„Ein Mensch lebt, solange es einen gibt, der an ihn denkt.“
Miguel1
„Eine Erinnerung zurücklassen
Womit werde ich fortgehen, wie Blumen, die verwelken?
Wird mein Name eines Tages nichts sein?
Werde ich nichts von mir zurücklassen auf dieser Erde?
Wenigstens Blumen, wenigstens Lieder.
Was soll mein Herz tun?
Vielleicht sind wir umsonst zum Leben, zum Aufblühen
Auf diese Welt gekommen?“
Tanja - Tamara2
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1 Miguel in einem Brief an meine Mutter zum ersten Todestag meines Vaters, Februar 1978
2 Nach Koenen, Traumpfade der Weltrevolution. Das Guevara-Projekt, S. 28
Zweite ergänzte und überarbeitete Auflage 2011
©Herstellung und Verlag: Books on Demand GmbH, Norderstedt
©Copyright 2011 Johanna Vogel, Berlin
Alle Rechte vorbehalten
Umschlaggestaltung: Ulla von Gemmingen, München
Redaktionelle Unterstützung:
Helgard Ulshoefer, Berlin und
Cordula Förster, München
ISBN 978-3-8448-5531-9
Vorwort von Stefan Lang
Teil I: Die Auflehnung des Miguel C.
Tod in Indien
Umkehr (Gedicht)
Nachspiel in München
Miguels Traum
Schuld an allem ist Hannecke – erste Begegnung mit Miguel
Nachfragen zu seinem Tod
Ein verspäteter Obduktionsbericht
Mein Weg in die Stasizentrale
Jugend in der DDR
Verrückte, Außenseiter, Kriminelle?
Aus der Schule geplaudert
Die Kommune IV (Ost)
Miguels Letztes Schuljahr in der DDR 1968/69
Die Rolling-Stones – ein Anwerbeversuch
Staatsverleumdung 6. 10. 1969 vor der Mokka-Milch-Eisbar
Sieben Wochen Untersuchungshaft 1969
Ermittlungen und Anklage
Miguel beschwert sich über Dauer der U-Haft
Eröffnung des Hauptverfahrens
Ein Psychiatrisches Gutachten
Im Fadenkreuz der Stasi
Die Anzeige einer Mutter oder: Sonias Pass
Vera Lengsfeld be(r)ichtet
Operativ-Vorlauf „Zitat
Die Aktivitäten der Gruppe um Miguel
Wolf Biermann und Miguel – ein ungeklärter Fall
Historisch-kritische Betrachtung eines Telefonmitschnitts
Zersetzung
Die Mokka-Milch-Eisbar – ein Bericht für Mielke 1971
Abgeschoben - ausgegrenzt – heimatlos
Pragaufenthalt - Juli/August 1970
Armando Ziller und die Eltern Carmo
Einreisesperre in die DDR
November 1971-September 1972 – Zehn Monate für Mauerfall
Vernehmungsprotokolle zum „Mauerfall“
Einschätzung des ehemaligen Schülers durch Dir. Gradwohl
Antrag auf DDR-Staatsbürgerschaft
Ein „Urteil im Namen des Volkes“
Ich bekomme einen Sohn
I am just a poor boy though my story is seldom told
Eine Heirat
Staatsverleumdung 1974 im Roten Rathaus – 2 Monate U-Haft
Münchner Freiheit
Depressionen
Berufschancen?
Zum Asylrecht
Ich mag sie nicht, die Mächtigen – ein Lebensgefühl
Von Krämern und ihren Seelen
Das „Blatt“
Hätte eine Grüne Partei eine Chance? Oder: Die APO in den Bundestag?
Einbürgerung – Ausbürgerung. Ein Brief an den brasilianischen Generalkonsul in München
Scheidung
Nobel, nobel, Frau Nobelpreisträgerin
Miguels Depressionen kehren zurück
Die Reise in den Tod - ein Indizienbeweis
The Rocky Horror Picture Show
Der kleine Judenbengel
Reisen – Reisen – Reisen
Brasilien
Abgesang
Acht Monate in Stadelheim
(k)ein geburtstagsmärchen für johanna
Gerichtsverhandlung und Freilassung
Wir planen einen Verlag
Sektenpfarrer Haack
Briefe aus Indien
Beerdigung- Nachrufe
Brief an Miguels Vater
Nachspiel in Brasilien
Letzte Worte. Gescheitert?
Bildteil
Der politische Hintergrund
Die Emigration brasilianischer Kommunisten in die DDR 1964 - 1979
Der Militärputsch in Brasilien am 1. April 1964
Probleme und Ziele der DDR Außenpolitik im Blick auf Lateinamerika
Die Beziehungen der DDR zur brasilianischen KP
Die Auswirkungen des Putsches auf die Familie Carmo
Die DDR als Asylland brasilianischer Kommunisten
Konflikte um das Asylgesuch einer Journalistin
Armando Ziller in Prag
Interne Probleme der KP Brasiliens nach dem Militärputsch
Machtkampf zwischen Prestes und Marighella
Der Sonderstatus brasilianischer Exilanten in der DDR
Sinval Bambirra in Berlin
RBI – Radio Berlin International
Alltagsprobleme des Lebens in der DDR
Die zweite Generation
Machtkampf zwischen Stasi und Partei um Miguel C.
Kontakte zwischen den bras. Exilanten im Warschauer Pakt
Ende des Exils für die brasilianischen Kommunisten
Von der Macht und der Ohnmacht.
Ein autobiographisches Essay von Miguel C.
Kindheit in Brasilien
Der Militärputsch – „Unsere Köpfe rollen“
Die Verhaftung: Du kriegst was auf die Fresse
Von Romeo und Julia im Gefangenentransport
Glorreicher Befreiungstag
Auf dem Weg nach Mexiko
Im politischen Asyl
Über die Lage in der Partei
Erinnerungen an die Zeit in Kuba
Weiterreise in den wahren Kommunismus, in die DDR
Anhang:
Zeittafel
Abkürzungen
Literatur- und Quellenverzeichnis
Für Inge und Florian
Geschichte, auch Zeitgeschichte, wird meist auf Zahlen, nüchterne Fakten und die Namen der großen Akteure reduziert. Die Schule lehrt uns Jahreszahlen wie Opferzahlen, aus dem Fernsehen erfahren wir die Hintergründe zu Kriegserklärungen, Friedensverhandlungen, Revolutionen. Wie sich die großen geschichtlichen Ereignisse auf die Menschen auswirken, wird in Unterricht und Dokumentationen nur am Rande, als Fußnote, präsentiert. Doch wie erlebt der Einzelne eine Politik, die in den Geschichtsbüchern als „menschenverachtend“ bezeichnet wird? Wie sieht der Alltag eines Kindes aus, dessen Eltern aufgrund ihrer politischen Ansichten verfolgt werden? Was passiert mit dem natürlichen, angeborenen Gerechtigkeitssinn eines Teenagers in der Konfrontation mit den Organen eines Unrechtstaates?
Die Autorin Johanna Vogel wollte kein Geschichtsbuch schreiben. Als Adoptivmutter des Miguel C. hat sie ein ganz persönliches Ziel. Sie wollte das Schicksal von Miguel C. aufarbeiten, sein Leben verstehen: seine Kindheit, als er als Sohn brasilianischer Kommunisten inhaftiert wird; seine Jugend, die von seiner Auflehnung gegen die in der DDR herrschenden politischen Verhältnisse geprägt ist; seine Erfahrungen als junger Erwachsener in West-Deutschland sowie die ungeklärten Umstände seines Todes während einer Indienreise 1982.
