Geleitwort

Wir leben in einer Welt des massiven Umbruchs – technologisch, ökonomisch, sozial und ökologisch. Solche Zeiten sind in besonderer Weise auf Orientierung angewiesen. Sie lösen nachvollziehbare Ängste und Widerstände aus. Ohne einen klaren Kompass übernehmen schnell die falschen Stimmungen und Energien das Zepter. Beim Blick auf die aktuelle Nachrichtenlage bekommen wir einen Eindruck davon.

»Kompass-Institutionen« sind daher aktuell in besonderer Weise gefragt und gefordert. Die Kirchen sind eine solche »Kompass-Institution«. Sie haben aktuell mit vielen internen Herausforderungen zu kämpfen – vom Mitgliederschwund bis zu öffentlich verhandelten Skandalen. Daher bindet derzeit in den Kirchen die Beschäftigung mit sich selbst viel Energie. Gleichzeitig wird aber ihre orientierende Kraft außen in hohem Maß benötigt. Die Wirkung der päpstlichen Enzyklika »Laudato Si« und ihr großer Einfluss auf die globale Klimadebatte hat einen Eindruck zu den orientierenden Potenzialen aus den Kirchen gegeben.

Umso erfreulicher ist es, wenn kirchliche Stimmen außen hörbar werden und Impulse in die aktuellen gesellschaftlichen Debatten geben. Das vorliegende Buch leistet genau das. Es ist im besten Sinn eine »Streitschrift«, die die kirchliche Stimme hörbar werden lässt – nach außen und in die Kirche hinein.

Das Besondere an diesem Buch ist sein systemischer Blick. Denn die aktuellen Veränderungsprozesse lassen sich weder alleine individuell auflösen noch hilft eine isolierte, analytisch klare, aber folgenlos bleibende Systemkritik weiter. Jörg Alt verbindet diese Perspektiven. Er liefert eine Zeitanalyse auf drei »Leveln«. Er schaut auf die Logiken des Wirtschaftssystems (»Erster Level«) genauso wie auf den Zustand unserer Demokratie (»Zweiter Level«) und wirft vor diesem Hintergrund dann den Blick auf die Möglichkeiten des Einzelnen (»Dritter Level«). Dieser Brückenschlag kommt dabei von einem Autor, der sich auf all diesen Ebenen zu Hause fühlt: als Jesuit mit globaler Perspektive und als profilierter Vordenker und Aktivist für neue institutionelle Rahmen der Weltwirtschaft.

Geprägt haben Jörg Alt die Erfahrungen mit seinen bisherigen Reformanstrengungen: Sein Engagement für eine Finanztransaktionssteuer gegen Armut (»Robin Hood Tax«) wollte zeigen, wie praktiziertes christliches Engagement mit systemischem Blick aussehen kann. Er hat zu einer eindrucksvollen Mobilisierung beigetragen. Gleichzeitig haben ihn die ernüchternden Erfahrungen in der politischen Behandlung der in die Debatte eingebrachten Vorschläge ernüchtert und kämpferischer werden lassen. Das vorliegende Werk ist Ausdruck davon.

Dieses Buch ist mutig. Es ist politisch. Es provoziert. Es rüttelt auf. Es ist im besten Sinn aufklärerisch. Man wird sich an ihm reiben – und das ist gut so.

Jörg Alt scheut nicht davor zurück, seine Kritik offen und pointiert zu formulieren und auf griffige Formeln zu bringen. Er hat den Mut, auch komplexe Zusammenhänge für eine offene Auseinandersetzung klar auf den Punkt zu bringen. Er hält mit den ganz persönlich erlebten Ernüchterungen nicht hinter dem Berg. Dadurch ist das Buch auch sehr persönlich und gibt viel über den Autor selbst preis. Jörg Alt ist sich der damit verbundenen Flanken bewusst und geht reflektiert damit um.

