SARAH WULFF, geboren 1993, arbeitet hauptberuflich als

Software-Programmiererin, und das Schreiben diente ihr schon seit dem 14.

Lebensjahr als kreativer Ausgleich zu Schule und Beruf. Als jemand, der auf

dem Land aufgewachsen ist, schätzt sie die Natur ebenso wie die Wunder der

modernen Technik. Ihre Heimat ist das schöne Dreiländereck zwischen dem

Saarland, Luxemburg und Frankreich. Bei Die Lioma von Erwen – Zwei

ungleiche Geschwister handelt es sich um ihre erste Veröffentlichung.

2. Auflage

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

© 2020 Sarah Wulff

Lioma-Webpage: www.lioma.de

Covergestaltung: the-Adventurer

(https://the-adventurer-0815.deviantart.com)

Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt

ISBN: 978-3-7526-9450-5

In Gedenken an Eddy,

meinen tierischen, kleinen Bruder.

21.04.2004 – 08.01.2019

Inhaltsverzeichnis

PROLOG

Rudard war ein Bauernsohn, so wie jeder andere des Dorfes Norus. Ackerbau und Viehzucht waren alles, was die Menschen seiner Heimat kannten, und dementsprechend wenig ereignisreich war ihr Leben. Der Höhepunkt jeder Woche bestand aus dem Besuch des Marktes von Luminas, wo Rudards Vater seine Waren verkaufte. Viel Geld gab es dafür nicht, aber Mondkönig Sandoras der Dritte hatte den Bauern das Land geschenkt, und daher galt das Bestellen des Landes als eine ehrenvolle Aufgabe. Rudard beabsichtigte jedoch nicht, in die Fußstapfen seines Vaters zu treten. Lieber würde er einer von des Königs Wildhütern werden, ein geachteter und kühner Jäger wilder Kreaturen. Er besaß großen Ehrgeiz, wenn es ihm auch an Erfahrung und der Anleitung eines Lehrers mangelte.

Rudard saß im Wald, im hohen Gras versteckt, den Jagdspeer im Anschlag, und wartete geduldig darauf, dass das Reh, das er schon seit Stunden verfolgte, sich weiter hinaus auf die Lichtung wagte. Es war an diesem Nachmittag, dass er zum ersten Mal das Stampfen schwerer Schritte auf dem Waldboden hörte. Er sah sich erschrocken um und entdeckte ein riesiges Tier, – nein, eine Bestie, – die auf ihn und seine Beute zupreschte. Blanke Furcht packte ihn und ließ ihn erstarren. Er wagte es nicht einmal mehr, zu atmen.

Die Kreatur schien ein gewaltiges Raubtier zu sein. Mindestens so groß, wenn nicht sogar größer als ein Pferd, gebaut wie ein Bär, – doch ein Bär war es nicht. Unter Rudards Füßen bebte die Erde. Das Biest rannte knapp an ihm vorbei. Seine Beute versuchte noch, davonzulaufen, wurde jedoch binnen einer einzigen Sekunde von ihm eingeholt. Das Biest schlug seine Kiefer in den Nacken des Rehs und zerbrach dessen Genick, so leicht, wie ein Mensch einen Strohhalm zwischen den Fingern umknickte. Nur ein einziges Mal knackte es, dann war das Tier tot.

Der erschlaffende Körper der Beute brachte das Raubtier zum Stehen. Anstatt damit im Wald zu verschwinden, zögerte es jedoch, sah sich um, und reckte seine schwarze Nase in die Höhe.

Nahm es Witterung auf? Konnte es Rudard riechen?

Ein Zittern durchlief Rudards Körper. Der Speer in seinen Händen bebte, und kein klarer Gedanke bildete sich in seinem Verstand. Der eiskalte Griff der Angst hielt Rudard so fest umklammert, dass er unmöglich fliehen konnte.

Das Biest legte seine Beute auf dem Waldboden ab und schnupperte erneut. Es dauerte nicht lange, dann tastete es sich mit gesenktem Kopf in Rudards Richtung vor. Wenn es etwas roch, musste es sein Angstschweiß sein. Der Anblick der blutbefleckten Lefzen brachte sein Herz fast zum Stillstand.

Noch immer kam es auf ihn zu. Jeden Moment würde es ihn finden. Das Monstrum war nur noch zwei Schritte von ihm entfernt. Seine gewaltigen Pfoten wirbelten Erde auf, und Rudard hörte, wie die Luft durch seine Lungen gesogen wurde. Nur mit Mühe gelang es ihm, den Blick von den Klauen des Biests zu lösen. Ein Schlag mit diesen Pranken würde sein Leben ebenso sicher beenden wie ein Biss ins Genick.

Das Monster sah auf, und Rudard erkannte noch, wie sich die Pupillen in seinen großen, goldgelben Augen verengten, dann geschah alles ganz plötzlich. Ruckartig wich die Kreatur von ihm zurück. Rudard, der das Biest mit den Pranken ausholen sah, stieß in Todesangst mit dem Speer zu. Dass dessen Spitze auf die Brust des Monstrums zeigte, war mehr ein glücklicher Zufall, als dass er es beabsichtigt hatte.

Ein Geheul und Gewinsel erfüllte Rudards Ohren, und das Raubtier sprang zurück. Dabei riss es den Speer, der in seinem Körper stecken geblieben war, aus Rudards Händen. In dem Moment, in dem die Vorderbeine des Biests wieder auf dem Boden aufsetzten, verkantete sich das Ende des Speers im Waldboden. Durch sein eigenes Körpergewicht wurde die Spitze tiefer in sein Herz getrieben.

Rudard, obwohl er am ganzen Körper schlotterte und sich kaum auf den Beinen halten konnte, staunte, als das pelzige Monstrum zur Seite kippte und nach wenigen Atemzügen reglos liegen blieb.

Das Blut, das aus dem Körper quoll, reichte bis zu seinen Stiefeln.

Er stürzte von einem Baum zum nächsten und aus dem Wald hinaus. Ihm war noch flau im Magen und schummrig vor den Augen. Obwohl er nicht völlig begriff, was eben geschehen war, so verstand er doch eines: Er hatte ein Monster getötet. Welche Jäger, wenn nicht des Königs Wildhüter konnten so etwas vollbringen? Mit diesem Gedanken im Sinn wich das Schlottern von ihm. Er lachte. Was für ein Glück ihm widerfahren war, nicht nur zu überleben, sondern dieses gewaltige Ungetüm mit einer solch bemerkenswerten Leichtigkeit zu erlegen! Er durfte keine Zeit verlieren! Er musste zum Dorf zurücklaufen und das Tier den Dorfbewohner zeigen, ehe sich die Aasfresser des Waldes darüber hermachten.

Auf der Dorfstraße begegnete er einem Freund seines Vaters. Rudard stotterte und stammelte aufgeregt, während er ihm von seiner Begegnung mit der Bestie erzählte, und bat ihn, ihm zu helfen, die erlegte Kreatur ins Dorf zu bringen. Allein hätte Rudard den riesigen Körper niemals bewegen können. Nur mit vier Händen, einem kräftigen Büffel und einem Karren gelang es den beiden Männern, das Biest aus dem Wald bis nach Norus zu transportieren.

