© 2020 Bormann, Marco
Herstellung und Verlag:
BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt
ISBN: 9783752695809
Der vorliegende Band beschäftigt sich mit einer Übergangsphase in der Geschichte der Philosophie. Wir haben im vorhergehenden achten Band gesehen, wie die Flamme des neuplatonischen Denkens nach und nach schwächer wurde, nachdem Justinianos die platonische Akademie schließen ließ. Zugleich verschwand im lateinischen Westen das Denken vollkommen. Dies war vor allem bedingt durch die gesellschaftlichen Wandlungen in der Folge der Völkerwanderung. Bildung spielte hier zunächst keine Rolle mehr. Und dort, wo die allgemeine Bildung nicht mehr vorhanden ist, wachsen auch keine philosophischen Gedanken mehr. Das Ausmaß der kulturellen Armut dieser Zeit kann man sich in vielen westeuropäischen Museen sehr leicht vor Augen führen. Man schaue sich nur eine Skulptur oder andere figürliche Darstellung aus dem vierten Jahrhundert an und vergleiche diese mit ihrem Pendant aus dem sechsten Jahrhundert. Hier wird man sich des erschreckenden Rückschritts in der Kunstfertigkeit gewahr, der dann natürlich im Denken ein ähnliches Ausmaß hatte. Isidorus von Sevilla unternahm im siebten Jahrhundert den Versuch, alles antike Wissen in ein enzyklopädisches Werk zu retten. Dieses enorm verkürzenden Kompendium wurde dann die Grundlage der gesamten frühmittelalterlichen Bildung. Ein wirklich als philosophisch zu bezeichnendes Denken kam dann aber erst in der sogenannten karolingischen Renaissance in der von Alcuinus geleiteten Hofschule Karls des Großen auf. Aber hier geschah auch nicht mehr, als daß die Flamme des Denkens mühsam aufrecht erhalten wurde, ohne aber wirklich neue Gedanken zu produzieren.
Der einzige überhaupt noch vorhandene Raum des Denkens war somit das Christentum auf dem Boden des byzantinischen Reiches. Aber dieses erstarrte in einer theologischen Dogmatik. Die großen byzantinischen Denker dieser Zeit wie Maximos Homologetes und Johannes von Damaskus waren hauptsächlich damit beschäftigt, diese Dogmatik weiter zu festigen. Auf der anderen Seite finden sich dann sogar Denker wie Johannes Klimakos, die ihre monastische Askese auch auf diesen Bereich ausweiten und so das Denken ganz beschränken wollten.
Ein Ereignis rettet uns dann aber aus der intellektuellen Trostlosigkeit dieser Zeit. Dies ist die Begründung des Islam durch den Propheten Mohammad und die rasche Ausbreitung desselben. Dabei waren es vor allem drei Umstände, welche ein Wiederaufblühen der Philosophie begünstigten. Der erste Umstand lag darin, daß der Islam eben keine ganz neue Religion war, sondern sich in der Tradition von Judentum und Christentum sah. Das ermöglichte eine Auseinandersetzung vor allem mit dem Christentum und seinen Dogmen, welche das eigene Denken präzisierte und dabei zugleich aber allgemeine Denkkategorien aus der christlichen Tradition übernahm. Das Christentum mag hier als eine Art Katalysator des islamischen Denkens gewirkt haben; es beschleunigte dessen Entwicklung ohne es aber inhaltlich zu dominieren.
Der zweite Umstand war die Toleranz des Islam. Denker wie Johannes von Damaskus oder Theodoros Abu Qurrah lebten auf dem Boden des islamischen Herrschaftsgebietes und konnten offenbar problemlos in ihren Schriften das Christentum verteidigen und den Islam argumentativ angreifen. Diese Toleranz hatte zudem die Konsequenz, daß sich im islamischen Herrschaftsgebiet häretische Sekten des Christentum weiterentwickeln konnten. Und das wiederum hatte natürlich Rückwirkungen auf das islamische Denken selbst. So werden wir sehen, daß sogar eine von der christlichen Gnosis inspirierte islamische Gnosis aufgekommen ist.
Der dritte Umstand war die ungeheuere Ausbreitung des islamischen Herrschaftsgebietes, zu welchem recht schnell ein bedeutender Teil des einstmals hellenisierten Orients gehörte. Dies schaffte nicht nur Berührungspunkte und vermutlich auch Diskussionen mit christlichen Denkern, sondern hatte vor allem auch zur Konsequenz, daß griechischsprachige Texte, die von Christen aus dogmatischer Verengung heraus nicht mehr rezipiert wurden, nunmehr für arabischsprachige Denker zugänglich gemacht werden konnten.
Das Ergebnis dieser Entwicklung war nichts weniger als das neu Entstehen des antiken hellenischen Geistes in jenem neuen arabischen Kulturraum. Dabei können wir grob drei Richtungen unterscheiden, in welche sich dieses neu entstandene Potential entfaltete. Die erste Richtung die islamisch theologische. Interessant ist, daß Mohammads eigener Beitrag hierzu eher gering ist. Aber gerade das ermöglichte dann eine rege Auseinandersetzung zwischen den sich alsbald entwickelnden unterschiedlichen Denkrichtungen. Hier haben wir auf der einen Seite orthodoxe Sunniten wie Abu Hanifa, die Ansätze zu einem philosophischen Gottesbegriff zeigen, während sich auf der anderen Seite durch Wasil bin ‘Ata‘ die Schule der Mu‘tazila herausbildet, die das göttliche Wesen ganz streng ein unbegreifbares Eines fassen. Aber auch zwischen diesen beiden Extremen finden sich eine Reihe von Position, in denen die Elemente beider Denkrichtungen verbunden sind.
Zwar galt den Denkern der Mu‘tazila das göttliche Wesen für unbegreifbar, aber die Welt konnte verstanden werden. Auf dieser Basis bildete sich eine rege Naturphilosophie. Ihre Grundgedanken nahm diese Naturphilosophie aus dem griechischen Denken. Allerdings gab es hier noch keine richtigen Übersetzungen ins Arabische, so daß etwa der vorsokratische Begriff des Atom von diesen Denkern synonym mit dem aristotelischen Begriff der Substanz verwendet wurde. Dies hatte eine sehr materialistische Ausrichtung des Denkens zu folge. Hervorzuheben ist hier vor allem al-Jahiz, dessen Buch über die Tiere unseren Einband schmückt. Bei ihm finden wir Gedanken, die bis an die darwinsche Evolutionstheorie heranreichen, wenn sie diese auch nicht erreichen. Neben diesem naturphilosophischen Denken der Mu‘tazila finden wir in Jabir bin Hayyan auch einen bereits als naturwissenschaftlich zu bezeichnenden Denker. Er entwickelte auf der Basis der antiken Elementenlehre eine umfassende physikalistische Theorie.