All das baut auch Brücken. Denn es liegen inzwischen viele kluge Analysen der Dysfunktionalitäten des aktuellen Wirtschaftssystems und des zerbrechlichen Geflechts von Demokratie und Kapitalismus vor. Doch erreichen diese oft nur ein sehr kleines Fachpublikum. Jörg Alt macht die Herausforderungen durch diesen Text einem sehr viel breiteren Leserkreis zugänglich.

Er zeigt auf, dass die katholische Soziallehre einen umfassenden Kompass zur Orientierung zu bieten hat. Damit wird klar, welche Bedeutung christliche Orientierungen für die aktuellen Transformationsdebatten bereithält.

Man kann nur Danke sagen für diese erfrischenden und klaren Worte aus dem Herzen der Kirche und würde sich mehr solcher streitbaren Beiträge wünschen. Sie helfen, die bestehenden »Silos« und »Blasen« zu durchbrechen.

Freuen Sie sich auf die Lektüre und lassen Sie sich aufrütteln!

Prof. Dr. Uwe Schneidewind

Präsident des Wuppertal Institutes für Klima, Umwelt, Energie

Vorwort und Dank

Als die CSU-geführte Bayerische Staatsregierung im April 2018 das Aufhängen von Kreuzen in staatlichen Gebäuden verfügte, wurde ich Mit-Initiator eines Offenen Briefes zu den »Kennzeichen Christlicher und Sozialer Politik«. Damals fragte mich der Vier-Türme-Verlag, ob ich nicht ein Buch im Sinne und Stil eines »Bekenntnisses zu meinen Argumenten, Handlungs- und Denkweisen« schreiben wolle – allerdings war ich seinerzeit daran nicht interessiert.

Inzwischen glaube ich, dass es aus zwei Gründen nötig ist, sich erkennbarer zu positionieren: zum einen, um auf der öffentlichen Bühne den Einfluss von Nationalisten, Populisten und Prä-Faschisten zurückzudrängen, zum anderen, um jene wachzurütteln, die glauben, alles sei nicht so schlimm und überhaupt hätten wir noch viel Zeit. Wir sind keine »Angstkirche«, wie sie Höcke und Co. in ihren Reden attackieren – es gibt gute Gründe zur Sorge!

»Es gibt nichts Gutes, außer man tut es«, sagte Erich Kästner. Entsprechend scheint mir, dass vom traditionellen Dreischritt der Katholischen Soziallehre, nämlich Sehen – Urteilen – Handeln, ein klares Defizit beim letzten liegt: Die Probleme sind erkannt, die Bewertung ist erfolgt und Lösungen sind auf dem Tisch. Nur mit der Umsetzung hapert es. Warum? Das hat viele Gründe. Ich möchte meine Sicht der Dinge darlegen.

Ich danke meinen afrikanischen Gesprächspartnern, die maßgeblich dazu beitrugen, dass ich mich überhaupt solchen Fragen und Themen zugewendet habe, etwa mit der einfachen Frage: Wie können wir verhindern, dass unsere jahrelange Forschungskooperation zu Steuergerechtigkeit und Armut bloße Symptomkurierung bleibt?

Ich danke ebenfalls den zwölf Gegenlesern meines ersten Textentwurfs für ihre vielen Verbesserungsvorschläge, meiner Lektorin Marlene Fritsch für die Begleitung dieser Publikation, dem Wissenschaftlichen Beirat bei der Bundesregierung für Globale Umweltveränderungen für die Nutzungserlaubnis der Grafik auf Seite 99 sowie Prof. Dr. Uwe Schneidewind für sein Geleitwort.