Was auch immer dies für ein Tier war, Rudard hatte noch nie etwas dergleichen gesehen. Sein Fell war dicht und wollig, wie das von Schafen, kräuselte sich jedoch zu großen, runden Locken, ähnlich dem Haar mancher Menschen. Auch war es kein unscheinbares Braun oder Grau, wie das der meisten Tiere, sondern erstrahlte in der Farbe von Sand. Die Vorderpfoten waren noch seltsamer anzusehen als das Fell. Obwohl es sich bei ihnen eindeutig um Pfoten handelte, so befand sich an ihnen je eine kräftige, fünfte Zehe, die den anderen wie ein Daumen gegenüberstand. Der Schwanz war pinselförmig und wirkte zu kurz für den riesigen Körper. Rudard hätte den Kopf am Ehesten mit dem eines Hundes verglichen, doch er kannte keine Züchtung, die eine Form wie diese hervorgebracht hatte. Die Schnauze war kurz, aber breit und kräftig, und die Ohren lagen seitlich am Kopf als hätte sein Erschaffer darüber Platz für ein paar Hörner gelassen. Der Vergleich zu Schafen kam ihm wieder in den Sinn, was die Frage aufwarf, ob er ein sehr junges oder weibliches Tier erlegt hatte.

Viel Zeit, es zu untersuchen und zu betrachten, blieb ihm nicht. Bald schon scharten sich die ersten Bauern um ihn. Die meisten von ihnen staunten beim Anblick der außergewöhnlichen Kreatur und einige wagten es nicht erst, näher zu treten, ehe Rudard ihnen versichert hatte, dass die Bestie wirklich tot war. Erst nach einer Weile verstanden sie die Bedeutung von dem, was Rudard vollbracht hatte, und der Freund seines Vaters lief los, um Wort an Mondkönig Sandoras zu schicken. Doch was sollte Rudard mit seiner Beute tun, bis ein Bote des Königs eintraf, um sich von der Geschichte zu überzeugen? Der Weg nach Luminas war weit. Mindestens ein paar Tage würde es dauern, bis der Mann sein Anliegen in Rudards Namen am Hof vorgetragen hatte.

Die Bauern überlegten mit ihm zusammen, was mit dem toten Monster zu tun sei. Einer von ihnen schlug vor, die Bestie zu häuten und dem König das gelockte, sandfarbene Fell zu präsentieren. Ein Anderer deutete auf die ungewöhnlichen Pfoten und versuchte Rudard zu erklären, wie ganze Teile von Tieren zur Aufbewahrung präpariert wurden. Ein Dritter bekräftigte ihn darin, dass nur der Schädel des Tieres einen Eindruck von dessen Größe und Kraft vermitteln konnte. Rudard, der zwischen all diesen Vorschlägen nicht wusste, wohin, entschied, dass man all dies noch tun konnte, nachdem sie die frische Beute ausbluten gelassen hatten.

In gemeinsamem Einverständnis halfen ihm die Bauern, das tote Tier in die Scheune seines Vaters zu bringen. Dort schnitt Rudard einen Teil aus dem schwer durchdringbaren Fell des Ungetüms und setzte sein Messer an dessen Hals.

Nur wenige Minuten vergingen, nachdem man ihn allein gelassen hatte, da hörte er plötzlich Schreie aus dem Dorf. Rudard hatte eben erst einen Schnitt an den Fußgelenken des toten Monstrums angesetzt und begonnen, es von seinem Fell zu befreien. Einige aufgeschreckte Büffel liefen muhend an der Scheune vorbei. Mit dem Messer in der Hand drehte er sich zum Scheunentor um.

Ein gewaltiger Schatten fiel auf ihn.

Was Rudard dort sah, ließ das Blut in seinen Adern gefrieren. Ein weiteres Biest stand dort, größer und kräftiger als das tote Tier hinter ihm. Sein Fell war pechschwarz und seinen Kopf krönte ein Paar mächtiger Widderhörner. Rudard blieb nur ein kurzer Moment Zeit, um in die glänzenden, honigfarbenen Augen zu starren, die ihn fixierten. Was auch immer das für ein Tier war, es wusste, was er getan hatte. Viel zu spät erkannte er die Intelligenz, die der Bestie innewohnte. Dass es seiner Fährte gefolgt war, und von Rache angetrieben wurde.

Es gab keinen Laut von sich und senkte auch nicht den Kopf. Alles, was es tat, war ihn stumm in seinem Blick zu bannen. Ohnehin würde jede Warnung zu spät kommen, denn Rudard hatte den entscheidenden Fehler bereits getan. Von einem Augenblick auf den nächsten stürmte das Raubtier auf ihn zu.

„Nein! Nicht!“, schrie Rudard. Mit viel Anstrengung gelang es ihm, seine Schockstarre zu brechen und davon zu laufen.

Weit kam er jedoch nicht.

In den letzten Momenten seines Lebens spürte er, wie sich ein Schatten über ihn legte, er stürzte, und zuletzt wie das Maul der Bestie seine Schulter erfasste. Mühelos gruben sich die Fänge durch sein Fleisch und zerbrachen die Wirbel von Rücken und Hals.

Ehe eine weitere Sekunde verstrich, war Rudard tot und ein Krieg hatte begonnen.

HAFGARD

183 Jahre später waren von Norus nicht mehr als Ruinen übrig, und im weit entfernten Hafgard hatten die Menschen den Krieg zwischen Luminas und den Bestien längst vergessen.

Hafgard, das Land der Berge und Wälder.

Es erstreckte sich von dem Gebirgskamm, der die Grenze zu Luminas bildete, bis weit in die scheinbar endlose, unerforschte Wildnis hinein. In Hafgard gab es keine Bauernhöfe, keine Weiden und Felder, und ebenso wenig Soldaten und Könige. Der Handel beschränkte sich zum größten Teil auf Kulturgüter, und so lebten die Hafgarder Menschen von der Natur, die sie umgab.

Ihre Hütten lagen weit über das ganze Land verstreut, und das einzig nennenswerte Dorf befand sich am Hang eines weniger dicht bewaldeten Berges, umgeben von einem schützenden Wall aus angespitzten Holzpfählen. Sowohl Reisende als auch Einheimische bezeichneten es schlicht als die große Hafgarder Siedlung.

„Wieso ist das eigentlich so, dass ihr alles aus Holz herstellt, und wieso habt ihr hier keine Büffel und Schafe wie die Leute in Luminas?“, fragte die achtjährige Llwina, während sie und Amriss entlang der Trampelpfade zwischen den Giebelhütten der Siedlung hindurch schritten. „Ist das nicht anstrengend und gefährlich, immer auf die Jagd gehen zu müssen?“

„Ganz ungefährlich ist es natürlich nie, aber wer zum Jagen ausgebildet wurde weiß normalerweise, was er tut“, antwortete Amriss. „So wie ich zum Beispiel, und mir gefällt die Arbeit sehr. Ich verbringe gerne Zeit im Wald.“

Es verwunderte sie nicht, dass ihre kleine Cousine das nicht nachvollziehen konnte. Immerhin wurde Llwina, anders als sie, im fernen Luminas geboren, und Hafgards Kultur, sowie die damit verbundene Nähe zur Natur, waren ihr noch fremd.