Die dritte Richtung schließlich war eine Metaphysik, die sich direkt an Platon, Aristoteles, sowie die diese beiden miteinander verbindenden Neuplatoniker anschließt. Dies setzte dann natürlich eine Übersetzung der griechischen Werke ins Arabische voraus. Al-Kindi ist der erste Denker, der in diese Richtung geht. Sein Werk können wir mit vollem Recht als eine Fortsetzung des Neuplatonismus bezeichnen. Er entwickelte hier zwar wenig neue Gedanken, schaffte aber die Boden dafür, das griechische Denken in seiner fortgeschrittensten metaphysischen Form im arabische Sprachraum neu anzusiedeln.
Einleitend zu diesem neunten Band werden wir die Ergebnisse des achten Bandes noch einmal zusammenfassen. Dieser achte Band bildet den Abschluß der antiken Philosophie. Wir haben hier die letzten wirklich frei denkenden Neuplatoniker kennengelernt. Die Philosophie im griechischen Sprachraum steht alsdann ebenso wie unlängst die Philosophie im lateinischen Sprachraum unter dem Banner des Christentums. Für die neuplatonischen Systementwürfe hat das die üble Konsequenz, daß sie sich nunmehr den christlichen Dogmen unterordnen müssen. Und da hier erst einmal der Streit um den Inhalt der Dogmen selbst im Zentrum steht, verschwindet diese Denkrichtung alsbald ganz. Sie überwintert jedoch in den Schriften. Und bereits im vorliegenden neunten Band werden wir sehen, daß sie sich in einem anderen Kulturraum eine neue Heimat sucht und dann natürlich auch dabei hilft, diesen Kulturraum zu gestalten. Dabei handelt es sich um den arabischen Sprachraum, der sich mit dem Islam über den gesamten Orient und Nordafrika ausbreitet. Hier entsteht zunächst das philosophische Fragen und die Suche nach metaphysischen Gründen ganz von neuem auf der Basis eines zunächst noch verworrenen Verständnisses der griechischen Tradition. So entwickelt sich ein eigenes neues Denken. Daneben kommt es aber auch schnell im Umkreis von al-Kindi zu einer systematischen Aneignung insbesondere des neuplatonischen Denkens. Doch kommen wir zunächst zurück zu den Denkern, die wir im achten Band behandelt haben.
In diesem achten Band sind wir in Damaskios’ Denken dem Höhepunkt der antiken Ideenlehre begegnet. Die Ideenlehre von Damaskios folgt in ihrer Struktur der Ideenlehre von Proklos. Beide rekonstruieren das Reich der Ideen auf der Basis einer Auseinandersetzung mit den Begriffen, die uns in Platons Parmenides begegnen. Allerdings geben sie diesen Begriffen, die dort in einer mehr oder weniger losen Reihenfolge auftreten einen systematischen Rahmen. Die Begriffe werden in Triaden eingeteilt, die dann selbst wieder Teil von übergeordneten Triaden sind. In einer jeden Triade finden wir eine dialektische Struktur bestehend aus einem Gegensatz von These und Antithese, der alsdann in einer Synthese aufgehoben wird. Die allgemeinste Triade, die also das Reich der Ideen als Ganzes einteilt ist die Triade von Intelligiblem
Intelligiblem und zugleich Intellektuellem
und Intellektuellem
Diese drei Bereiche des
beschäftigen sich unserer Interpretation zufolge mit unterschiedlichen Begriffsarten. Im
geht es um den Begriff überhaupt, also um das, was ein Begriff ist. Der
beschäftigt sich mit Begriffsrelationen und der
mit Systemen von Begriffen, bis er am Ende zu einem Begriff des
überhaupt gelangt. Während wir bei Proklos sehr viele Überlegungen zu Fragen dieser Metastrukturen des
finden konnten, sind diese bei Damaskios eher rar. Damaskios’ Schwerpunkt liegt eher in der Diskussion der Facetten der verschiedenen Begriffe.
Daher ist nicht verwunderlich, daß bereits die erste Triade des bei Damaskios drei verschiedene Gegensatzpaare diskutiert. Er selbst favorisiert hier den Gegensatz von Einem
und Vielem
Daneben finden sich aber auch der Gegensatz von Grenze
und Unbegrenztem
den wir an dieser Stelle bei Proklos gefunden haben, sowie der Gegensatz von Bestehen
und Kraft
den Damaskios den Oracula Chaldaica entnimmt. Diese Gegensatzpaare sollen ein und dasselbe Begriffsfeld ausfüllen. Es liegt nahe, daß dieses Begriffsfeld für Damaskios eine quantitative Konnotation hat, was sich an der Leitunterscheidung von
und
andeutet. Als synthetische Bestimmung dieser Triade finden wir bei Damaskios die Begriffe Alles
Einheit
und Sein
Auch hier zeigt sich der quantitative Charakter dieser ersten Triade bei Damaskios, der vor allem im Begriff
zum Ausdruck kommt. Wir haben jedoch dafür argumentiert, daß einer Quantität eine Qualität zugrundeliegen muß. Eine qualitative Interpretation dieser Gegensätze sehen wir in der Unterscheidung von Bestimmtheit und Unbestimmtheit, die dann im Begriff des bestimmten Seins, des Etwas aufgehoben wird.
Die zweite Triade des besteht bei Damaskios wie bei Proklos vor allem aus dem Gegensatz von Ganzem
und Teilen
Dieser Gegensatz darf hier aber noch nicht als Relation verstanden werden, da er später erneut als eine Relation auftritt. Es geht vielmehr um die Idee, daß eine Ganzheit beständig Teile produziert oder an sich aufzeigt. Wir haben diesen Gegensatz entsprechend als den Unterschied von Dasein und Anderssein bestimmt, da sich an einem bestimmten Dasein eben dieses Moment zeigt, daß es immer von anderem abgegrenzt ist, um bestimmt sein zu können. Als synthetische Bestimmung für diese Triade finden wir bei Damaskios den Begriff des Lebens
Motiviert ist diese Begriffsbestimmung natürlich durch den Umstand, daß Damaskios wie Proklos die Leitunterscheidung von Sein
Leben
und Geist
verwendet, um den drei Triaden des
eine Metastruktur zu geben. Entsprechend befinden wir uns hier in der zweiten Triade im Bereich des Lebens. Dieser Begriff des Lebens bringt nun aber etwas Normatives ins Spiel, es definiert Sollwerte. Wir haben entsprechend diese Synthese als die Bestimmung in einem normativen Sinne interpretiert, also als dasjenige, was ein Begriff bedeuten soll, was seinen Bedeutungskern ausmacht.
