patriotische Kriegsfilme sendet, erinnert sie täglich daran.
Die Lettin Laima Waikule ist vielen Ostdeutschen noch als Estradensängerin, das russische Wort für Schlagersängerin, aus sowjetischer Zeit bekannt. Bei einem aktuellen Auftritt in Odessa (Ukraine) sagte sie auf der Bühne, dass sie für kein Geld der Welt auf der von Russland okkupierten Krim auftreten würde. In Russland brach ein Hass-Sturm los: Sie solle nicht die Hand beißen, die sie füttere, solle nicht vergessen, woher sie komme, die Balten hätten nie so gut gelebt wie zur Zeit der Sowjetunion – und dergleichen mehr. Waikule wird inzwischen in den russischen Medien als »russophob« beschimpft.
Auch die deutsche Pop-Gruppe Rammstein, eine der beliebtesten ausländischen Bands in Russland, musste erleben, wie schnell man dort in Ungnade fällt. Bei ihrem Auftritt im Moskauer Luschniki-Stadion küssten sich zwei Band-Mitglieder auf offener Bühne, um ein Zeichen gegen Homophobie zu setzen. Im offiziellen Russland, wo öffentliche Bekundungen dieser Art in Anwesenheit von Minderjährigen unter Strafe stehen, ein Skandal. Der Parlamentsabgeordnete Witalij Milonow rief Rammstein denn auch dazu auf, solche Auftritte in Russland künftig zu unterlassen. »Wenn sie es für möglich halten, sich derartig aufzuführen, dann sollten wir es auch für möglich halten, uns von solchem Müll fernzuhalten«, sie könnten das ja in der Ukraine aufführen, sagte Milonow – und setzte noch einen drauf, indem er die Fans der Band als »nicht normal« bezeichnete. Milonow war einer der Initiatoren des Gesetzes gegen die sogenannte »homosexuelle Propaganda«.2
Irgendwann bei meinem letzten Besuch musste ich dann doch mal nach Moskau in die City. Die Gespräche mit Taxifahrern waren interessant, wie so oft. Da war der freundliche armenische Dirigent, der mich besorgt fragte, ob sich die Deutschen noch auf die Straßen wagten. Schließlich würden ja Horden von Afrikanern und Arabern das Leben unsicher machen. Woher er das habe? »Na, im Fernsehen zeigen sie täglich schlimme Bilder aus Deutschland …«
Ein anderer Vertreter der Taxifahrer-Zunft, ein muskulöser Russe, wird ganz lebhaft, als er merkt, dass ich Deutscher bin. »Schade, dass Hitler den Krieg nicht gewonnen hat, das wäre besser gewesen.« Meinen Einwand, dann würden wir nicht miteinander reden können, weil Hitler die Völker im Osten einschließlich der Russen habe vernichten wollen, wischt er mit einer Handbewegung weg. »Na, dann hätten sich Hitler und Stalin eben einigen und zusammengehen müssen!« Und zu welchem Zweck? »Wir hätten zusammen Europa und die ganze Welt beherrschen können.« »Aber du weißt schon, dass du ein Faschist bist?« »Ich denke schon …«
Derweil brannten in Sibirien die Wälder, das Feuer hatte im August 2019 bereits 4,3 Millionen Hektar Waldfläche vernichtet. Das Vielfache der Fläche der 2014 eroberten Krim. Während die Einwohner sibirischer Städte wegen der Rauchentwicklung nach Luft schnappten und Löscharbeiten erst begannen, als man in Moskau die Anweisung dazu gab, beschuldigte der Parlamentsabgeordnete und stellvertretende Vorsitzende des Duma-Komitees für Umweltschutz die russische Opposition, sie habe bei den Bränden in Sibirien die Hände im Spiel. Der Mann ist auch in Deutschland gut bekannt. Es ist der ehemalige Schwergewichts-Weltmeister Nikolaj Walujew, der seinerzeit für den Boxstall des Promoters Wilfried Sauerland boxte. Woher seine Kenntnisse über den Umweltschutz stammen, ist rätselhaft. Walujew kann lediglich auf ein abgebrochenes Sportstudium verweisen.
Zur gleichen Zeit demonstrierten in der Zwölf-Millionen-Einwohner-Stadt Moskau ein paar tausend Menschen für faire Wahlen. Der Staat fühlte sich in seinen Grundfesten bedroht, verfolgte sie brutal und mit niederträchtigen Anschuldigungen. »Ausländische Organisatoren« wurden beschuldigt, die Drahtzieher zu sein. Später wird die Duma unter anderem die Deutsche Welle auffordern, sie solle sich im russischen Parlament für ihre Einmischung in die inneren Angelegenheiten Russlands verantworten.