„Dass Hafgard nicht so fortschrittlich wie Luminas ist, hängt mit der Geschichte unserer Vorfahren zusammen“, erklärte Amriss. „Vor einer unvorstellbar langen Zeit lebten sie auf einer Welt, die fortschrittlicher war als alles, was wir kennen. Es gab nichts, was sie mit ihrer Technologie nicht erschaffen konnten. Eines Tages jedoch entwickelte ihre Technologie eine Art Krankheit, die so gefährlich war, dass sie ihr aller Leben bedrohte. Unsere Vorfahren mussten von ihrer Welt fliehen, und auf der Suche nach Zuflucht kamen sie hierher, nach Erwen, da unsere Welt ihrer Heimat in besonderem Maße ähnelte. In gewaltigen, Speerspitzen-ähnlichen Flugmaschinen stürzten sie vom Himmel und siedelten sich zusammen mit ihren Wild- und Haustieren hier an.“

„Ich kenne die Geschichte. Ma hat sie mir oft genug erzählt“, sagte Llwina, „Aber ich verstehe nicht, was das damit zu tun hat, dass es in Hafgard nur Jäger und Sammler gibt.“

„Ich war ja auch noch nicht fertig“, sagte Amriss, stemmte die Hände in die Hüften und blieb stehen. „Außerdem sind wir mehr als nur Jäger und Sammler. Es gibt auch Krieger, Hüttenbauer, Gerber, und andere Berufe in Hafgard. Und vergiss nicht, dass deine Ma immer noch meine Tante ist. Wir sind nicht ganz so primitiv wie die Leute in Luminas denken.“

Llwina senkte ihren Blick. „Entschuldige.“

Amriss setzte ihren Weg fort und forderte ihre Cousine auf, mitzukommen.

„Nachdem unsere Vorfahren auf Erwen angekommen waren, verließen sie die Speerspitzen und kehrten nie mehr dorthin zurück“, erklärte sie weiter. „Auch heute gelten die Ruinen der Speerspitzen noch als verflucht, da sie für eine sehr lange Zeit die Krankheit der alten Welt in sich trugen. Legenden besagen, dass Menschen, die sich in ihre Nähe wagten, nie wieder zurückkehrten. Über Generationen hinweg hat unser Stamm seinen Kindern beigebracht, die Ruinen und allen technischen Fortschritt zu meiden, um nie wieder jene Krankheit heraufzubeschwören, die unsere heiligen Vorfahren nahezu auslöschte. Das ist die Wahrheit, aber tatsächlich wissen heutzutage nur noch wenige, wieso die Ruinen als verflucht gelten.“

„Tante Innis sagt, alle Technologie ist verflucht“, erwähnte Llwina. „Verflucht und gefährlich.“

„Ich weiß, was Ma sagt, und wie oft sie das tut, aber nicht alle Arten von Technologie sind davon betroffen“, erklärte Amriss. „Nur die, die von den Vorfahren hergestellt wurde, und alles, was sich in den Ruinen befindet, funktioniert schon seit Jahrhunderten nicht mehr. Mein Bruder und ich waren schon oft in den Ruinen, und ich kann dir sagen, dass es inzwischen ungefährlich ist, sie zu betreten. Die Ältesten wollen das natürlich nicht hören. Sie verbieten den meisten Fortschritt, weil sie versuchen, im Sinne der Vorfahren zu handeln. Und ja, das finde ich auch ziemlich engstirnig, aber andererseits wüsste ich auch nichts, was ich in Hafgard vermisse.“

Zumindest beneidete Amriss ihre Cousine nicht für ihre himmelblaue Robe oder den metallenen Schmuck. Ein Jagdgewand mit Waffenrock, ein paar bemalte Holzperlen für ihre wilden Haare, Bogen und Köcher, mehr brauchte sie nicht. Hafgard war ihr Zuhause. Keinen Ort kannte sie besser als diesen, und nur hier konnte sie tun und lassen, was sie wollte, mit der gesamten Unterstützung ihrer Familie.

Wieso sollte es sie glücklicher machen, in einem Haus aus Stein zu wohnen und auf einem Bett aus Daunen zu schlafen?

„Ich glaube, Ma vermisst schon ein paar Dinge“, murmelte Llwina. Sie blieb vor einem der vielen, schmalen Holzgerüste stehen, die sich scheinbar wahllos über die gesamte Siedlung verteilten.

„Was ist das eigentlich?“, fragte sie und zeigte nach oben.

Lange Balken verliefen über die Bauten von Hütte zu Hütte, und zogen sich wie ein Spinnennetz vom Flusslauf oberhalb der Siedlung bis zum Siedlungstor am Fuß des Berges.

„Das ist Hafgards Form von Fortschritt“, antwortete Amriss. „Im Inneren der Balken befindet sich ein Hohlraum, durch den Wasser vom Fluss bis in die Hütten transportiert wird. Mein Bruder hat es gebaut.“

In Llwinas Augen flammte Neugierde auf.

„Ist das wirklich wahr?“

„Er baut viele tolle Dinge. Während wir hier stehen und sprechen, arbeitet er an Laternen, die sich nachts wie von Geisterhand entzünden werden.“

„Wie Geisterlichter?“, fragte Llwina.

„Ja, sozusagen. Hast du Teth eigentlich schon kennengelernt? Komm, ich stelle euch vor.“

Amriss wusste zwar nicht, wo sich ihr Bruder zu dieser Tageszeit aufhielt, doch da Teth und sie erst vor Kurzem ein Windrad am Rand der Siedlung errichtet hatten, hielt er sich wohl nicht weit entfernt davon auf. Aus der Ferne entdeckte sie einen schimmernden Draht, der sich vom Unterbau des Windrads bis in die Siedlung spannte. Amriss führte Llwina in die Nähe der Hütte, hinter der sie Teth vermutete, und schielte um die Ecke des Giebels. Sie musste unweigerlich lächeln, als sie dort einen schlanken Mann mit rotbraun gelockten Haaren vorfand.

Das war Amriss’ großer, brillanter und oftmals auch ein wenig eigenartiger Bruder. Seine Begeisterung für Wissenschaft unterschied ihn von jedem anderen Hafgarder, und diese Andersartigkeit besaß einen allseits bekannten Grund.

Er und Amriss waren nicht blutsverwandt.

Ihre Eltern, die einen lange unerfüllten Kinderwunsch gehegt hatten, adoptierten ihn im Kindesalter. Vor rund 30 Jahren fand ein Jäger ein Kleinkind versteckt in einem Karren im Wald. Die leiblichen Eltern, so die Geschichte, wurden von wilden Tieren getötet. Vier Jahre, nachdem Amriss’ Familie ihn aufnahm, brachte ihre Mutter wider Erwarten ein eigenes Kind zur Welt, und so wurden Teth und Amriss zu Geschwistern.

Amriss würde ihn niemals als Stiefbruder bezeichnen. Er war ihr Bruder, ihr bester Kumpel, ihr Lehrer, manchmal sogar eine Art Elternteil, doch niemals ein Stiefbruder.

Teth saß auf einem Baumstumpf und arbeitete offensichtlich an einer seiner Erfindungen. Neben ihm standen und lagen eine eiserne Lampe voll Brennstoff, eine Schale Harz, Lederriemen, beschriebenes Pergament und verschiedenste Werkzeuge. Wie so oft war er so tief in seiner Arbeit versunken, dass er nicht zu bemerken schien, wie sich Amriss und Llwina ihm näherten.