Für die Mehrheit der Leser, die Miguel C. nicht gekannt haben, macht diese persönliche Aufarbeitung Zeitgeschichte erlebbar. In der Schilderung der Verhaftungen, Verhöre und Repressalien lernt der Leser das Selbstverständnis der Machtapparate kennen. Er erfährt, wie Menschen, die nicht einverstanden waren, ihren Alltag organisierten, sich auflehnten oder arrangierten. Und er erlebt das Lebensgefühl der 70er Jahre in Ost und West.
Obwohl Johanna Vogel eine Lebensgeschichte beschreibt, ist „Die Auflehnung des Miguel C.“ für mich ein sehr aufschlussreiches, lesenswertes Geschichtsbuch. Denn trotz ihrer persönlichen Position handelt es sich um ein wissenschaftlich-akkurat geschriebenes Buch. Alle Fakten werden durch Quellen belegt, deren Glaubwürdigkeit die Autorin gewissenhaft abwägt, und jede persönliche Stellungnahme wird eindeutig als solche gekennzeichnet. Die zweite, erweiterte und überarbeitete Auflage wurde um Auszüge aus Gerichtsakten und Vernehmungsprotokollen der Staatssicherheit ergänzt und um weitere Texte aus Miguels eigener Feder zu politischen Sachverhalten.
Der Anspruch, Geschichte nicht als sperrige Sammlung von Zahlen und Fakten zu schildern, sondern als Einzelschicksal erlebbar zu machen, manifestiert sich auch in der Sprache: „Die Auflehnung des Miguel C.“ ist bei aller Wissenschaftlichkeit leicht verständlich, anschaulich, oft sogar spannend geschrieben. Ich empfehle dieses Buch jedem geschichtsinteressierten Leser.
Osdorf, 10. Februar 2011
Stefan Lang
„Er ist in Madurai gestorben. Er ist glücklich“.
Die ruhige Selbstverständlichkeit, mit der der sehnige, irgendwie alterslose halbnackte Mann, einer dieser umherziehenden Asketen, wie man sie überall in Indien antreffen kann, das zu mir sagte, hat sich mir eingeprägt. Ich weiß nicht mehr, wie es zu dieser seltsamen Begegnung gekommen war. Er wird mich angesprochen haben, mich, eine schon ältere Europäerin, die hier am Strand von Colva Beach unter den anderen, meist jugendlichen Touristen fehl am Platz war. Und ich werde ihm vom traurigen Anlass, dem Tod Miguels in einem Hospital in Madurai, erzählt haben. So muss es gewesen sein.
Am Ende meiner Reise war ich nun hier in diesem kleinen Ort am Strand von Goa, von wo seine letzten Briefe an mich adressiert gewesen waren. Bis vor zwei Monaten hatte er hier gelebt. Mit seinem Foto in der Hand sprachen wir Touristen und Einheimische an, und gingen in den kleinen Restaurants von Tisch zu Tisch. Wir, das war neben mir eine jüngere Freundin aus München, Cordula, die mich für diesen zweiten Teil meiner schwierigen Spurensuche in Indien dankenswerterweise begleitete. In der Hütte eines einfachen Fischers fanden wir schließlich sogar sein Reisegepäck. Ein indischer Junge hatte uns zu diesem Fischer namens Thomas geführt. Bei ihm hatte Miguel eine dieser typischen Strandhütten aus Schilf angemietet. Und ihm hatte er sein Reisegepäck zur Aufbewahrung anvertraut, weil er für ein paar Tage verreisen wollte. Nachdem sich der Fischer, der Analphabet war, von dem extra herbeigerufenen Pfarrer überzeugen ließ, dass sein Mieter tatsächlich gestorben und ich die rechtmäßige Mutter war, - die entsprechenden Papiere hatte ich bei mir - händigte er mir die beiden kleinen Reisetaschen aus, nicht ohne dass er mich vorher den ganzen Inhalt prüfen ließ – mein Erbe. Anschließend lud er uns beide noch zum Essen ein, eine berührend gastfreundliche Geste. Später im Hotel entdeckte ich in Miguels Hinterlassenschaften auch den einzigen meiner vielen Briefe an ihn, der ihn tatsächlich erreicht hatte, wahrscheinlich nur deshalb, weil ich ihn nicht aus München, sondern aus Meran in Italien abgeschickt hatte. Aber ich greife vor. Andere Briefe an ihn sollte ich gar nicht oder erst Wochen später mit dem Vermerk „Empfänger nicht zu ermitteln“ zurückerhalten, manche brachte zum Schluss auch sein wieder heimgekehrter Freund Till mir noch mit, den Miguel in Indien so verzweifelt gesucht hatte.
……………..
Sie wissen nicht, wer Miguel war? Das wundert mich. Jeder hat ihn gekannt, in München, auch in Berlin, Ost wie West. Wenn er anrief, manchmal mitten in der Nacht, meldete er sich meistens: „hier bin icke“, oder einfach nur: „Miguel“. Und jeder Angerufene wusste, wer da sprach. Nur die Stasi, die sich auch für ihn interessiert hatte, hielt „Migel“ absurder weise für einen Decknamen.
Miguel, geboren am 19. Mai 1952 in Rio de Janeiro, gestorben am 25. November 1982, mit 30 Jahren, in einem Krankenhaus in Madurai, wo er 10 Tage zuvor schwer verletzt aufgefunden worden war, mein Sohn. Jetzt, im Januar 1983, war er schon seit zwei Monaten tot. Dabei hatte er doch für den 14. Dezember 1982 seinen Rückflug nach München gebucht und bis zuletzt auch sein Rückflugticket bei sich. Ich verstehe nicht, was passiert war und warum, und deshalb bin ich nach Indien geflogen, und stolpere jetzt mit Cordula am Strand von Colva Beach in Goa herum.
…………….
Colva Beach, dieser direkt am indischen Ozean gelegene Ort in Goa, einer ehemaligen portugiesischen Kolonie, war damals ein verschlafenes Fischernest. Nur Rucksacktouristen dösten an dem wunderschönen weißen Sandstrand in der Sonne oder unter Palmen, Hippies, die in den schon erwähnten Strandhütten aus Schilf wohnten oder in dem einzigen, ziemlich schäbigen Strandhotel mit Restaurantbetrieb, in dem auch wir untergekommen waren. Viele dieser zumeist jungen Leute machten einen desolaten Eindruck, von Drogen und notorischer Geldknappheit gezeichnet. Der Handel mit Drogen, Haschisch vor allem und Magic Mushrooms, schien ihr hauptsächlicher Erwerbs- und Lebenszweck zu sein. Sogar uns beiden wurden diese Drogen ganz unverhohlen angeboten. Ein Eldorado für Aussteiger und Hippies, so schien es, war dieser Ort vor allem.
Nur abends nach Sonnenuntergang verwischte sich dieser Eindruck für eine Weile. Denn dann kehrten die Fischer mit ihrem Fang zurück und es herrschte hektische Betriebsamkeit am Strand. Lastwagen fuhren vor mit Händlern, die den Fang übernahmen, und verteilt über den Strand versammelten sich um kleine Feuerchen, an denen Fische gebraten wurden, die Fischerfamilien mit ihren Kindern, und ließen es sich schmecken.
