Umschlag

James N. Frey, erfolgreicher Autor mehrerer Romane, lehrt kreatives Schreiben an der University of California.

© Deutsche Erstausgabe 1998 bei Hermann-Josef Emons Verlag
© 1994 bei James N. Frey
Titel der amerikanischen Originalausgabe:
How to write a damn good novel 2
Alle Rechte vorbehalten
Übersetzung: Ellen Schlootz
Umschlaggestaltung: Ulrike Strunden, Köln
eBook-Erstellung: CPI – Clausen & Bosse, Leck
ISBN 978-3-86358-363-7

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IN MEMORIAM

Arnaldo Hernandez (1936-1993), der mit Leidenschaft gelebt und geschrieben hat.

DANK

An meine Frau Elizabeth, die die ganzen Sorgen und Ungewißheiten, die das Leben einer Schriftstellergattin mit sich bringt, ertragen muß, und die das Manuskript für dieses Buch mit Geduld und Genauigkeit redigiert hat; an Lester Gorn, von dem ich das meiste, was darin steht, gelernt habe; an Prof. Elizabeth Davis für die vielen großartigen Anregungen, für ihre Begeisterungsfähigkeit und den gelegentlichen Tritt in den Hintern; an Susan Edmiston für ihre scharfen Augen beim Korrekturlesen; und an meine Agentin Susan Zeckendorf, ohne die ich vielleicht immer noch als Schadenssachverständiger dahinvegetieren und meine Tage damit verbringen würde, die Kosten für den Austausch von verbeulten Stoßstangen zu berechnen.

 

»Sag den Leuten, sie sollen so ehrlich wie möglich schreiben. Sag ihnen, sie sollen ihre Figuren sorgsam entwerfen, damit deren Empfindungen und deren Entscheidungen – ihre Handlungsweise in jeder Situation – plausibel für die Figuren ist, die sie sich vorgestellt haben. Und sag ihnen, sie sollen jeden Satz immer wieder darauf abklopfen, ob er tatsächlich das vermittelt, was sie vermitteln wollten. Und sie sollen sich immer wieder fragen, was sagt dieser Satz? Gibt er die Nuancen wieder, die mir vorschweben? Sag ihnen, all das müssen sie tun, wenn sie einen verdammt guten Roman schreiben wollen.«

LESTER GORN

EINLEITUNG

WARUM DIESES BUCH NICHT DAS RICHTIGE FÜR SIE SEIN KÖNNTE

In den Buchhandlungen gibt es jede Menge Bücher für den angehenden Romanautor, die meisten davon sind ganz hilfreich. Einige wenige, wie zum Beispiel Lajos Egris The Art of Dramatic Writing (1946), Jack M. Bickmans Writing Novels That Sell (1989), Raymond C. Knotts The Craft of Fiction (1977), Jean Z. Owens Professional Fiction Writing (1974) und William Foster Harris’ wegweisendes kleines Meisterwerk The Basic Formulas of Fiction (1944) sind ausgezeichnet.

Und dann gibt es natürlich noch James N. Freys Wie man einen verdammt guten Roman schreibt (1993), das mir meine Bescheidenheit zu empfehlen verbietet, obwohl es mehrere Auflagen erreicht hat und überall in Amerika in Roman-Workshops benutzt wird und auch in England und im übrigen Europa nachgedruckt sowie von Writer’s Digest empfohlen wurde, die es allerdings nicht veröffentlicht haben, und…

Egal.

Entscheidend ist, daß es einige verdammt gute Bücher über die Grundlagen des Schreibens von Romanen und Kurzgeschichten gibt, die erklären, wie man dynamische Figuren schafft, Beschaffenheit und Zweck des Konflikts, wie sich Figuren entwickeln, wie man eine Prämisse findet und wie man sie benutzt, wie sich Konflikte zum Höhepunkt steigern und schließlich zur Lösung führen, Erzählperspektive, den Gebrauch von sinnlicher und farbiger Sprache, das Schreiben von guten, flotten Dialogen und so weiter.

Aber dieses Buch hier ist anders.

Es wurde unter der Voraussetzung geschrieben, daß der Leser bereits mit den Grundlagen vertraut ist und mehr wissen will. Dieses Buch enthält weiterführende Techniken, wie man beispielsweise Figuren schafft, die nicht nur dynamisch, sondern unvergeßlich sind, wie man dafür sorgt, daß der Leser sich stärker mit den Figuren identifiziert und Sympathie für sie empfindet, wie man die Spannung steigert, um den Leser zu fesseln, wie man einen Vertrag mit dem Leser schließt und sich daran hält, wie man die sieben Todsünden eines Romanschriftstellers vermeidet und – vielleicht am wichtigsten – wie man mit Leidenschaft schreibt.

Dieses Buch unterscheidet sich noch in einem weiteren Punkt von Büchern für Anfänger: es stellt keine Pseudoregeln auf und präsentiert sie als unumstößliche Wahrheit. Die meisten Bücher über das Schreiben von Romanen sind von Leuten verfaßt, die an einer Universität Kreatives Schreiben unterrichten. Die sind beispielsweise der Meinung, daß Anfänger nicht in der Lage sind, die Perspektive in den Griff zu kriegen. Also legen sie als Pseudoregel fest, daß »man innerhalb einer Szene die Perspektive nicht wechseln darf.« Oder sie finden die Arbeiten ihrer Studenten häufig zu dogmatisch oder zu didaktisch, also stellen sie die Regel auf, daß »der Autor unsichtbar bleiben muß.« Unerfahrenen Autoren, die Schwierigkeiten haben, die passende Erzählerstimme für ihre Geschichte zu finden, wird oft gesagt, »die Ich-Erzählung unterliegt zwar stärkeren Einschränkungen als die Erzählung in der dritten Person, aber sie ist intimer. Wenn Sie also eine größere Intimität erreichen wollen, halten Sie sich besser an die erste Person.«

Derartige Ratschläge und Pseudoregeln sind absoluter Blödsinn, und solche Regeln zu befolgen wäre so, als ob man versuchen würde, mit einem Anker am Fuß Olympiasieger im Schwimmen zu werden.