„Hallo Teth“, grüßte ihn Amriss.

„Hallo Amriss“, erwiderte er monoton, geradezu aus Gewohnheit. Dabei sah er nicht einmal für einen kurzen Augenblick von den Drähten zwischen seinen Fingern auf.

„Llwina und ich, wir wollten uns anschauen, woran du arbeitest“, erklärte Amriss ungeachtet der mürrischen Begrüßung.

„Hast du Llwina denn schon das Windrad gezeigt?“, fragte Teth.

„Eigentlich wollte ich ihr zeigen, wozu das Windrad dient“, sagte sie. Ein Lächeln huschte über Teths Gesicht, als er zu begreifen schien, dass er es nicht leicht haben würde, Amriss abzuwimmeln.

„Wozu das Windrad dient, ist …“, sagte er gedehnt, und versuchte scheinbar, den letzten Arbeitsschritt zu vervollständigen. „Es wandelt kinetische Energie in elektrische Energie um. Die elektrische Energie wird dann in die Siedlung geleitet, hier, zu der Laterne, wo sie einen Funken erzeugt, und der Funke entzündet wiederum den Brennstoff in der Laterne.“

Endlich hob Teth den Kopf und ein sonniges Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus.

„Wollt ihr es mal in Aktion sehen?“, fragte er.

„Klar, wieso nicht?“, sagte Amriss. „Was meinst du, Llwina?“

Ihre Cousine sah zu ihr auf.

„Ist das das Geisterlicht, von dem du mir erzählt hast?“

„Sieht ganz so aus.“

„Ja! Ja, das will ich sehen!“, rief Llwina.

Teth legte die Drähte beiseite und nahm einen kleinen Schalthebel zur Hand, den er offenbar bereits in das Konstrukt integriert hatte. „Dann pass gut auf“, sagte er und drückte den Schalter herunter.

In der eisernen Lampenfassung blitzte ein Funke auf. Schlagartig entzündete sich der Brennstoff.

Llwina zuckte, als sich die Flamme entfachte, doch überwand den Schreckmoment schnell. Voller Faszination starrte sie in das tanzende Feuer im Inneren der Laterne.

„Nicht schlecht, Bruderherz“, sagte Amriss.

Er grinste immer noch, und war offenbar sehr zufrieden mit seiner Arbeit.

„Sag mal, was hältst du davon, bei Ma und Pa zu Mittag zu essen?“, fragte Amriss. „Natürlich nur, wenn du hungrig bist. Llwina und ich, wir müssen noch etwas Zeit totschlagen, bis sich Tante Hallwa in ihrem neuen Zuhause eingerichtet hat.“

„Um ehrlich zu sein könnte ich einen Bissen vertragen, und eine Pause käme auch nicht ungelegen“, sagte Teth. „Gib mir nur einen Moment, dann komme ich mit.“ Mit wenigen Handgriffen räumte er seine Werkzeuge zusammen, löschte das brennende Feuer, und stand auf.

Amriss ging einige Schritte voraus, doch blieb noch einmal stehen, da ihr niemand zu folgen schien.

„Llwina“, sprach Teth ihre Cousine an. „Warte noch einen Augenblick.“ Er zog ein Holzstück aus einer Hosentasche und hielt es dem Mädchen hin. Llwina nahm den Klotz zögerlich entgegen.

„Was ist das?“, fragte sie.

„Oh, nichts besonders. Nur eine kleine Rätselkiste“, sagte Teth. „Im Inneren befindet sich ein Geschenk. Wenn du sie aufkriegst, darfst du es behalten.“

„Kenne ich das Modell schon?“, fragte Amriss.

Teth lächelte amüsiert.

„Ich dachte, du wärst inzwischen zu alt für solche Spielzeuge.“

„Wenn du noch nicht zu alt bist, um welche herzustellen, bin ich noch nicht zu alt, um sie ausprobieren.“

„Na, wenn das so ist, muss ich dir nächstes Mal wohl auch so ein Kästchen basteln“, sagte Teth. Er zerzauste Llwinas Haare im Vorbeigehen. „Komm, Llwina. So wie ich Ma kenne, hat sie schon längst mit dem Kochen angefangen.“

Llwina sah sich um als wäre sie mit ihren Gedanken in einer völlig anderen Welt gewesen. Der Holzblock schien sie in seinen Bann gezogen haben, und sie konnte sich offenbar kaum davon abhalten, die Steckverbindungen und Gelenke an dem Spielzeug zu untersuchen. Amriss musste sie mehr als einmal bei der Schulter berühren, um sie zum Weitergehen aufzufordern.

Auf dem Weg zu der Hütte von Amriss’ und Teths Eltern gelangten sie am Haus der Ältesten vorbei, dem größten Bauwerk in ganz Hafgard. Im Gegensatz zu den meisten Hütten bestand es nicht nur aus einem einzigen, riesigen Giebel und bot zwischen seinen Wänden Platz für alle Bewohner der Siedlung. Wie der Name vermuten ließ, wurde es jedoch hauptsächlich von den Ältesten als Rathaus und für deren Riten zur Anbetung der Vorfahren genutzt.

Durch die geöffneten Schiebetüren an der Vorderseite erhaschte Amriss einen Blick ins Innere, wo die Älteste Oreba in ihrem, reich mit Fellen und Tiergebeinen geschmückten Gewand auf dem Boden kniete und betete.

Obwohl es ein sonniger Tag war, überkam Amriss im Vorbeigehen ein schauriges Frösteln. Sie ahnte den Grund dafür, und vermied es normalerweise, hochzusehen, doch an diesem Mittag schien sie irgendetwas dazu zu bewegen, es dennoch zu tun.

Über ihr, an dem Giebel des Hauses, hing ein riesiger Schädel, wie er kein zweites Mal in ganz Hafgard zu finden war. Jedes Mal, wenn Amriss ihn ansah, geriet ihr Atems ins Stocken. Die Kieferknochen und Fänge ließen eine Verwandtschaft zu Bären oder wilden Hunden erahnen, doch der Übergang von Nasenrücken zu Stirn, die kurzen Hörner und auch die erstaunliche Größe passten zu keinem lebenden Tier, das Amriss jemals gesehen hatte. Sie wusste nur aus Erzählungen, dass dieser Schädel von einer Lioma stammte, – einem Weibchen der Lioma-Spezies, – und dass ein Jäger sie vor 29 Jahren in der Nähe der Siedlung erlegt hatte, nicht lange, bevor Teth gefunden worden war. Es war angeblich das erste und einzige Mal gewesen, dass Lioma in Hafgard gesehen wurden.

Nur mit Mühe gelang es Amriss, den Blick von den Knochen abzuwenden. Vollkommen unbeabsichtigt war sie vor dem Hauseingang stehen geblieben.