Die dritte Triade des behandelt den Gegensatz von Kontinuität
und Diskretion
Wir haben diesen Gegensatz als den Unterschied von der Intension eines Begriffs und seiner in diskrete an ihm Teilhabende unterteilte Extension interpretiert. Schwer damit zu verbinden scheint nun die Synthese. Entsprechend dem oben Ausgeführten bestimmt Damaskios den Begriff
als diese Synthese. In unserer Interpretation ist dies jedoch durchaus sinnvoll. Die Synthese einer intensionalen und extensionalen Betrachtung eines Begriffs liegt darin, daß ein Begriff an sich selbst teilhaben kann, was ja eben für alle Begriffe des
charakteristisch sein soll. Das Teilhaben an sich selbst ist folglich der Begriff des Begriffs, so daß auch verständlich wird, daß der Begriff
hier nicht das gesamte Ideenreich faßt, sondern zunächst nur etwas für jeden einzelnen Begriff Charakteristisches.
Im treffen wir nun auf Begriffsrelationen. Die erste Triade behandelt als grundlegende Relation den Gegensatz von Identität
und Unterschied
Als Synthese dieser beiden Begriffe finden wir bei Damaskios den Begriff der Zahl
Diesen Begriff haben wir als Relationalität überhaupt gedeutet. In der zweiten Triade des
treffen wir dann erneut auf den Gegensatz von Ganzem
und Teilen
der aber nun hier inhaltlich an seinem rechten Ort ist. Die Synthese aus diesen beiden Begriffen finden wir im Begriff der Substanz
Sie stellt sozusagen ein idealtypisches Ganzes dar, welches angibt, welche Teile das Ganze haben muß. Die dritte Triade des
enthält schließlich eine Theorie der Dialektik. Sie besteht aus dem Gegensatz von Bleiben
oder Bestehen und Fortgehen
Hierin können wir das Zusammenspiel von These und Antithese in der Dialektik erkennen. Die Synthese dazu ist dann der Begriff der Rückkehr
Dieser repräsentiert jenes Moment in der dialektischen Bewegung, wo die negierte These wieder zur sich zurückkehrt und mit ihrem Gegensatz versöhnt ist; wobei die Versöhnung natürlich eines neuen Begriffs bedarf.
Der dritte Teil des der
beginnt mit dem Gegensatz von In-Anderem-Sein
und In-Sich-Sein
Diesen Gegensatz haben wir als den Unterschied von Allgemeinem und Besonderem interpretiert. Das Allgemeine ist das, was seine Bedeutung in einem anderen hat. Im Gegensatz dazu ist die Besonderung eine Bewegung hin zum Speziellen und damit letztlich hin zu sich. In dieser Interpretation werden wir auch dem Umstand gerecht, daß Damaskios hier einen scheinbar negativen Begriff an den Anfang stellt, indem wir diesem eine positive Bedeutung geben. Zwar stellt Damaskios hier nicht direkt eine Synthese dieser Begriffe vor, aber er charakterisiert an anderer Stelle einen Begriff, der diese Rolle übernehmen kann. Dies ist der Begriff des Elementes
Sowohl das Allgemeine ist ein Element des Besonderen, wie etwa der Mensch ein Lebewesen ist, also auch das Besondere ein Element des Allgemeinen, wie etwa die Gattung der Lebewesen die Art des Menschen enthält.
Die zweite Triade des besteht aus dem Gegensatz von Ruhe
und Bewegung
Als Synthese daraus finden wir bei ihm den Begriff der Dauer
die sowohl bei der Ruhe, wie auch bei der Bewegung vorhanden ist. Den Gegensatz von Ruhe und Bewegung haben wir als den Unterschied von analytischem und synthetischem Urteil interpretiert. Die Ruhe gleicht dem analytischen Urteil, insofern sie im analysierten Begriff verbleibt, während wie Bewegung sich von diesem weg, hin zu etwas Neuem bewegt und so dem synthetischen Urteil gleicht. Unsere Interpretation bringt und dann zum synthetischen Begriff des Schlusses, zu dem wir jedoch bei Damaskios kein rechtes Pendant finden.
Die dritte Triade des die dann den gesamten
abschließt, hat einen komplexeren Gegensatz, der wie bei Proklos vier Begriffe miteinander verbindet. Als These finden wir hier die Gleichheit mit sich
die Verschiedenheit vom anderen
und als Antithese die Verschiedenheit von sich selbst
und die Gleichheit mit anderem
Wir haben diese Struktur als den Gegensatz von Subjekt und Objekt gefaßt. Das Subjekt ist das, was mit sich gleich ist, sich auf sich bezieht und sich darin vom anderen unterscheidet. Das Objekt hingegen, als Gegenstand des Subjekts ist nicht mit sich gleich, sondern mit dem Subjekt als seinem anderen, insofern es zu einem Erkannten wird. Als Synthese präsentiert uns hier Damaskios die Figur des
Dieser bringt dann den Begriff des
auf den Punkt, er steht für ein Selbstbewußtsein, ein System, das sich selbst ganz und gar durchdringt und reflektiert.
Auch wenn dieses Begriffssystem von Damaskios keineswegs perfekt ist, so ist es doch das durchdachteste System, welches die Antike hervorgebracht hat. Alle anderen Denker, die wir im achten Band behandelt haben, fallen weit dahinter zurück und es werden Jahrhunderte vergehen, bis das metaphysische Denken an das Niveau von Damaskios anschließen kann. Ein Denker des achten Bandes, der zumindest in die Nähe von Damaskios kommt, ist sein Schüler Simplikios. Er liefert uns einerseits eine Ordnung der aristotelischen Kategorien und andererseits einen Überblick über die platonischen Ideen, der sich aber auf die Unterscheidung von und der Erwähnung der fünf von Platon im Sophistes behandelten Begriffe beschränkt. Es gibt aber keinen Zusammenhang zwischen beiden Überlegungen. Alsdann können wir noch David erwähnen, der ebenfalls Art von Heuristik der aristotelischen Kategorien vorstellt. David ist aber in seinem Denken ganz und gar Aristoteliker.