Im Strandrestaurant erinnerten sich noch einige der anwesenden Gäste an Miguel. Er habe am Strand Souvenirs verkauft, wusste jemand. Eine schöne große blonde Frau sei zu ihm gekommen, bemerkte ein Kellner, die allerdings - mit einem abschätzigen Blick auf mich – viel jünger gewesen sei als ich. Dina? Diese Hexe aus München? (Wie sehr der Ausdruck „Hexe“ auf diese schillernde Person zutraf, die mir als einzige seiner vielen Freundinnen von Anfang an zutiefst unsympathisch gewesen war, sollte ich erst nach meiner Rückkehr ganz begreifen.) Warum hatte ich ihr Bild nicht bei mir? Hat sie ihn nach Kodaikanal verschleppt oder geschickt? Für eine so weite Reise, ca. 2000km weiter südlich, hatte er doch gegen Ende seiner Reise bestimmt nicht mehr genug Geld in der Tasche. Oder hat man ihn mit der Aussicht, sie dort zu treffen, dorthin gelockt? Kodaikanal, eine Domäne der Hippies in den Bergen oberhalb von Madurai? Bis heute lässt mich diese Frage nicht los.
Später, wieder zurück in München, erstatte ich Anzeige gegen unbekannt wegen des Verdachts des Mordes an meinem Sohn Miguel, und weise dabei u. a. auf ihren Namen hin, zumindest als Zeugin. Aber da ist sie plötzlich aus München verschwunden. Angeblich halte sie sich zum Drehen eines Films in der Karibik auf, wird sie dem ermittelnden Staatsanwalt ausrichten lassen. Ein paar Monate später wird mir von eben diesem Staatsanwalt mitgeteilt, man könne derzeit leider nicht weiter in der Sache ermitteln, da die Zeugin Dina wegen eines Rauschgiftdeliktes in Kolumbien zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt worden sei.
Aber ich greife vor. Denn noch bin ich am Anfang meiner Spurensuche in Indien. Der Flug von München über Bombay nach Madurai - noch ohne Cordula, die erst später in Goa zu mir gestoßen ist -verläuft ohne Zwischenfälle. Ich bin fasziniert, wie reibungslos alles klappt im innerindischen Flugverkehr. An den Schaltern der Fluggesellschaften finden sie auf ihren langen, handgeschriebenen Passagierlisten jedes Mal ganz richtig auch meinen Namen. Überhaupt ist diese Reise mit vielen unvorhersehbaren Glücksfällen gesegnet. So kann ich in Madurai bei Freunden wohnen, die ich noch aus unserer Berliner Zeit kenne. Sie haben mich zu dieser Reise ermuntert. Beide arbeiten an einem theologischen College in Madurai. Zu ihren Aufgaben gehört es auch, in den Krankenhäusern der Stadt die dort stationär behandelten Europäer zu besuchen, wenn diese keine Angehörigen haben. Nur dieses Mal waren sie verhindert gewesen und hatten einen anderen Kollegen hingeschickt. Verhext. Ein Gedanke, der mir im Zusammenhang mit Miguels unaufgeklärtem Tod immer wieder durch den Kopf geht. Die Beiden hätten Miguel noch von Berlin her gekannt. Vor Ort helfen sie mir bei meiner Suche in großzügigster Weise weiter. Sie zeigen mir auch den berühmten Tempel der Stadt, in der zu sterben – vermutlich wegen dieses Tempels - glücklich machen soll. Der Tempel hätte vermutlich eine wohlwollendere Betrachtung verdient als ich sie ihm zuteil werden ließ. Mir hat das unübersichtliche Treiben in diesem Tollhaus der Frommen mit bunt geschmückten Elefanten, schreienden Händlern, betenden und spielenden und opfernden Menschengruppen vor mir unbegreiflichen Götter-Skulpturen, Altären und Wasserspielen nur Kopfschmerz bereitet. Es war nicht meine Welt.
Die Freunde begleiten mich auch zu dem Frauenkollege, vor dessen Grundstück der schwer verletzte Miguel auf den Gleisen liegend von Frauen gefunden und ins Krankenhaus gebracht worden war. Man zeigt mir die genaue Stelle. Wie unwirklich das ist. Wieso hier, in dieser abgelegenen Gegend am Rande dieser so quirligen Stadt?
Ein paar Geschichten über ihn werden mir nebenbei von Leuten aufgetischt. In Windeseile hatte es sich in Madurai herumgesprochen, dass ich die Mutter jenes verstorbenen Deutschen sei, dessen Geschichte durch die dortige Presse gegeistert war: „He was a rich man!“, stand darin zu lesen. So erzählte man sich auch, er sei in einer kleinen Straße gesehen worden, wie er seinen Reisepass zerrissen habe. Die Szene passt zu Miguel; das könnte er gewesen sein. Nie werde ich den Tag vergessen, an dem ihm vom Münchner Kreisverwaltungsreferat sein erster deutscher Pass, Nachweis seiner nunmehrigen deutschen Staatsangehörigkeit, ausgehändigt worden war. Außer sich vor Schmerz, heulend, stürmt er in die Wohnung, schreit: „Ich bin ein Mensch, ich brauche keinen Pass!“ und zerreist den Pass vor meinen entsetzten Augen.
Ein Schock ist für mich der Besuch im staatlichen Krankenhaus von Madurai, in dem Miguel gestorben ist. „Wenn hier einer eingeliefert wird“ – so hatten mir die Freunde schon vorher nach München geschrieben – „dann kann man nur noch beten“. Ein riesiges Gebäude, riesige Krankensäle, riesige Flure; alles voll gestellt mit Betten, in denen Kranke liegen, stöhnen, weinen, oft umgeben von Angehörigen, die sie füttern oder sonst wie betreuen, ein Hexenkessel des Elends. Ich möchte die Krankenakte von Miguel sehen; aber das wird mir vom „Dean“ des Krankenhauses verwehrt, der überhaupt äußerst abweisend auf meine Fragen reagiert und wenig Gesprächsbereitschaft zeigt. Als er uns später im Gespräch mit einem jüngeren Arzt erwischt, der Miguel behandelt hatte und der eben seine Verwunderung über dessen plötzlichen Tod zum Ausdruck gebracht hatte, ´er sei ja zuerst sogar herumgelaufen und habe Zigaretten geraucht`, herrscht ihn der Dean an: „No two versions!“ und verbietet ihm das weitere Gespräch mit uns. Wir sollen uns an die ermittelnde Polizei halten. Welche zwei Versionen zu seinem Tod gibt es denn da? In mir wird wieder der schreckliche Verdacht wach, den schon der Bericht des Pfarrers Christoffer Grundmann bei mir ausgelöst hatte, dass Miguels Tod keinesfalls ein Zufall oder Unfall war.
