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Inhalt

Auf der Gorch Fock – oder: Gestrandet in Portugal

Die Entscheidung fällt im Räumgebiet

Bei Frau Thaa

Bei den Minensuchern

Harakiri im Morgengrauen

Das Bauherrenmodell

Einhand nach Fehmarn

Auf der Gorch Fock oder: Gestrandet in Portugal

Eine Tagebucherzählung von Roland Blatt 2010

Über 40 Jahre lag das Logbuch meines „Gorch Fock“ – Lehrgangs unbeachtet im Regal. Nun ist es an der Zeit, es noch mal hervor zu kramen. Ich bin selbst gespannt, was aus alter Zeit zum Vorschein kommen wird.

Das Buch selbst ist ein gebundenes, solides DIN A4 – Exemplar, das wir an Bord der „Gorch Fock“ ausgehändigt bekamen, um auf Befehl des 1. Offiziers die Eindrücke und Erlebnisse unseres Bordlebens und die der bevorstehenden Auslandsreise niederzuschreiben. Der Einband ist fest und schwarz, auf dem mittig oberhalb aufgeklebten Etikett steht:

Segelschulschiff Gorch Fock

Logbuch Gefreiter OA Roland Blatt

Gleich auf der Innenseite ist bereits eine sogenannte „Flunder“ eingeklebt – der Takelplan der „Gorch Fock“ mit allem „stehenden“ und „laufenden Gut“ und allen Angriffspunkten der 376 verschiedenen Riggleinen am Schiffsrumpf. Die „Flunder“, dessen erinnere ich mich genau, war eines der ersten Dinge, die an Bord in- und auswendig zu lernen waren – als Grundlage und Fahrplan der Segelmanöver und aller Arbeiten mit und in der Takelage.

Die nächste beschriftete Seite stellt meine damaligen direkten Vorgesetzten vor:

Kommandant: Kapitän zur See Lohmeyer

Erster Offizier: Fregattenkapitän Reichardt

Divisionsoffizier der 1. Division: Korvettenkapitän Bender

Segeloffizier der Wache „Backbord I“: Oberleutnant zur See Hühne

Korporal meiner 6. Korporalschaft: Maat Jüngst

Stagsegelunteroffizier: Obermaat Schulte

Der gefürchtetste Unteroffizier an Bord: Obermaat Kowalski

Rechts davon werden die 13 damaligen Kameraden der 6. Korporalschaft aufgeführt:

Michael Albert, Überlingen – Roland Blatt, Völklingen – Albert von Doetinchem de Rande, Mühlheim/ Ruhr – Manfred Dorandt, Oldenburg – Heinz-Eugen Eberbach, Groß Schlebach – Heiner Grimm, Kiel – Jürgen Grassdorf, Seesen – Klaus-Leo Harke, Endbach – Helge Hanfeld, Aurich – Ulrich Hentschel, Sibesse – Hans-Peter Herzog, Groß Krotzenberg – Horst Kadau, Duisburg – Thomas Kropp, Hameln.

Damit ist die Einführung abgehandelt, auf Seite 7 beginnt der Text des Logbuches.

Kiel, Dienstag, 4.10.1966

Gestern bin ich angekommen. Schon im Bahnhof in Kiel, auf dem letzten Bahnsteig auf der Seeseite zur nahen Förde hin, gab es gleich ein großes Geschrei, als Unteroffiziere der verschiedenen Marineeinheiten ihre „Schäfchen“ noch am Zug einsammelten, um sie geschlossen zum Bestimmungsort zu transportieren. Ich hatte jedoch „Zivil“ an, kannte dieses Theater bereits aus Glückstadt und als frisch beförderter Gefreiter und „alter Haudegen“ im Bundeswehrgeschäft fühlte ich mich überhaupt nicht angesprochen. Trotz der kaum zu übersehenden Marinetasche wurde ich in Ruhe gelassen und nahm vor dem Bahnhof auf der gegenüber liegenden Seite erst einmal ein Begrüßungsbier – zu Ehren Kiels. Erst dann rief ich eines der bereitstehenden Taxis und ließ mich zur Blücherbrücke bringen.

Hier, ganz in der Nähe der Schleswig-Holsteinischen Landesregierung, die in Gebäuden einer ehemaligen Offiziersschule der kaiserlichen Marine residiert, liegt, an der Außenseite der Blücherbrücke vertäut, die „Gorch Fock“ – das einzige Segelschulschiff der Bundesmarine und schwimmender Botschafter Deutschlands im Ausland. Schon von Ferne bot sich mir ein atemberaubender Anblick dieser stolzen Dreimastbark: Weißer, elegant geschwungener Rumpf, gelb gestrichene Masten, Rahen und Spieren und jede Menge Tauwerk zu deren Bedienung – und alles in der hereinbrechenden Dunkelheit von gleißendem Scheinwerferlicht angestrahlt.