Sowohl Prokopios von Gaza wie auch Zacharias von Mytilene sind zwei christliche Denker, die wir im achten Band behandelt haben, die sich gegen die Vorstellung einer ewigen Materie richten, die neben Gott existiert. Betrachten wir jedoch die Naturphilosophie dieser Zeit, so sehen wir, daß eine solche vom Göttlichen unabhängige Materie gar nicht mehr vertreten wird. Es ist zunächst Damaskios, der uns einen sehr interessanten Begriff der Materie präsentiert. Für ihn ist klar, daß die Materie direkt aus dem Einen hervorgebracht wurde. Das aber macht aus der Materie selbst ein Ideelles. Doch mehr als ein Ideelles ist die Materie bei Damaskios eben ein natürliches Abbild des Einen, welches wie dieses unerkennbar bleibt. Neben diesem Materiebegriff finden sich bei Damaskios auch ganz neue Überlegungen zu den Begriffen von Raum und Zeit. Damaskios faßt den Raum als eine Ordnung, was die Möglichkeit eröffnet, ihn als etwas Ideellen zu betrachtet. Die Zeit teilt er in Zeitquanten und macht sie so von demjenigen Wesen abhängig, das in der Zeit ist. Er schafft es jedoch nicht, das idealistische Potential auszuschöpfen, das in seinem naturphilosophischen Ansatz liegt.
Einen sehr innovativen Materiebegriff finden wir auch bei Johannes Philoponos. Der denkt die Materie als Dreidimensionalität. Er hat jedoch dann verständlicherweise Schwierigkeiten, Materie und Raum klar zu trennen. Philoponos’ Naturphilosophie enthält jedoch eine sehr instruktive Beschreibung der Naturformenlehre. Zwar finden wir bei ihm keine ausgefeilten inhaltlichen Überlegungen zu der konkreten Gestalt einzelner Naturformen, aber er beschäftigt sich ausgiebig mit dem Verhältnis von Form und Materie im Allgemeinen. Vor allem die Frage der Entstehung von Formen in der Materie treibt ihn um. Dies läßt ihn dann etwa zu dem Ergebnis kommen, daß die Seele im Körper ihren rechten Ort hat und nicht – wie das Platon dachte – im Ideenhimmel.
Neben Überlegungen zu den Grundfragen der Naturphilosophie finden wir bei Damaskios auch sehr interessante Überlegungen zur Bestimmung der Wahrnehmung und des Gedächtnisses. Beides faßt er als etwas, was einen Schluß vollziehen muß, was also die aufgenommenen oder gespeicherten Daten je neu bearbeiten muß. Diese Gedanken finden wir in ähnlicher Form auch bei seinem Schüler Simplikios, der sie dann dahingehend erweitert, daß er die Seele als Benutzer des Körpers charakterisiert.
Sowohl Damaskios wie auch sein Schüler Simplikios markieren deutlich die Grenze von Geist und Natur. Das Tier kann zwar wahrnehmen und somit auch Gedanken haben, denn das Wahrgenommene ist ja ein Gedanke, aber es kann sich in Gedanken nicht auf seine eigenen Gedanken beziehen. Mehr als sein Lehrer reflektiert Simplikios hierbei die Rolle der Sprache, die er aber dann doch letztlich als eine bloßer Vermittlung zwischen dem Ideellen und der Seele sieht. Er kann sich nicht dazu durchringen, in ihr etwas Eigenständiges zu sehen.
Uneinigkeit herrscht hinsichtlich der Frage, inwiefern die Seele zu Erkenntnis in der Lage ist. Der christliche Denker Cassiodorus ist hier eher skeptisch. Ihm zufolge kann die Seele sich nicht wirklich selbst erkennen, ebenso wie das Auge sich nicht sehen kann. Nach Philoponos hingegen wird die Seele lediglich durch den Körper behindert. Doch je schwächer der Körper ist, desto besser stehen die Chancen für die Seele. Ganz ohne Körper hätten wir ihm zufolge beispielsweise eine perfekte direkte Kommunikation mit anderen. Dennoch geht er davon aus, daß der Geist im reinen Denken zu wirklicher Erkenntnis in der Lage ist; nur sei dieses reine Denken eben äußerst selten. Dem Neuplatoniker Olympiodoros zufolge kann der Geist sich hingegen nicht nur perfekt selbst erkennen, er muß vielmehr auch schon als im Körper Gefangener zu einer Art von Ideenschau in der Lage sein.
Einen ganz anderen aber ebenso interessanten Beitrag zur Bestimmung unseres Wesens als Menschen liefern unabhängig voneinander Leontios von Byzanz und Boethius. Sie beharren darauf, daß die Vereinigung von Leib und Seele im Menschen ebensowenig rational erklärt werden kann, wie die Vereinigung des Menschlichen und des Göttlichen in Christus. Der Einzelne, den Leontios als Person oder
faßt, läßt sich durch Allgemeines nicht vollends bestimmen. Daher können auch widersprüchliche Allgemeinbegriffe von ihm ausgesagt werden. Auch Boethius stellt fest, daß wir nie im Allgemeinen eine Person finden, sondern immer nur im schlechthin Einzelnen, das aber also solches dann nicht mehr geistig durchdrungen werden kann.
So sehr wir hier auch aus logischer und metaphysischer Sicht widersprechen müssen, wir müssen doch eingestehen, daß die Metaphysik hier an eine Grenze stößt. Die einzelne Person, die ich bin, kann eben nicht ganz auf einen Begriff gebracht werden. Ich bin immer mehr als das Allgemeine, das mir zugeschrieben wird. Und gerade Boethius, im Gefängnis auf sein Todesurteil wartend, vermittelt diesen Gedanken sehr glaubhaft. Leontios und Boethius haben hier den Grundgedanken des Existentialismus vorweggenommen. Und auf der Basis dieses Gedankens schafft es Boethius dann natürlich sehr leicht, alle sozialen Ansprüche an den Einzelnen zu dekonstruieren.
Gregorius stammt aus einer römischen Patrizierfamilie und war zudem Urenkel von Papst Felix II. Er erhielt eine juristische Ausbildung und war zunächst Senator und Praefectus urbi von Rom. Im Jahre 575 gab er jedoch die politische Karriere auf und wurde Mönch. Er verwandelte die Villa seiner Eltern auf dem Monte Celio in ein Benediktinerkloster, welches bis heute besteht. Ab dem Jahre 579 sandte ihn der Papst Pelagius II. für sechs Jahre nach Konstantinopel. Nach seiner Rückkehr blieb er Berater des Papstes und wurde nach dessen Tod im Jahre 590 selbst zum Papst gewählt. Sein Pontifikat gilt als richtungsweisend für die katholische Kirche. Die Macht in Rom lag damals nominell in den Händen des oströmischen Kaisers. Doch war es Gregorius, der durch Verträge mit den Langobarden und Tributzahlungen an diese, die Macht erhielt. Er war es auch, der die bis dahin staatlich organisierte Getreideversorgung der Stadt Rom durch die kirchlichen Besitzungen sicherte. Innerkirchlich legte er die Mönchsregeln des Benedictus von Nursia als verbindlich für das gesamte christliche Mönchtum fest, so daß diese durch das ganze Mittelalter hindurch eine feste kulturelle Größe blieben. Zudem praktizierte er eine Intoleranzpolitik gegenüber Ungläubigen und Andersgläubigen, die ebenfalls dem Mittelalter als Maßstab galt.