„Was ist los, Amriss?“, fragte Teth, der scheinbar auf sie wartete und zu ihr zurücksah. „Jagen dir die Knochen immer noch Angst ein?“

„Natürlich nicht“, behauptete sie. „Du weißt doch, dass ich mich schon seit Jahren nicht mehr davor fürchte.“

Zumindest würde sie es nicht als Furcht bezeichnen. Es war eher eine Art Seelenschmerz, den der Anblick in ihr auslöste. Die Gründe dafür verstand sie selbst nicht so recht. Manchmal glaubte Amriss, es sei die unergründliche Trauer, mit der das Tier einst gestorben war, die sie im Vorbeigehen spürte. Dabei hatte Teth ihr eigentlich beigebracht, dass sich alle Dinge logisch erklären ließen, und dementsprechend unsinnig empfand sie die Vorstellung von Tiergeistern. Nur dieser Schädel ließ sie daran zweifeln.

Amriss schüttelte die schaurigen Gedanken aus ihrem Kopf und holte schnellen Schrittes zu ihrem Bruder und ihrer Cousine auf. Ein paar Hütten weiter zog das Geräusch von plätscherndem Wasser und Hammerschlägen ihre Aufmerksamkeit auf sich. Es stammte von dem Nachbarn ihrer Eltern, der von einer Leiter aus versuchte, einen Pflock in das Loch der Wasserleitung über seinem Giebel zu schlagen.

„Was tust du da, Heffnen?“, fragte Teth den glatzköpfigen, schwarzbärtigen Mann.

Heffnen warf einen zornigen Blick zu ihm hinunter.

„Du kommst gerade recht!“, rief er und zeigte auf den Boden unter seiner Hütte. „Sieh, was dein verfluchtes Gebilde angerichtet hat!“

Das Wasser umspülte die Pfähle der Plattform, auf der sein Zuhause gebaut war, und ein Rinnsal bahnte sich bereits den Weg in den Rest der Siedlung. „Wenn meine Hütte den Hang hinunter rutscht, ist das allein deine Schuld!“, sagte er und drohte Teth mit dem erhobenen Hammer.

Teth ließ sich davon nicht einschüchtern.

„Wieso hast du mich nicht zu Hilfe gerufen?“, fragte er. „Du kannst nicht einfach einen Pflock hinein schlagen. Im schlimmsten Fall reißt das Holz.“

„Und was passiert dann? Wird die halbe Siedlung unter Wasser gesetzt? Vielleicht besinnen sich die Ältesten endlich wieder auf die Lehren der Vorfahren, wenn sie sehen, was für ein Unglück deine Basteleien über uns bringen.“

Heffnen begann, von der Leiter herunterzuklettern.

Angesichts der hitzigen Diskussion, die sich anbahnte, zog sich Llwina hinter ihre erwachsenen Familienmitglieder zurück.

„Ich möchte deine Hilfe nicht“, sagte Heffnen. „Ich habe nie darum gebeten, dass irgendwer dieses Ding über mein Haus baut! Ich hatte nie ein Problem damit, das Wasser vom Fluss zu holen.“ Heffnen setzte seine Füße auf die schlammige Erde, die sein Haus umgab und deutete mit einem Nicken zu dem Giebel über ihm. „Abgesehen davon verdeckt es die Jagdtrophäe meines Sohnes!“

„Welche Jagdtrophäe?“, fragte Amriss, als es über ihnen knackte, der Pflock sich aus dem Loch löste und ein Strahl Wasser erneut auf den Boden vor der Hütte platschte. Mit einem genervten Schnaufen schob sich Teth an Heffnen vorbei und zog im gleichen Moment den Hammer aus seiner Hand.

„Du hast doch sicher nichts dagegen, wenn ich mir den kurz borge, nicht wahr?“, fragte er.

Heffnen folgte ihm bis an den Fuß der Leiter.

„Bleib hier! Ich war noch nicht fertig mit dir!“, rief er, doch Teth kletterte mit dem Griff des Hammers zwischen den Zähnen hinauf. Von oben zeigte er auf einen Stapel flacher Hölzer in der Nähe des nächsten Gerüsts, über das der Wasserzulauf durch die Siedlung geführt wurde.

„Amriss, wärst du so gut?“, sagte er nur, woraufhin Amriss loslief und eines der Bretter zum Abdichten des Lochs holte. Sie erklomm die gegenüberliegende Seite der Leiter und drückte das flache Holzstück auf das Loch.

Während sie das Leck geschlossen hielt, suchte Teth in der Tasche an seinem Werkzeuggürtel nach einer Handvoll gehärteter Dornen des Finsterdornstrauchs, die in Hafgard anstelle von Eisennägeln verwendet wurden.

„Wie oft willst du noch etwas reparieren, ehe sich der Schaden nicht mehr beheben lässt?“, meckerte Heffnen unter ihnen weiter. „Ich ahne es doch, – diese komischen Laternen, an denen du herumbastelst, werden noch die gesamte Siedlung in Brand stecken! Man sollte dir-!“

Weiter kam er nicht, dank des Schwall kalten Wassers, der ihm ins Gesicht klatschte.

„Hoppla“, rief Amriss, die mit einem breiten Grinsen das Brett zurück über das Loch schob.

Teth lachte. „Guter Treffer“, sagte er.

Sogar Llwina kicherte, als Heffnen das Wasser aus seinem Gesicht rieb.

Teth stopfte ein Stück Leinen unter das provisorische Holzbrett und klopfte eine Reihe der Naturnägel schräg hinein, um es über dem Loch zu fixieren. Unterdessen entdeckte Amriss die Jagdtrophäe, von der Heffnen gesprochen hatte. Über der Tür seiner Hütte hing der Schädel eines rehähnlichen Tiers, das ungefähr doppelt so groß wie ein Hirsch gewesen sein musste. Sein prächtiges Geweih ähnelte zwei kleinen Bäumen, und es war erstaunlich gut erhalten, dafür, dass das Tier höchstwahrscheinlich keines natürlichen Todes gestorben war.

„Ist das der Schädel eines Galinths?“, fragte Amriss erschrocken. Die Galinth waren in und um Hafgard so selten geworden, dass sich die Hafgarder nicht mehr sicher waren, ob sie die Region um Hafgard schlichtweg mieden oder ob sie so gut wie ausgestorben waren. Nur ein einziges Mal auf all ihren Jagdzügen und Reisen hatte Amriss einen Galinth entdeckt. Der Moment war das gewesen, was andere Jäger oft als magisch beschrieben, wenn sie in der Wildnis Zeuge des ein oder anderen kleinen Wunders wurden.

Hafgard hatte es nicht nötig, Lioma oder Galinth umzubringen. Erst recht nicht, um sich mit ihren Überresten zu schmücken. Heffnens mangelnder Respekt vor der Natur brachte die Wut in Amriss zum Brodeln.

„Da staunst du nicht schlecht, was?“, fragte Heffnen. Er lächelte voller Stolz, ungeachtet der zornigen Blicke, die sie in seine Richtung schickte. „Ein echter Galinth! Ich wette, so etwas ist dir noch nie vor den Bogen gelaufen.“

„Wenn du wüsstest …!“, murrte sie verärgert. „Was fällt deiner Familie ein, einen Galinth zu erlegen? Hast du irgendeine Vorstellung davon, wie selten die sind?“

„Natürlich habe ich die. Eine seltene Trophäe wie diese bewirkt einen ebenso großen Segen wie der Schädel am Haus der Ältesten.“

Sie nahm ihre Hände von dem Brett und stemmte die geballten Fäuste in ihre Hüfte. Da Teth das Loch jedoch geflickt hatte, blieb ein zweiter Regenguss auf Heffnen leider aus.