Trotzdem war der Empfang auf der „Gorch Fock“ nicht gerade freundlich. In Bremerhaven auf der „Technischen Marineschule II“ waren die Sitten der Grundausbildung schon recht gelockert, modische Einflüsse bestimmten ein wenig die Uniform, besonders den schneidigen Schwung der Mütze. Damit konnte ich auf der „Gorch Fock“ aber gar nicht punkten. Als ich mich beim „Bootsmaat der Wache“ im Wachlokal auf dem Mitteldeck in Uniform „zur Stelle“ meldete, fiel ich sofort unangenehm auf. So war das Erste, was ich auf meine Meldung zu hören bekam, ein lautstarker „Anranzer“, weil der Mützenbügel in der Tellermütze fehlte! Erst dann wurden mir Schlafplatz und Hängematte unter Deck zugewiesen.

Das war also der Originalstil „Gorch Fock“, wie er uns in Bremerhaven auf der TMS II in düstersten Farben geschildert worden war. Das kann ja heiter werden! Im Nachhinein war mir auch aufgefallen, dass ich beim Anbordkommen auf der Stelling gestolpert war. Wie hieß es doch damals in der Schule im Lateinunterricht? „Wenn ich ein Römer wäre, wäre ich umgekehrt“. Wer weiß, was mich hier an Bord erwartet! Aber ehrlich gesagt, ich bin froh endlich an Bord zu sein: Jetzt bin ich „richtig“ bei der Marine!

Dieser Lehrgang, zu dessen Absolvierung ich hier als Kadett mit meinen Crewkameraden der Marineoffizierscrew IV/66 an Bord bin, ist für alle Offiziersanwärter und für manche Unteroffiziersanwärter der Bundesmarine obligatorisch. Auf einem Pamphlet, das uns ausgehändigt worden war, fand ich folgenden Satz: „Die Offiziersanwärter eines Jahrgangs durchlaufen gemeinsam alle Ausbildungsphasen, so dass sie sich gegenseitig helfen und formen können und sich letzten Endes genau kennen. Gemeinsam müssen sie mit den Schwierigkeiten der Ausbildung und den Härten des Seemannsberufes fertig werden.“ Soweit das Zitat.

So ist das also! Wir werden sehen, was das im Einzelnen für uns bedeuten wird! „Gemeinsam helfen und formen“ ist ja ganz o.k. – aber die Sache mit den „Härten des Seemannsberufs“ stimmte uns dann doch etwas nachdenklich.

Die Besatzung der „Gorch Fock“ ist übrigens seit gestern Abend 2200 Uhr komplett. Neben der Stammbesatzung, zu der auch die Offiziere, Bootsleute und Maate gehören, ist der Lehrgang zur 23. Auslandsausbildungsreise nach Madeira, Casablanca und Lissabon vollzählig an Bord. Er besteht aus Unteroffiziersanwärtern und Sanitäts-Offiziersanwärtern, die auf der Steuerbordseite des vorderen Kadettendecks logieren und der zweiten Hälfte der Crew IV/66, die die Backbordseite des vorderen Kadettendecks sowie das gesamte achtere Kadettendeck bewohnt. Da unsere Crew personell so stark ist, war sie aufgeteilt worden. Die erste Hälfte unserer Crew war nach Island gesegelt, nun sind wir dran. Ab heute also geregelter Borddienst.

Auf der „Gorch Fock“ wird ein 4-Wachensystem gefahren. So ist die Besatzung, also auch die Lehrgangsteilnehmer, aufgeteilt in die vier Wachen „Backbord I“, „Backbord II“, „Steuerbord I“ und „Steuerbord II“. Dieses 4-Wachensystem ist übrigens einzigartig in der Flotte und hat den Vorteil, dass jede Wache nur einmal pro Nacht aufziehen muss und jede vierte Nacht ganz wachfrei ist. „Bauernnacht“ wird diese gemütliche, meist ungestört zu verschlafende Nacht genannt. Zum Vergleich – auf den Schiffen der Flotte wird üblicherweise ein 3-Wachensystem gefahren und auf den Booten der Flotte ein 2-Wachensystem, was bedeutet: Wache alle 4 Stunden – auch bei wochenlangem Einsatz! Da haben wir es besser. Allerdings scheint das hier gefahrene 4-Wachensystem aber auch der einzige Luxus an Bord der „Gorch Fock“ zu sein.

In dem vorderen Kadettendeck, in dem wir untergebracht sind, leben jetzt 6 Korporalschaften. An dessen Backbordseite, wo wir als „Backbord I“ residieren, also deren drei. Das heißt im Klartext: Auf engstem Raum logieren hier 39 Crewkameraden. Unser Wohnraum, gut zugänglich über einen breiten Niedergang aus dem Kombüsenaufbau, ist eigentlich völlig leer – ein leerer Dielenboden. Die Spinde unserer 6. Korporalschaft besetzen in 2 Reihen übereinander die rückseitige Schottwand. Nach vorn wird der Platz zur 4. Korporalschaft und zur 2. Korporalschaft durch je zwei Stempel, die das darüber liegende Mitteldeck tragen, ein wenig optisch abgeteilt, ist sonst aber offen. Zur Mitte hin geht der Raum ebenfalls völlig offen in den Bereich der „Steuerbord I“ über, die an der Steuerbordseite einquartiert ist. Die Tische, hier bei der Marine „Backen“ genannt, hängen mit den dazugehörigen Bänken in der Qualität von Biertischgarnituren unter der Decke und müssen zur Benutzung heruntergeholt und aufgeklappt werden. Das ist unser gesamtes Mobiliar.

