Einführung
Seit über 30 Jahren bin ich als Jesuit und Priester in der gesellschaftspolitischen Kampagnen- und Anwaltschaftsarbeit tätig, denn ein wichtiges Ordensmotto, dass nämlich der Einsatz für »Glauben und Gerechtigkeit« miteinander in Beziehung stehen, hat mich zu den Jesuiten geführt. Dabei ist »Anwaltschaft« zu unterscheiden von »Lobbyismus«: Letzterem geht es um eigene Interessen, Ersterer um die Interessen jener, die selbst keine Lobby haben, etwa Arme ohne die Möglichkeit, sich passend zu artikulieren, oder Menschen, die keinen Einfluss auf unsere Entscheidungen haben, aber von deren Auswirkungen betroffen sind.
Die Frohe Botschaft von Jesus Christus muss schon in dieser Welt konkrete Auswirkungen haben. »Obschon der irdische Fortschritt eindeutig vom Wachstum des Reiches Christi zu unterscheiden ist, so hat er doch große Bedeutung für das Reich Gottes, insofern er zu einer besseren Ordnung der menschlichen Gesellschaft beitragen kann« (GS Nr. 39). Oder: Jesus ist Mensch geworden, »um das umfassende Heil zu bringen, das den ganzen Menschen und alle Menschen erfassen soll« – so das Kompendium der Katholischen Soziallehre im eröffnenden Absatz Nr. 1 und so auch Papst Johannes Paul II. und Papst Benedikt XVI.
Damit es so kommt, dazu gehört eben auch gesellschaftspolitisches Engagement. Das bedeutet »die Gesamtheit der Institutionen, die das soziale Leben rechtlich, zivil, politisch und kulturell strukturieren, einerseits zu schützen und andererseits sich ihrer zu bedienen … Das ist der institutionelle – wir können auch sagen politische – Weg der Nächstenliebe, der nicht weniger tauglich und wirksam ist als die Liebe, die dem Nächsten unmittelbar … entgegenkommt« (CIV Nr. 6f.). Auch wenn die Kirche keinen Anspruch erhebt, so Benedikt andernorts, die Arbeit von Staat oder Politik (besser) machen zu wollen oder zu können, so hat sie sehr wohl den Anspruch, den Staat an seine fundamentalen Aufgaben und Grundwerte zu erinnern und zur Werteschärfung und Gewissensbildung in der Gesellschaft beizutragen (DCE Nr. 26ff.).
Es gab und gäbe also vieles für mich zu tun. Warum unterbreche ich jedoch meine Arbeit, um dieses »Bekenntnis« zu schreiben? Das möchte ich veranschaulichen: Mir kam zunehmend der Verdacht, dass ich mich auf der falschen Problemebene engagiere und verzettele: Meine letzte Kampagne zielte auf die Einführung einer »Steuer gegen Armut«, später bekannt als »Robin Hood Tax«: Jede Finanztransaktion sollte einem winzigen Steuersatz zwischen 0,01 und 0,1 Prozent unterworfen und mit den so eingesammelten Milliarden Armut und die Folgen des Klimawandels eingedämmt werden. Mit nahezu 60.000 Unterschriften unter einer Petition wurde das Thema auf die Tagesordnung der deutschen Politik gehoben, es folgten mehrere Parlamente und Regierungen in Europa, die EU-Kommission, das EU-Parlament und viele vergleichbare Bündnisse weltweit. Das Ergebnis? Nach neun Jahren zäher Verhandlungen ist die Finanztransaktionssteuer von der Finanzlobby zu einer Aktiensteuer zerschossen worden, die die Realwirtschaft belasten würde, den Finanzsektor und seine Spekulanten aber davonkommen ließe. Gab es je eine vielversprechendere internationale zivilgesellschaftliche Bewegung, um den Finanzsektor stärker an den Kosten für das Gemeinwohl zu beteiligen? Nein! Und dennoch hatten wir keine Chance!
Sodann nahm ich im Herbst 2017 an einer Veranstaltung zum Thema »Finance & Social Justice« teil. Sie wurde organisiert von Altschülern der Jesuiten. Eine beachtliche Anzahl der Referenten vertrat jedoch neoliberale Positionen: Wenn, ja wenn die Märkte nur freier agieren könnten, dann, ja dann würden die Segnungen des Neoliberalismus deutlicher erkennbar werden! Ich fragte mich: Nach all den bekannten Krisen und wachsenden Alarmsignalen gibt es selbst im kirchlichen Bereich immer noch Leute, die dies ernsthaft glauben? Ich merkte spätestens dort, warum man mit diesen Menschen nicht diskutieren kann: Sie glauben an die Wahrheit ihrer Grundannahmen mit religiöser Inbrunst. Wer aber an all das glaubt, für den sind Argumente innerhalb seines Denksystems sehr folgerichtig, logisch und sinnvoll, während alles, was dagegenspricht, irrationaler Unfug ist. Mir wurde klar: Will man dem begegnen, braucht man eine alternative Vision von Gesellschaft, in deren Rahmen die eigenen Argumente ebenso stimmig hineinpassen und logischen Sinn machen. Vom Kampf der Argumente zum Kampf alternativer Weltbilder, Narrativen, Paradigmen und Systeme also.