In Wirklichkeit werden solche Pseudoregeln Anfängern nur deshalb beigebracht, um dem Lehrer für Kreatives Schreiben das Leben zu erleichtern. Die Pseudoregeln geben dem angehenden Autor die Illusion, sein Material im Griff zu haben. Auch ich habe jede Menge Pseudoregeln von einigen der besten Creative-Writing-Lehrern in Amerika gelernt. Ich habe inbrünstig an diese Pseudoregeln geglaubt und Jahre später wiederum meine Studenten damit traktiert. Inzwischen ist mir klargeworden, daß zwischen Pseudoregeln und effektiven Prinzipien ein gewaltiger Unterschied besteht. Pseudoregeln sind Särge; effektive Prinzipien sind Kanonen, die man mit seinem Talent lädt.

In diesem Buch werden viele Pseudoregeln ad absurdum geführt. So werden Sie beispielsweise erfahren, wie man die Perspektive sehr wohl innerhalb einer Szene wechseln kann, wie der Erzähler beinah nach Lust und Laune eingreifen kann (je nach dem, was für ein Vertrag mit dem Leser geschlossen wurde), und wie Sie absolute Intimität erreichen können, egal welche Perspektive Sie wählen.

Wir werden außerdem über Sinn und Unsinn einer Prämisse reden, darüber wie man den Leser den fiktiven Traum träumen läßt, wie man komplexere und unvergeßlichere Figuren schafft und wie man mit Blick auf die formalen Genres schreibt, die zum Beispiel die New Yorker Verlagsindustrie festgelegt hat.

Doch bevor wir beginnen, müssen Sie sich darüber im klaren sein, daß dieses Buch nicht für jeden das richtige ist, selbst wenn sie kein Anfänger sind.

Genau wie in Wie man einen verdammt guten Roman schreibt gelten die hier behandelten Prinzipien des Romanschreibens nur für Werke, die auf Spannung ausgerichtet sind. Wenn Ihnen allerdings eine andere Art von Roman vorschwebt – ob experimentell, modernistisch, postmodern, minimalistisch, symbolisch, philosophisch, ob Memoiren, Metafiktion oder was auch immer nicht auf Spannung aus ist – dann ist dieses Buch nichts für Sie.

Doch wenn Sie einen packenden, emotionsgeladenen und spannenden Roman schreiben wollen und die Grundprinzipien des Romanschreibens bereits beherrschen, dann machen Sie doch einfach mit.

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DER FIKTIVE TRAUM UND WIE MAN IHN HERBEIFÜHRT

TRÄUMEN IST NICHT GLEICH SCHLAFEN

Wenn man im Dienstleistungsgewerbe erfolgreich sein will, muß man wissen, mit was für Wünschen die Leute zu einem kommen und wie man sie befriedigen kann.

Wenn man eine Reinigungsfirma leitet, muß man wissen, daß die Leute glänzende Böden und blitzsaubere Waschbecken mögen. Als Scheidungsanwalt muß man wissen, daß der Klient sich nicht nur eine großzügige Regelung und eine fette Unterhaltszahlung wünscht, sondern auch seine oder ihren Ex leiden lassen will. Romanschreiben ist ebenfalls eine Dienstleistung. Bevor Sie sich hinsetzen, um einen verdammt guten Roman zu schreiben, sollten Sie wissen, was Ihre Leser erwarten.

Wenn Sie Sachbücher schreiben, hängt die Erwartung Ihrer Leser vom Thema ab. Ein Ratgeber für schnelles Reichwerden sollte Kapitel darüber enthalten, wie man sein Selbstvertrauen behält, nicht locker läßt, das Finanzamt austrickst und so weiter. Ein Sex-Handbuch sollte viele Bilder enthalten und einfach frech behaupten, die dargestellten Verrenkungen würden bei den Praktizierenden ein immenses geistiges Wachstum auslösen. Eine Biographie über Sir Wilbur Mugaby sollte alle skandalösen Details aus dem Leben des alten Lüstlings enthalten. Wenn Sie ein Sachbuch schreiben, geht es Ihnen in erster Linie darum, den Leser zu informieren. Ein Sachbuchautor stellt Behauptungen auf und berichtet Tatsachen.

Ein Romanautor behauptet gar nichts, und was er berichtet, sind wohl kaum Tatsachen. Hier kann man sich wenig Wissen im üblichen Sinne aneignen. Alles ist erfunden, absoluter Betrug – eine Schilderung von Ereignissen, die nie stattgefunden haben, und von Leuten, die nie existiert haben. Warum sollte jemand, der auch nur ein bißchen Grips im Kopf hat, einen solchen Schwachsinn kaufen?

Einige der Gründe dafür liegen auf der Hand. Ein Krimileser erwartet, am Anfang vor ein Rätsel gestellt und am Ende von der Genialität des Detektivs verblüfft zu werden. Bei einem historischen Roman hingegen erwartet der Leser, einen Eindruck vermittelt zu bekommen, wie es in der guten alten Zeit war. Bei einem Liebesroman erwartet der Leser eine tapfere Heldin, einen gutaussehenden Helden und jede Menge glühende Leidenschaft.