„Dummes Geschwafel“, grummelte auch Teth.

Er stieg die Leiter hinunter und übergab Heffnen den Hammer mit einem strengen Blick. Amriss stellte sich an die Seite ihres Bruders.

„Der Schädel am Haus der Ältesten hätte niemals aufgehängt werden dürfen“, sagte sie, „und hätte es mich damals schon gegeben, dann hätte ich es zu verhindern gewusst!“

„Ihr undankbaren Geschwister! Hätten die Jäger damals nicht getan, was sie für richtig hielten, gäbe es deinen Bruder heute nicht!“

Teths Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen.

„Das ist reine Spekulation. Niemand weiß, was tatsächlich mit meinen leiblichen Eltern passiert ist.“

„Deine leiblichen Eltern wurden mit Haut und Haaren verschlungen. Das ist die einzig plausible Erklärung, und das weißt du.“

Anscheinend konnte Teth das nicht widerlegen, denn er starrte lediglich verärgert zurück. Um zu verhindern, dass sich die Diskussion weiter zu einer persönlichen Angelegenheit entwickelte, schritt Amriss ein.

„Die Jäger hätten den Schädel trotzdem nicht mitbringen dürfen, geschweige denn aufhängen. Sich gegen Raubtiere zu verteidigen ist eine Sache, Trophäen zu sammeln eine andere.“

Sie war erstaunt, als Teth seine Hand auf ihre Schulter legte, anstatt sie weiter zu unterstützen. „Lass es gut sein, Amriss. Dieser Schwachkopf versteht es ja doch nicht“, sagte er leise, ging zu Llwina und führte ihre sie an der Hand fort. „Komm, Llwina. Wir reden nicht mit bösen Leuten.“

Im Gegensatz zu ihrer kleinen Cousine warf er keinen Blick zurück.

Amriss folgte ihnen zuerst nicht. Mit ihren Händen auf den Hüften warf sie Heffnen einen letzten, vernichtenden Blick zu.

„Wunder dich nicht, Heffnen, wenn du eines Morgens aufwachst, und der Schädel von deinem Giebel verschwunden ist!“, drohte sie ihm, drehte sich um und stapfte davon.

„Wag es nur, Amriss! Wenn du ihn stiehlst, sorge ich höchstpersönlich dafür, dass du aus Hafgard verbannt wirst!“, schallte ihr hinterher. Sie schaffte es mit Mühe und Not, nicht Idiot zurückzubrüllen, obwohl ihr das Wort laut genug durch den Kopf schoss, um versehentlich ihre Lippen zu verlassen.

Nicht einmal eine Minute später kehrten Amriss, Teth und Llwina bei den Eltern der Geschwister ein. An der Rauchfahne über der Hütte war schon aus der Entfernung zu erkennen gewesen, dass darin gekocht wurde, und die Tür stand einladend weit offen. Kaum, dass Amriss, Teth und ihre Cousine im Türrahmen erschienen, bemerkte auch Amriss’ Mutter die Besucher. Sie war eine kleine, rundliche Frau, deren kurze Haare lange nicht mehr so kräftig dunkelbraun waren wie die ihrer Tochter. Ihr Gewand war schlichter als das von Amriss, da sie weder einen Waffenrock, noch Taschen, Messer oder Köcher bei sich trug.

„Amriss! Schön, dass du vorbeikommen konntest“, begrüßte sie Amriss. „Und deinen Bruder hast du auch mitgebracht.“

„Hallo, Innis“, grüßte Amriss sie, wie auch Teth. „Hallo, Ma.“

Llwina war inzwischen wieder so sehr mit der Rätselkiste beschäftigt, dass die Begrüßung gänzlich an ihr vorbei ging.

Innis winkte sie hinein.

„Kommt, kommt! Das Essen ist gleich fertig.“

Die Hütte von Amriss’ Eltern war nicht gerade klein, obwohl sie von außen den Eindruck vermittelte, dass nur eine Person darin lebte. Sie bestand aus einem einzigen Raum, in dem zwei Betten, ein Tisch und Stühle, eine Truhe und sogar eine Ecke zum Kochen Platz gefunden hatten. Früher hatte Amriss’ Mutter für das Dorf verschiedene Heilpflanzen gesammelt. Heute überließ sie das Sammeln den Jüngeren und kochte nur noch. Ähnliches galt für Amriss‘ Vater Dewe, von dem sie ihr Talent zum Jagen geerbt hatte. Auch er hatte schon vor ein paar Jahren sein Handwerk aufgegeben.

Dewe hob eine Hand. „Hallo Kinder“, sagte er, ohne von dem Stuhl am gedeckten Tisch aufzustehen. Abgesehen von den Linien des Alters und den Narben vergangener Kämpfe, die ihn zeichneten, war er immer noch in guter Verfassung. Seine schwarzen Haare trug er im Nacken zusammen gebunden, und über seinen Schultern hing ein Wildschweinfell, das den Eindruck erweckte, er wäre erst vor kurzem von der Jagd zurückgekehrt.

Als Llwina gedankenverloren an Innis vorbei zum Tisch ging, legte Amriss’ Mutter ihre Hände auf die Schultern des Mädchens und hielt sie auf. Erst aufgrund der Berührung schaute Llwina hoch.

„Na, Llwina. Was hast du denn da?“, fragte Innis.

„Teth hat es mir gegeben“, erzählte sie mit stolzem Lächeln und hielt den Holzklotz in ihren Händen hoch.

„Es ist eine Rätselkiste, sagt er.“

Der freudige Ausdruck verschwand von Innis’ Gesicht. Mit einem leisen Seufzer und einer einfachen Handbewegung wies sie Llwina an, sich an den Tisch zu setzen.

„Teth, also wirklich …“, tadelte sie ihren Sohn. „Du sollst Llwina doch nicht mit deinem Wissenschaftskram anstecken.“

Amriss sah ihrem Bruder an, dass er sich bemühte, nicht genervt die Augen zu verdrehen. „Es ist doch nur ein Spielzeug aus Holz, vollkommen ungefährlich. Luminas ist viel fortschrittlicher als wir. Glaub mir, wenn die heiligen Vorfahren bereits wütend auf die Städter sind, habe ich es nicht schlimmer gemacht.“

Obwohl Teth einen guten Kopf größer war als seine Mutter, ließ sie sich nicht von ihm einschüchtern. „Das Mindeste, was du tun könntest, ist, Hallwa um Erlaubnis zu fragen. Wenn Llwina meine Tochter wäre, würde ich es so wollen.“

Amriss lachte leise.

„Ach, aber wegen deiner eigenen Tochter musste er nicht fragen?“

„Ich hatte ja wohl kaum eine Wahl bei dir. Was hätte ich denn tun sollen? Euch voneinander trennen? Das hätte ich nicht übers Herz gebracht.“

Um von dem leidigen Thema abzulenken, ging Amriss zu dem leise brodelnden Topf. Darin köchelte eine Mischung aus Gemüse und Hasenfleisch im eigenen Saft. Amriss sog die warme Luft tief ein.

„Das riecht mal wieder gut, Ma.“

Wie erhofft ließ ihre Mutter von ihrem Bruder ab, und gesellte sich zu ihr vor das Feuer. Sie nahm einen großen Holzlöffel zur Hand und durchmengte den Inhalt des Topfes.