Zur Nachtzeit werden die Backen und Bänke zusammengeklappt und unter die Decke gehängt. In dem so freigewordenen Raum werden dann in H-Form die Ketten für die Hängematten gespannt. Diese seit Jahrhunderten in Seefahrerkreisen beliebten, leinenen, mit Matratzen und allem Bettzeug bestückten Schlafstätten, die tagsüber mit den Ketten abseits im Schapp gelagert werden, werden nun in zwei Ebenen an der Decke und an den horizontal verlaufenden Kettenteilen gespannt. So hängen die Hängematten zur Nachtzeit – dicht an dicht, dem Prinzip „Sardinendose“ nicht unähnlich – auf zwei Ebenen neben- und übereinander. Jetzt noch im schwach blauen Licht der Notbeleuchtung an den eigenen Spind zu gelangen, das ist wirklich schwierig. Ein Tauchgang unter und zwischen den bereits schlafenden Kameraden hindurch ist notwendig, aber oft ist die Spindtür dann doch noch durch Tampen und Spreizhölzer blockiert. Richtiger Luxus ist das nicht gerade, aber wir haben uns ziemlich schnell dran gewöhnt und kommen damit klar.

Der Tag beginnt hier um 0600 Uhr mit dem „Rise-Rise“, dem marinetypischen Weckritual. Das heißt, zuerst wird recht leise „gelockt“ – solche zarten Töne aus der Bootsmannsmaatenpfeife traut man den meist etwas vierschrötigen Maaten der „Gorch Fock“ gar nicht zu. Danach aber treten die Pfeifen mit voller und schriller Lautstärke in Aktion. Je nach Intellekt des weckenden Bootsmaaten der Wache wird dann noch ein gelungener oder weniger gelungener, aber in jedem Fall stimmungsaufhellender Weckspruch zu Gehör gebracht, zum Beispiel wie folgende: „Rise, Rise – kommt hoch aus eurer Scheiße!“ Oder: „Die eine Hand am Sack, die andere Hand am Socken – Seelord bleib noch liegen, es war erst Locken!“ Oder: „Kommt hoch ihr müden Leiber, die Pier ist voller nackter Weiber!“ Oder: „Auf jedem Schiff, das dampft und segelt, ist einer, der die Waschfrau vögelt!“ Oder: „Zur Nutte sagte der Matrose, gei auf das Hemd, fier weg die Hose!“ Oder: „Der Bär treibt´s öffentlich im Zwinger, der Backfisch heimlich mit dem Finger!“ Oder: „Die Gonokokke sitzt und lauscht, wie der Urin vorüber rauscht.“ Oder: „Sansibar ist eine Insel, die Syphilis zerfrisst den Pinsel.“ Oder: „Die Qualle durch das Weltmeer segelt, es quietscht, wenn man im Wasser vögelt.“ Oder: „Die Dohle um den Kirchturm flattert, der Dünnschiss durch den Dickdarm rattert.“ Oder: „Hart ist der Zahn der Bisamratte, doch härter ist die Morgenlatte!“ Oder jener Spruch, der nicht nur wegen des jambischen Versfußes, sondern auch wegen des fast perfekten Stabreims jedem Germanistikprofessor die Freudentränen in die Augen treiben dürfte: „Der Affe springt von Ast zu Ast, bis ein Ast ins Arschloch passt“. Und so weiter… und so weiter… Der durchdringende Lärm der Bootsmannsmaatenpfeifen, aber auch der schon mit Spannung erwartete, teilweise aber auch schon bekannte Weckspruch wirft wirklich den müdesten Schläfer mit Schwung aus der Hängematte.

Dann müssen wir zügig heraustreten zum Waschen auf dem Mitteldeck – Anzug „Turnhose, Turnschuhe, Waschzeug“. Natürlich bei jedweder Witterung. Bei Regen ist so die Dusche inklusive. Am Großmast stehen Mengen von Plastikschüsseln parat. Jeder nimmt sich eine, lässt sich von dem Maat zwei Kellen heißen Wassers einschütten. Damit begeben wir uns nach Steuerbord zur Seeseite an die Reling, um den Waschvorgang durchzuführen. Beim Zähneputzen genieße ich auf diese Weise für kurze Zeit den freien Blick auf die spätherbstlich neblige Förde. Das Waschwasser geben wir in einen großen Bottich zurück, es wird später zur Decksund Takelpäckchenreinigung noch gebraucht. Nach der Morgenwäsche, die anstandshalber nur über der Gürtellinie stattfindet, ist „Hängemattsmusterung“. Das heißt: Im Deck werden die Hängematten abgehängt und mit Bettwäsche und Schlafanzug zu einer festen länglichen Segeltuchrolle gezurrt – angeblich ein wichtiges Rettungsmittel im Falle des Untergangs! Dann – aber bitte noch zügiger! – erneutes Antreten auf dem Mitteldeck mit freiem Oberkörper und der gezurrten Hängematte in Vorhalte. Der Maat prüft die Zurrung und, sollte er sie als nicht ausreichend fest befinden oder sollte er vielleicht auch nur etwas schlecht gelaunt sein, so schneidet er die Zurrungsbändsel mit seinem Takelmesser gleich mal ab. Dann weiß man schon, was man in der Mittagspause zu tun hat. Bändsel annähen mit dem Segelhandschuh! Zur Übung natürlich!