In The World of Fiction (1956) sagt Bernard DeVoto, daß die Leute »aus Vergnügen lesen… abgesehen von Profis und Halbprofis liest niemand aus einem anderen Grund Erzählliteratur.« Und das stimmt auch; die Leute lesen tatsächlich aus Vergnügen, aber es steckt noch viel mehr dahinter. Von einem Romanautor wird erwartet, daß er den Leser mitreißt. Mitgerissen wird ein Leser, wenn er beim Lesen das Gefühl hat, daß die reale Welt versinkt und er tatsächlich in der Erzählwelt lebt.

Ein Leser, der von einer Erzählung mitgerissen wird, träumt den fiktiven Traum. »So funktioniert«, wie John Gardner in The Art of Fiction (1984) sagt, »unabhängig vom Genre Erzählliteratur.«

Der fiktive Traum wird durch die Kraft der Suggestion erschaffen. Mit Suggestion arbeiten Werbefachleute, Trickbetrüger, Propagandisten, Priester, Hypnotiseure und – nun ja – Romanschriftsteller. Der Werbefachmann, der Trickbetrüger, der Propagandist und der Priester benutzen die Kraft der Suggestion, um zu überzeugen. Der Hypnotiseur und der Romanschriftsteller benutzen sie, um einen veränderten Bewußtseinszustand herbeizuführen.

Wow, sagen Sie, das klingt ja fast mystisch. Und in gewisser Weise ist es das auch.

Wenn die Kraft der Suggestion von einem Hypnotiseur angewandt wird, ist das Ergebnis eine Trance. Der Hypnotiseur setzt Sie auf einen Stuhl und läßt Sie auf einen glänzenden Gegenstand schauen, zum Beispiel einen Anhänger. Der Hypnotiseur läßt den Anhänger sanft hin und her pendeln und sagt mit monotoner Stimme: »Ihre Augenlider werden schwer, Sie spüren, wie sie immer entspannter werden, immer entspannter, während Sie meiner Stimme lauschen… Während Ihre Augen sich langsam schließen, stellen Sie fest, daß Sie auf einer Treppe sind, die immer tiefer hinabführt, immer tiefer, bis zu einem Ort, an dem es dunkel und still ist, dunkel und still…« Und erstaunlicherweise stellen Sie fest, daß Sie sich immer entspannter fühlen.

Der Hypnotiseur fährt fort: »Sie gehen über einen Weg in einen wunderschönen Garten. Hier ist es ruhig und friedlich. Es ist ein träger Sommertag, die Sonne scheint, ein warmer Wind weht, die Magnolien stehen in voller Blüte…«

Während der Hypnotiseur diese Worte ausspricht, erscheinen die Objekte, die er erwähnt, auf einer Leinwand in Ihrem Kopf – der Garten, der Weg, die Magnolien. Sie erleben den Wind, die Sonne, den Duft der Blumen. Sie sind jetzt in Trance.

Der Romanautor benutzt genau die gleichen Mittel, um den Leser in den fiktiven Traum zu versetzen. Der Romanautor setzt nämlich bestimmte Bilder ein, die eine Szene auf der Leinwand im Kopf des Lesers erzeugen. Bei der Hypnose ist der Protagonist der kleinen Geschichte, die der Hypnotiseur erzählt, ein »Sie« oder »du«, und damit das Subjekt. Der Romanschriftsteller kann auch »Sie« oder »du« verwenden, aber üblicherweise benutzt er »ich« oder »er« oder »sie«. Die Wirkung ist die gleiche.

Die meisten Bücher über das Schreiben von Romanen raten dem Autor, »zu zeigen, nicht zu erzählen.« Ein Beispiel für Erzählen ist folgendes: »Er ging in den Garten und fand ihn sehr schön.« Der Autor erzählt, wie es war, und zeigt nicht wie es war. Ein Beispiel für »zeigen« sähe so aus: »Bei Sonnenuntergang betrat er den stillen Garten. Er spürte den sanften Wind durch die Zweige der Stechpalmen wehen und roch den starken Duft von Jasmin in der Luft.«

Wie John Gardner, wiederum in The Art of Fiction, sagt, sind »lebendige Details das Herz jeder Erzählung… der Leser wird regelrecht mit Beweisen versorgt – in Form von genau beobachteten Details… es sind nämlich die konkreten Einzelheiten, die uns in eine Geschichte hineinziehen, die sie uns glaubwürdig machen.« Wenn ein Autor etwas »zeigt«, suggeriert er die sinnlichen Details, die den Leser in den fiktiven Traum ziehen. »Erzählen« hingegen reißt den Leser aus dem fiktiven Traum, weil es von ihm verlangt, daß er bewußt analysiert, was erzählt wird, und das versetzt den Leser in einen Wachzustand. Es zwingt den Leser zu denken, nicht zu fühlen.

Das Lesen von Romanen ist also wie ein Traum auf der unterbewußten Ebene. Deshalb ist den meisten sensiblen Menschen die wissenschaftliche Betrachtung von Literatur zuwider. Literaturwissenschaftler versuchen etwas rational und logisch zu erklären, was einen lediglich in einen Traum versetzen will. Moby Dick zu lesen und dabei die Metaphorik zu analysieren bedeutet, es im Wachzustand zu lesen. Der Autor hingegen möchte, daß der Leser ganz in die Welt der Geschichte eintaucht, daß er mit der Pequod auf der Suche nach einem Wal auf eine Reise um den halben Erdball geht und sich nicht daran festbeißt herauszufinden, wie der Autor es gemacht hat, oder nach einer versteckten Bedeutung der Symbole sucht, als ob das Ganze ein Versteckspiel zwischen Autor und Leser wäre.

Nachdem der Autor ein Gemälde aus Worten für den Leser geschaffen hat, besteht der nächste Schritt darin, den Leser emotional einzubeziehen. Das geschieht, indem man das Mitgefühl des Lesers weckt.