Er schrieb:
Gut vier Tage vor seinem Tode lernte ich den dreißigjährigen Alberto Miguel Vogel kennen, nachdem ich vom hiesigen staatlichen Krankenhaus per Telefon gebeten wurde, den dortigen Behörden bei der Übersetzung der Aussagen eines in einen Unfall verwickelten Deutschen behilflich zu sein. Der Anruf erreichte mich am Montag, den 22. November gegen halb vier nachmittags und ich machte mich sofort danach mit einem Wagen des Seminars auf den Weg. Im Krankenhaus angekommen erwartete mich dort um jene Zeit auf der Unfallstation der Dienst habende junge Arzt Billy Graham und führte mich sogleich in den Krankensaal, wo Alberto Miguel lag. Dort fand ich einen jungen Deutschen, der stark abgemagert war und einen glatt rasierten Schädel hatte. Beide Augen zeigten große rot-blaue Flecken, das rechte war gänzlich blutunterlaufen. Albertos Oberlippe war beschädigt und beim Sprechen zeigte es sich, dass seine Schneidezähne wackelten. Beide Arme und Beine zeigten Verletzungen, die mit Verbänden noch zusätzlich versorgt waren; die Arme oberhalb des Ellenbogens und die Beine unterhalb oder in Nähe des Knies. Alberto war bei Bewusstsein, wenn auch im Laufe der etwa zwanzigminütigen Befragung die verschiedenen Bewusstseinsebenen häufig ineinander übergingen. Persönlich war ich von einer solchen Begegnung mit einem Landsmann sehr betroffen. Daher war es für mich wohltuend zu erleben, mit welcher Aufmerksamkeit sich die Krankenpfleger und Ärzte um Alberto Miguel kümmerten. Überhaupt zeigten Bettstelle und Laken eine für indische Verhältnisse erstaunliche Reinlichkeit.
Wahrscheinlich wegen zu starker Motorik waren Albertos Beine mit Mullschlaufen am Bettende festgebunden, sowie auch der rechte Arm, den er ständig zu befreien suchte. Ich setzte mich auf sein Bett in Brusthöhe, so dass er mich gut sehen konnte, stellte mich ihm vor und begann nach Name, Adresse etc. zu fragen. Mit kurzen Sätzen, oft nur unter Schwierigkeiten hervorgebracht, so dass ich mich gänzlich mit dem Ohr über seinen Mund vorbeugen musste, um zu verstehen, gab er Antwort, oftmals nicht gerade willig. Ihn zu ermuntern, sagte ich, dass wir ihm doch nur helfen wollen, worauf er unmittelbar zurückfragte: „Wer ist denn wir? Bist du von der Polizei?“ Ich gab zur Antwort, dass das „Wir“ zunächst die Leute im Krankenhaus, dann auch mich persönlich meine. Er war beruhigt und bat mich um eine Zigarette, die ich ihm leider nicht sogleich geben konnte, weil ich selbst Nichtraucher bin.
Meine Befragung wurde von manchen seiner Gegenfragen unterbrochen, wie z.B. ob ich ihm Geld geben könne, das er dringend gebrauche. Ich verneinte dies unter Hinweis, dass er nun erst einmal gesund werden müsse, was er dann auch einsah. Er gab mir die Adresse Hefnerstrasse in München sowie die seiner Eltern in der Öttlmairstrasse 3 in München 83. Als er soweit gekommen war, fing er von selbst an mich zu bitten, mittels dieser Adressen „per Telex“, (was er mehrere Male wiederholte) von „American Express“ für ihn DM 1.000 (Eintausend Mark) anzufordern; das sei sehr wichtig. Ich fragte ihn nach seinem Alter und nach seinem Geburtsdatum (30 Jahre, 19.5.1952) und –ort (Rio de Janeiro). Er war nicht bereit, weitere persönliche Einzelheiten preiszugeben. Auf eine mögliche Begleitperson hin befragt (Hast du eine Frau?) gab er zur Antwort, dass eine gewisse „Margarete Xxxxxxxxxxx hier irgendwo“ sein müsse. Wiederum fragte er nach einer Zigarette, die ich ihm doch aus seiner Jacke, die unter dem Bett läge, geben sollte. Erneut machte ich ihn auf seine Situation aufmerksam und darauf, dass unter dem Bett keine Jacke läge, was er dann auch verstand. Ich fragte ihn nach seinem Pass. „Sie haben ihn zerrissen.“ –„Wer sie?“ – „Die Leute!“ - „Welche Leute?“ -. “Ich weiß nicht.“ - „Kannst du dich noch an die Nummer erinnern?“ –„Ja, warte mal: F – 7-9-9-2-?“ Dann stoppte er und wusste nicht mehr weiter. Ich versuchte, ihm zu helfen, aber er wiederholte dieselbe Zahlengruppe. Danach wirkte er sehr müde. – Nach einer Pause, in der ich vom Personal des Krankenhauses mehr Informationen erhalten hatte, unter welchen Umständen er gebracht worden war, begab ich mich wieder in den Raum zu Miguel. Vorher versuchte ich noch – leider vergeblich – ihm eine Zigarette zu besorgen. Ich erzählte ihm, was ich gerade in Erfahrung gebracht hatte und beschrieb ihm ein wenig seinen Zustand, soweit ich ihn vor Augen hatte. „Weißt du, wie du auf die Eisenbahngeleise gekommen bist? Wer hat dich da hingelegt?“ – „Ich mich selbst.“ – „Ist doch Quatsch. Du legst dich doch nicht selbst auf die Geleise!“ – „Natürlich, ich kann doch nicht wieder erneut über Mauern springen!“ – „Über Mauern, ja; aber auf Geleise! Weißt du....(?). – Deine blauen Augen zeigen mir, dass du kräftig zusammengeschlagen wurdest. Ebenso deine Hand. Weißt du, wer das war?“ – „Kennst du Kodaikanal? Kennst du Leute dort?“ – „Kodaikanal? Ja!“ Dann waren es sicher deine eigenen Leute, die Dich so zugerichtet haben.“ – „Meine Leute? Quatsch!“ –„Aber die Inder hier werden kaum einen Ausländer zusammenschlagen. Mach mir nichts vor. Es waren deine eigenen Leute. Wer war`s?“ –„Deutsche. Es war fürchterlich. Die vielen Pferde!“ – „Pferde? Welche Deutschen?“ –„Religiöse Gruppen.“ – „Welche Gruppen?“ – „Komm mal morgen wieder; ich zeig dir dann das Haus.“ – „Was für ein Haus? Außerdem, erst einmal musst du wieder gesund werden.“ – „Ach, stimmt ja.“
Dann versuchte ich es noch einmal mit der Passnummer; doch mehr Zahlen konnte er nicht herausbringen. Er wirkte sehr erschöpft und bat mich, morgen (oder am nächsten Tag) wieder zu kommen. Er wolle mir dann auch zu essen geben. Noch einmal machte ich ihm klar, dass er jetzt im staatlichen Krankenhaus in Madurai läge und erst einmal wieder gesund werden müsse, bevor er mir Essen geben könne, was er wiederum zu realisieren schien. Mit dem Versprechen, am nächsten Tag wiederzukommen, verabschiedete ich mich von ihm. Als ich dann einen Tag später wieder ins Krankenhaus kam, war er bewusstlos. Ich sah, dass alle Verbände erneuert worden waren, dass eine Infusion gegeben wurde und dass das Sauerstoffgerät neben seinem Bette stand. Um Alberto ein wenig Gesellschaft zu verschaffen, hatte ich an jenem Tage, den 23. 11. 1982, noch einen jungen deutschen Theologie Studenten, der z. Zt. bei uns im Seminar zu Gast ist, mitgenommen. Doch mussten wir beide unverrichteter Dinge wieder umkehren. Am 25. 11. gegen 11.30 Uhr vormittags kam dann der Polizei-Inspektor, der diesen „Fall“ zu bearbeiten hatte, zu mir ins Büro, um das aufzunehmen, was ich oben dargelegt habe. Er fragte mich auch, was im Fall des Todes mit dem Leichnam geschehen solle. „What´s about the last rit´s?“. Erst dann erfuhr ich, wie ernst es um Miguel stand. Sofort sandte ich nach dem deutschen Studenten im Seminar („Helge Haack“), um ihn ins Krankenhaus zu schicken, da ich wegen dienstlicher Verpflichtungen unabkömmlich war. Leider war auch Herr Haack nicht zu erreichen, und so verließ ich mich auf das Wort der Krankenhausbehörde, dass sie mich, wenn nötig, benachrichtigen wollen.