An die Hängematte selbst habe ich mich in der ersten Nacht nicht gewöhnen können, da hätte ich mich auch gleich auf ein Nagelbrett legen können.

Der Tagesdienst bei Hafenroutine endet um 17 Uhr mit „Dienst- und Arbeitsstellen aufklaren – wegtreten von Station!“, danach wird das Abendessen ausgegeben. Die beiden Backschafter holen das Essen aus der Kombüse, während der Rest der Korporalschaft die Tische und Bänke von der Decke holt und das Deck klarmacht. Nach dem Abendessen ist Freizeit, Zeit zum Briefeschreiben oder Logbuchschreiben, da Landgang noch nicht gewährt wird. Ab 2005 Uhr beginnt das Abendreinschiff, nach dessen Beendigung und nach erfolgter abschließender Ronde durch den Offizier der Wache heißt es dann pünktlich um 22 Uhr „Ruhe im Schiff! Licht aus! Alle Geister auf Station!“ Dann ist der Arbeitstag für uns zu Ende und wir verkriechen uns in die Hängematten. Ab nächster Woche sollen wir Kadetten die Zeit während der 20-minütigen Abendronde mit Singen von Seemannsliedern auf dem Mitteldeck verbringen. Die auswendig zu lernenden Liedertexte sind schon ausgegeben. Auch das von einem ehemaligen Segeloffizier komponierte Lied ist dabei: „Weiß ist das Schiff, das wir lieben, weiß sind die Segel, die sich bläh´n.“

Mittwoch, 5.10.66

Im Gegensatz zu anderen Korporalschaften sind wir noch nicht in der Takelage gewesen. Ich bin zwar möglicherweise nicht ganz schwindelfrei, aber auf einem Segelschiff muss man auch einmal auf dem höchsten Mast ganz oben gewesen sein – und abgesehen davon, es ist für uns natürlich auch eine Frage der Ehre, hier nicht zu versagen. Trotzdem ist es ein mulmiges Gefühl, von unten zu diesen 45 m hohen Masten aufzusehen in der Gewissheit, dort oben demnächst herumturnen zu müssen – so ganz ohne Netz und doppelten Boden. Gebannt, aber mit gemischten Gefühlen konnte ich heute einige Kameraden von den langen Kerls der „Nato-Riesen“ der vormals 1. Gruppe unserer Grundausbildungskompanie in Glückstadt beobachten, wie sie zitternd und zagend auf der untersten Rah „auslegten“ und dann, als „gar nichts mehr ging“, von den Unteroffizieren langsam, aber lautstark wieder herunter komplimentiert wurden. Hoffentlich halte ich mich da besser.

Meine Reinschiffstation ist auf dem Achterdeck, das bedeutet im Wesentlichen Messinganteile in der Reling aufspüren und diese dann in Gold verwandeln. Das Wetter war übrigens kühl und regnerisch und als die im Morgennebel einlaufende Dänemarkfähre „Langeland“ die Flagge dippte, erwiderte der Posten Achterdeck diesen Flaggengruß.

Vormittags hatten wir Unterricht: „Takelage kennenlernen“. Ich blicke da noch nicht richtig durch, das wird sich hoffentlich ändern, wenn ich eine eigene „Flunder“, den Takelplan mit den Tampen und Angriffspunkten der 376 Riggleinen, bekommen habe. Heute wurden auch an unsere 6. Korporalschaft die „Life-Belts“ ausgegeben: Ein 2,5 m langer grober Sisaltampen, der im doppelten Palstek um den Leib gebunden wird, an dessen Ende ein großer Karabinerhaken befestigt ist, der wiederum bis zur Benutzung auf der Rah in dem Tampen vor dem Bauch eingepiekt getragen wird. Dies soll unsere Lebensversicherung beim Arbeiten in der Takelage sein, ist aber beim auch nicht ungefährlichen Auf- und Abentern nicht zu gebrauchen. Hier sind wir zu unserer Sicherheit nur auf die eigenen Hände angewiesen. Dieser Lifebelt ist ab sofort Uniformteil zu unserem alltäglich getragenen Takelpäckchen, unserer Arbeitsuniform.

Morgen sollen auch wir „hoch“. Also, höchste Zeit sich mal genauer mit dem Fockmast, dem „Hausrevier“ der „Backbord I“, zu beschäftigen:

Fock- und Großmast, auch Vortopp und Großtopp genannt, sind gleich gebaut, beide 45 Meter hoch und mit 5 Rahen bestückt: Fock, Untermars, Obermars, Bram und ganz oben die Royal. Damit die Masten bei Segelbelastung nicht umfallen, sind sie nach allen Seiten abgesichert – durch das „Stehende Gut“: Nach vorn durch die Stagen, die gleichzeitig zur Befestigung der Stagsegel benutzt werden und nach achtern durch die Pardunen. Diese sind wie die Stagen einfach geschorenes, durch Spannschrauben steifgesetztes Drahttauwerk.