„Natürlich tut es das. Ich habe zwei Hasen gekauft, weil ich gehofft hatte, dass ihr alle zu Besuch kommt. Sag mal, Amriss, die Hasen hast du mir doch nicht etwa geschossen?“

„Woher soll ich das denn wissen?“, antwortete Amriss. „An denen ist ja nichts mehr dran. Auf dem Markt hätte ich meine Beute vielleicht noch wiedererkannt.“

Hinter ihr schien sich Dewe mit ihrem Bruder zu unterhalten.

„Du weißt doch, dass sie sich nur Sorgen macht. Du sollst nur vorsichtig sein, bei dem, was du tust.“

„Ich könnte kaum noch vorsichtiger sein, Pa. So wie du dich der Jagd zum Wohl des Stammes verschrieben hast, habe ich mich der Wissenschaft verschrieben, und wir müssen beide ein gewisses Risiko eingehen, um dem Stamm zu helfen.“

Dewe seufzte. „Ich hoffe inständig, dass dir die Vorfahren eine Warnung schicken werden, wenn du einmal zu weit gehst.“

Von den Vorfahren wollte Teth selbstverständlich nichts hören. Zwar könnte er seinen Eltern erzählen, dass es so etwas wie alles sehende Vorfahren und Flüche nicht gab, doch das Thema hatten er, Amriss und ihre Eltern schon unzählige Male diskutiert, und sie waren sich diesbezüglich nie einig geworden. Außer darin, dass sie sich besser nicht darüber unterhielten.

„Ach“, stieß Teth aus. „Lassen wir das. Wir wissen doch, wohin das führt.“

Innis wandte sich zurück an den Älteren der Geschwister. „Möchtest du auch eine Portion haben, Teth? Oder fastest du diese Woche wieder?“

„Du weißt doch, dass ich nicht faste, Ma“, antwortete er. „Ich brauche einfach nicht mehr. Aber nur keine Sorge, heute nehme ich gerne auch etwas von deinem Eintopf.“

Innis ließ sich von ihren Familienmitgliedern die Holzschalen herüberreichen und füllte jede mit einer üppigen Portion des Eintopfs. Bis auf Llwinas Mutter Hallwa saß die gesamte Familie zusammen bei Tisch. Sie unterhielten sich über die Belange der Siedlung, und Amriss’ Reisen durch Hafgard. Amriss hätte gern mehr über das ferne Luminas erfahren, doch ihre kleine Cousine rätselte so intensiv an Teths Holzkästchen herum, dass sie sie nicht dabei stören wollte.

Gegen Abend verabschiedeten sich die Geschwister und machten sich auf den Weg zurück zu ihren eigenen Hütten. Innis’ obligatorischer Umarmung an der Türschwelle entkamen weder Teth noch Amriss.

Die Sonne war bereits hinter dem Berghang verschwunden, als die Beiden ihr Zuhause erreichten. Wie viele andere Hafgarder lebten auch sie in zwei Hütten, die fernab der Siedlung lagen. Ihre Eltern hatten einst an diesem Ort gewohnt, umgeben von nichts anderem als Wald und Wiesen, bis sie in den Kern der Siedlung umgezogen waren, um mit fortschreitendem Alter dem Rest der Gemeinschaft näher zu sein. Das war vor zwölf Jahren gewesen, als Amriss gerade einmal dreizehn Jahre alt gewesen war. Damals hatte sie vor der Entscheidung gestanden mit ihren Eltern in die Siedlung zu ziehen, oder bei ihrem großen Bruder zu bleiben, der die Abgeschiedenheit und den Platz, den die einsamen Hütten boten, bevorzugt hatte.

Amriss erinnerte sich, dass sie nicht lange überlegen musste.

Keine Eltern, nur die Natur und ihr nachgiebiger Bruder, der auf sie Acht gab? Würde man sie heute vor die gleiche Wahl stellen, würde sie sich nicht anders entscheiden.

Die beiden Hütten ihrer Eltern hatten die Geschwister unter sich aufgeteilt. Ein niedriger Wall aus Pfählen schützte sie vor dem Eindringen wilder Tiere, und den Vorplatz dazwischen nutzten Amriss und Teth gemeinsam, obwohl Teths angefangene Projekte den meisten Platz davon in Anspruch nahmen. Bei den Objekten, die um die Hütten herum lagen, handelte es sich vorwiegend um alte Metallteile, die Amriss und Teth aus der nächstgelegenen Ruine geborgen hatten. Abgesehen von Transformatoren und Platinen, wie er einige der vorzeitlichen Bauteile nannte, sammelte er auch allerlei Rohmaterialien, darunter auch Erze und Brennstoffe, und besaß eine regelrechte Unzahl von Werkzeugen. Manche davon hatte er selbst erfunden, und Amriss war der Ansicht, dass nicht alle davon sinnvoll waren.

Trotz seines, oft als blasphemisch angesehenen Wissendursts repräsentierte ihr Bruder den Fortschritt, zu dem Amriss’ geliebtes Zuhause fähig war. Wahrscheinlich war es nur deswegen, dass ihm der Älteste Zerm hin und wieder Geld dafür gab, wenn er seine Erfindungen in der Siedlung aufbaute.

Im Gegensatz zu ihrem Bruder verdiente Amriss ihr Geld auf traditionelle Weise, indem sie jagte, oder Besorgungen für die verstreut lebenden Hafgarder erledigte. Bereits am nächsten Morgen würde sie erneut zu einer kleinen Rundreise aufbrechen, um verschiedene Aufträge für andere Hafgarder zu erfüllen.

Sie lag auf dem Schlafplatz in ihrer Hütte und ging in Gedanken noch einmal jedes Reiseziel durch, während sie das Regalbrett an der Wand über sich anstarrte.

Eine Sammlung aus Holz geschnitzter Tiere saß darauf. Jedes davon war nur so groß wie ihre Handfläche und über die Jahre hinweg hatten Spinnen dazwischen ihre Netze gezogen. Die Figuren stammten aus ihrer Kindheit. Teth hatte sie aus den Zweigen eines Strauchs geschnitzt. Die Sammlung beinhaltete je ein Exemplar aller ihnen bekannten Tiere, darunter auch einen Galinth und Lioma.

Amriss’ Gedanken drifteten fort, in die Vergangenheit, die Zukunft und zurück zur Gegenwart, bis sie gänzlich von der Gedankenleere des Schlafes eingeholt wurde.

Kurz nach Sonnenaufgang stand Amriss auf. Sie ließ sich bei der Vorbereitung ihrer Abreise ausgiebig Zeit, um ihrem Bruder die Gelegenheit zu geben, wach zu werden, und ihr wie gewohnt beim Frühstück Gesellschaft zu leisten. Teth war ein Langschläfer, was bedeutete, dass er zu dieser Tageszeit üblicherweise noch nicht auf den Beinen war. Trotzdem hatte er sie noch nie ziehen gelassen, ohne sich zumindest von ihr zu verabschieden.

Spätestens während des Frühstücks hätte Amriss erwartet, dass er sich zu ihr setzte oder zumindest zu sehen, wie sich die Tür seiner Hütte öffnete, doch der Aufbruch rückte stetig näher, und sie hatte an diesem Morgen noch nicht einmal seine Stimme gehört. Aus Sorge entschied sie, nach ihm zu sehen. Amriss erklomm die Stufen seiner Hütte und klopfte an.