Wie auch bereits am Montag (22.11), so gab ich auch jetzt dem Polizei Inspektor den dringenden Rat, sich mit dem Konsulat in Madras in Verbindung zu setzen, vor allem im Falle eines Todes. Ich war erleichtert zu hören, dass man seit Dienstag den 23. 11. mit dem Konsulat in Verbindung getreten war. Am Abend dann brachte Helge Haack die Nachricht, dass man im Polizeibüro von dem Versterben des Deutschen im Gouvernement Hospital gehört habe.
Am Vormittag des 26.11. (Freitag) erreichte mich dann ein Anruf der Polizei, dass Alberto Miguel Vogel verstorben sei und dass ich bei der Beschaffung von Eis zur Konservierung Geld beschaffen solle. Ich fuhr sofort zum Krankenhaus, wo ich mit dem Dienst habenden ärztlichen Direktor sprach und ihm Geld für das Eis aushändigte. Er sagte mir auch, dass erst eine Obduktion („post mortem“) gemacht werden müsse, bevor der Leichnam den zuständigen Stellen ausgehändigt werden könne. Zugleich informierte er mich, dass das Konsulat in Kenntnis gesetzt worden sei und dass ein Konsulatsvertreter bereits unterwegs sei. Bei seinem Eintreffen wollte man mich informieren. Heute Morgen dann gegen 10.30 Uhr hörte ich von der Ankunft von Herrn Nagel3 in meinem Hause. Gemeinsam fuhren wir zum Krankenhaus, wo wir die wenigen Formalitäten erledigten, die erforderlich waren, um den Leichnam von Alberto Miguel Vogel aus dem Obduktionsraum in Empfang zu nehmen und zu dem Krematoriumsplatz bringen zu können. In ein weißes Tuch gehüllt, das mit etwas Sandalpaste besprengt war, brachte ein Wagen des Krankenhauses den Leichnam zum Platz, wo die notwendigen Vorbereitungen bereits getroffen waren. Der hiesigen Sitte gemäß – es gibt keine Kränze – besorgten wir zwei Rosengirlanden, die wir ihm um den Kopf legten. Dann wurde er von den Friedhofsgehilfen neben den Holzstoß gelegt, der ihm Grab werden sollte. Ich sprach ein Gebet für ihn, seine Verwandten und uns, die wir seinen Leichnam vor uns hatten, ein Vaterunser und den Segen. Danach wurde er auf das Holz gelegt und das weiße Tuch auch über sein Gesicht gehüllt. Es wurde weiteres Holz und leicht brennbares Material (Blätter) aufgeschichtet, bis der Körper ganz bedeckt war. Dann drückte man mir einen brennenden Cowdung-Cake in die Hand und bat mich, den Holzstoß in Brand zu setzen, was ich unter einem Segenswort und dem Zeichen des Kreuzes tat. Als die Flammen aufloderten, legte ich noch die beiden Rosengirlanden oben auf den ganzen Stoß (man hatte sie dem Leichnam beim Auflegen auf den Stoß abgenommen), was uns allen ein wenig Trost brachte und diesen Tod menschlich erscheinen ließ.
Christoffer Grundmann
Die Todesnachricht erreichte mich während einer abendlichen Sitzung des Münchner Rechtshilfefonds für Ausländer, die ausnahmsweise in einer Kneipe stattfand. (Als hätten wir die Sitzung extra für diesen Fall so inszeniert! Seinetwegen in eine Kneipe verlegt.) Schon den ganzen Tag über hatte ich tief beunruhigt seine möglichen und unmöglichen Freunde nach neuesten Nachrichten von ihm durchtelefoniert, da ich schon länger keinen Brief mehr von ihm hatte. Ein morgendlicher Wachtraum, einer dieser hellsichtigen Momente zwischen Nacht und Tag, hatte mich schockartig überfallen. Unwiderlegbar wusste ich auf einmal, dass Miguel im Sterben liegt und nicht mehr zurückkommt. Nun dieser Anruf von einem Polizisten mit einem „Herzliches Beileid“ und der Frage, was mit der Leiche passieren solle. Wie gut die Bürokratie selbst über weite Entfernungen hinweg doch funktioniert, wenn einer erst einmal tot ist. – Später erfahre ich, dass Miguel fast zwei Wochen in jenem Krankenhaus gelegen hat, ohne dass die Krankenhausleitung es für nötig gehalten hatte, das deutsche Konsulat zu benachrichtigen. - Ich verlange eine Überführung. Da das nicht geht wegen der südindischen Hitze – „Wie stellen Sie sich das vor?“ – bestehe ich auf einer Obduktion. Diese wurde am 26. 11. 1982 im Beisein eines Vertreters des deutschen Generalkonsulats in Madras durchgeführt, der mir auch Fotos von der Obduktion zukommen ließ. Allerdings dauerte es Monate, bis endlich, am 23. Mai 1983, ein amtlicher Bericht über das Obduktionsergebnis als „post mortem certificate“ ausgestellt, und mir vom Generalkonsulat mit Schreiben vom 15. Juni 1983 zugeschickt wurde. Auch eine dieser vielen Ungereimtheiten zu den Umständen seines Todes. Mein Verdacht ist, dass man das Obduktionsergebnis solange zurückgehalten hat, weil es nicht zu dem scheinbaren Erfolg bei der Aufklärung des Verbrechens passte, der Verhaftung jener vier Inder – die ja wenige Wochen später schon wieder auf freiem Fuß waren. Aber ich greife vor.
Telefonisch informierte ich einige Freunde in Berlin über das traurige Ereignis. Sie gaben die Nachricht an Bas und Gabriele weiter, die in Madurai am Theologischen College arbeiteten, Freunde aus meinen früheren Berliner Tagen. Sie hatten damals auch Miguel kennen gelernt.