Zu beiden Seiten werden die Masten von den Wanten gesichert – von den Unterwanten, die bis zur Marssaling reichen, von den Marsstengewanten, die von der ziemlich breiten Marssaling bis unter die Bramsaling reichen und den Mittelmast versteifen und von den Bramstengewanten, die von der Bramsaling bis fast ganz oben reichen und den oberen Mastteil sichern. Will man zur Mastspitze, muss man dort oben auf die hinter dem Mast gespannte Strickleiter umsteigen. Sie reicht bis an das obere Ende des Mastes. Wenn man ganz hoch klettert, kann man mit dem Oberkörper sogar noch die Mastspitze überragen – um zum Beispiel am dort angebrachten Windmessgerät zu arbeiten.

Die Wanten sind die stärkste Abstützung des Mastes und bestehen, zumindest am Unterwant, aus den 6 nebeneinander gespannten Hoftauen – dicke teerummantelte Tampen, die in Relingnähe angebracht sind und mit ungefähr 70 Grad Steigung nach oben führen. Zwischen den Hoftauen sind Querleinen eingewebt – die Webeleins. Somit ergeben die 6 Hoftaue mit den Webeleins 5 nebeneinanderliegende Strickleitern – unsere Freitreppe nach oben.

Direkt unterhalb der Marssaling laufen die Unterwanten in den Mast. Etwa 2 Meter tiefer beginnen die „Püttings“, die eigentlich den unteren Teil der nächsten Wanten darstellen, die – von der Saling abgespreizt – von dort als Marsstengewanten nach oben zur nächsten Saling führen. Die Püttings gehen etwa 45 Grad nach außen geneigt vom Mast ab und kreuzen die Unterwanten bevor sie die Plattform der Marssaling erreichen und als Wanten weiterführen. Hier wird also umgestiegen auf dem Weg nach oben. Kopfüber nach außen hängend ist diese etwa 2 Meter lange, ziemlich unangenehm zu kletternde Strecke zu bewältigen. Sicherlich die schwierigste Stelle am ganzen Mast.

Hier – sozusagen im „ersten Stock“ des Mastes – führt der Weg von der Außenseite der Marssaling auf den dort angebrachten, deutlich schmaleren, aber viel steileren Marsstengewanten weiter aufwärts. Die Steigung dürfte hier 80 Grad betragen und mehr als 2 Leute können nicht mehr nebeneinander aufentern. Das ist jetzt hier nur noch eine „bürgerliche Treppe des sozialen Wohnungsbaus“, die nach oben in den 2. Stock des Mastes – auf die Bramsaling – führt

Der Umstieg auf die an der Bramsaling beginnenden Bramstengewanten, die zu den Rahen Bram und Royal und zur Strickleiter führen, ist jedoch einfacher. Ein Durchstieg in Mastnähe ermöglicht es, ohne große Anstrengung auf die Plattform der Bramsaling zu gelangen. Hier im „2. Stock“ des Mastes kann man recht einfach auf der allerdings ungesicherten Plattform nach außen gehen, um auf der Außenseite der dort angebrachten Bramstengewanten den Weg nach oben fortzusetzen. Hier ist also die unangenehme „Überkopf-Akrobatik“ nicht nötig.

Die Bramsaling mit den dazugehörigen Wanten und den Rahen Bram und Royal gehören übrigens zu dem oberen beweglichen Mastteil, der bei Bedarf einige Meter abgefiert werden kann, um den Mast zu verkürzen. Üblicherweise, so auch zurzeit, sind Großtopp und Vortopp vorgeheißt. Die Bramstengewanten sind noch steiler und noch schmaler. Sie sind nur noch eine steile Stiege auf den Spitzboden des Mastes. Hier oben schließt sich danach nur noch die Strickleiter an, die zur Mastspitze direkt führt. Sollten die Oberrahen hochgezogen sein, was zurzeit jedoch nicht der Fall ist, kann die Royal nur über diese Strickleiter erreicht werden. Dann muss von hier mit einem ziemlichen Ausfallschritt auf das „Fußpferd“ übergestiegen werden. Zurzeit sind die Rahen jedoch noch in der abgesenkten Ruheposition und so ist es möglich, direkt aus dem Want auf diesen unter der Rah gespannten Tampen namens „Fußpferd“ einzusteigen. Dieses von mehreren senkrechten Leinen gehaltene Tauwerk ist also der schwankende, in alle Richtungen sehr bewegliche Laufsteg für die Arbeit in der Rah. Eigentlich eher etwas für Hochseilartisten!

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Soweit also zur Theorie des Aufenterns. In wieweit diese der Praxis standhalten wird, wird sich morgen erweisen. Hoffen wir das Beste! Noch bin ich gar nicht sicher, ob ich überhaupt höhentauglich bin. Ein Schwindelanfall, den ich vor einiger Zeit auf einem hohen Felsen über der Nahe bei Kreuznach erlebt hatte, lässt mich doch einigermaßen zweifeln!

Ich konstatiere diese Situation mit einem komischen Bauchgefühl. Schmetterlinge im Bauch, würde ich sagen. Aber – „Liebe“ wird es wohl kaum sein.