Last not least: Seit Jahren leiden wir unter unsäglichen Migrationsdebatten, 2018 nicht zuletzt deshalb, weil die Christlich Soziale Union Landtagswahlen in Bayern hatte. Plötzlich war »Migration die Mutter aller Probleme« (Parteivorsitzender Seehofer), der »Dschihad Fluchtursache Nummer 1« (Werteunion) und Ministerpräsident Söder kramte die Metapher des »Asyltourismus« wieder hervor, die 1988 bereits von CSU-Sozialminister Hillermeier verwendet wurde. Dabei sind Teile der CDU, was das Schielen nach Rechts betrifft, nicht viel besser: 2019, dem Jahr ostdeutscher Landtagswahlen, kurz nach der Ermordung von CDU-Regierungspräsident Lübcke durch einen Rechtsextremen und weiteren Morddrohungen aus demselben Milieu gegen CDU-Bürgermeister und andere Verantwortungsträger, denken ostdeutsche CDU-Politiker in Sachsen und Sachsen-Anhalt öffentlich und ernsthaft über die Koalitionsfähigkeit der AfD nach. Zudem werden zunehmend Kooperationen zwischen CDU und AfD auf kommunaler Ebene bekannt – allen Eindämmungsversuchen der Parteiführung zum Trotz. Warum nur laufen Mitglieder derart traditionsreicher Parteien mit großer Vergangenheit den Rechten hinterher, anstatt ihnen auf der Grundlage christlicher Werte Widerstand zu leisten? Warum verschärft man wegen einiger Zehntausend besorgter PEGIDA-Bürger die Asylgesetze drastisch, während 1,4 Millionen besorgte FridaysForFuture-Bürger lediglich zu einem »Klimapaketchen« führen, welches weit hinter den wissenschaftlich festgestellten Mindesterfordernissen bleibt? Dabei ist Klimaschutz doch auch Fluchtursachenbekämpfung, also eine Win-Win-Situation für alle!
Hinzu kommen Greta Thunberg, die FridaysForFuture-Bewegung und Rezos Video, die mir nahelegen, dass wir Alten mehr tun müssen, um die junge Generation in ihrem Bemühen um unsere Zukunft zu unterstützen – auch und gerade in der Kirche, wie etwa den BDKJ und seine Gliederorganisationen.
Zeitlebens fragte ich mich: Was würde Jesus heute von uns erwarten? Und zunehmend komme ich zu der Einsicht, dass die Katholische Kirche mit der Katholischen Soziallehre ein Instrumentarium besitzt, welches als normativer Kompass in diesen verwirrenden Zeiten dienen könnte. Aber: Was folgt daraus für die Schwerpunkte meines Engagements sowie das von Christen und Kirche?
Bevor ich meine Darlegungen beginne, noch einige Vorbemerkungen:
- Mir ist bewusst, dass man Bibel und Katholische Soziallehre im In- und Ausland auch anders lesen und interpretieren kann, siehe z. B. Hengsbach, Emunds & Möhring-Hesse, 1993. Aber da das Folgende meine persönliche Sicht der Dinge ist, erläutere ich diese möglichst einfach, ohne abweichende Positionen zu kommentieren. Entsprechend erhebe ich keinen akademischen Anspruch.
- Natürlich steht auch meine persönliche Sicht in einem Kontext – deshalb nenne ich an vielen Stellen weiterführende Lesehinweise. Hinsichtlich päpstlicher Lehrschreiben zitiere ich dabei bewusst weniger die »üblichen Verdächtigen« wie Johannes XXIII. oder Franziskus, sondern eher Konservative wie Benedikt XVI. oder Johannes Paul II.
- Wie im Vorwort gesagt, sind diese umfassenden Fragestellungen ziemlich neu für mich; deshalb schreibe ich über das Wenige, das ich kenne. Natürlich hat beispielsweise die Evangelische Kirche auch eine Sozialethik, aber die kenne ich eben zu wenig. Umgekehrt bin ich sicher, dass vieles, was ich im Hinblick auf die Katholische Kirche sage, auch auf andere Kirchen Anwendung finden kann. Vieles beispielsweise aus dem konziliaren Prozess der Ökumenischen Versammlung für Gerechtigkeit, Frieden und die Bewahrung der Schöpfung könnte gemeinsam aufgegriffen, aktualisiert und mit neuer Dringlichkeit gemeinsam vorangetrieben werden.
- Ich versuche einen Spagat zwischen der Dringlichkeit der Probleme und einer vernünftigen Abwägung im Sinne des Apostels Paulus: »Prüfet alles und behaltet das Gute« (1 Thess 5), oder von CDU-Mitglied und Historiker Prof. Andreas Rödder: »Konservative verteidigen heute … das Neue von gestern, das sich auch bewährt hat« (2019).
- Die Sprache ist aufgrund der Lesbarkeit weitgehend »ungegendert«.
- Tagesaktuelles findet Berücksichtigung bis zum 21. Oktober 2019.