§ 1 Gregorius präsentiert uns eine sehr eigenartige und stark vom Platonismus beeinflußte Sichtweise der Seele, die wir bei einem christlichen Denker in dieser Form nicht erwarten. Zunächst teilt er die Seele in drei verschiedene Seelenformen ein:
tres quippe vitales spiritus creavit omnipotens deus: unum qui carne non tegitur; alium qui carne tegitur, sed non cum carne moritur; tertium qui carne tegitur, et cum carne moritur. | »Der allmächtige Gott schuf drei geistige Naturen: eine, die mit keinem Fleische bekleidet ist, eine zweite, die zwar mit dem Fleische bekleidet ist, aber mit dem Fleische nicht stirbt, und eine dritte, die mit dem Fleische bekleidet ist und mit dem Fleische auch stirbt.«1 |
Er geht wie die Platoniker davon aus, daß es neben der sterblichen Tierseele, die an ihren Körper gebunden ist, eine Seele des Menschen gibt, die den Tod des Körpers überlebt. Daneben gibt es aber dann auch noch eine reine Seele, die gar keinen Körper hat. Gregorius identifiziert diese mit den Engeln. Wir finden uns also hier ganz auf dem geistigen Boden des Platonismus. Uns interessiert hierbei vor allem, wie Gregorius das Verhältnis von Körper und Seele denkt.
§ 2 Nun kann aber nach Gregorius die menschliche Seele durch den Tod des Körpers auch zu einer solchen reinen Seele ohne Körper werden. Die spannende Frage, die er in seinen Dialogen ausgiebig diskutiert, ist die, wie denn dann die Seele belohnt oder bestraft werden kann. Zunächst einmal können wir feststellen, daß es bei den bisher diskutierten christlichen Autoren nicht nötig war, sich mit dieser Frage zu beschäftigen, da die Seele nach dem jüngsten Gericht doch wieder ihren Körper annimmt. Wir haben diese Auffassung einer leiblichen Auferstehung bei jedem christlichem Denker seit dem im vierten Band diskutierten Athenagoras gefunden. Aber Gregorius macht sich die Aufgabe schwieriger, denn er geht davon aus, daß die Heiligen bereits sofort nach ihrem Tod und folglich vor einer leiblichen Auferstehung bei Gott seien. Er erklärt dann wie folgt, daß auch die Seelen der Heiligen dann noch belohnt werden:
Hoc eis nimirum crescit in iudicio, quod nunc animarum sola, postmodum vero etiam corporum beatitudine perfruuntur | »Sie bekommen eben das noch als Steigerung hinzu, daß, wie jetzt ihre Seele, dann auch ihr Leib die Seligkeit genießt«.2 |
Hier gesteht Gregorius noch ein, daß das Hinzufügen des Körpers zur reinen Seele diesem eine Steigerung der Seligkeit gewährt. Letztlich besagt dies, daß man doch des Körpers bedarf, um seelische Eindrücke zu haben, daß also die Seele nur über den Körper affiziert werden kann.
§ 3 Dieses Problem verschärft sich nun aber, wenn Gregorius auf die Höllenstrafen zu sprechen kommt, die er eben auch bereits der reinen Seele zuteil werden lassen möchte. Die Möglichkeit einer Schmerzen erleidenden reinen Seele erklärt er wie folgt:
Si incorporeus spiritus, Petre, in hoc teneri potest quod vivificat, quare non poenaliter et ibi teneatur ubi mortificatur? | »Wenn zu Lebzeiten des Menschen der unkörperliche Geist vom Körper umfaßt wird, warum sollte der Geist nicht nach dem Tode, wenn er auch körperlos ist, von einem körperlichen Feuer erfaßt werden können?«3 |
Gregorius geht also hier davon aus, daß die Seele einfach nur von etwas Körperlichem umfaßt sein kann, welches dann auf sie wirkt. Ebenso wie vorher die Dinge über den Körper auf die Seele wirkten, so sollen sie jetzt auch ohne diesen Umweg direkt auf die Seele wirken können. Alles Wissen um die Komplexität dieses Körpers, der auf den gesamten Formen der Natur aufbauend es diesem erst ermöglichst, eine seelische Tätigkeit aufzuweisen, scheint hier verloren gegangen zu sein. Der Körper ist einfach nur Körper, der in einem nivellierten Dualismus dem Seelischen entgegensteht.
§ 4 Gregorius verteidigt seine Position nun, indem er einige Zwischenstufen des Unkörperlichen aufzeigt, welche die Wirkung des Körpers auf die Seele vermitteln sollen:
ignem namque eo ipso patitur, quo videt; et quiq concremari se aspicit, concrematur. sicque fit ut recorporea incorpoream exurat, dum ex igne visibili ardor ac dolor invisibilis trahitur ut per ignem corporeum mens incorporea etiam incorporea flamma crucietur. | »Denn schon dadurch duldet er das Feuer, daß er es sieht, und er wird gebrannt, wenn er sich brennen sieht. So kommt es, daß etwas Körperliches ein geistiges Wesen brennt, in dem das sichtbare Feuer eine unsichtbare Hitze und einen unsichtbaren Schmerz erzeugt, so daß das körperliche Feuer den körperlosen Geist auch mit körperloser Flamme peinigt.«4 |
Als Zwischenstufen präsentiert uns Gregorios zunächst die Hitzeempfindung. Die Hitze sei etwas Unsichtbares und würde dennoch von uns wahrgenommen werden. Im Hintergrund steht hier die irrige Annahme, daß die Hitze als Unsichtbare auch etwas Unkörperliches sei. Wir wissen nun aber, daß Hitze als Energie durchaus einen materiellen Charakter hat. Eine weitere Zwischenstufe ist der Schmerz. Der Schmerz ist nicht nur etwas Unsichtbares, sondern natürlich auch unkörperlich. Zwar liegen ihm Nervenreizungen zugrunde, aber das Phänomen des Phantomschmerzes zeigt, daß hier keine materielle Einwirkung von Nöten ist. Das Nervensystem kann durchaus aus sich heraus Schmerzempfindungen erzeugen. Diese sind daher wesentlich Systemzustände des Nervensystems. Der Schmerz läßt sich aber auch nicht auf das Nervensystem reduzieren. Er ist vielmehr eine Selbstempfindung und somit – hier stimmen wir Gregorius zu – etwas Immaterielles.