Von ihnen bekam ich den folgenden Brief:
Liebe Johanna,
Wir sind sehr traurig, dass der Tod von Miguel nun der Anlass ist, aus dem wir mit Dir in Kontakt treten, nachdem Du über 10 Jahre nichts von uns gehört und gesehen hast. Wir waren von Deinem Telegramm sehr betroffen; denn eigentlich waren wir längst zur Tagesordnung übergegangen, - Hippies sind halt asozial und kriminalisiert – das ist das Bild, das sich einem hier festsetzt, wenn man sie im Kontext der hiesigen Gesellschaft sieht. Wenn „so einer“ umgebracht wird, findet man das beinahe nicht verwunderlich, es passieren viele Verbrechen im Zusammenhang mit Drogen, Passdiebstählen und religiösen Sekten. „Selbst daran schuld“, denken wir dann oft. „Werden die Eltern wohl versagt haben. Ausflippen funktioniert eben nicht. Hätte sich besser politisieren sollen.“ Die Borniertheit und Absurdität dieser Sichtweise wird uns deutlich, wenn wir nun über diese eine konkrete Geschichte nachdenken. Erst langsam kam uns der Hintergrund ins Gedächtnis. Gab`s da nicht einen brasilianischen Kommunisten, der in die DDR geflüchtet war? Hatte der Junge nicht Schwierigkeiten mit den Behörden da? Und hat Johanna ihn dann nicht adoptiert? Und was mögt Ihr beide dann für eine Geschichte miteinander gehabt haben? Hat er schließlich sein Heil in Religion und Drogen gesucht oder ist er damit erst hier in Kontakt gekommen?
Wir wissen über diese Geschichte wirklich überhaupt nichts mit Ausnahme dessen, was aus den Berichten von Christoph Grundmann und dem Konsulat hervorgeht. Christoph hatte mir nach dem Tag im Krankenhaus erzählt, was er erlebt und gehört hatte. Aber dann war Miguel inzwischen wohl schon bewusstlos. Da Christoph uns nicht um Hilfe gefragt hatte, haben wir an der ganzen Sache nicht weiter Anteil genommen. Wir sind sonst schon manchmal ins Krankenhaus gegangen, wenn Ausländer, die niemanden hatten, verunglückt waren. Aber in diesem Fall sind wir nicht darauf gekommen, weil Christoph das ja schon machte. Es hätte auch nichts mehr geholfen. Christoph ist erst nach einer Woche oder so gerufen worden, und sie haben ihm nicht erzählt, dass Miguel sich rapide auf der absteigenden Linie befand. Auch daran hätte sich vermutlich nichts ändern lassen. Madurai ist medizinisch gesehen so, dass man nur beten kann, wenn´s was Ernstes ist.
Die Polizei hat jetzt vier „Schuldige“ gefunden, heißt es in der Tamil Zeitung; aber das erscheint uns äußerst unwahrscheinlich. Grundsätzlich würden Inder normalerweise keinem Weißen was antun, es sei denn, sie hätten eine ganz spezielle Rechnung zu begleichen, was ja wohl nicht der Fall war. Natürlich ist auch möglich, dass Miguel einen derangierten Eindruck gemacht hat und dass jemand gedacht hat, man könne ihn leicht ausrauben. Aber auch das ist nicht wahrscheinlich, weil diese Sorte jüngerer Touristen kein lohnendes Objekt sind. Zu Christoph hat Miguel auf Befragen gesagt, es seien Deutsche gewesen, und das erscheint uns auch die insgesamt konsistenteste Vermutung. Es ist daher anzunehmen, dass dieses Verbrechen nie aufgeklärt werden wird. Falls man Miguels Freundin finden könnte, ließe sich vielleicht etwas mehr Einsicht gewinnen.
Was die Geschichte von Miguel so schwer erträglich macht ist die Gewaltsamkeit seines Todes und, falls er wirklich in Religion und Drogen ausgeflippt war, der Horizont von Sinnlosigkeit, in dem sich diese Gewalttat abgespielt hat. Aber vielleicht hat er während seiner Reise doch auch ein wenig begreifen können von der Tiefendimension der Kulturgeschichte dieses Landes und von der Vitalität eines in vielen Bereichen noch vorindustriellen Landes. Selbst die Religion, die so eskapistisch sein kann, hat ja tiefe Wahrheitsgehalte. Dass dieses Land Menschen anzieht, die im Westen nicht zurechtkommen, ist sehr begreiflich.“
Ist es das?
Wenn ich an jene Zeit zurückdenke, dann fällt mir ein, dass Miguel schon seit Monaten, spätestens seit seiner Entlassung aus der JVA Stadelheim im Januar 1982, immer wieder geradezu fordernd den Wunsch geäußert hatte, nach Indien zu gehen. Er hatte kein Geld für diese Reise. Natürlich hätte ich ihm das Geld geben können; aber als ahnte ich, dass diese Reise nur ins Verderben führen kann, lehnte ich diese Bitte strikt ab. „Was willst Du in Indien?“. Wir hatten ein paar heftige Auseinandersetzungen deswegen. Wäre alles anders gekommen, wenn ich ihm die Reise bezahlt hätte?
Mir geht immer wieder eine Bemerkung durch den Kopf, die er eher beiläufig mir gegenüber in seiner letzten Münchner Zeit getan hatte. Er sei jetzt „ein Hohepriester“. Das sagte er, wortwörtlich. Ich war sprachlos. („Jetzt spinnt er total!“) Ob überhaupt, und wenn ja, wie ernst das für ihn war, machte ich mir nicht klar. Er insistierte mir gegenüber auch nicht darauf, belächelte es auch selbst, wohl weil er wusste, wie wenig ich mit diesem „verrückten“ Bekenntnis anfangen konnte. Er bewegte sich seit einiger Zeit in einer Szene, die mir zutiefst suspekt war, spekulierte mit Gedankenwelten, die mir absurd erschienen, interessierte sich für Geheimbünde und geheime Mächte in einer meiner Meinung nach imaginären Welt. Nur manchmal sprachen wir darüber, selten einer Meinung, dann wieder konnte er auch darüber lachen, nahm es selbst nicht ernst. Ein Spiel, so schien mir, zu dem ich keinen Zugang hatte. Heute aus der Retrospektive würde ich sagen: in dem Maße, in dem ihm der politische Feind abhanden gekommen war, faszinierten ihn esoterische und spiritualistische Grenzfragen. Es gab da viele Hinweise, die sich erst nach seinem Tod zur Gewissheit verdichteten. Aber wann fing das an?
Da fällt mir eine schon lange zurückliegende Begebenheit ein. Es war in Herbst 1975. Auch ich, entnervt von den Ost-West-Erlebnissen mit Miguel, zog 1975 von Berlin nach München. Eine berufliche Zukunft als Theologin in Bayern zeichnete sich damals, im Herbst 1975, nicht für mich ab. So hatte ich an der Münchner Volkshochschule eine Stelle für „Gastarbeiterbildung“ – so hieß das damals - angenommen. Das bedeutete für mich in der Folge den endgültigen Abschied vom kirchlichen Dienst. Diese Entscheidung nach 16 Jahren als Pastorin in der evangelischen Kirche war mir nicht leicht gefallen. Irgendwie fühlte ich mich schuldig, ich litt lange Zeit an einer Art Scheidungssyndrom.
In einem Gedicht versuchte ich, dieser Entscheidung einen theologischen Sinn zu geben. Es hing jahrelang in meinem Arbeitszimmer.
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Ich reihe mich wieder ein in die Gemeinde der Un-Heiligen.
Gott los, wende ich mich ab vom Tisch des Herrn,
esse wieder mit denen draußen,
trinke wieder in heilloser Gesellschaft.
Wie saftig das Fleisch zwischen den Zähnen.
Wie kühl das Glas an den Lippen.
Dieses Abendmahl der Zöllner, wie gut das schmeckt.
Endlich wieder daheim!
Rückt ein wenig zusammen!