Nachmittags Zeugdienst: Platz für unsere persönlichen Sachen haben wir wenig und ich kann mich nur wundern, was alles so in den kleinen Spind hineinpasst. Landgang ist heute auch nicht vorgesehen. Ich wollte hier an Bord Shakespeares „Macbeth“ auf Englisch lesen, aber solange ich hier nicht an Land komme, wird sich das wohl nicht realisieren lassen. Heute wird wieder, wie gestern und in Zukunft an jedem Tag im Hafen, während der Ronde nach dem Abendreinschiff gesungen – Seemannslieder auf dem Mitteldeck, Steuerbord achteraus. Ganz traditionell.

Donnerstag, 6.10.66

Heute waren wir „oben“! Zuerst in der Fock, der untersten Rah des Fockmastes. Es ging auch bei mir nicht ganz ohne „Muffe“ ab. Wir legten, mehr schlecht als recht, auf dem Fußpferd balancierend, auf der Seeseite dieser 24 Meter langen, die Schiffsbreite beiderseits um 6 Meter überragenden Rah aus. Die Seeseite war mir auch wesentlich sympathischer, denn sollte ich beim Klettern abrutschen, ist der Sturz ins Wasser doch deutlich angenehmer, als der Sturz auf die Betonplatten der Blücherbrücke. Ein solcher Unfall soll ja, wie gemunkelt wird, vor einiger Zeit passiert sein – und zwar mit tödlichem Ausgang! Ich ging entsprechend vorsichtig zu Werke, denn besonders das Stehen und Gehen auf dem nach allen Seiten ausweichenden „Fußpferd“, war mehr als gewöhnungsbedürftig. Es war schon eine gewisse Beruhigung, am Arbeitsplatz angekommen zu sein und endlich am Jackstag mit dem Karabinerhaken des Lifebelts sicher eingepiekt zu sein. Nach einigen Augenblicken der Akklimatisierung und zur ersten Übung in schwankender Höhe lösten wir die Zeisinge des auf der Rah aufgetuchten Segels, ließen es von der Rah nach vorne herabfallen, holten es dann in Parten, Falte für Falte, wieder hoch und laschten es fest. Um mit beiden Händen am Segel arbeiten zu können, war es nötig sich bäuchlings über die Rah zu legen. Zwar weicht das Fußpferd dann unangenehm nach hinten aus und die zur besseren Standfestigkeit weit ausgestellten Beine kommen höher in die Luft, doch ich fühlte mich in dieser Dreipunktabstützung sicherer. Eigentlich ging es noch ganz gut.

Als ich wieder unten war und zwar ohne Unterstützung durch die Uffze, hatte ich innerlich so halb mit meinem Leben abgeschlossen. Auf diese Weise mental gestärkt, konnte ich danach einigermaßen ruhig – vorbei an den Rahen Fock, Untermars, Obermars und Bram – bis ganz hoch in die „Royal“ klettern. Natürlich nicht allein, sondern zusammen mit einigen Kameraden und unter Aufsicht und Anleitung von Maat Jüngst. Dennoch – wieder unten – fühlte ich mich wie neu geboren.

Vor meinem geistigen Auge ließ ich dieses Abenteuer noch einmal Revue passieren: Gott sei Dank war der befürchtete Höhenschwindel bei mir nicht eingetreten. Solange ich mich irgendwo und irgendwie festhalten kann, scheint für mich alles klar zu gehen und solide Festhaltemöglichkeiten gibt es ja im Rigg genug. Der Aufstieg auf dem Unterwant bis unterhalb der Marssaling war für mich nicht weiter schwierig. Schwieriger war – wie ich es mir auch vorher gedacht hatte – das Übersteigen von dem zum Mast geneigten Unterwant über die nach außen geneigten Püttings auf das Marsstengewant. Ich tat mich doch wirklich etwas schwer, diese kurze Strecke – nach rückwärts hängend – zu überwinden. Zumal ich auch gleich mit den Füßen abglitt und frei in der Luft hing! Es ist schon ein komisches Gefühl, wenn man so an einer Hand hängt und denkt, sollte man aus diesem Griff jetzt raus rutschen, geht es gnadenlos in die Tiefe. Da nützt dann ganz sicher auch nicht mehr der Sanka, der einsatzklar und mit laufendem Motor auf der Pier bereit steht. Wir haben es ohnehin gleich gemerkt: Wenn der Sanka den Motor anwirft, geht es hoch in den Mast.

Das Weiterklettern auf dem steilen Marsstengewant war doch von einer gewissen Ehrfurcht vor der zunehmenden Höhe begleitet. Nach weiteren 10 Metern war die Bramsaling erreicht, hier war es doch deutlich einfacher auf das nächste Want zu gelangen, als eine „Etage“ tiefer an der Marssaling. Tatsächlich gelangte unsere von Maat Jüngst geführte Kadettengruppe ganz „bequem“ auf dem „festen“ Boden dieser kleinen Plattform auf die dort an der Außenseite angebrachten Bramstengewanten. Von hier kletterten wir, einer nach dem anderen, das nun schon sehr schmale und fast senkrechte Want weiter hoch bis zum Umsteigepunkt zur Rah. Weniger schwierig als erwartet, konnten wir hier ins Fußpferd der Royal einsteigen und auslegen – und uns endlich mit dem Karabinerhaken des Lifebelts am Jackstag sichern. – Pause! – Ein Blick über die Kieler Förde in luftiger Höhe und ein Moment in einer gewissen Stille fernab vom Betrieb an Deck waren für uns gestattet und angemessener Lohn für unsere Erstbesteigung.