Die Überlegung von Gregorius ist nun aber, daß diese immaterielle Schmerzempfindung uns erklärt, wie die für ihn ebenfalls immaterielle Hitze des Höllenfeuers eben vermittelt über den Schmerz auf die menschliche Seele wirkt. Dabei präsentiert er uns aber eine Seele, die wie Hilary Putnams »Brains in a vat« an einen beliebigen Generator zur Erzeugung von Empfindungen angeschlossen werden kann. Er verkennt vollkommen, daß es eine natürliche Stufenordnung gibt, deren höchste Stufe zwar die Seele ist, die aber dennoch der anderen Stufen in ihrer Gesamtheit bedarf um Schmerzempfindungen und Bedeutungen haben zu können.
§ 5 Im Bereich des Geistes ist es vor allem die Frage nach dem Glauben und seinem Verhältnis zum Wissen, welche Gregorius auf eine für uns sehr interessante Art beleuchtet. Zunächst einmal ist das wirkliche Wissen um das Göttliche für ihn etwas, was nur den reinen Seelen zugänglich ist. Uns Menschen vergleicht er mit den Bewohnern der Höhle aus dem platonischen Höhlengleichnis:
Ac si enim praegnans mulier mittatur in carcerem, ibique pariat puerum, qui natus puer in carcere nutriatur et crescat; cui si fortasse mater quae nunc genuit, solem, lunam, stellas, montes et campos, volantes aves, currentes equos nominet, ille vero qui est in carcere natus et nutritus nihil aliud quam tenebras carceris sciai, et haec quidem esse audiat, sed quia ea per experimentum non novit, veraciter esse diffidat | »Nehmen wir an, ein Weib in gesegneten Umständen würde in einen finsteren Kerker geworfen und würde dort ein Kind zur Welt bringen, das im Kerker aufgezogen und heranwachsen würde. Wenn ihm seine Mutter vielleicht von der Sonne, dem Mond und den Sternen, von Bergen und Ebenen, von fliegenden Vögeln und von dahinrennenden Pferden erzählen würde, so würde das Kind, das im finsteren Kerker geboren und erzogen wurde und das nichts anderes als diesen finsteren Kerker kennt, zwar hören, daß es solche Dinge gibt; weil es sie aber aus der Erfahrung nicht kennt, würde es zweifeln, ob sie in Wirklichkeit existieren.«5 |
Gregorius geht davon aus, daß sich alle Menschen in dieser Situation befinden. Kann Platon noch auf die zurückgreifen, durch die sich der Mensch an die vorgeburtlich geschaute Ideenwelt erinnert und so Zugang zum apriorischen Wissen hat, so ist das für den Christen Gregorius nicht möglich, denn für ihn entsteht die Seele erst mit der Geburt. So kann die Seele zwar nach dem Tod das Göttliche schauen, aber dann ist es eben für die Wissenschaft zu spät.
§ 6 Was dem Menschen dann bleibt ist der Glaube. Und hier wartet Gregorius mit einer sehr interessanten Sichtweise auf, welche den Glauben auf eine viel breitere Basis stellt, als dasjenige, was die Religion an Glauben verlangt. Der Glaube – so wie Gregorius ihn faßt – ist vielmehr die Grundlage all unseres menschlichen Wissens:
Audenter dico, quia sine fide neque inlidelis vivit. Nam si eumdem infidelem percunctari voluero, quem patrem vel quam matrem habuerit, protinus respondebit, illum atque imlam. Quem si statim requiram utrumne noverit quando conceptus sit. vel viderit quando natus, nihil horum se vel nosse, vel vidisse fatebitur, et tamen quod non vidit, credit. Nam illum patrem illamque se habuisse matrem absque dubilatione testatur. | »Kühn behaupte ich, daß auch ein Ungläubiger nicht ohne Glauben lebt. Denn wollte ich einen solchen Ungläubigen fragen, wer sein Vater und wer seine Mutter gewesen ist, so wird er sofort sagen: dieser und jene. Wenn ich ihn dann weiter fragen würde, ob er das bei seiner Empfängnis erfahren oder bei seiner Geburt gesehen habe, so wird er eingestehen müssen, daß er nichts davon erfahren und gesehen habe; und dennoch glaubt er, was er nicht gesehen hat. Denn ohne Bedenken bezeugt er, jenen Vater und jene Mutter gehabt zu haben.«6 |
Gregorius baut hier das Wissen auf dem Glauben auf. Damit wir etwas wissen können, brauchen wir zunächst eine ganz Menge von Sachverhalten, an die wir glauben. Er zeigt, daß es sich bei diesen Sachverhalten um ganz einfache Umstände aus unserem alltäglichen Leben handelt. Bereits diese ganz einfachen Umstände können wir nicht als sicheres Wissen bezeichnen und behandeln. Wir müssen sie glauben und ohne diesen Glauben bricht der Rahmen unserer Erfahrungswelt zusammen. Gregorius rückt hier sehr nahe an Wittgensteins Überlegungen zur Gewißheit, auch wenn ihm noch ein ganzer Schritt fehlt. Was bei Wittgenstein noch hinzukommt, ist die Feststellung, daß der Zweifel an bestimmten dieser alltäglichen Gewißheiten durchaus den Sinn der zweifelnden Worte in Frage stellen kann, daß ein solcher Zweifel uns also den sprachlichen Boden unter den Füßen wegzieht. Im Umkehrschluß heißt das, daß wir eine Reihe von Gewißheiten glauben müssen, damit unsere Sprache überhaupt Sinn hat.