Macht Platz für die verlorene Tochter!
Sie hat das Erbe verprasst,
verspielt die aufgetürmten Hoffnungen,
den bergeversetzenden Glauben,
glaubenslos.
Kein Wort mehr zum Verrat,
Ihr Brüder auf den Landstraßen zum Nichts,
Ihr Schwestern an den Kreuzwegen zum Staub,
Ihr, im Herzen das gelobte Land, vor Augen den Tod,
Ihr Tapferen,
Lasst mich zu eurem trotzig heiteren Nachtmahl wieder zu.
Gott sei nichts mehr geklagt.
Nichts
Klag ich an.“
Miguel bemerkte zu diesem Gedicht: „Eigenartig, dass Du Dich von Gott los sagst, wo ich gerade anfange, ihn zu entdecken!“ Aber was für einen Gott hatte er entdeckt.
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„Wo gibt es denn hier in der Nähe viele Pferde?“, frage ich die Freunde in Madurai. Da fällt wieder das Stichwort „Kodaikanal“ und wir beschließen, dorthin zu fahren. Kodaikanal liegt in den Bergen oberhalb von Madurai in Südindien, ein beliebter Urlaubsort. Es hatte den Hitze geplagten Engländern und Amerikanern seit Mitte des 19. Jahrhunderts als Rückzugsraum zur Erholung für sich und ihre Familien gedient. Jetzt diente es mehr noch den Hippies für ihre bereits angedeuteten Zwecke, ist deshalb berühmt und berüchtigt. Etwa 75 Meilen von Madurai entfernt war es mit dem Taxi in einer Tagesreise gut zu erreichen. Ein wunderschöner Ausflug durch malerischen Bergwald, vorbei an vielen kleinen, dicht besiedelten Dörfern, inmitten fremdartiger Flora und Fauna, so schraubt sich unser Taxi in immer steilere Höhen, bis wir endlich in einem lieblichen grünen Hochtal ankommen. Fast fühle ich mich in die oberbayrische Voralpenlandschaft versetzt. Kodaikanal, das ist ein größerer Ort, mit vielen weiter entfernt liegenden Streusiedlungen sowie einzeln stehenden kleinen Gehöften - und inmitten der Idylle ein großer See. Wahrhaftig ein Paradies, vor allem auch durch das so auffällig mildwarme trockene Klima. Hier lässt es sich wohlsein, wohl wahr.
Mit Miguels Foto in der Hand fragen wir uns durch, in den kleinen Läden, in Boutiquen, kleinen Kaffees und Restaurants. Wir gehen zur Polizei. Wir fragen auch nach einem Vorkommnis mit Pferden vor einiger Zeit. Es soll ein Pferderennen gegeben haben, wird erwähnt. Sylvie, so sagt man uns, wisse vielleicht Näheres; aber als wir sie besuchen wollen, ist niemand da, nur ein paar Pferde stehen im Stall. Nur einmal, - das kleine Kaffee oder Restaurant nennt sich „Manna“, eine junge Frau und ein junger Mann, sitzen sich in dem Schuppen gegenüber, - meine ich ein Aufblitzen in den Augen der Frau zu erkennen, als ich das Bild zeige; aber der Mann schickt ihr einen scharfen Blick zu, der sie Nein sagen lässt. Den habe sie nie gesehen. Sie schicken uns zu einem weit entlegenen kleinen Hotel, da stiegen viele junge Touristen ab, da sollten wir nachfragen. Das Hotel ist eine noble Adresse. Fehlanzeige. Man hat uns reingelegt. Als wir zurückkommen, vielleicht eine Stunde später, immer noch ist es helllichter Nachmittag, ist das „Manna“ geschlossen, keiner mehr da.
Wir ahnen, ich ahne, wir sind auf der richtigen Spur gewesen. Aber niemand wird uns weiterhelfen. Die Polizei – sie kennt den Fall -antwortet patzig, man habe doch schon alles gesagt, was es zu wissen gebe. Hier sei nichts Besonderes vorgefallen. Die Meinung meiner Freunde: Die Polizei ist schlecht bezahlt; die stecken mit den Dealern unter einer Decke, für ein paar Rupien lassen sie sich kaufen, da ist nichts zu machen. So war es wohl auch kein Wunder, dass ich schon mit Schreiben vom 13. Dezember 1982 vom Generalkonsulat der Bundesrepublik Deutschland eine Mitteilung über die „Aufklärung“ der Umstände bekam, die zum Tod meines Sohnes geführt haben sollen:
„im Nachgang zu meinem Schreiben vom 6. 12. 1982 teile ich Ihnen mit, dass es der indischen Polizei gelungen ist, etwas Licht in die Todesumstände Ihres Sohnes zu bringen. Danach kam es nach einer Streiterei mit vier Südindern zu tätlichen Auseinandersetzungen, bei denen Ihr Sohn schwere Verletzungen davontrug, an denen er dann 10 Tage später starb. Die vier Südinder sind inzwischen von der Polizei Madurai festgenommen und von der Staatsanwaltschaft wegen Totschlags angeklagt worden. Über den weiteren Stand der Angelegenheit werde ich Sie auf dem Laufenden halten.“
Es darf gelacht werden.
Wenige Wochen später waren alle vier Angeklagten wieder auf freiem Fuß. Die von Miguel selbst benannte Spur, die nach Kodaikanal führte, wurde von der Polizei dagegen nur höchst nachlässig verfolgt und führte infolgedessen zu nichts.
Selbst wandte ich mich nach meiner Rückkehr aus Indien am 5. 2. 1983 mit einem Brief an die Staatsanwaltschaft beim Landgericht München I:
„Sehr geehrter Herr H.,
mein Sohn Miguel, geb. am 19. 5. 1952, ist am 25. 11. 1982 nach einem 10-tägigen Krankenhausaufenthalt in Madurai/ Südindien seinen schweren Kopfverletzungen erlegen. Als einzige von ihm selbst genannte Begleitperson wird von der indischen Polizei eine Margarete Xxxxxxxxxxx gesucht, die m. E. identisch ist mit Frau Dina (oder Ingeborg) Xxxxxxxxxxx, z. Zt. noch wohnhaft Xxxxxxxxxxx 3, mit der mein Sohn zuletzt befreundet war.
Miguel wurde am Morgen des 15. November 1982 in einem Außenbezirk von Madurai in unmittelbarer Nähe eines Kollege schwerverletzt und nur mit einer Unterhose begleitet neben dem Bahnkörper liegend aufgefunden. Dorfbewohner erzählen, er habe zuerst auf den Geleisen gelegen, sei aber dann, als ein leichter Regen einsetzte, aufgewacht und habe sich von den Geleisen heruntergerollt. Die indische Polizei ermittelte gegen vier Südinder, die aber inzwischen alle wieder auf freien Fuß gesetzt worden sind. Miguel selbst sprach davon, dass es Deutsche gewesen seien, „religiöse Gruppen“. (Vgl. beiliegendes Protokoll).