Wieder unten an Deck waren wir alle doch sehr froh, dass wir diese Herausforderung gut überstanden hatten und keiner von uns in die Reihen der schwindelbehinderten „Polleraffen“ eingereiht werden musste, die hilfsweise ihren Segeldienst nur noch an Deck mit niederen Tätigkeiten an den Pollern absolvieren. Aber, wie schon gesagt, dies zu vermeiden war für uns und für viele andere unserer Crew auch eine Frage der Ehre.

Danach ging es zum Zahnarzt. Ergebnis: Muss demnächst wieder zur Zahnstation, das Gebiss muss an einigen Stellen seetauglich gemacht werden!

Leider habe ich immer noch keine eigene „Flunder“, was das Eindringen in die Tampenwuling der „Gorch Fock“ stark erschwert. Jetzt wird es aber wirklich Zeit! Die Maate fragen immer öfter die Leinen an den Belegnägeln ab. Wer patzt, muss die ganze „Flunder“ nachmalen. Auch wird uns immer wieder eingetrichtert, uns im Rigg nur am „Stehenden Gut“, niemals am „Laufenden Gut“ festzuhalten. Es wird also ernst, die erste Seefahrt mit der „Gorch Fock“ wirft ihre Schatten voraus!

Am Nachmittag musste die ganze Besatzung mal wieder auf dem Mitteldeck antreten. Diesmal wurden die „Alle Manns Stationen“ bekannt gegeben. Meine Station bei allen künftigen „Alle Manns Manövern“ ist ab sofort am Klüverbaum – Stagsegel steuerbord. Ich weiß noch nicht so recht, was ich davon halten soll.

Meine „Alle Manns Station“ ist laut Manöverplan nun der Klüver, auch Bugspriet genannt. Auf Hochdeutsch also: Bugspreize. Und diese Funktion hat dieser 10 Meter nach vorn und oben herausragende Vorbau auch. Der Klüver spreizt nämlich die Stagen, die den Fockmast nach vorne halten, auf Bughöhe ab. Das Vorstag, das Jagerstag, das Außenklüverstag, das Innenklüverstag und das Vorstengestag laufen vom Mast kommend in den Bugspriet und setzen sich als zwei feste Wasserstagen direkt am Bug und je zwei Backstagen seitlich in den Rumpf fort. Der Angriffspunkt ist also der Rumpf, aber durch die Abspreizung über den Klüver ergibt sich ein günstigerer Winkel für die Krafteinwirkung auf den Mast und ganz nebenbei sind die vier letztgenannten, leicht gefächerten Stagen zur Aufnahme der gleichnamigen Segel vorgesehen. Die Stagsegel sollen ja besonders bei Kursen am Wind von guter Segelwirkung sein.

Obermaat Schulte ist unser Vorgesetzter am Klüver. Er hat uns frisch gebackene Stagsegelgasten gleich zusammengetrommelt und mit der Einweisung am neuen Arbeits- und Manöverplatz begonnen. Zurzeit sind noch die Sommersegel angeschlagen, sie sollen aber gegen die für morgen bestellten, schwereren Wintersegel ausgetauscht werden. Ohne weitere Zeitvergeudung wurde mit dem Abschlagen der Sommersegel auch gleich begonnen.

Zwischen den Wasser- und Backstagen ist ein Netz gespannt, das Klüvernetz. Dessen besonderer Nutzen wurde uns bald klar. Zum einen soll es die niedergeholten Segel auffangen, zum zweiten gibt uns dieses Netz Sicherheit beim Arbeiten auf dem recht schmalen, aber ziemlich langen Klüverbaum, zum dritten ist es auch Arbeitsplattform und last not least, wenn auch nur gelegentlich, ist dieses Netz auch ein guter Platz für eine Pause, wenn das Wetter dies zulässt. Angenehm weich und anatomisch günstig geformt. So schlecht scheint diese Manöverstation also nicht zu sein!

Zum Schluss noch folgende Bemerkung: Ab heute habe ich meine Reinschiffstation im Unteroffiziersdeck. Schön warm – aber sonst: Ohne Kommentar!

Freitag, 7.10.66

Ein nebliger Tag. Kalt. Aber kein Regen. Zum ersten Male wurde auf die Morgenmusterung und auf das Morgenreinschiff verzichtet. Dafür begann die Arbeit schon um 0800 Uhr: Ich musste mit anderen Kameraden die neu gelieferten Wintersegel auf der Pier klar machen und an Bord bringen. Am Nachmittag haben wir dann die Segel am Klüver angeschlagen – erst vorn am Jagerstag, dann am Außenklüverstag, am Innenklüverstag und zuletzt am Vorstengestag. Noch nach dem Abendessen waren wir damit beschäftigt das harte, neue Segeltuch auf dem Klüver fest zu zurren. Ergo: Der Freitag war der erste Tag, an dem wirklich gearbeitet wurde.