§ 7 Für Gregorius ist das ein mit einer Analogie arbeitendes Argument dafür, daß wir auch den religiösen Glauben nicht in Zweifel ziehen sollen, ebensowenig, wie wir das mit den Sachverhalten unseres alltäglichen Lebens tun. Diese Analogie ist auch für uns durchaus akzeptabel, wenn wir – wie in den bisherigen Bänden praktiziert – das Religiöse hier als Metapher für die Inhalte der Metaphysik interpretieren. Bei den Begriffen den Ideellen tragen wir Glaubend dazu bei, daß diese für uns mehr bedeuten, als sie es bei einer rein kritischen Betrachtung tun. So ist etwa der Begriff der Identität ja für uns nichts, das wir wirklich als Identität erfahren. Vielmehr sind zwei identische Größen in unserem Denken ja immer schon in zwei unterschiedene zerlegt. Daß sie identisch sind, müssen wir glauben. Und dieser Glaube ist die Grundlage dafür, daß wir etwa dem Begriff der Identität einen ontologischen Status zuschreiben. Ein wirklich zwingendes Argument gibt es hierfür nicht. Neben dem Glauben haben wir allenfalls dadurch einen Hinweis auf den ontologischen Status des Ideellen, daß die Kohärenz der idealistischen Metaphysik uns verspricht, die Aporien anderer Auffassung, wie etwa der des Materialismus, zu lösen. Das wertet aber unsere idealistische Auffassung keineswegs ab, sondern rückt lediglich unsere Bestrebungen in ein rechtes Licht. Es kann nicht darum gehen, an irgend einem Punkt festes Wissen zu beanspruchen, sondern allenfalls darum, das gesamte System des von uns Geglaubten und des in Zweifel Gezogenen so zusammenhängend wie möglich zu rekonstruieren. Und dann, so hoffen wir, zeigt sich im Hintergrund so etwas wie Wahrheit.
1 Dialogorum libri quatuor VI, 3, Patrologia Latina LXXVII, S. 322 A, Übers. J. Funk
2 Dialogorum libri quatuor VI, 25, Patrologia Latina LXXVII, S. 357 B, Übers. J. Funk
3 Dialogorum libri quatuor VI, 29, Patrologia Latina LXXVII, S. 366 D – 368 A, Übers. J. Funk
4 Dialogorum libri quatuor VI, 29, Patrologia Latina LXXVII, S. 368 A, Übers. J. Funk
5 Dialogorum libri quatuor VI, 1, Patrologia Latina LXXVII, S. 320 A, Übers. J. Funk
6 Dialogorum libri quatuor VI, 2, Patrologia Latina LXXVII, S. 320 C, Übers. J. Funk
Isidorus wurde in Cartagena als Kind einer vornehmen römischen Familie geboren und wuchs dann in Sevilla auf. Dort wurde er von seinem älteren Bruder Leander unterrichtet, der Bischof von Sevilla war. Dieser Leander war es, der eine Konversion der westgotischen Könige, die damals Spanien beherrschten, vom Arianismus zum Katholizismus bewirkte. Nach Leanders Tod im Jahre 600 trat Isidorus seine Nachfolge als Bischof von Sevilla an. Ein weiterer Bruder Fulgentius wurde Bischof von Ecija. Alle drei, samt ihrer Schwester Florentina, wurden später heilig gesprochen. Isidorus selbst stand wie sein Bruder Leander in engem freundschaftlichen Kontakt zu den westgotischen Königen seiner Zeit.
Isidorus’ Hauptwerk, die Etymologiae, hatte eine nachhaltige Wirkung auf das mittelalterliche Denken. Hierin findet sich ein Versuch, das gesamte antike Wissen in einem einzigen Buch zusammenzufassen. Isidorus folgt dabei mehr einer enzyklopädischen als eine systematischen Methode. Folglich ist es schwer, eigene philosophische Thesen in diesem Werk auszumachen. Explizit gibt es diese wohl nicht. Hinzu kommt, daß die Darstellung aufgrund des Umfangs der zu behandelnden Thematik zu verkürzt ist, um in derselben eigene Gesichtspunkte aufscheinen zu lassen. Das Eigene von Isidorus, was dann auch im Mittelalter seine Wirkung entfalten konnte, war so eher seine charakteristische Sicht auf das Ganze. Seine Bedeutung liegt insgesamt weniger im Inhalt seiner Schriften, sondern vielmehr darin, daß er im lateinischen Westen in seiner Zeit einer der wenigen Autoren überhaupt war. Über seine enzyklopädische Darstellung führt der schmale Grat, der in einer Zeit des Analphabetismus die klassische Bildung zu bewahren versuchte.
§ 8 Die Behandlung der Sprache steht im Zentrum der Betrachtung von Isidorus. Wie kein anderer Autor vertraut er auf die Sprache. Sein Hauptwerk heißt nicht von ungefähr Etymologiae. Alle von ihm behandelten Theorien, Thesen und Begriffe werden zunächst einer etymologischen Untersuchung unterzogen. Auch die Etymologie selbst, ist nicht nur Methode, sondern sie wird zu einem Gegenstand seiner Betrachtung. Er faßt sie wie folgt:
Etymologia est origo vocabulorum, cum vis verbi vel nominis per interpretationem colligitur. [...] Cuius cognitio saepe usum necessarium habet in interpretatione sua. Nam dum videris unde ortum est nomen, citius vim eius intellegis. Omnis enim rei inspectio etymologia cognita planior est. | »Die Etymologie ist der Ursprung der Worte, welche die Kraft eines Verbs oder eines Substantivs durch Interpretation erschließt. [...] Die Kenntnis derselben [der Etymologie eines Wortes] hat oft einen unverzichtbaren Nutzen für die Interpretation desselben. Denn wenn man gesehen hat, was der Ursprung eines Wortes ist, versteht man schnell seine Kraft. Die Einsicht in alle Dinge ist nämlich klarer, wenn man die Etymologie kennt.«7 |
Die Etymologie ist also für Isidorus eine Schlüsseldisziplin. Sie schließt uns die eigentliche Bedeutung der Worte auf. Denn die Bedeutung der Worte ist seiner Auffassung nach nicht einfach gegeben, sondern sie muß erst durch Interpretation erschlossen werden. Und hierzu ist es unverzichtbar, die Herkunft der Worte zu kennen.
§ 9 Was nun hier sehr interessant ist, ist jene Kraft (vis), welche Isidorus den Worten zuschreibt. Dies impliziert ein quasi mechanisches Verständnis der Auffassung von Wortbedeutungen, das jedoch ganz und gar nicht materialistisch verstanden werden muß, sondern sich bloß des Materialismus als einer sehr guten Analogie bedient. Worte wirken auf uns, wenn wir ihre Bedeutung erfassen und diese Wirkung läßt sich als eine Kraft beschreiben. Ebenso wie Bewegungsenergie auf Materie wirkt und diese in Bewegung setzen kann, so wirkt die Kraft eines Bedeutungsgehaltes oder eines Satzes auf den Geist des Menschen und vermag es, dessen Gedankengänge in Bewegung setzen. So verstanden haben wir bei Isidorus also eine Auffassung der Sprache vorliegen, in der die Sprache selbst etwas Aktives sein kann und nicht nur ein bloßes Kommunikationsmittel.