„Hey, Bruderherz. Bist du wach?“

Ein unverständliches Gezeter und Gemurmel schallte dumpf durch die Tür.

„Wie bitte?“, fragte sie.

„Ich schlafe noch“, rief Teth missmutig zurück.

„Wirklich? Du redest gerade mit mir.“

„Ich rede im Schlaf.“

„Seit wann?“

„Seit eben.“

„Hör mal, Teth“, setzte Amriss von Neuem an. „Ich will jetzt aufbrechen, also wenn du mir noch etwas sagen möchtest, tu es jetzt, oder du musst es aufschieben, bis ich in einer Woche wieder zurück bin.“

„Warte noch! Warte, ich bin gleich bei dir.“

Ein Scheppern erklang hinter der Tür, und Amriss nahm an, dass Teth entweder aus dem Bett gefallen war, oder beim Aufstehen etwas umgestoßen hatte. Das Schloss klackte, die Tür öffnete sich, und dahinter erschien ihr Bruder.

Mit schläfrigen Augen blinzelte Teth sie an.

Amriss wusste nicht, was sie bei seinem Anblick sagen sollte. Sie hätte nicht gedacht, dass seine wilden Locken noch zerzauster aussehen konnten, und er wirkte, als könnte er binnen eines Wimpernschlags wieder einschlafen, wenn er es zuließ. Darüber hinaus zog sich ein langer Riss entlang seines Hemdsärmels. Teth rieb über sein müdes Gesicht und seinen Hals, wodurch Amriss eine gerötete, kreisrunde Stelle an seiner Kehle bemerkte.

„Was ist denn mit dir passiert?“, brachte sie hervor.

„Ich habe schlecht geschlafen, sieht man das denn nicht?“, antwortete er mit einem Seufzen in der Stimme. Teth legte einen Finger an die Verletzung. „Irgendetwas hat mir mitten in der Nacht einen Stromschlag verpasst.“

„Ausgerechnet am Hals? Sag bloß, dich hat eine deiner Erfindungen angefallen?“

„Was? Nein, natürlich nicht. Ich meine, das ist rein physikalisch nicht möglich. Hier.“

Teth trat zur Seite, sodass sie an ihm vorbei ins Innere der Hütte sehen konnte. Abgesehen von seinem Bett besaß er lediglich einige Tongefäße und Kisten, in denen er Rohstoffe lagerte, die vor der Witterung geschützt werden mussten. Dazwischen und darauf stapelten sich technische Skizzen, Bücher und Bauteile.

„Siehst du? Da bewegt sich nichts aus eigenem Antrieb.“

„Aber woher stammt dann die Verletzung?“, fragte sie.

„Ich weiß es nicht. Ich habe letzte Nacht nicht einmal ein Gewitter gehört.“

Obwohl sich Amriss um seine Gesundheit sorgte, konnte sie nur annehmen, dass, was auch immer geschehen war, mit seinen Basteleien zu tun hatte. Das sagte ihr ihre Erfahrung. Bei der Arbeit an dem Windrad hatte er mehr als einmal einen Stromschlag abbekommen. Sie erinnerte sich noch gut daran, dass er danach noch minutenlang seine Hand nicht bewegen konnte.

„Wie schlimm ist es?“, fragte sie.

„Es kribbelt noch ein wenig. Der Schmerz war nicht allzu heftig. Ich konnte nur wegen des Krampfs nicht wieder einschlafen.“ Teth gähnte herzhaft. „Wenn du wüsstest, was ich für eine Nacht hatte. Zuerst dieser Albtraum, dann der Stromschlag, und dann muss sich mein Hemd noch an einem Nagel verfangen haben, als ich aufgeschreckt bin.“

Seine Worte machten Amriss neugierig.

„Was für ein Albtraum?“

„Ich habe geträumt, ich wäre ein Tier. Mit Pfoten und Pelz und so.“

Er schüttelte den Kopf als wollte er die Erinnerung daran loswerden. „Ach, du weißt, wie seltsam Träume manchmal sind.“

Teth holte hinter der Tür ein Stück Pergament hervor und hielt es ihr hin. „Hier“, sagte er. „Eine Wegbeschreibung. Cessair hat mir gestern noch erzählt, dass die Brücke im Westen eingestürzt ist. Ich habe deine Reiseziele so umgeordnet, dass du dadurch möglichst wenig Zeit verlierst.“

Amriss nahm das Papier entgegen und überflog das Gekritzel ihres Bruders. Er hatte sich selbst, wie auch ihr, einst das Lesen und Schreiben beigebracht. Beides waren Fähigkeiten, die andere Hafgarder nicht besaßen.

„Danke“, murmelte Amriss.

„Bitte pass auf dich auf, wenn du unterwegs bist.“

Amriss lächelte ihn an. „Aber das tue ich doch immer.“

„Es kann nicht schaden, dich daran zu erinnern“, sagte Teth. „Wenn dir etwas zustößt, macht mich Ma einen Kopf kürzer, das weißt du.“

„Dann wärt ihr endlich mal auf einer Augenhöhe“, spaßte sie, ging die Stufen vor seiner Hütte hinab, und drehte sich noch einmal zurück. „Bis bald, Bruderherz.“

Mit diesen Worten machte sie sich auf den Weg zu den Pfaden von Hafgard, und, obwohl sie nicht hinter sich sah, wusste sie, dass Teth ihr noch hinterher blickte, bis sie im Schatten des Waldes verschwand.

DER BEGINN VON ETWAS NEUEM

Was an diesem Morgen begann, stellte sich als eine lange, jedoch nicht sehr ereignisreiche Reise heraus. Mit Ausnahme von nur einem Zwischenfall. In der Nähe eines Pfads hatte Amriss ein Banditenlager erspäht und die Jäger aus dem nahegelegenen Jagdgrund zu Hilfe gerufen. Mit vereinten Kräften war es ihnen gelungen, das Pack zu zerschlagen. Einige Banditen waren lebend entkommen, und Amriss schätzte sich glücklich, dass sie keinen der Männer tödlich getroffen hatte. Sie hob ihren Bogen nie gern gegen Menschen, obwohl sie verstand, dass ein Kampf gegen Räuber immer einen Kampf um Leben und Tod bedeutete.

Von diesem Vorfall abgesehen hatte Amriss einen halben Tag ihrer Reise bei der alten Tehesa verbracht, um ihr Gesellschaft zu leisten und ihren Geschichten zu lauschen. Die einsame Schamanin hatte ihr ein Märchen aus ihrer Kindheit erzählt. Damals, wenn die Kinder die Ratschläge ihrer Eltern nicht befolgten, hatten diese ihnen gesagt, eine Kreatur, halb Mensch, halb Bestie würde sie holen und verschlingen. Amriss fand die Geschichte amüsant, denn selbst im Alter von zehn Jahren hätte man ihr damit keine Angst einjagen können.

Mit ein paar neuen Schrall und Gitt in ihrem Geldbeutel, einem toten Hasen und einem Vogel an den Gürtel gebunden, und einem Köcher, der trotz der Begegnung mit Wildtieren und Banditen immer noch halbvoll war, kehrte Amriss in die Siedlung zurück.