Um etwas mehr Klarheit zu erhalten, war ich zwischen dem 18. und 28. Januar selbst in Indien und habe mit der Hilfe von dort lebenden deutschen Freunden in Madurai, Kodaikanal und Goa recherchiert und noch das Folgende herausgefunden:
Miguel hielt sich bis zum 8. oder 9. 11. 1982 in Colva Beach und Benaulim auf, zwei nahe beieinander liegenden Fischerdörfern in Goa, die auch touristische Anziehungspunkte sind. Dann reiste er überraschend ab, um – wie er selbst sagte – für ein paar Tage nach Kodaikanal zu fahren und „mushrooms“ zu besorgen. Sein Reisegepäck ließ er bei einem indischen Fischer zur Aufbewahrung zurück.
Kodaikanal ist ein bekannter Erholungsort in den Bergen 80km von Madurai entfernt. Dort leben u. a. zahlreiche Hippies, die teilweise zwischen Goa und Kodaikanal hin- und herpendeln, und neben den Einheimischen und den dort Erholung suchenden Missionarsfamilien eine eigene Subkultur bilden. Ob Miguel in Kodaikanal war, ist unklar. Doch gibt es nur dort auffällig „viele Pferde“ (vgl. Protokoll), die tagsüber an einem See für Touristen bereitgehalten werden.
Sowohl am 12. 11., als auch am 14. 11. fiel Miguel in verschiedenen Außenbezirken von Madurai, in die sich nur selten Touristen verirren, durch ein sonderbares und verwirrtes Benehmen auf. Am 12. 11. verlor er dabei sein Rückflugticket, das jetzt beim Court liegt. Miguel wird allgemein als Einzelgänger geschildert. Nur ein junger Kellner in Colva Beach erinnerte sich, ihn einmal in Begleitung einer „schönen großen blonden Frau von ca. 30 – 35 Jahren“ getroffen zu haben. Mir gegenüber hat Frau Xxxxxxxxxxx behauptet, noch nie in Indien gewesen zu sein. Dagegen spricht aber, dass sie kurz nach Erhalt der Todesnachricht meinte, man sollte mal nach Colva fahren, um dort Miguels Sachen zu suchen – was mich damals verwirrt hat, da er ja 2000km weiter südlich umgekommen ist, aber jetzt Sinn erhalten hat, weil ich selbst durch einen Zufall sein Gepäck dort wohlverwahrt gefunden habe. In jenem Gepäck fand ich auch einen Briefentwurf (an mich gerichtet, undatiert), in dem er schreibt, „Dina hat mich von Delhi nach Bombay gejagt…(wegen Geld), aber nix war“. Außerdem wurde durch das deutsche Konsulat in Delhi eine angeblich von Miguel gegebene Delhi-Tel.-Nr. von Frau Xxxxxxxxxxx ausprobiert, allerdings ohne Ergebnis.
Da ich, auch weil Miguel einen Sohn hinterlässt, an einer möglichst umfassenden Aufklärung der Umstände interessiert bin, die zum Tode meines Sohnes führten, wäre ich Ihnen dankbar, wenn Sie Frau Xxxxxxxxxxx als mögliche Zeugin befragen könnten. Eine Kopie des Berichtes des deutschen Pfarrers Grundmann aus Madurai über seine Begegnung mit meinem Sohn im Krankenhaus lege ich bei.“
Die Münchner Staatsanwaltschaft wurde bald nach dieser Anzeige tätig. Zufällig traf ich nämlich vor Miguels ehemaliger Wohnung in der Xxxxxxxxxxx 3 einen Polizeibeamten, der vergeblich versucht hatte, Frau Xxxxxxxxxxx anzutreffen, und nun eine Benachrichtigung für sie in den Briefkasten warf. Frau Xxxxxxxxxxx, die zu diesem Zeitpunkt noch in München gewesen sein muss, meldete sich dort aber nicht, sondern war wenige Tage später aus München verschwunden – angeblich um in der Karibik einen Film zu drehen.
An mich schrieb der Staatsanwalt einige Zeit danach:
„die Ermittlungen der Kriminalpolizei verliefen bisher ergebnislos, zumal der Aufenthalt der Zeugin Xxxxxxxxxxx nicht ermittelt werden konnte. Sollte Ihnen der Aufenthalt der Zeugin bekannt werden, so bitte ich uns dies mitzuteilen“.4
Parallel zu dieser Geschichte hatte ich eine Räumungsklage gegen Frau Xxxxxxxxxxx angestrengt, weil sie, die vorher eine andere Wohnung bewohnt hatte, sich nach Miguels Tod in dessen Wohnung eingenistet hatte. Das machte es mir unmöglich, die Wohnung in Ruhe aufzulösen und seine Hinterlassenschaften zu sichten. Vieles dürfte durch ihr „Engagement“ unwiederbringlich verloren gegangen sein. Schlimmer noch war - ich kam eher zufällig dahinter -, dass sie diese Wohnung zu einem Umschlagplatz für Drogen umfunktioniert hatte. Ein Telefoncode, den ich bei einem Besuch zufällig mitbekommen hatte, verriet den Anrufern, ob die Luft rein war oder nicht. Wenn sie verreist war, was öfters vorkam, übernahm jemand Anderer die Verteilung der Päckchen. Ich habe denjenigen selbst einmal vor diesen Päckchen sitzend erwischt.
Drugs and Religion, das war ganz offenbar die Devise, unter der den Interessenten diese Drogen verkauft wurden. Eine seltsame Episode kurz nach Neujahr ist mir noch in Erinnerung. Ich komme bei der Wohnung vorbei, klingle. Till, der inzwischen wieder zurück ist, öffnet die Tür. Entsetzt sehe ich, dass der große Spiegel im Eingangsbereich zersprungen ist und die Scherben auf dem Boden herum liegen. Wie gefährlich! Empört spreche ich Till darauf an und verlange, dass er die Scherben sofort aufliest. „Das hat seinen Sinn!“, erwidert er trotzig, „die Scherben bleiben liegen!“ - „Wenn da jemand aus Versehen hinein tritt und sich verletzt, dann zeigt sich dieser Sinn“, entgegnete ich zornig und bückte mich nun meinerseits, um die Scherben aufzulesen. Till verfolgte mein Tun, wie ich es empfand, hasserfüllt. Was hatte ich ihnen da kaputt gemacht?
Dina selbst habe ich nicht mehr gesehen. Ich vermute, dass ihr Verschwinden aus München in einem unmittelbaren Zusammenhang mit meiner Anzeige stand. Am 11. 4. 1983 zog die Anwältin von Frau Xxxxxxxxxxx ihren Einspruch gegen meine Räumungsklage zurück. Frau Xxxxxxxxxxx war inzwischen unauffindbar geworden. Als ich die Wohnung ausräumte, entdeckte ich mehrere kleine Altärchen mit Zettelchen und Briefchen, auch einen überdimensionierten Brief von ihrer Hand an Miguel, alles offenbar für mich hin drapiert. Budenzauber. Die Ladung der Staatsanwaltschaft zur Zeugenvernehmung, deren Einwurf in den Briefkasten ich selbst miterlebt hatte, war nicht darunter.
Ein kleines Nachspiel gab es noch zu ihrem Verschwinden. Denn im Herbst 1983 meldete sich aus Hamburg ein Bruder von ihr bei mir, der in ihrem Auftrag ihre Hinterlassenschaften aus Miguels Wohnung abholte:
P.S.: Es war für beide Seiten unmöglich, über die Vollständigkeit sich klar zu werden, insbesondere angesichts der Umstände der im April erfolgten Wohnungsauflösung.“ (So lautete unser gemeinsames Fazit des Besuches).