Einführung

Seit über 30 Jahren bin ich als Jesuit und Priester in der gesellschaftspolitischen Kampagnen- und Anwaltschaftsarbeit tätig, denn ein wichtiges Ordensmotto, dass nämlich der Einsatz für »Glauben und Gerechtigkeit« miteinander in Beziehung stehen, hat mich zu den Jesuiten geführt. Dabei ist »Anwaltschaft« zu unterscheiden von »Lobbyismus«: Letzterem geht es um eigene Interessen, Ersterer um die Interessen jener, die selbst keine Lobby haben, etwa Arme ohne die Möglichkeit, sich passend zu artikulieren, oder Menschen, die keinen Einfluss auf unsere Entscheidungen haben, aber von deren Auswirkungen betroffen sind.

Die Frohe Botschaft von Jesus Christus muss schon in dieser Welt konkrete Auswirkungen haben. »Obschon der irdische Fortschritt eindeutig vom Wachstum des Reiches Christi zu unterscheiden ist, so hat er doch große Bedeutung für das Reich Gottes, insofern er zu einer besseren Ordnung der menschlichen Gesellschaft beitragen kann« (GS Nr. 39). Oder: Jesus ist Mensch geworden, »um das umfassende Heil zu bringen, das den ganzen Menschen und alle Menschen erfassen soll« – so das Kompendium der Katholischen Soziallehre im eröffnenden Absatz Nr. 1 und so auch Papst Johannes Paul II. und Papst Benedikt XVI.

Damit es so kommt, dazu gehört eben auch gesellschaftspolitisches Engagement. Das bedeutet »die Gesamtheit der Institutionen, die das soziale Leben rechtlich, zivil, politisch und kulturell strukturieren, einerseits zu schützen und andererseits sich ihrer zu bedienen … Das ist der institutionelle – wir können auch sagen politische – Weg der Nächstenliebe, der nicht weniger tauglich und wirksam ist als die Liebe, die dem Nächsten unmittelbar … entgegenkommt« (CIV Nr. 6f.). Auch wenn die Kirche keinen Anspruch erhebt, so Benedikt andernorts, die Arbeit von Staat oder Politik (besser) machen zu wollen oder zu können, so hat sie sehr wohl den Anspruch, den Staat an seine fundamentalen Aufgaben und Grundwerte zu erinnern und zur Werteschärfung und Gewissensbildung in der Gesellschaft beizutragen (DCE Nr. 26ff.).

Es gab und gäbe also vieles für mich zu tun. Warum unterbreche ich jedoch meine Arbeit, um dieses »Bekenntnis« zu schreiben? Das möchte ich veranschaulichen: Mir kam zunehmend der Verdacht, dass ich mich auf der falschen Problemebene engagiere und verzettele: Meine letzte Kampagne zielte auf die Einführung einer »Steuer gegen Armut«, später bekannt als »Robin Hood Tax«: Jede Finanztransaktion sollte einem winzigen Steuersatz zwischen 0,01 und 0,1 Prozent unterworfen und mit den so eingesammelten Milliarden Armut und die Folgen des Klimawandels eingedämmt werden. Mit nahezu 60.000 Unterschriften unter einer Petition wurde das Thema auf die Tagesordnung der deutschen Politik gehoben, es folgten mehrere Parlamente und Regierungen in Europa, die EU-Kommission, das EU-Parlament und viele vergleichbare Bündnisse weltweit. Das Ergebnis? Nach neun Jahren zäher Verhandlungen ist die Finanztransaktionssteuer von der Finanzlobby zu einer Aktiensteuer zerschossen worden, die die Realwirtschaft belasten würde, den Finanzsektor und seine Spekulanten aber davonkommen ließe. Gab es je eine vielversprechendere internationale zivilgesellschaftliche Bewegung, um den Finanzsektor stärker an den Kosten für das Gemeinwohl zu beteiligen? Nein! Und dennoch hatten wir keine Chance!