Damit diese Kraft des Wortes sich nun aber entfalten kann, muß dieses eben verstanden werden. Es muß wie ein Schlüssel auf den Geist des Menschen passen, in dem es aktiv werden soll. Wir wissen nun aus Erfahrung, daß dies nicht so leicht ist, wie es scheint. Schon im Alltag redet man oft aneinander vorbei und in der Welt des rein Geistigen, wo die Abstände von Autor und Leser immens sein können und zudem noch Übersetzungen ins Spiel kommen, ist die Gefahr des Mißverständnisses potenziert. Und hier hilft eben die Etymologie dabei, den möglichen Wortsinn zu erweitern, jeden Begriff als ein Begriffsfeld zu betrachten und so den Schlüsseln, welche die Worte darstellen, mehr Chancen zu geben, zu uns durchzudringen.
§ 10 Letztlich gleicht Isidorus’ etymologischer Ansatz sehr dem unserer idealistischen Metaphysik. Diese geht eben auch nicht direkt systematisch zu Werk und versucht, die sie konstituierenden Begriffe aus dem Geist selbst zu erschließen. Statt dessen begeben wir uns zurück in die Geschichte der Metaphysik und versuchen jeden Begriff an seinem Ursprung und an den Schnittstellen, wo er eine entscheidende Wandlung erfahren hat, neu zu bestimmen. In diesem Sinne können wir in Isidorus einen Gesinnungsgenossen finden. Was unseren Ansatz jedoch entscheidend von dem des Isidorus unterscheidet, ist die Absicht. Während wir auf die Rekonstruktion eines metaphysischen Systems in seiner historischen Genese, die eben eine etymologische ist, aus sind, geht es Isidorus lediglich darum das Wissen seiner Zeit mehr oder weniger enzyklopädisch zusammenzufassen. Er will kein System neu erschaffen, sondern er sieht sich bereits in einem solchen System, dem er nichts hinzufügen zu müssen glaubt. Wir hingegen leben in dem Bewußtsein, daß die antike und mittelalterliche Metaphysik in der Neuzeit die Selbstverständlichkeit verloren hat, die sie für Isidorus hatte. So müssen wir versuchen, diese im Lichte des neuzeitlichen und bisweilen gar des postmodernen Geistes wiederherzustellen. Wir also eine Form der kreativen Etymologie betreiben, welche die aus der Geistesgeschichte gewonnenen Begriffe sogleich in einen neuen Kontext setzt.
§ 11 Doch kommen wir noch einmal auf Isidorus’ Sprachauffassung zurück. Diese ist durch sein die Bibel wörtlich nehmendes Verständnis der Geschichte geprägt. So er geht davon aus, daß das Hebräische zunächst die einzige Sprache war, welche dann durch die babylonische Sprachverwirrung vervielfältigt wurde. Damit veränderte sich nach Isidorus auch die Weise der Entstehung der sprachlichen Ausdrücke, welche er uns im Anschluß an die obige Textstelle beschreibt:
Non autem omnia nomnina a veteribus secundum naturam imposita sunt, sed quaedam, et secundum placitum, sicut et nos servis et possessionibus interdum secundum quod placet noestrae voluntati nomina damus. | »Es wurden jedoch nicht alle Worte durch die Älteren gemäß der Natur festgelegt, sondern einige nach Belieben, ebenso wie wir unseren Sklaven und Besitztümern mitunter die Namen geben, welche unserem Willen gefallen.«8 |
Zunächst einmal geht Isidorus hier davon aus, daß sich die erste Sprache ganz so wie in Platons Kratylos angedacht irgendwie an der Natur der Dinge orientiert. Aus dieser Einheitssprache entwickelt sich also nach Isidorus dann dadurch eine Vielfalt der Sprachen, daß die Menschen nach und nach je nach eigenem Gutdünken die Dinge benennen. Für die Etymologie stellt dies eine Schranke dar. Denn nun kann der Ursprung der Worte nicht mehr einfach in der Natur der Dinge gefunden werden. Aber gerade die Einsicht in diesen Umstand ist es, der Isidorus dazu verhilft eben nicht in eine naive Sprachauffassung zu verfallen, sondern die Sprache selbst als ein Problem des Verständnisses der Dinge zu beachten.
§ 12 Nun gibt es aber bei Isidorus mindestens zwei Beschränkungen dieser Sprachverwirrung. Der ersten begegnen wir in seiner Darstellung der Dialektik, die mehr oder weniger eine Zusammenfassung von Aristoteles’ Logik ist. Hier stellt er für die Sprache folgendes fest:
mirabile plane genus operis, in unum potuisse colligi quidquid mobilitas ac varietas humanae mentis in sensibus exquirendis per diversas causas poterat invenire: consulum liberum ac voluntarium intellectum. nam quocunque se verterit, quascunque congitationes intraverit, in aliquid eorum quae praedicta sunt necesse est cadat ingenium. | »Es ist durchaus ein wunderbares Werk, welches es vermochte, jegliche Bewegung und Variation, welche der menschliche Geist erfinden konnte, während er nach verschiedenen Ursachen forschte, in einem zu versammeln; den freien und wollenden Intellekt einschließend. Denn wohin er sich auch wendet, in welche heftigen Bewegungen er auch eintritt, der Scharfsinn fällt doch notwendig in eine dieser vorherbestimmten Formen.«9 |
Die erste Beschränkung der potentiell unbeschränkten Selbstvervielfältigung der Sprache ist nach Isidorus die aristotelische Logik. Diese Idee kennen wir schon von dem im dritten Band behandelten Varro, den auch Isidorus an vielen Stellen erwähnt. Die Sprache mag zwar von einer zunächst vorliegenden Bindung an die Empirie ausgehend bis zu einem gewissen Grad willkürlich werden, aber die Schranke dieser Willkür ist die Logik, welche die unkontrollierte Vielheit unter ihrem Dach wieder zu einer Einheit zusammenführt.
§ 13 Darüber hinaus kennt Isidorus nun jedoch noch eine zweite Beschränkung der Sprache, die noch sehr viel absoluter ist. Er fragt nach der Zukunft der Sprache und beantwortet diese Frage wie folgt:
item quaeritur qua lingua in futurum homines loquantur, nusquam reperitur. nam dicit apostulus: sive linguae cessabunt | »Es wird auch gefragt, welche Sprache die Menschen in Zukunft sprechen werden, aber es wird nirgends beantwortet. Denn der Apostel sagt: „die Sprachen werden aufhören“.«10 |