Es sind Momentaufnahmen aus einem Land, das ich auch nach dem Ende meiner Korrespondenten-Tätigkeit regelmäßig besuche. Es sind Splitter einer Realität, die einem flüchtigen Besucher, der sich an den zahlreichen schönen Seiten der russischen Millionenstädte erfreut, nicht sogleich ins Auge springen. Der Tourist nimmt eher die vermeintlich gesicherte Erkenntnis mit, dass Russland, das sich wieder als Großmacht fühlt und weitgehend auch so wahrgenommen wird, sicher auf seinen Füßen steht. Solange diese Füße stabil sind. Mehrere Stützpfeiler halten das Putin-System aufrecht.
Die Jahre unter der Regentschaft von Boris Jelzin (1991–1999) waren politisch die beste Zeit für Russlands Liberale. Sie genossen so viel Freiheit wie nie zuvor. Ebenso die Medien, Zeitungen wurden massenhaft gegründet, private Fernsehstationen gingen auf Sendung. Der TV-Sender des Oligarchen Wladimir Gussinskij wurde schnell zu einer höchst angesehenen Informationsquelle. Die Menschen genossen die Offenheit und den kritischen Umgang des Senders mit politischen Ereignissen. Das Satire-Programm Kukly (Die Puppen) von Wiktor Schenderowitsch war Kult. Respektlos wurden die führenden Politiker, der Präsident eingeschlossen, aufs Korn genommen.
Dabei sah es in der Zeit wirtschaftlich und damit auch sozial sehr trübe aus. Inflation, Rubel-Entwertung und Arbeitslosigkeit beutelten das Land. Heute, in der Putin-Zeit, gelten die 1990er Jahre vielen Russen als die Zeit des Chaos, der Unordnung und der politischen Wirren. Ohne die Hilfe westlicher Staaten und des Internationalen Währungsfonds hätte Russland diese schwere Zeit kaum überstanden.
Ja, das stimme alles, höre ich von meinen Freunden in Moskau. »Aber es war auch die Zeit der Hoffnung auf eine neue, offene und demokratische Gesellschaft, in der die Bürger des Landes die Rechte und Freiheiten, wie sie auf dem Papier standen, auch im Alltagsleben genießen wollten und weitgehend auch konnten.« Heute gehe es ihnen wirtschaftlich besser, aber dafür sei die Hoffnung auf eine freie Gesellschaft dahin, Russland sei erstarrt in der autokratischen Herrschaft eines scheinbar »ewigen« Präsidenten, die einen Gauner-Kapitalismus hervorgebracht habe.3
Wladimir Putin brauchte 20 Jahre, diese Staatsform zu schaffen, die inzwischen auch als Putinismus, auch Putins Kleptokratie genannt, in den Sprachgebrauch eingegangen ist. Seine vorherrschenden Merkmale sind Klientelismus, Korruption und Rentenökonomie.4
Das Rückgrat des Systems bilden die russischen Geheimdienste, deren Führungspersonal seinen Aufstieg mehrheitlich der gemeinsamen Zeit mit Putin in Leningrad / St. Petersburg verdankt. Sie hatten schon damals den Ruf, nützlich und loyal zu sein und über weitverzweigte Mafiakontakte zu verfügen. Sie haben nach Putins Einzug in den Kreml im Jahr 2000 zügig die Führungsposten in anderen Sicherheitsdiensten, im Staatsapparat, in den Parlamenten, der Justiz und der Wirtschaft besetzt. Die Geheimdienste hatten das erhalten, was ihnen in den 1990er Jahren noch verwehrt gewesen war, die Immunität vor jedweder äußeren Kontrolle.
Sie waren hilfreich beim Aufbau der »Vertikale der Macht«, mit der die demokratischen Institutionen, das System von »Checks and Balances« zwischen Exekutive und Legislative, ausgehebelt und die Unabhängigkeit der Justiz, soweit vorhanden, weitgehend beseitigt wurde. Sie bilden heute die neue herrschende Klasse in Russland. Präsident Putin gebietet über mehrere Geheim- und Sicherheitsdienste. Dies sind die wichtigsten:
Der Föderale Sicherheitsdienst (FSB) untersteht direkt dem Präsidenten, die operative Leitung obliegt seit 2008 dem FSB-Direktor Alexander Bortnikow. Der enge Vertraute des Kreml-Chefs gehört zum Kreis der »Leningrader«. Das Aufgabenfeld des Dienstes umfasst die Spionageabwehr, den Schutz von Staatsgeheimnissen, die Bewachung der Grenzen, den Kampf mit besonders gefährlichen Formen des organisierten Verbrechens, den Kampf gegen den Terrorismus, die Beteiligung am Kampf gegen die Korruption. Es gehört auch zu den üblichen Praktiken des Geheimdienstes, politisch Missliebige durch fingierte Vorwürfe mundtot zu machen und / oder ins Gefängnis zu bringen. Der FSB ist der direkte Nachfolger des sowjetischen KGB. Der deutsche Verfassungsschutz schätzt die Zahl der FSB-Mitarbeiter heute auf rund 350 000. Von ihnen sind 66 200 Militärangehörige, darunter 4000 Mann in Spezialeinheiten wie Alpha und Wympel. Auch 160 000 bis 200 000 Angehörige der Grenztruppen gehören zum FSB.
Der Dienst für Auslandsaufklärung (SWR), dessen Zentrale sich in Batschurino am Stadtrand von Moskau befindet, ist ausschließlich im Ausland aktiv und befasst sich mit politischer Spionage. Er soll herausfinden, welche Ziele und Absichten andere Mächte, aber auch Organisationen und führende Politiker verfolgen, und nach Möglichkeit die russische Außenpolitik im internationalen Umfeld unterstützen. Eine weitere Aufgabe besteht in der Wirtschaftsspionage, das heißt in der Beschaffung von geheimen Informationen über Wirtschaft, Finanzen, Rohstoffe, seltene Metalle sowie über Marktentwicklungen der außenpolitischen Konkurrenten Russlands. Und schließlich haben die SWR-Leute die Aufgabe, wissenschaftlich-technische Entwicklungen auszuspähen und nach Möglichkeit zu stehlen. Der wohl größte Coup der sowjetischen Spionage war die Beschaffung der Baupläne für die Atombombe aus Los Alamos. Im Sommer 2019, nach der Explosion einer russischen »Superwaffe« bei Sewerodwinsk, hat der inzwischen entlassene US-Sicherheitsberater John Bolton Russland beschuldigt, die Technologie für die Hyperschall-Fluggeräte in den USA gestohlen zu haben.5
Der Föderale Wachdienst der Russischen Föderation (FSO) ist für die Sicherheit des staatlichen Führungspersonals zuständig. Er nutzt dazu auch Methoden der verdeckten Aufklärung und sichert die Spezialkommunikation zwischen den Mitgliedern der Führung und den Regionen. Aus seiner besonderen Nähe zur Führung des Landes erwächst in der Truppe das Gefühl, eine besondere Willkür gegenüber den weniger Privilegierten ausleben zu können. Im Februar 2018 beauftrage Putin den FSO, sich nun auch um die Sicherheit der IT-Systeme der russischen Führung und um die Abwehr von »Informationsattacken« zu kümmern. FSO-Chef ist seit 2016 Generaloberst Dmitrij Kotschnjow.
Der Föderale Dienst der Nationalgarde der Russischen Föderation ist ein spezieller Geheimdienst der rund 400 000 Mann starken Nationalgarde, die 2016 geschaffen wurde und die dem Präsidenten direkt untersteht. Befehligt wird sie von Wiktor Solotow, Putins Bodyguard aus St. Petersburger Zeiten. Die Nationalgarde selbst ist in Verruf geraten als die kriminellste aller Machtstrukturen Russlands. Führungsposten in der Nationalgarde und die Kaderpolitik musste Putin im Sommer 2019 in die Hände des FSB legen, um wieder halbwegs für Ordnung in der Garde zu sorgen.6
Die Hauptverwaltung des Generalstabs für Militärspionage, die immer noch mit ihrer sowjetischen Bezeichnung GRU genannt wird, gilt als eine der skrupellosesten Auslands-Spionageorganisationen. Sie untersteht dem Generalstabschef der russischen Streitkräfte. Ihre Aufgabe besteht laut Selbstbeschreibung in der Beschaffung von Aufklärungsinformationen, die unerlässlich sind für die Beschlussfassung in den Bereichen von Politik, Ökonomie, Verteidigung, Wissenschaft, Technik und Ökologie. Es gilt als erwiesen, dass Mitarbeiter dieser Hauptverwaltung unter anderem den Giftanschlag auf den russischen Ex-Geheimdienstmitarbeiter Sergej Skripal und seine Tochter in Salsbury in England ausgeführt haben.
Die Hauptverwaltung für Spezialprogramme des Präsidenten (GUSP) ist kein Geheimdienst im herkömmlichen Sinne. Sie selbst ist indes so geheim, dass relativ wenig über diese Organisation bekannt ist. Sie hat offiziellen Angaben zufolge die Aufgabe, mit dem ihr unterstehenden Dienst für Sonderobjekte (SSO) in Friedenszeiten alle Vorbereitungen dafür zu treffen, dass der Staatsapparat im Falle eines Krieges vor Angriffen geschützt ist und funktionsfähig bleibt. Das heißt konkret, dass die GUSP das Netz geheimer Bunker, unterirdischer Tunnel und Versorgungseinrichtungen im ganzen Land verwaltet. In Moskau, so vermuten Experten, soll es zwischen Lomonossowskij-, Mitschurinskij- und Werdnadskij-Prospekt eine komplette unterirdische Stadt geben. Auch soll eine geheime Metro-Linie existieren, die vom Kreml zum Flughafen Wnukowo führt. Im Sommer 2019 geriet die Organisation in die Schlagzeilen, als sich der 55-jährige Andrej Kudrjaschow aus der Wohnung eines Hochhauses zu Tode stürzte. Kudrjaschow war der Finanzchef des SSO und kurz zuvor wegen finanzieller Unregelmäßigkeiten in seiner Organisation entlassen worden.7
Diese Struktur der russischen Sicherheitsdienste ist das Ergebnis des Umbaus des sowjetischen Komitees für Staatssicherheit (KGB – Komitet Gossudarstwennoi Besopasnosti), der Anfang der 1990er Jahre unter Leitung des damaligen KGB-Chefs Wadim Bakatin stattfand.8 Er zerlegte den Geheimdienst-Moloch im Auftrage von Präsident Boris Jelzin in einzelne Teile, der Geist der alten »Tschekisten« blieb jedoch erhalten.
Es ist bezeichnend für den archaischen Zustand des russischen Wirtschaftssystems, dass drei Öl- und Gaskonzerne, eine staatliche Bank und der Monopolist Russische Eisenbahnen die ersten fünf Plätze der größten Unternehmen des Landes einnehmen. Von einer Diversifizierung der Wirtschaft, die Kreml-Chef Putin für überlebenswichtig im 21. Jahrhundert hält, von Hightech-Unternehmen ist wenig bis nichts zu sehen unter den Spitzenkonzernen. Trotz anderslautender Beteuerungen des Mannes im Kreml verharrt Russland unter seiner 20-jährigen Führung in der Rolle eines militärisch hochgerüsteten Rohstofflieferanten mit weltweiten Interessen. Die Auslandsaktivitäten der Spitzenkonzerne orientieren sich an internationalen Ambitionen des Kremls. Geführt werden die Konzerne in der Regel von Männern, die, ohne deren Besitzer zu sein, ihre Unternehmen nach Gutsherrenart dirigieren und mit ihren Zugriffsmöglichkeiten auf die Geldströme Macht ausüben und sich selbst bereichern.
Zwei Deutsche spielen dort ebenfalls mit. Matthias Warnig, ein ehemaliger Offizier der DDR-Staatssicherheit, der vor der Wende in Düsseldorf bundesdeutsche Banken ausspionierte, ist Geschäftsführer der Gazprom-Tochter Nord Stream AG. ExBundeskanzler Gerhard Schröder ist Aufsichtsratsvorsitzender bei Nord Stream sowie Vorsitzender des Verwaltungsrats der Projektgesellschaft, die Nord Stream 2 baut und inzwischen nur noch Gazprom gehört. Seit 2017 ist Schröder auch Aufsichtsratschef beim Erdölkonzern Rosneft.
Gazprom-Chef Alexej Miller gebietet über ein gewaltiges Imperium, von dem das Wohl und Wehe der russischen Staatsfinanzen in hohem Maße abhängt, ein Imperium, das weltweit agiert und ursprünglich das Zentrum der Rohstoff-Weltmacht Russland hatte bilden sollen.
Es ist anders gekommen, das Militär und die Rüstungsindustrie haben die Federführung bei der Gestaltung der Großmachtrolle übernommen. Was für Gazprom bleibt, ist eine beeindruckende Fülle an Macht, sowohl im Inland als auch im Ausland. Der aus dem Ministerium für Erdöl- und Gaswirtschaft der UdSSR hervorgegangene Konzern besitzt rund ein Sechstel der derzeit gesicherten Erdgasreserven der Welt. Dazu kommen umfangreiche noch nicht erschlossene Reserven in Sibirien. Über ein Fernleitungsnetz von rund 150 000 Kilometern Länge und örtliche Weiterverteilungsnetze von 428 000 Kilometern verteilt Gazprom jedes Jahr über 500 Milliarden Kubikmeter Erdgas in Russland und darüber hinaus. Die Europäische Union bezieht rund ein Drittel ihres Erdgases von Gazprom. Die Pipeline Nord Stream 2 wird diese Anbindung und damit den Einfluss Moskaus auf Westeuropa weiter verstärken.9
Doch nicht alle Blütenträume reiften. 2008, als Gazprom seine Marktkapitalisierung auf mehr als 360 Mrd. US-Dollar gesteigert hatte, erklärte Miller, dass das Unternehmen das weltweit erste Billionen-Dollar-Unternehmen werden könnte. »Von diesem Versprechen ist nicht viel übrig geblieben. Gazprom wird derzeit mit 56 Mrd. $ bewertet. Schuld daran haben die Amerikaner. Der Schiefergas-Boom in den Vereinigten Staaten und die neuen Exportmöglichkeiten durch verflüssigtes Erdgas (LNG) zerstörten Gazproms Erfolgsmodell und brachten die Erdgaspreise ins Rutschen.«10
Igor Setschin ist Präsident des Erdölriesen Rosneft, der neben Gazprom zu den wichtigsten Devisenbringern Russlands gehört. Der Konzern trägt damit ganz wesentlich zur Stabilität des russischen Staatshaushalts bei. Es ist längst ein geflügeltes Wort, dass Igor Setschin nach Präsident Putin der zweitmächtigste Mann im Staate ist. Diesen Ruf verdankt er auch seiner Skrupellosigkeit, mit der er bedenkenlos gegen Konkurrenten und Partner vorgeht. Der ehemalige KGB-Mann war unter anderem die treibende Kraft hinter der Verurteilung des Yukos-Chefs Michail Chodorkowskij und der Zerschlagung des zu der Zeit effektivsten russischen Konzerns. Das Filetstück aus der Erbmasse von Yukos, das Erdölförderunternehmen Juganskneftjegas, riss er als Staatsdiener an sich und machte Rosneft zu einem Spitzenunternehmen.
Seit Mitte der 2000er Jahre kam die Verstaatlichung der russischen Ölindustrie dank Setschin in Riesenschritten voran, Rosneft schluckte die meisten Privatunternehmen der Ölbranche. 2018 stand Rosneft in der Rangfolge der größten Unternehmen Russlands an dritter Stelle. Der Anteil des Konzerns an der Ölförderung in Russland stieg zwischen 2000 und 2017 von vier auf 42 Prozent.11
Setschin, in den 1990er Jahren in St. Petersburger Zeiten noch »Kofferträger« Putins, ist ein typischer russischer Funktionär mit Geheimdiensthintergrund und offenbar auch mit Kontakten zur organisierten Kriminalität. Männer seines Schlages gehören zu den zuverlässigen Stützen des Systems. Sein Vermögen wird auf rund 300 Millionen Dollar geschätzt. Wer sich Setschin in den Weg stellt, hat schlechte Karten. Selbst ein Mann wie Alexej Uljukajew, Minister für wirtschaftliche Entwicklung, musste das zur Kenntnis nehmen. Er zog im Streit mit dem Rosneft-Chef den Kürzeren und sitzt nun für mehrere Jahre im Gefängnis. Rosneft, das sich selbst als »globales Energie-Unternehmen« bezeichnet, ist eigenen Angaben zufolge in Südamerika (unter anderem in Venezuela, wo der Konzern eine Stütze der Maduro-Diktatur ist), in Nord- und Ostafrika, im Nahen Osten (unter anderem in den Kurdengebieten im Nordirak) sowie in der asiatisch-pazifischen Region tätig.12
German Gref ist Vorstandsvorsitzender der Sberbank (PAO Sberbank Rossii), des größten Finanzinstituts Russlands. Über die Sberbank kann der russische Staat tief in das Wirtschaftsleben des Landes hineinregieren, was die Privatwirtschaft einschließt. Die Bank hält fast ein Drittel des Vermögens des russischen Bankensektors und ist einer der größten Kreditgeber des Landes. Die Sberbank hat mehr als 137 Millionen Privatkunden und mehr als eine Million Firmenkunden in 22 Ländern. Mitte 2018 kam sie auf einen Börsenwert von über 86 Milliarden US-Dollar. Sie ist eine Aktiengesellschaft, an der die Zentralbank der Russischen Föderation, die Bank Rossii, 50 Prozent plus eine Aktie und damit die Mehrheit hält. Gref, der aus einer russlanddeutschen Familie stammt, traf zu Beginn der 1990er Jahre im Bürgermeisteramt in St. Petersburg mit Putin zusammen.13
Zwischen 2000 und 2007 war er russischer Wirtschaftsminister, er zählt zu den vom Kreml »zugelassenen« Reformern, die sich innerhalb des Putin-Systems bewegen. Das Portal kompromat.wiki charakterisiert Gref als »typischen Deutschen in den oberen Etagen der Macht in Russland, wie es sie zahlreich gab in der vaterländischen Geschichte zur Zeit der Imperatoren, und die ein wenig vergessen wurden in der sowjetischen Periode. Er ist verlässlich und loyal gegenüber der obersten Führung, er erledigt seine Aufgaben ohne die den russischen Menschen eigenen ›reflexhaften Reaktionen‹ und ›Aufgeregtheiten‹, niemals bedauert er das, was er getan hat.«14
Oleg Bjelosjorow ist seit August 2015 Präsident des staatlichen Konzerns Russische Eisenbahnen (RZD). Er wurde Nachfolger des Ex-Geheimdienstgenerals Wladimir Jakunin, der ihm ein bereits im Niedergang befindliches Unternehmen hinterließ. Jakunin gründete nach seinem Ausscheiden in Berlin sein Forschungsinstitut »Dialog der Zivilisationen«, mit dem er versucht, die öffentliche Meinung in Westeuropa zu manipulieren.
RZD ist Monopolist im Bereich von Güter- und Passagiertransport auf der Schiene. 99 Prozent aller Eisenbahnstrecken Russlands (insgesamt mehr als 85 000 Kilometer) gehören dem Staatskonzern, der damit eine strategische Größe im russischen Wirtschaftsleben darstellt. Stolz vermeldet RZD, der Konzern mit seinen 750 000 Mitarbeitern gehöre zu den drei größten Transportunternehmen der Welt. Seine Bedeutung für das Land kann kaum überschätzt werden. Angesichts eines völlig ungenügenden Straßennetzes stellt die Eisenbahn – abgesehen vom teuren Flugverkehr – die einzige stabile Verkehrsverbindung zwischen dem europäischen Teil Russlands und dem Fernen Osten dar. Die Entfernung von der Westgrenze bis zur Halbinsel Kamtschatka im Fernen Osten beträgt 9000 Kilometer. Es liegt auf der Hand: Neben dem Güter- und Passagierverkehr hat RZD auch eine höchst wichtige militärische Bedeutung.15
Bjelosjorow ist ein alter Bekannter von Arkadij Rotenberg, der es im Schatten des Aufstiegs seines St. Petersburger Freundes Wladimir Putin inzwischen zum Milliardär gebracht hat. Rotenberg und Bjelosjorow lernten sich in den 1990er Jahren kennen. Bjelosjorow war damals Chef der Föderalen Agentur für das Straßenwesen. Arkadij und sein Bruder Boris Rotenberg gewannen zu der Zeit eine große Zahl von Ausschreibungen der Agentur.
Sergej Tschemesow ist ein enger Vertrauter von Präsident Putin und als Chef der Staatsunternehmen Rostec und Rosoboronexport auch deshalb einer der einflussreichsten Männer des Landes. Beide kennen sich noch aus Leningrader Zeiten aus dem KGB. Mit dem rasanten Wachstum von Rostec gewann Tschemesow deutlich an Macht. Im Sommer 2019 dementierte er Vermutungen, er werde in die Politik wechseln. Im Herbst verlieh ihm Präsident Putin den Titel »Held Russlands«.16
Rostec ist eine Dachorganisation für über 700 Unternehmen, die wiederum in 15 Holdings zusammengefasst sind. Offiziellen Verlautbarungen zufolge hat Rostec, gegründet 2007 als Rostechnologija, den Auftrag, die Entwicklung, Produktion und den Export von Erzeugnissen der russischen Hightech-Industrie zu befördern. Die Rostec-Unternehmen sind in den vielfältigsten Branchen unterwegs: Auto- und Flugzeugbau, Optik, Medizintechnik und so weiter. Der Schwerpunkt liegt indes in der Rüstungsindustrie. Mindestens zehn der 15 Holdings gehören zum militärisch-industriellen Komplex. Über den zu Rostec gehörenden Konzern Rosoboronexport wickelt Russland seine gesamten Rüstungsexporte ab. Eigenen Angaben zufolge ist Rosoboronexport zweitgrößter Waffenexporteur der Welt und hat einen Anteil von 25 Prozent am weltweiten Waffenhandel. Bisher wurden Waffen an 116 Länder verkauft.
»Ein Freund, ein guter Freund, das ist das Beste, was es gibt auf der Welt«, sangen Heinz Rühmann, Willy Fritsch und Oskar Karlweis 1930 in dem Film »Die Drei von der Tankstelle«. Die russische Interpretation dieser Liedzeile erlebte eine Gruppe von bis dahin wenig erfolgreichen Männern aus St. Petersburg mit ihrem atemberaubenden Aufstieg, der viele von ihnen innerhalb von wenigen Jahren zu Milliardären machte. Sie hatten in den 1990er Jahren das Glück, zur engeren Umgebung eines damals ebenfalls noch weitgehend unbeschriebenen Blattes zu gehören: Wladimir Putin. Und dieser Mann schickte sich gerade an, die Stufen zum Smolny, dem Sitz der St. Petersburger Stadtregierung, zu erklimmen. Es klingt wie ein schlechter Witz, wenn heute Anhänger des russischen Präsidenten, auch in Deutschland, diesen Vorgang als Abschaffung der Oligarchie loben. Tatsächlich wurde die »alte Garde« aus der Jelzin-Zeit lediglich durch die Neuen aus Putins Umgebung ausgetauscht. Allerdings bekamen diese nie den politischen Einfluss, über den die »Alten« zeitweilig verfügten.
Die Neuen waren zunächst nur eine Gruppe von unscheinbaren Datschenbesitzern, die sich in einer Freizeit-Kooperative mit der Bezeichnung »Osero« (Der See) zusammengefunden hatten.17
Ihre Mitglieder, zu denen der heutige Präsident Putin gehörte, durchliefen in nur wenigen Jahren eine schwindelerregende Karriere und wurden innerhalb von nur zehn Jahren unsagbar reich. »Osero« kann als Synonym für eine geschlossene Gesellschaft eng miteinander verbundener Geheimdienstler, Wissenschaftler und Geschäftsleute gelten, die gleich einer Seilschaft mit Kontakten zum organisierten Verbrechen den Aufstieg in die Führungsetagen des Landes bewerkstelligte. Mit null Kapital zum Besitz von Millionen und Milliarden. Verständlich, dass Glücksritter aus aller Welt neidvoll und bewundernd auf das »russische Wunder« blicken.
Begonnen hatte es im Jahr 1992. Wladimir Putin, damals Leiter eines für die Außenhandelsbeziehungen zuständigen Komitees des Bürgermeisteramts von St. Petersburg, legte sich am Ufer des Komsomol-Sees in der Nähe der Stadt zwei Grundstücke zu. Das war zu dem Zeitpunkt für einen schlecht besoldeten Staatsbediensteten eigentlich unmöglich, zumal er dann auch noch ein luxuriöses Haus auf dem Anwesen errichten ließ. Es sei denn, er verfügte über ein »zusätzliches Einkommen. Putin hatte dieses Einkommen natürlich«, erinnerte sich der pensionierte Ermittler Andrej Sykow, der in den 1990er Jahren mit den kriminellen Machenschaften in der »nördlichen Hauptstadt« befasst war. »Wir ermittelten und fanden heraus, dass die Korporation ›Zwanzigster Trust‹ ein Haus für Wladimir Wladimirowitsch Putin am Ufer des Komsomol-Sees und auch eine Villa in Spanien gebaut hatte.« Der Preis für das Haus am See lag »schätzungsweise bei 500 000 Dollar«.18
Als das Haus unter ominösen Umständen abbrannte, sorgte der »Zwanzigste Trust« umgehend für Ersatz. Die Ermittlungen im Zusammenhang mit der vermuteten Unterschlagung großer Geldsummen aus dem Staatshaushalt durch den »Zwanzigsten Trust« und andere windige Unternehmungen wurden mit Putins Aufstieg ins Präsidentenamt zu den Akten gelegt.
Die Datschen-Kooperative »Osero« wurde am 10. November 1996 offiziell registriert. In der Gründungsurkunde wird Wladimir Smirnow als Leiter der Kooperative genannt. Weitere Gründungsmitglieder waren – in der Reihenfolge auf der Liste – Nikolai Schamalow, Wladimir Putin, Wladimir Jakunin, Jurij Kowaltschuk, Wiktor Mjachin, Sergej Fursenko und dessen Bruder Andrej Fursenko.19
Sie alle waren in den darauffolgenden Jahren nicht nur Datschniki, also Datschenbesitzer, sondern, um ein russisches kalauerndes Wortspiel zu bemühen, mehr noch Udatschniki, die Erfolgreichen.
Wladimir Smirnow: Aufsichtsratsvorsitzender des Kowrowsker Mechanischen Werkes, das Gaszentrifugen für die Urananreicherung herstellt. Mitglieder seiner Familie sind mit zehn Prozent an der Nationalen Kosmischen Bank beteiligt, die im Luftfahrt- und Rüstungsbereich agiert.20
Nikolaj Schamalow: Schamalows Vermögen wird mit »bescheidenen« 100 Millionen Dollar angegeben. Dafür stand für seinen Sohn Kirill, 34, nachdem er die Putin-Tochter Katarina geheiratet hatte, im Sommer 2016 ein Vermögen von 2,3 Milliarden Dollar zu Buche.21
Wladimir Jakunin: Der Ex-Geheimdienstgeneral war von 2005 bis August 2015 Chef des staatlichen russischen Eisenbahn-Monopols. Seither widmet er sich seiner Stiftung »Dialog der Zivilisationen«, die als ideologische Speerspitze von Putins »Russkij Mir« die öffentliche Meinung in westlichen Ländern manipulieren soll.22
Jurij Kowaltschuk: Anteilsinhaber der einstigen KPdSU-Bank Rossija. Nach 2008 übernahm er die Nationale Mediengruppe, zu der inzwischen mehrere TV-Kanäle, ein Rundfunksender sowie das Verlagshaus Iswestija gehören. Sein Vermögen wird auf 1,1 Milliarden Dollar geschätzt.23
Wiktor Mjatschin: Mitgründer der Bank Rossija, verkaufte seine Aktienanteile 2009 und legte sie in Petersburger Immobilien – Business-Zentren, Restaurants, Hotels – an. Er lebt vergleichsweise bescheiden von den regelmäßig fließenden Einnahmen, besitzt 60 Millionen Dollar.24
Andrej Fursenko: Er gehört zu der Physiker-Gruppe, die sich in den 1990er Jahren ins Petersburger Geschäftsleben begab. Präsident Putin holte ihn zu Beginn der 2000er Jahre nach Moskau, machte ihn zum stellvertretenden Minister für Industrie, Wissenschaft und Technologie, dann zum Minister. Seit 2013 ist er Vorsitzender des Beirats der russischen Wissenschaftsstiftung.
Arkadij und Boris Rotenberg, obwohl keine Datschniki, gehören zu den wohl ältesten Freunden des Präsidenten. In Petersburg trainierten sie mit Putin Judo. Die Karriere der in den 1990er Jahren noch unbedeutenden Geschäftsleute ging nach dem Machtwechsel im Kreml steil nach oben. Bauunternehmen, Banken, Stahlrohrproduzenten, Energieversorger und Düngemittelhersteller zählen zum Firmenimperium. Sie erhielten Zugriff auf Staatsunternehmen wie Gazprom, indem sie Gazprom-Assets zu Billigpreisen erwerben konnten. Allein für die Olympischen Winterspiele in Sotschi erhielten sie Aufträge für sieben Milliarden Dollar. Den Milliarden-Auftrag zum Bau der Brücke vom russischen Festland zur von Russland okkupierten Krim bekamen sie ohne Ausschreibung. 2016 schätzte Forbes ihr Vermögen auf rund zwei Milliarden Dollar.
Gennadij Timtschenko, der ebenfalls aus St. Petersburg stammende Co-Gründer der Gunvor Group, einer der größten internationalen Händler von Energieträgern, hat langjährige persönliche Beziehungen zu Putin. Seine Aktivitäten im Energiesektor »sind direkt mit Putin verbunden gewesen. Putin hat Investments bei Gunvor und könnte auch Zugriff auf die Finanzen haben.«25 Im März 2014, einen Tag bevor ihn die US-Sanktionen wegen seiner engen Beziehungen zum Kreml-Chef trafen, verkaufte Timtschenko seinen 43-prozentigen Anteil an Gunvor. Später auch die Anteile an Firmen wie der Versicherungsgesellschaft Sogaz. Sein Vermögen 2019 laut Forbes: 22,7 Milliarden US-Dollar. 2016 waren es 13,2 Milliarden.26
Der vierte Kreis umfasst die westlichen Offshore-Häfen, hauptsächlich in den Vereinigten Staaten und dem Vereinigten Königreich, wo Unternehmen mit anonymen Eigentümern ungestört florieren können. Über diesen Unterstützerkreis für das System Putin werde am wenigsten gesprochen, weil in den anglo-amerikanischen Offshore-Zonen ein hohes Maß an Geheimhaltung gelte, schreibt Anders Aslund.27
Ein kleiner Zipfel der Geheimhaltung wurde 2016 auch in Russland gelüftet, als mit den Panama Papers ruchbar wurde, dass auch Putin-Vertraute in das illegale Spiel mit Offshore-Konten, Scheinfirmen und Geldströmen aus ungeklärter Herkunft verstrickt waren. Der Name des Putin-Freundes und Taufpaten von dessen älterer Tochter, des Cellisten Sergej Roldugin, gilt in Russland seither als Synonym für undurchsichtige Geschäfte in Steueroasen. Aus den Panama-Papieren ging hervor, dass über verschiedene Konten Roldugins mindestens zwei Milliarden Dollar geflossen waren, die der Musiker kaum selbst verdient haben konnte. Kreml-Kritiker Alexej Nawalnyj sprach von einem »Reserve-Fonds Putins«. Folgen hatte das keine. Der Kreml-Chef stellte sich vor den Cellisten und erklärte: »Ich bin stolz, dass ich solche Freunde habe.«28
Diese vier Stützen bilden das System der »autoritären Kleptokratie«. Aslund vergleicht diesen Zustand mit dem Russlands vor den Reformen von Zar Alexander II. im Jahr 1860. Putins Macht ist praktisch so unbegrenzt wie das des Zaren zu jener Zeit. Mit Hilfe seiner loyalen Helfer kontrolliert er praktisch alle und alles: den Staatsapparat, die Geheimdienste, die keiner parlamentarischen Kontrolle unterworfen sind, die Justiz und die Staatsunternehmen, deren Anteil an der Wirtschaftsleistung seit 2005 stetig zunimmt. Selbst die Privatwirtschaft untersteht dem Kuratel des Kremls, der mit Hilfe willfähriger Sicherheitsdienste und Richter das Recht auf Privateigentum praktisch aufgehoben hat. Auch private Unternehmen sind in Putins Russland letztlich nur Lehen, die ihren Inhabern im Konfliktfall sehr schnell wieder abgenommen werden können. Nicht zuletzt sind auch die russischen Medien – im Propagandakrieg gegen den Westen und zur Formierung, zur Gleichschaltung der öffentlichen Meinung heute unentbehrlich – fest in der Hand der Kreml-Mannschaft.