Es hat sich übrigens bei uns herumgesprochen, dass unser Crewkamerad Witteck erst wenige Tage vor unserem Dienstbeginn an Bord der „Gorch Fock“ bei der Abschlussbesichtigung nach der Islandreise aus dem Mast gefallen war. Unter den Augen des Admirals stürzte er aus großer Höhe auf das Unterwant und wurde über Bord geschleudert. Der Unfall verlief glimpflich, dem Crewkameraden passierte nicht viel und für die Schiffsführung war dieser Zwischenfall passender Anlass, ein „Mann über Bord“ – Manöver zu fahren. Für mich ist es aber Grund genug, in Zukunft noch aufmerksamer im Rigg zu sein.

Samstag, 8.10.66

Samstag! Nur halber Arbeitsdienst! Den Vormittag verbrachten wir mit Reinschiff und dem Anschlagen des Innenklüversegels, das wir gestern nicht mehr geschafft hatten. Bei meinen Bemühungen um den Glanz der Reling auf dem Achterdeck konnte ich bei mildem Wetter dem ebenso milden Klang des Bordradios lauschen: Der alte Hit „Skinny Minny“ von „Tony Sheridan and the Beatles“ wurde ein ums andere Mal gespielt. Da ging mir die Arbeit viel leichter von der Hand und Wochenendgefühle kamen auch auf. Der Text dieses frühen Beatlessongs lautet übrigens:

My Skinny Minny is a crazy chick

Six foot high and one foot thick

I love her as a boy loves a pie

She´s the apple of my eye

Skinny Minny – She ain´t skinny, she´s tall – that´s all!

Und irgendwie fühlte ich in diesem Moment diesen Song doch sehr passend zu unserer „Lady“ – namens „Gorch Fock“.

Ein richtiger Landausgang wurde dem Lehrgang an diesem Wochenende nicht gewährt, aber einige Kameraden bekamen für den Nachmittag die Möglichkeit eines dienstlichen Landgangs zum Friseur. Na, ich bin mal gespannt, was dabei herauskommt. Soweit mir bekannt ist, haben die Barbiere samstags ab 15 Uhr geschlossen!

Nachmittags lag auch für uns nichts Dienstliches mehr an. Wir hatten frei, mussten aber an Bord bleiben. Also nutzte ich die Zeit zum Briefeschreiben. Danach gönnte ich mir, wie manch anderer auch, ein Schläfchen auf dem Dielenboden des Kadettendecks. Gegen Abend, des Herumgammelns überdrüssig, wollten Albert von Doetinchem und ich uns mal an der frischen Luft die Füße vertreten. Vorschriftgemäß meldeten wir dies beim Bootsmaat der Wache an, der uns umgehend die Genehmigung erteilte.

Der kleine „Spaziergang“ in schwachem Nieselregen führte uns in die Vor-royal, in die oberste Rah am Vortopp. Es war ganz schön da oben, leider war die Sicht auf Grund des Wetters nicht besonders gut. Trotzdem machten wir mit meiner Kamera einige Fotos. Erst kletterte Albert zur Mastspitze und machte ein Bild von mir auf der Rah. Dann kletterte ich hoch. Dabei fiel mir ein: Ich hatte gehört, dass sich der Bordmeteorologe, der als eingeschiffter Zivilist ebenfalls zur Besatzung gehört, immer aufregt, wenn einer das Windrad auf der Mastspitze festhält und die Anzeigen im Kartenhaus dann auf Null gehen. Da ich nun gerade mal so schön oben war, ließ ich mir diesen Spaß nicht nehmen. Ich kletterte die Strickleiter am Mast bis ganz nach oben. Die Füße passten kaum noch in die Webeleins, die hier in knapper Fußbreite zusammenlaufen und selbst für die Finger war in Brusthöhe kaum noch Platz, die Hoftaue richtig zu umfassen. Der Mast, der an Deck bestimmt 70 cm im Durchmesser hat, ist hier an seiner Spitze überhaupt nur noch 10 cm dick. Ich sicherte mich mit dem Lifebelt, dann griff ich nach oben ins Windrad und hielt es an, das Kartenhaus auf dem Hüttendeck fest im Blick. Aber ein schimpfender Meteorologe kam nicht herausgeschossen – er war wohl im Wochenendurlaub.

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Sonntag, 9.10.66

0830 Uhr bis 10 Uhr Reinschiff. Der vormittägliche Kirchgang wurde gestrichen, denn es war so gekommen, wie ich es befürchtet hatte. Der Landgang zum Friseur wurde tatsächlich von einigen in schamloser Weise ausgenutzt. Zwei Matrosen der Unteroffiziersanwärter aus der Steuerbord I, also aus unserem Deck, bequemten sich erst um 0430 Uhr des heutigen Morgens von Land zurück zu schwanken. Wir müssen jetzt alle dafür bluten – Ausgangssperre!

So wurde der ganze, schöne Sonntag an Bord vergammelt. Ein weggeworfener Tag. Die einzige „Musik“, die wir heute zu hören bekamen, war die Glocke auf dem Mitteldeck: „Wahrschau! Es wird geglast!“. Dann wurde geglast – jede halbe Stunde. Von morgens acht bis abends acht, wie jeden Tag.

Montag, 10.10.66