SYMPATHIE UND MITGEFÜHL

Das Thema Sympathie wird von den Verfassern von Anleitungen zum Romanschreiben häufig nur am Rande behandelt. Dabei ist für das Auslösen des fiktiven Traums entscheidend, daß Sie im Leser Sympathie für Ihre Figuren erwecken. Und wenn die Sache mit dem fiktiven Traum nicht klappt, dann haben Sie keinen verdammt guten Roman geschrieben.

Sympathie ist ein häufig mißverstandener Begriff. Einige Verfasser von Anleitungen zum Romanschreiben haben eine Pseudoregel aufgestellt, die besagt, daß der Leser nur dann Sympathie für eine Figur haben kann, wenn diese bewunderungswürdig ist. Das ist ganz offenkundig falsch. Die meisten Leser haben sehr viel Sympathie für eine Figur wie Defoes Moll Flanders oder Dickens’ Fagin in Oliver Twist oder für Long John Silver in Stevensons Schatzinsel. Dennoch sind diese Figuren absolut nicht bewunderungswürdig. Moll Flanders ist eine Lügnerin, Diebin und Bigamistin; Fagin führt Jugendliche ins Verderben; Long John Silver ist ein Schurke, Betrüger und Pirat.

Vor Jahren gab es einen Film mit dem Titel Wie ein wilder Stier über den ehemaligen Boxchampion im Mittelgewicht Jake LaMotta. Der Held des Films schlug seine Frau und ließ sich von ihr scheiden, als er die ersten Erfolge im Ring hatte. Er verführte minderjährige Mädchen, war jähzornig, litt unter Verfolgungswahn und wenn er den Mund aufmachte, kam nur ein Grunzen heraus. Sowohl im Ring als auch außerhalb war er ein absoluter Wüstling. Dennoch löste die Figur des LaMotta, gespielt von Robert De Niro, beim Publikum sehr viel Sympathie aus.

Wie wurde dieses Wunder vollbracht?

Am Anfang des Films ist LaMotta ein absolutes Nichts. Er lebt in Armut und Erniedrigung, und das Publikum hat Mitleid mit ihm. Das ist das Entscheidende: Um beim Leser Sympathie für eine Figur auszulösen, müssen Sie dafür sorgen, daß die Figur dem Leser leid tut. In Victor Hugos Die Elenden wird Jean Valjean eingeführt, wie er müde in einer Stadt ankommt und in den Gasthof geht, um etwas zu essen. Obwohl er Geld hat, wird er nicht bedient. Er kommt fast um vor Hunger. Der Leser muß einfach Mitleid mit diesem unglücklichen Mann haben, ganz gleich, was für ein furchtbares Verbrechen er begangen hat.

•   In Der weiße Hai (1974) führt Peter Benchley seinen Protagonisten Brody ein, als dieser gerade einen Anruf bekommt und ihm mitgeteilt wird, daß er nach einer Frau suchen soll, die im Meer verschwunden ist. Da der Leser bereits weiß, daß die Frau einem Hai zum Opfer gefallen ist, weiß er auch, was Brody bevorsteht. Also wird der Leser Mitleid mit ihm haben.

•   In Carrie (1994) führt Stephen King die Hauptfigur folgendermaßen ein: »Mädchen reckten und dehnten sich unter den heißen Wasserstrahlen, bespritzten sich gegenseitig, warfen weiße Seifenstücke von Hand zu Hand. Carrie stand phlegmatisch inmitten der anderen, ein Frosch unter Schwänen.« King beschreibt sie als dick, pickelig und so weiter. Sie ist häßlich und wird von den anderen aufgezogen. Die Leser haben mit Sicherheit Mitleid mit Carrie.

•   In Stolz und Vorurteil (1813) stellt Jane Austen uns ihre Heldin Elizabeth Bennet auf einem Ball vor, als Mr. Bingley seinen Freund Mr. Darcy zu überreden versucht, mit ihr zu tanzen. Darcy sagt: »›Welche meinst du denn?‹ Er drehte sich um, schaute einige Sekunden lang Elizabeth an, bis er, ihren Blick auf sich ziehend, den seinen abwandte und kühl bemerkte: ›Sie ist leidlich hübsch, aber nicht schön genug, um einen Menschen wie mich zu locken…‹« Ganz bestimmt hat der Leser Mitleid mit Elizabeth, weil sie so gedemütigt wird.

•   In Verbrechen und Strafe (1872) stellt Dostojewskij uns Raskolnikow von einer »peinigenden und feigen Empfindung« ergriffen vor, weil er seiner Wirtin Geld schuldet und in einen »reizbaren und angespannten Zustand« verfallen ist. Der Leser muß zwangsläufig Mitleid mit einem Mann haben, der unter so furchtbarer Armut leidet.

•   Im Prozeß (1937) stellt Kafka uns Josef K. im Augenblick seiner Verhaftung vor. Damit zwingt er den Leser, Mitleid mit dem armen K. zu haben.

•   In Das rote Tapferkeitsabzeichen (1895) begegnen wir Henry, dem Protagonisten, als »jungem, einfachen Soldat« in einer Armee, die kurz davor steht, in die Schlacht zu ziehen. Er hat furchtbare Angst. Natürlich wird der Leser Mitleid mit ihm haben.

•   Das erste, was wir in Vom Winde verweht (1936) über Scarlett O’Hara erfahren ist, daß sie eigentlich nicht schön ist und versucht, einen Mann zu ergattern. In Liebesdingen hat der Leser immer Mitleid mit denjenigen, die noch keinen Partner gefunden haben.

Es gibt noch weitere Situationen, die automatisch beim Leser Sympathie auslösen. Zustände wie Einsamkeit, Ungeliebtsein, Demütigung, Armut, Unterdrückung, Beschämung, Gefahr – praktisch jede Zwangslage, die körperliches oder seelisches Leiden für die Figur bedeutet – werden Mitleid beim Leser erzeugen.

Sympathie ist das Mittel, über das der Leser emotionalen Zugang zu einer Geschichte bekommt. Ohne Sympathie ist der Leser nicht gefühlsmäßig an der Geschichte beteiligt. Nachdem Sie Sympathie erzeugt haben, müssen Sie den Leser noch tiefer in den fiktiven Traum ziehen, indem Sie ihn dazu bringen, sich mit der Figur zu identifizieren.

IDENTIFIKATION

Identifikation wird häufig mit Sympathie verwechselt. Sympathie wird erzielt, wenn der Leser Mitleid angesichts der Notlage einer Figur hat. Doch ein Leser kann auch Mitleid mit einem abscheulichen Schurken haben, der gehängt werden soll, ohne sich mit ihm zu identifizieren. Identifikation tritt ein, wenn der Leser nicht nur Mitleid angesichts der Notlage der Figur hat, sondern auch deren Hoffnungen und Ziele unterstützt und sich ganz stark wünscht, daß die Figur diese auch erreicht.

•   In Der weiße Hai unterstützt der Leser Brodys Ziel, den Hai zu vernichten.

•   In Carrie unterstützt der Leser Carries Verlangen, entgegen dem Wunsch ihrer tyrannischen Mutter zum Schulball zu gehen.

•   In Stolz und Vorurteil unterstützt der Leser Elizabeths Sehnsucht, sich zu verlieben und zu heiraten.

•   Im Prozeß unterstützt der Leser K.’s Entschlossenheit, sich aus den Klauen des Gesetzes zu befreien.

•   In Verbrechen und Strafe unterstützt der Leser Raskolnikows Verlangen, der Armut zu entkommen.

•   In Das rote Tapferkeitsabzeichen unterstützt der Leser Henrys Bedürfnis, sich zu beweisen, daß er kein Feigling ist.

•   In Vom Winde verweht unterstützt der Leser Scarletts dringenden Wunsch, ihre Plantage wiederaufzubauen, nachdem sie von den Yankees zerstört wurde.

Schön und gut, werden Sie sagen, aber was macht man, wenn man über einen abscheulichen Schurken schreibt? Wie bringt man den Leser dazu, sich mit so einem zu identifizieren? Ganz einfach.

Mal angenommen Sie haben eine Figur, die im Gefängnis sitzt. Der Mann wird furchtbar behandelt, von den Wärtern geschlagen, von den Mitgefangenen verprügelt, von der Familie im Stich gelassen. Selbst wenn er eindeutig schuldig ist, wird der Leser Mitleid mit ihm haben, damit haben Sie die Sympathie des Lesers gewonnen. Aber wird der Leser sich auch mit ihm identifizieren?

Nehmen wir einmal an, sein Ziel ist es, aus dem Gefängnis auszubrechen. Der Leser wird sich nicht unbedingt mit diesem Ziel identifizieren, wenn zum Beispiel der Gefangene ein brutaler Mörder ist. Ein Leser, der will, daß er ihm Gefängnis bleibt, wird sich eher mit den Anklägern, den Richtern, Geschworenen und Wärtern identifizieren, die wollen, daß er bleibt, wo er ist. Es ist jedoch trotzdem möglich, daß der Leser sich mit dem Ziel des Gefangenen identifiziert, wenn dieser zum Beispiel den Wunsch hat, sich zu bessern und das, was er getan hat, wiedergutzumachen. Geben Sie Ihrer Figur ein edles Ziel, und der Leser wird auf ihrer Seite stehen, egal was für ein verabscheuungswürdiger Schurke sie auch früher gewesen ist.

Mario Puzo hatte ein solches Problem, als er den Paten schrieb. Sein Protagonist Don Corleone hat sein Vermögen durch Zinswucher, Erpressen von Schutzgeldern und Korrumpieren der Gewerkschaften verdient. Wohl kaum jemand, den man zum Kartenspielen einladen würde. Um im Geschäft zu bleiben, hat Don Corleone Politiker bestochen, Journalisten gekauft, italienische Lebensmittelhändler gezwungen, ausschließlich Genco-Pura-Olivenöl zu verkaufen und überhaupt Angebote gemacht, die niemand ablehnen konnte. Machen wir uns doch nichts vor, Don Corleone ist ein verabscheuungswürdiger Schurke ersten Ranges. Gewiß keine Figur, für die der Leser normalerweise Sympathie hätte oder mit der er sich identifizieren würde. Dennoch wollte Puzo genau das erreichen, und es ist ihm auch gelungen. Millionen von Menschen, die das Buch gelesen, und noch weitere Millionen, die den Film gesehen haben, hatten Sympathie für Don Corleone und haben sich mit ihm identifiziert. Wie hat Mario Puzo dieses Wunder zustande gebracht? Mit einem genialen Einfall, indem er nämlich Sympathie für eine Figur erzeugt, die Ungerechtigkeit erfahren hat und Don Corleone mit einem edlen Ziel verknüpft.

Mario Puzo fängt seine Geschichte nicht damit an, wie Don Corleone irgendeinem armen Schwein die Füße einzementiert, was ihm die Verachtung des Lesers eingebracht hätte. Statt dessen beginnt er mit einem hart arbeitenden Bestattungsunternehmer namens Amerigo Bonasera, der in einem amerikanischen Gerichtssaal sitzt und »auf sein Recht wartete; auf die Bestrafung jener Männer, die seine Tochter so brutal mißhandelt hatten, die versucht hatten, sie zu entehren.« Doch der Richter läßt die beiden jungen Männer mit einem Urteil auf Bewährung davonkommen. Puzos Erzähler beschreibt das so:

Seit vielen Jahren, solange er in Amerika war, hatte Amerigo Bonasera Vertrauen in Gesetz und Ordnung gehabt. Er war dadurch zu Wohlstand gelangt. Nun, obwohl wilde Visionen vom Kauf eines Revolvers und Mord an den beiden jungen Männern durch sein haßerfülltes Gehirn zuckten, wandte er sich an seine Frau, die die Vorgänge nicht begriffen hatte, und sagte. »Sie haben uns zum Narren gemacht.« Er hielt inne und faßte dann seinen Entschluß. Jetzt hatte er keine Angst mehr vor dem Preis. »Wenn wir Gerechtigkeit wollen, müssen wir zu Don Corleone gehen – auf unseren Knien.«

Natürlich hat der Leser Mitleid mit Mr. Bonasera, der nichts weiter will als Gerechtigkeit für seine Tochter. Und da Mr. Bonasera zu Don Corleone gehen muß, um Gerechtigkeit zu bekommen, wird unsere Sympathie auf Don Corleone übertragen, den Mann, der für Gerechtigkeit sorgt. Durch Sympathie schmiedet Puzo eine positive emotionale Beziehung zwischen dem Leser und Don Corleone, indem er nämlich eine Situation herstellt, in der sich der Leser mit Don Corleones Ziel identifiziert, dem armen Mr. Bonasera und seiner unglücklichen Tochter Gerechtigkeit zu verschaffen.

In einer etwas späteren Szene verstärkt Puzo die Identifizierung des Lesers mit Don Corleone, indem er »den Türken« mit einem Drogendeal an ihn herantreten läßt und der Don – aus prinzipiellen Gründen – ablehnt; dadurch identifiziert sich der Leser noch stärker mit Don Corleone. Indem er dem Don einen persönlichen Ehrenkodex gibt, hilft Puzo dem Leser, seine Abscheu gegen Verbrecherbosse zu vergessen. Statt Don Corleone zu verabscheuen, schenkt der Leser ihm volle Sympathie, identifiziert sich mit ihm und unterstützt seine Sache.

EMPATHIE

Obwohl der Leser Sympathie für eine Figur hegt, die beispielsweise unter Einsamkeit leidet, kann er diese Einsamkeit eventuell nicht nachempfinden. Doch wenn ihm die Möglichkeit geboten wird, sich in die Figur hineinzuversetzen, wird er fühlen, was die Figur fühlt. Empathie ist eine viel stärkere Empfindung als Sympathie.

Manchmal, wenn bei einer Frau die Wehen einsetzen, spürt ihr Mann die gleichen Schmerzen. Das ist ein Beispiel für Empathie. Der Mann hat nicht nur Mitgefühl, er versetzt sich so stark in seine Frau hinein, daß er tatsächlich körperlichen Schmerz empfindet.

Nehmen wir mal an, Sie gehen zu einer Beerdigung. Sie kannten den Verstorbenen, einen gewissen Herman Weatherby, nicht. Er war der Bruder Ihrer Freundin Agnes. Ihre Freundin trauert, Sie nicht. Sie kannten Herman ja noch nicht mal. Ihnen tut Agnes leid, weil sie so traurig ist.

Der Trauergottesdienst hat noch nicht begonnen. Sie gehen mit Agnes auf dem Friedhof spazieren. Sie fängt an, Ihnen zu erzählen, was ihr Bruder Herman für ein Mensch war. Er machte eine Ausbildung als Krankengymnastiker, um behinderten Kindern zu helfen, laufen zu lernen. Er hatte einen wunderbaren Sinn für Humor, konnte ausgezeichnet Richard Nixon parodieren und warf auf dem College mal einem Professor, der ihm eine schlechte Note gegeben hatte, eine Torte ins Gesicht. Herman war offenbar ein lustiger Typ.

Während Agnes ihren Bruder auf diese Weise wieder lebendig werden läßt, damit Sie eine Vorstellung von ihm bekommen, empfinden Sie allmählich etwas, das über Mitgefühl hinausgeht. Sie beginnen zu spüren, welch einen Verlust der Tod dieses intelligenten, kreativen und leicht exzentrischen Mannes für seine Mitmenschen bedeutet – Sie fangen an, sich in ihre Freundin hineinzuversetzen und deren Trauer nachzuempfinden. Das ist die Kraft der Empathie.

Wie bringt nun ein Romanschriftsteller seine Leser dazu, Empathie zu empfinden?

Mal angenommen, Sie schreiben eine Geschichte über Sam Smoot, einen Zahnarzt. Sam ist ein Spieler. Er verliert zwei Millionen Dollar an einen Gangster und ist ruiniert. Seine Familie ist ebenfalls ruiniert. Wie bekommen Sie den Leser dazu, sich in ihn hineinzuversetzen? Der Leser hat vielleicht Mitleid mit seiner Familie, vielleicht meint er aber auch, daß Sam sich das alles selbst eingebrockt hat.

Dennoch kann man Empathie erzeugen.

Das tun Sie mit Hilfe der Kraft der Suggestion. Sie benutzen sinnliche und gefühlsbetonte Details, die dem Leser suggerieren, wie es ist, Sam zu sein und durchzumachen, was er durchmacht. Mit anderen Worten, Sie legen die Welt Ihrer Geschichte so an, daß der Leser sich in die Figur hineinversetzen kann:

Ein kalter Wind wehte stürmisch durch die Main Street, und die ersten feuchten Schneeflocken fielen bereits. Sams Zehen fühlten sich taub in seinen Schuhen an, und der Hunger nagte schon wieder an seinen Eingeweiden. Ihm lief die Nase. Er wischte sie an einem Ärmel ab. Es kümmerte ihn nicht mehr, welchen Eindruck er auf andere machte.

Durch sinnliche und gefühlsbetonte Details versetzen Sie den Leser in Sams Welt und lassen ihn teilnehmen an dem, was Sam erlebt. Sie können Empathie für eine Figur erzeugen, indem Sie die sinnlichen Elemente ihrer Umgebung ausführlich beschreiben, Gegenstände, Geräusche, Schmerzempfindungen, Gerüche und was die Figur sonst noch wahrnimmt – alle Gefühle, die Sam bewegen:

Sam wachte am dritten Tag auf und schaute sich um. Der Raum hatte weiße Wände, und am Fenster hingen weiße Gardinen. Ein Fernseher mit großem Bildschirm war ziemlich weit oben an einer Wand angebracht. Die Bettwäsche roch sauber, und auf dem Tischchen neben seinem Bett standen Blumen. Er betastete seinen Körper, um sich zu vergewissern, daß er überhaupt da war, da er weder Kälte noch Schmerzen empfand. Noch nicht mal im Bauch, der ihm jetzt schon so lange wehgetan hatte…

Durch solche gefühlsbetonten, sinnlichen Details, durch die Macht der Suggestion also, werden im Leser Emotionen geweckt und sein Einfühlungsvermögen wird angesprochen.

Hier ist ein Beispiel für eine gefühlsbetonte, sinnliche Beschreibung aus Stephen Kings Carrie:

Sie [Carrie] zog das Kleid zum erstenmal am Morgen des 27. Mai auf ihrem Zimmer an. Sie hatte sich einen dazu passenden BH gekauft, der ihre Brüste etwas hob und betonte… Das Kleid zu tragen vermittelte ihr ein unwirkliches, traumgleiches Gefühl, eine Mischung aus Scham und Erregung.

Beachten Sie, wie ein bestimmtes Detail (der BH, der ihre Brüste etwas hebt) mit einem Gefühl (ein unwirkliches, traumgleiches Gefühl, eine Mischung aus Scham und Erregung) verknüpft ist. Einige Abschnitte später öffnet Carries puritanische Mutter die Tür:

Sie blickten sich an.

Carrie straffte sich unwillkürlich, stand gerade und aufrecht im Licht der morgendlichen Frühlingssonne, das durchs Fenster fiel.

Das Straffen des Rückens ist eine symbolische Herausforderung, ein kraftvolles Gefühl, das mit dem sinnlichen Detail verknüpft ist, daß Carrie im Licht steht.

Da der Leser Mitleid mit Carrie hat, die von ihrer Mutter tyrannisiert wird, identifiziert er sich mit ihrem Ziel, zum Ball zu gehen. Er kann sich in sie hineinversetzen, weil der Erzähler aus gefühlsbetonten, sinnlichen Details eine Realität schafft.

Im Roten Tapferkeitsabzeichen versucht Stephen Crane mit ähnlichen gefühlsbetonten, sinnlichen Details Empathie hervorzurufen:

Eines Tages indessen trat ihm sein Zeltgenosse im Morgengrauen gegen das Bein, und dann, ehe er noch ganz wach war, rannte er schon inmitten keuchender Soldaten einen Waldpfad entlang. Die Feldflasche schlug ihm rhythmisch gegen den Oberschenkel, und der Brotbeutel baumelte auf und ab. Bei jedem Schritt wippte das Gewehr etwas von der Schulter weg, und was den Sitz seiner Mütze betraf, hatte er ein unsicheres Gefühl… Der feuchte Morgennebel, schien es dem jungen Mann, wurde vom Ansturm der Massen zerteilt. Von ferne kam plötzlich das Stakkato von Gewehrfeuer.

Er wußte nicht, was er davon halten sollte. Während er mit den andern dahinrannte, suchte er seine Gedanken zu ordnen, doch klar war ihm nur das eine: falls er hinschlug, geriet er unter die Stiefel des Mannes hinter ihm. Er schien alle seine Fähigkeiten zu benötigen, um über Hindernisse hinweg und daran vorbeizukommen. Die Masse riß ihn mit sich… Der junge Mensch erkannte, daß es jetzt soweit war. Jetzt galt es sich zu bewähren…

Achten Sie auf die Details, die auf seine Sinne einwirken: die Feuchtigkeit des Nebels, das Schlagen der Feldflasche gegen seinen Oberschenkel, das Baumeln des Brotbeutels, das Wippen des Gewehrs, der unsichere Sitz seiner Mütze. Behutsam stellt Stephen Crane die Realität des Krieges anhand kleiner Details her, die bei dem jungen Mann das Gefühl auslösen, von der Masse mitgerissen zu werden und sich bewähren zu müssen. Der Leser hat Mitgefühl mit dem Helden (und hätte Mitleid mit jedem Mann, der in einer Schlacht dem Tode ins Auge sieht), er identifiziert sich mit dessen Ziel (Mut zu finden und sich als Mann zu beweisen), und er kann sich in ihn hineinversetzen, weil die Situation durch gefühlsbetonte, sinnliche Details heraufbeschworen wird.

Hier ist ein Beispiel aus Der weiße Hai:

Brody saß in dem mit Bolzen auf dem Deck befestigten Drehstuhl und versuchte, wach zu bleiben. Ihm war heiß, und er fühlte sich klebrig. In den sechs Stunden, die sie herumgesessen und gewartet hatten, war nicht die geringste Brise aufgekommen. Sein Nacken war von der Sonne bereits stark verbrannt, und jedesmal, wenn er den Kopf bewegte, kratzte der Kragen seines Uniformhemdes auf seiner zarten Haut. Sein Körpergeruch stieg ihm in die Nase und verursachte ihm, zusammen mit dem Gestank der Fischeingeweide und des Blutes, die über Bord gegossen wurden, Brechreiz. Er kam sich vor wie geschunden.

Der Leser wird regelrecht in diesen Stuhl gesetzt, er spürt das Scheuern des Hemdkragens, die Hitze, die Übelkeit. Brody ist zur Untätigkeit verdammt. Er muß auf den Hai warten.

Kafka stellt K. in einer ähnlichen Situation dar. Er wartet auf seinen Prozeß.

An einem Wintervormittag – draußen fiel Schnee im trüben Licht – saß K., trotz der frühen Stunde schon äußerst müde, in seinem Büro. Um sich wenigstens vor den unteren Beamten zu schützen, hatte er dem Diener den Auftrag gegeben, niemanden von ihnen einzulassen, da er mit einer größeren Arbeit beschäftigt sei. Aber statt zu arbeiten, drehte er sich in seinem Sessel, verschob langsam einige Gegenstände auf dem Tisch, ließ dann, aber ohne es zu wissen, den ganzen Arm ausgestreckt auf der Tischplatte liegen und blieb mit gesenktem Kopf unbeweglich sitzen.

Wiederum sind es die Details: das trübe Licht, das Drehen im Sessel, das Ausstrecken des Arms auf der Tischplatte und so weiter.

Sympathie, Identifikation und Empathie tragen alle dazu bei, eine emotionale Bindung zwischen Leser und Figuren herzustellen. Jetzt müssen Sie den Leser nur noch mitreißen.

DER LETZTE SCHRITT: DEN LESER MITREISSEN

Wenn der Leser mitgerissen wird, zieht er sich in seine Phantasie zurück. Er läßt sich so sehr von der Erzählwelt fesseln, daß die reale Welt um ihn herum versinkt. Das ist letztlich das Ziel des Romanautors – zu erreichen, daß der Leser völlig in den Figuren und ihrer Welt aufgeht.

In der Hypnose bezeichnet man diesen Zustand als Somnambulismus. Fordert der Hypnotiseur dann beispielsweise die Versuchsperson auf, wie eine Ente zu quaken, wird sie dies bereitwillig tun. Wenn es dem Romanautor gelungen ist, den Leser in den Zustand des Somnambulismus zu versetzen, weint und lacht der Leser, empfindet den gleichen Schmerz wie die Figuren, denkt ihre Gedanken und nimmt an ihren Entscheidungen teil.

Leser in diesem Zustand können so sehr in ihre Lektüre vertieft sein, daß man sie aufschrecken, manchmal regelrecht schütteln muß, um ihre Aufmerksamkeit zu bekommen. »Hey, Charlie! Leg das Buch weg! Essen ist fertig! Hey! Bist du taub?«

Wie bringt man nun den Leser über Sympathie, Identifikation und Empathie schließlich soweit, daß er vollkommen mitgerissen wird? Die Antwort lautet: durch inneren Konflikt.

Der innere Konflikt ist der Sturm, der in den Figuren tobt, wie Zweifel, Bedenken, Schuldgefühle, Reue und Unentschlossenheit. Wenn erst mal Sympathie, Identifikation und Empathie hergestellt sind, wird der Leser bereit sein, die Gewissensbisse und Schuldgefühle der Figuren nachzuempfinden, ihre Zweifel und Bedenken zu teilen und – am allerwichtigsten – bei den Entscheidungen, die sie treffen müssen, Partei zu ergreifen. Diese Entscheidungen sind fast immer moralischer Natur und und haben schwerwiegende Folgen für die Figuren. Ehre und Selbstwertgefühl der Figuren stehen auf dem Spiel.

Diese Beteiligung am Entscheidungsfindungsprozeß, wenn der Leser die Schuldgefühle, Zweifel, Bedenken und Gewissensbisse der Figur nachempfindet und dringlich wünscht, daß sie sich so und nicht anders entscheidet, das ist es, was den Leser mißtreißt. Hier ist ein Beispiel aus Carrie. In dieser Szene wartet Carrie auf ihren Partner für den Ball und weiß nicht, ob er kommen wird.

Carrie öffnete wieder die Augen. Die Schwarzwälder Kuckucksuhr, gekauft vom Lotteriegewinn, zeigte zehn nach sieben.

(er wird in zwanzig Minuten hier sein)

Wirklich.

Vielleicht war alles nur ein raffinierter, übler Scherz, der letzte große Schlag, die größte Pointe. Sie hier die halbe Nacht in ihrem verknautschten, samtenen Ballkleid mit der Prinzeßtaille, den weiten Ärmeln und dem schlichten geraden Rock sitzen zu lassen – und den Teerosen, die an der linken Schulter festgesteckt waren… Carrie glaubte nicht, daß jemand begreifen konnte, welch ungeheuren Mut es erfordert hatte, sich mit all dem abzufinden, sich den furchterregenden Möglichkeiten zu öffnen, die diese Nacht vielleicht noch bieten mochte. Versetzt zu werden konnte wohl kaum die schlimmste dieser Möglichkeiten sein. Und wenn sie ehrlich war, mußte sie sich sogar eingestehen, daß sie auf heimliche, sehnsüchtige Art dachte, es wäre vielleicht das Beste wenn –

(nein hör auf damit)

Natürlich wäre es einfacher, hier bei Momma zu bleiben. Sicherer. Sie wußte, was sie über Momma dachten. Gut, vielleicht war Momma eine Fanatikerin, ein bißchen schrullig, ja, aber wenigstens wußte man bei ihr, woran man war…

Beachten Sie, wie die Figur einen inneren Konflikt mit sich austrägt und gleichermaßen in beide Richtungen gezogen wird. Carrie möchte unbedingt zu dem Ball, doch es wäre so viel sicherer, zu Hause zu bleiben.

Franz Kafka versetzt K. auf folgende Weise in einen inneren Konflikt.