Sodann nahm ich im Herbst 2017 an einer Veranstaltung zum Thema »Finance & Social Justice« teil. Sie wurde organisiert von Altschülern der Jesuiten. Eine beachtliche Anzahl der Referenten vertrat jedoch neoliberale Positionen: Wenn, ja wenn die Märkte nur freier agieren könnten, dann, ja dann würden die Segnungen des Neoliberalismus deutlicher erkennbar werden! Ich fragte mich: Nach all den bekannten Krisen und wachsenden Alarmsignalen gibt es selbst im kirchlichen Bereich immer noch Leute, die dies ernsthaft glauben? Ich merkte spätestens dort, warum man mit diesen Menschen nicht diskutieren kann: Sie glauben an die Wahrheit ihrer Grundannahmen mit religiöser Inbrunst. Wer aber an all das glaubt, für den sind Argumente innerhalb seines Denksystems sehr folgerichtig, logisch und sinnvoll, während alles, was dagegenspricht, irrationaler Unfug ist. Mir wurde klar: Will man dem begegnen, braucht man eine alternative Vision von Gesellschaft, in deren Rahmen die eigenen Argumente ebenso stimmig hineinpassen und logischen Sinn machen. Vom Kampf der Argumente zum Kampf alternativer Weltbilder, Narrativen, Paradigmen und Systeme also.

Last not least: Seit Jahren leiden wir unter unsäglichen Migrationsdebatten, 2018 nicht zuletzt deshalb, weil die Christlich Soziale Union Landtagswahlen in Bayern hatte. Plötzlich war »Migration die Mutter aller Probleme« (Parteivorsitzender Seehofer), der »Dschihad Fluchtursache Nummer 1« (Werteunion) und Ministerpräsident Söder kramte die Metapher des »Asyltourismus« wieder hervor, die 1988 bereits von CSU-Sozialminister Hillermeier verwendet wurde. Dabei sind Teile der CDU, was das Schielen nach Rechts betrifft, nicht viel besser: 2019, dem Jahr ostdeutscher Landtagswahlen, kurz nach der Ermordung von CDU-Regierungspräsident Lübcke durch einen Rechtsextremen und weiteren Morddrohungen aus demselben Milieu gegen CDU-Bürgermeister und andere Verantwortungsträger, denken ostdeutsche CDU-Politiker in Sachsen und Sachsen-Anhalt öffentlich und ernsthaft über die Koalitionsfähigkeit der AfD nach. Zudem werden zunehmend Kooperationen zwischen CDU und AfD auf kommunaler Ebene bekannt – allen Eindämmungsversuchen der Parteiführung zum Trotz. Warum nur laufen Mitglieder derart traditionsreicher Parteien mit großer Vergangenheit den Rechten hinterher, anstatt ihnen auf der Grundlage christlicher Werte Widerstand zu leisten? Warum verschärft man wegen einiger Zehntausend besorgter PEGIDA-Bürger die Asylgesetze drastisch, während 1,4 Millionen besorgte FridaysForFuture-Bürger lediglich zu einem »Klimapaketchen« führen, welches weit hinter den wissenschaftlich festgestellten Mindesterfordernissen bleibt? Dabei ist Klimaschutz doch auch Fluchtursachenbekämpfung, also eine Win-Win-Situation für alle!

Hinzu kommen Greta Thunberg, die FridaysForFuture-Bewegung und Rezos Video, die mir nahelegen, dass wir Alten mehr tun müssen, um die junge Generation in ihrem Bemühen um unsere Zukunft zu unterstützen – auch und gerade in der Kirche, wie etwa den BDKJ und seine Gliederorganisationen.

Zeitlebens fragte ich mich: Was würde Jesus heute von uns erwarten? Und zunehmend komme ich zu der Einsicht, dass die Katholische Kirche mit der Katholischen Soziallehre ein Instrumentarium besitzt, welches als normativer Kompass in diesen verwirrenden Zeiten dienen könnte. Aber: Was folgt daraus für die Schwerpunkte meines Engagements sowie das von Christen und Kirche?

Bevor ich meine Darlegungen beginne, noch einige Vorbemerkungen: