Ralph Skuban
Der Energiekörper
ISBN 978-3-96861-011-5
1. Auflage 2020
© 2014 Aquamarin Verlag GmbH
Voglherd 1 • D-85567 Grafing
www.aquamarin-verlag.de
Umschlaggestaltung: Annette Wagner
Wenn Du einsam bist und in Dunkelheit,
da wünschte ich, Dir dies zu zeigen:
Das überwältigende Licht Deines
eigenen Wesens.1
HAFIZ, PERSISCHER MYSTIKER, 14. JAHRHUNDERT
Inhalt
Vorwort
1.Grundlagen
Wirklichkeit West – Die Zersplitterung des Lebens
Wirklichkeit Ost – Die Idee des Kontinuums
Energie West – Von der Vielfalt zur Einheit
Energie Ost – Bewusstsein ist Kraft
2.Energie des Lebens
Ursprüngliche Energie: AUM
Prana, die kosmische Energie
3.Der innere Kosmos
Der Weg des Mystikers
Das Chakra-System
4.Die Chakras im Einzelnen
Muladhara – Überleben
Svadhishthana – Genießen
Manipura – Gestalten
Anahata – (Mit-)Fühlen
Vishuddha – Kommunizieren
Ajna – Wissen
Sahasrara – Heimkommen
Quellennachweise
Glossar
Literatur
Vorwort
Robert Monroe (1915–1995), ein moderner Pionier des Westens in der Erforschung erweiterter Bewusstseinszustände, gab seinen Schülern regelmäßig eine Affirmation mit auf den Weg. Sie sprachen sie immer dann, wenn sie sich auf die innere Entdeckungsreise begaben. Diese Affirmation beginnt mit einem einfachen und kurzen Satz, der lautet: „I am more than my physical body – Ich bin mehr als mein physischer Körper.“ Alle Religionen und spirituellen Wege der Menschheit verweisen darauf: Wir sind mehr als bloß ein Wesen aus Fleisch und Blut, mehr sogar als ein Wesen, das denkt und Gefühle hat.
Diese Botschaft ist viel konkreter gemeint, als es den Menschen auf dem Wege der institutionalisierten Religion vermittelt wird. Man vertröstet uns da nur allzu gerne auf eine vermeintliche Glückseligkeit, die nach dem physischen Tod auf uns warten soll. Woher, so habe ich mich oft gefragt, können die selbst ernannten „Gralshüter der Wahrheit“ (Priester, Pharisäer, Imame, Brahmanen und so weiter) das wissen? Waren sie schon „auf der anderen Seite“? Haben sie persönlich einen Blick hinter den Vorhang des Diesseits geworfen? Einfach nur zu glauben, was andere sagen, das ist, wie ich finde, ein dürftiges Fundament für einen Lebensweg.
Die spirituelle Philosophie und Praxis im Allgemeinen und der Weg des Yoga im Besonderen zielen nicht darauf ab, dass wir an irgendetwas glauben. Vielmehr wollen sie, dass wir konkret und praktisch überprüfen und erfahren, dass wir viel mehr sind als die begrenzte Vorstellung, die wir von uns selber haben; und dass wir durch die Selbsterforschung über Körper und Geist hinausgehen können, dahin, wo die Quelle des individuellen Bewusstseins sprudelt, die alle Erfahrungen erst möglich macht. Die Beschäftigung mit der Lebensenergie, die uns durchflutet, ist ein zentraler Teil dieses Selbsterforschungsprozesses: Die „Energiearbeit“ sucht die Transzendenz unserer gewöhnlichen Alltagserfahrung. Es geht um das wirkliche, erfahrungsbasierte Erkennen der Richtigkeit dessen, was Robert Monroe sagte: Um das Betreten und Erforschen unseres inneren Raumes und die Erfahrung der feinstofflichen Dimensionen unseres Seins. Letztlich geht es sogar um das Loslassen auch unserer Feinstofflichkeit, um so zur Erkenntnis unserer wahren Natur zu gelangen. Diese ist, so das Versprechen der Mystiker aller Traditionen, eins mit allem, was ist – unsterblich und ohne Grenzen.
Die Beschäftigung mit der spirituellen Philosophie und Psychologie des Energiekörpers, wie auch mit den konkreten Methoden zur Aktivierung seiner Kraftzentren oder -felder, führt uns vom Glauben zum Wissen. So können wir selbst überprüfen, ob es wahr ist, dass wir mehr sind als bloß unser Körper. Ein wenig vom Wissen und den Methoden, wie sie vor allem aus der Bewusstseinswissenschaft des Yoga kommen, will ich in diesem Buch zusammenführen in der Hoffnung, dass dies die Flamme der Neugier nährt – die Flamme, die bereits in Ihnen brennen muss, sonst hätten Sie dieses Buch nicht in die Hand genommen.
„Du solltest ein brennendes Verlangen nach Befreiung haben“, schreibt Swami Rama, ein bekannter Mystiker aus der himalayischen Tradition des Yoga.2 Auch Patanjali – der Verfasser des Yogasutra, einer der wichtigsten Grundlagentexte des Yoga – sagt, dass wirkliche Erkenntnis umso leichter erreichbar ist, je intensiver man ein inneres Drängen verspürt. Wem die äußere Welt allein schon Sinn und Ziel ist, der wird sich kaum auf einen inneren Weg machen wollen. Doch spätestens dann, wenn er mit Leid oder Sterben konfrontiert wird, ganz konkret und hautnah, bei seinen Nächsten oder sich selbst: Dann wird er sich Fragen stellen. Er kann sie natürlich auch verdrängen. Doch damit ist sicher nicht viel gewonnen. Ist nicht die schiere Vergänglichkeit unseres Seins schon Grund genug, Fragen nach Ursprung und Ziel unseres Lebens zu stellen?
Neugier sollte man also schon mitbringen, wenn man tiefer in seine eigene Wirklichkeit eintauchen will. Und außerdem die Bereitschaft, eine tägliche Praxis der Energiearbeit, Selbsterforschung und Meditation in sein Leben zu integrieren. Einige Angebote hierzu finden sich in diesem Buch.
Zum Schluss dieses Vorworts möchte ich ganz in diesem Sinne nochmals Swami Rama zitieren, einen Menschen, der wie nur wenige in die Erforschung dessen gegangen ist, was jenseits seines Körpers liegt:
„Wenn du Fortschritte machen willst, dann übe. Ja, Dein Geist wird Hindernisse auftürmen: ‚Ich habe nicht genug Zeit’ oder ‚Ich habe nicht genug Energie’ oder ‚Ich verfüge nicht über die Mittel’ oder ‚Ich habe kein Vertrauen’. Die Antwort auf alle diese Hindernisse ist immer dieselbe: Praxis und Philosophie. Beide müssen Hand in Hand gehen. Fasse einen Entschluss und widme ihm einen Monat lang nur zehn Minuten täglich, was immer auch passiert, und du wirst anfangen, einen Fortschritt zu erkennen.“3
Philosophie und Praxis also sind die beiden Beine, auf denen wir stehen sollten auf dem Weg. Von beidem gibt es reichlich zu entdecken, und beide sind Gegenstand dieses Buches. Bei alledem sollten wir aber eines nicht vergessen: Das Eintauchen in unser feinstoffliches Wesen muss nicht anstrengend, nicht quälend sein, vielmehr sollte es ein spannendes und Freude spendendes Abenteuer werden!
1.
Grundlagen
Ein rein verstandesmäßiges Weltbild ganz ohne Mystik ist ein Unding.4
ERWIN SCHRÖDINGER, NOBELPREISTRÄGER FÜR PHYSIK 1933
Wirklichkeit West – Die Zersplitterung des Lebens
Der moderne Mensch ist ein zerrissenes Wesen. Enorm viel Wissen über den physischen Körper hat er angesammelt, über seinen Aufbau und seine Funktionsweise. Wir sind heute mit einer hochgerüsteteten Medizin-Technologie in der Lage, unglaubliche Eingriffe und Manipulationen vorzunehmen. Doch unser Geist und die Seele: Sie sind wie Ausgestoßene in einer kalten, wissenschaftlichen und bloß aufs Äußere gerichteten Welt. Wie aber Körper, Geist und Seele – diese scheinbar getrennten Wesenheiten – zusammengehen und ein Ganzes bilden: Das kann die Wissenschaft des Abendlandes nicht recht erklären.
Es ist dies ein Problem, das seinen Ausgang schon vor langer Zeit nahm. Es geht nämlich am Anfang des 17. Jahrhunderts ganz wesentlich auf einen Mann namens René Descartes (1596–1650) zurück, jenen Philosophen und Mathematiker, von dem der weltberühmt gewordene Ausspruch „Cogito ergo sum“ stammt: „Ich denke, also bin ich.“ Der denkende Mensch in einer Körpermaschine.
Eines freilich konnte Descartes nicht erklären, und dieses Problem besteht bis heute fort: Wie ist es möglich, dass ein Automat denken und fühlen kann? Wie kommt der Geist in die Maschine? Diese Frage ging als das so genannte Leib-Seele-Problem in die Geschichte ein. Descartes vermutete, dass Gott da seine Finger im Spiel haben müsse. Er sei es, der dafür sorge, dass Körper und Geist gemeinsam funktionieren. Wenn zum Beispiel dem Körper etwas zustoße, so würde Gott im gleichen Moment den Geist darüber informieren. So erfahre der Mensch die Welt. Das ist doch irgendwie ironisch: Der Materialismus eines Descartes braucht am Ende Gott, also die Idee des Immateriellen und Transzendenten, um einen Ausweg aus seiner selbst verursachten Erklärungsnot zu finden.
Dieses Denken erzeugte noch ein weiteres Problem, eines, das ethischer Natur ist und auch bis in unsere Zeit reicht: Nur der Mensch, so dachte man fortan, könne denken und fühlen. Der ganze Rest der Schöpfung aber bestehe nur aus nichtdenkenden (also dummen) und gefühllosen Automaten. Dies gab den Startschuss für ein gewaltiges wissenschaftliches Unternehmen. Im großen Stil begann man mit der Lebendsektion von Tieren, um die Körpermaschinen besser zu verstehen. Wenn man sie lebendig auseinandernähme wie Uhrwerke, so die Idee, dann würde man um ihre Funktionsweise wissen. Das Wehklagen der armen Wesen war der Wissenschaft nur das Quietschen einer mechanischen Apparatur. Gandhi sollte dies später als das schwärzeste Kapitel der Menschheit bezeichnen.
Das Problem der Zerrissenheit von Körper, Geist und Seele wird heutzutage eleganter gelöst als noch zu Zeiten von Descartes. Man bedarf heute keines Gottes mehr, um zu erklären, wie die Dinge zusammenwirken, denn eigentlich wirkt da gar nichts zusammen. Eine Seele kann man nicht wiegen und messen, man kann sie auch nicht sehen. Also kann es sie in einem wissenschaftlichen Sinne nicht geben. Ein Problem weniger also. Und was den Geist, die Gedanken und Gefühle angeht: Sie sind der modernen Wissenschaft bloß „Nebenwirkungen“ der komplexen Körpermaschine, eine Art „Kollateralschaden“ des Gehirns gewissermaßen. Biologische Automaten wie der Mensch seien so komplex, dass eben ein Bewusstsein daraus entspringe – wie der berühmte Dschinn, jenes Geistwesen, das der Flasche entsteigt. Doch wie genau das zugehen soll, dass aus einer Maschine Denken und Fühlen kommen, weiß auch heute noch niemand. Es ist das alte Leib-Seele-Problem, bloß umgekehrt: Wo man früher nicht erklären konnte, wie der Geist in die Maschine kommt, so kann man heute nicht erklären, wie er aus ihr herauskommt.
Das moderne wissenschaftliche Denken beseitigt Geist und Seele kurzerhand aus seinem Koordinatensystem, weil beide ins Reich des Unwissenschaftlichen gehören. Um die ausgestoßenen Seelen sorgen sich dafür die Kirchen; und um das „Nebenprodukt“ Geist kümmern sich Psychologen. Für die „handfesten“ Dinge aber – für das Physische als vermutete Grundlage all dessen, was ist – interessieren sich Biologen, Ärzte und Physiker. Auch hier treffen wir auf eine gewisse Ironie, denn in den Grenzbereichen ihrer Forschungen berühren sie das Unerklärliche und Wunderbare – das Transzendente, das sie nicht mehr zu erklären vermögen. Kein Biologe versteht das dynamische und intelligente Kooperationsverhalten unendlich komplexer Zellverbände oder die perfekte Koordination riesiger Vogelschwärme. Ärzte können die von Menschen millionenfach gemachten Nahtod- oder außerkörperlichen Erfahrungen nicht deuten, sie gelten ihnen bestenfalls als Einbildungen. Die Physiker sinnieren heute über eine Schöpfung, in der sie Ursache und Wirkung als tragende Pfeiler begreifen, deren Beginn sie aber in einem ursachlosen Punkt sehen, den sie Singularität nennen, ein Wort und eine Idee, die verdächtig an den spirituellen Gedanken der Einheit des Seins erinnert, der im östlichen Denken eine so große Rolle spielt.
Wenn hier übrigens von „Ost“ und „West“ die Rede ist, dann meint das nicht so sehr eine Himmelsrichtung, sondern eher eine Denkungsart. „Das Westliche“ steht dabei für die Ideen des Materialismus und Rationalismus, für eine Außenbezogenheit, die als real nur anerkennt, was sich in das gültige materialistische Weltbild fügt und mit den gegenwärtig zur Verfügung stehenden materiellen Methoden untersucht werden kann – also nur das, was sich anfassen, anschauen, ausrechnen, messen und wiegen lässt. Es ist eine Welt der Vielheit und Zersplitterung. „Das Östliche“ hingegen meint hier das Ganzheitliche und Organische, das auch und vor allem die Dimension des Bewusstseins mit einschließt und so zu ganz anderen Erkenntnissen über die Wirklichkeit kommt. Wir könnten das Östliche hier auch das Mystische nennen. Es lebt ganz entscheidend nicht vom Denken allein, sondern vom eigenen Erfahren. Der Zerrissenheit des Westens stellt das östliche oder mystische Verständnis von der Welt und vom Menschen die Idee des Kontinuums gegenüber.
Wirklichkeit Ost – Die Idee des Kontinuums
In der Weltsicht des Yoga wird der Körper als die äußere Schicht eines ungebrochenen Kontinuums verstanden. Er ist Teil einer Ganzheit, die sich vom Feinstofflichen zum Grobstofflichen hin entwickelt. Um einen essenziellen oder spirituellen Kern – Atman, Purusha oder das innere Licht reinen Gewahrseins – entfaltet sich in Schichten die Vieldimensionalität unseres Wesens. „Durch rechtes Unterscheiden“, schrieb der geniale indische Mystiker Shankara im 8. Jahrhundert, „soll man das reine, innerste Selbst von den Schichten trennen, die es verhüllen, so wie man ein Reiskorn von der Spreu trennt, indem man es mit einem Mörser bearbeitet“.5 Die Idee der Schichten, Hüllen oder Koshas geht auf die Upanishaden zurück, jene inspirierten Schriften, die den mystischen Kern der indischen Spiritualität ausmachen. Die Taittiriya-Upanishad stellt den Menschen als ein Wesen aus fünf Hüllen dar.
DER PHYSISCHE KÖRPER
Die äußere, grobstoffliche Hülle bildet Annamaya-Kosha. Das heißt wörtlich so viel wie: „Die Hülle, die aus Nahrung aufgebaut ist.“ Gemeint ist natürlich unser physischer Körper. Wenn wir zum Körper sagen, er sei „außen“, um ihn damit von einem Inneren abzugrenzen, dann müssen wir etwas genauer hinschauen, damit wir das nicht falsch verstehen.
Der physische Körper ist außen in einem Sinne, dass er uns am leichtesten zugänglich und erfahrbar ist. Wohl die meisten von uns erleben sich in erster Linie als ein Wesen, das einen Körper „aus Fleisch und Blut“ hat, der Körper, mit dem wir uns identifizieren – so sehr sogar, dass wir nicht nur davon ausgehen, einen Körper zu haben, sondern annehmen, einer zu sein.
Außen ist der physische Körper auch aus der Perspektive des Entstehens der Welt und der Dinge darin. Die Kosmologien Indiens, wie wir sie in der Sankhya-Philosophie, der Grundlage des Yoga, und im Vedanta, dem mystischen Teil der Veden, vorfinden, beschreiben das Werden der Welt von innen her, vom Feinstofflichen, zu dem auch das Mentale gehört, hin zur Materie. Der Geist oder feine Stoff geht der Materie, dem groben Stoff, voraus. Die Materie bildet in der Evolution lediglich das letzte Glied, die äußerste Verdichtung und Vergröberung des Seins. Zugleich steht sie für die größte Entfernung vom Ursprung: Der Geist, der „ins Fleisch hinabgestiegen“ ist, oder der „verlorene Sohn“, weit weg von seinem eigentlichen Zuhause, das spiritueller Natur ist.
Außen bedeutet also nicht, dass der physische Körper die anderen Hüllen umschließen würde, es meint nicht, wie im Bild der Zwiebel, die räumlich äußere Haut. Es ist vielmehr umgekehrt: Die feineren Schichten greifen weiter aus. Der Energiekörper ist größer als der physische. Unseren Geist (Wahrnehmung, Denken und Fühlen) mögen wir zwar innerlich erleben – manchmal regelrecht räumlich anfassen, wenn wir nämlich fühlen, dass das Denken im Kopf stattfindet –, doch tatsächlich ist er viel weniger begrenzt als die gröberen Schichten. Schwerkraft, Zeit oder Raum sind keine Hürden für ihn, denn er geht weit über das Körperliche hinaus und hat sogar die Möglichkeit, sich zeitweise ganz vom Körper zu lösen. In der Taittiriya-Upanishad lesen wir über den physischen Körper:
„Welche Lebewesen auch auf der Erde leben: Sie sind geboren aus Nahrung. Sie bleiben am Leben allein durch Nahrung. Und in gleicher Weise kehren sie am Ende zu Nahrung zurück.“6
Darin klingt die Idee an, dass wir in physischer Hinsicht sind, was wir essen. Der komplexe Zellverband, den wir „Körper“ nennen, wird aus Nahrung aufgebaut. Die vertraute liturgische Formel „Erde zu Erde, Asche zu Asche, Staub zu Staub“ erinnert daran. Besonders schön bringt das übrigens Zhuangzi, ein Weiser aus dem alten China, zum Ausdruck: „Alle Dinge, die erblühen, sind geboren aus der Erde. Und zur Erde kehren sie zurück.“7
Der Buddhismus sieht den Körper als ein Fahrzeug, die Hindus nennen ihn Wagen, der indische Mystiker Kabir (1440–1518) bezeichnete ihn als Gefäß und Jesus nannte ihn Krug. Fahrzeuge stellen irgendwann den Dienst ein, Krüge und Gefäße zerbrechen, wie sehr wir sie auch hegen und pflegen. Jeden Tag führen wir dem Körper Nahrung zu, waschen, kleiden, schmücken und schützen ihn. Er ist Fixpunkt und Fokus unserer Welt. Doch er ist nur eine Dimension unserer Wirklichkeit; und es gab keinen, der diesen Körper nicht irgendwann hätte aufgeben müssen.
LEBENSENERGIE
Die zweite, feinere Schicht im Modell der fünf Koshas bildet den Hauptgegenstand dieses Buches: Pranamaya-Kosha, der Energie-, Prana- oder Vitalkörper, für den es auch noch viele andere Bezeichnungen gibt. Er versorgt uns mit Lebensenergie. Ohne Prana kann Leben nicht existieren, nirgendwo im Kosmos. Die Taittiriya-Upanishad sagt:
„Was auch existiert, Götter, Menschen oder Tiere: Alle brauchen Prana, um leben zu können. Prana ist die Lebenskraft aller Wesen, deshalb gilt es als universelles Leben. (…) Man nennt es das Leben des Lebens.“8
Da alles, was lebt, in all seinen Dimensionen von Prana durchflutet wird, ist der Energiekörper zugleich die Brücke zwischen dem physischen Körper und dem, was ich unseren inneren Raum nennen möchte, also die unterschiedlichen Aspekte des Geistes, wie Wahrnehmung, Denken, Fühlen und so weiter. Es ist diese Brückenfunktion, die den Energiekörper so spannend und hilfreich für die Übungs-Praxis macht. Er mag seiner größeren Feinheit wegen zwar schwerer zugänglich sein als unser Körper, aber doch noch viel leichter als die tiefen Schichten unseres Geistes.
Die Arbeit am und mit dem Energiekörper wirkt heilsam und ausgleichend auf Körper und Geist. Wenn die Lebensenergie frei und ungehindert fließt – was voraussetzt, dass die Kanäle oder Nadis, in denen sie sich bewegt, gereinigt und frei von Blockaden sind – dann schenkt uns das Wohlbefinden und Gesundheit. Und kommt dies Fließen dann einmal zur Ruhe, zum Beispiel während einer guten Atem-Praxis oder in der Meditation, dann erfährt der Übende tiefen Geistesfrieden. Das ist deshalb so, weil Energie- und Mentalkörper aufs Innigste verwoben sind.
Der Energiekörper ist ausgedehnter als der grobstoffliche und kann von klarsichtigen Menschen wahrgenommen werden. Jener Teil, der direkt den biologischen Körper umschließt, kann von jedem mit ein wenig Übung gesehen werden – als schmaler, weiß leuchtender Umriss. In seiner Erweiterung geht er dann in das über, was unter der Bezeichnung Aura bekannt ist und von Hellsichtigen als weit ausgreifendes, vielfarbiges Energiefeld gesehen werden kann. Die Gestalt von Pranamaya-Kosha ähnelt sehr der Form des physischen Körpers. Die Taittiriya-Upanishad berichtet:
„Neben dem Körper, der aus der Essenz der Nahrung gemacht ist, gibt es ein weiteres, inneres Selbst, das aus Vitalenergie besteht. (…) Es hat, wie der Nahrungskörper, die Gestalt eines Menschen.“9
Der Energiekörper ist eine allen Lebewesen innewohnende und erfahrbare Wirklichkeit, so konkret fühlbar wie der eigene Herzschlag. Das hat nichts mit Glauben oder Spekulation zu tun, sondern kann von jedem Menschen für sich selbst überprüft werden.
Das schwierige Leib-Seele-Problem, mit dem das westliche Denken sich herumschlägt, existiert im Modell der Koshas nicht. Wo Descartes noch einen Gott brauchte, um zu erklären, wie die vermeintlich getrennten Dimensionen von Körper und Geist zusammenarbeiten, und wo die heutige Wissenschaft dieses Thema schon ganz aufgegeben hat, da verweist die Mystik Indiens auf den Energiekörper als das verbindende Element zwischen physischem Körper und innerem Raum.
Das Verbindende gilt dabei für alle Schichten, denn die Koshas werden nicht als voneinander getrennt oder bloß ineinander geschachtelt verstanden (wie Matroschka, die berühmte russische Puppe), vielmehr überlagern und durchdringen sie einander, etwa so, wie Wasser einen Schwamm durchdringt oder wie zwei Flüssigkeiten sich mischen. Es sind zwar unterschiedliche Dimensionen unseres Seins, aber sie wirken doch gleichzeitig, miteinander und aufeinander ein. In letzter Konsequenz werden die Koshas nicht einmal als wesenhaft unterschiedliche Dinge begriffen, sondern nur als die unterschiedlichen Ausdrucksformen einer Realität.
Wie der physische Körper, so hat auch der Energiekörper seine eigene Anatomie und Physiologie, bestehend aus komplexen energetischen Strömen und Netzwerken. Einige von ihnen kann man gut mit den Praktiken des Yoga erreichen, durch Körperübungen, durch Pranayama, die Arbeit mit dem Atem und natürlich durch verschiedene meditative Techniken. Die Reinigung und Ausbalancierung des Energiekörpers ist nicht nur heilsam und positiv für unser Wohlbefinden, sie kann uns zudem – wenn wir das anstreben – auch ungewöhnliche Erfahrungen erweiterten Bewusstseins schenken, wie zum Beispiel außerkörperliche Erfahrungen (AKE), die uns aus erster Hand belegen, dass wir mehr sind als der physische Körper. Genau dies zu erkennen, dass wir mehr sind als der grobe Stoff, ist eine zentrale Botschaft aller spirituellen Schriften.
Aber auch und gerade in einem sehr greifbaren und lebenspraktischen Sinne können wir viel durch die Beschäftigung mit dem Energiekörper gewinnen. Er bietet spannende Einsichten über unsere Psychologie, ein tieferes Verstehen unserer selbst, einschließich der Möglichkeit, die weniger hilfreichen Seiten in uns, die immer wieder zu Schmerz führen, zu erkennen und daran zu arbeiten.
Die folgenden drei Schichten bilden nun das, was wir zusammenfassend auch individuellen Geist nennen können. Gemeint sind damit die Ebenen des Wahrnehmens, Denkens, Fühlens und noch weitere. Weil der Begriff Geist jedoch alles andere als konkret ist, und weil verschiedene Menschen an ganz unterschiedliche Dinge denken, wenn sie das Wort hören oder benutzen, weil es keinen anerkannten und gemeinsam verstandenen Begriff vom Geist gibt, möchte ich die folgenden Koshas zusammenfassend inneren Raum nennen.
WAHRNEHMEN, DENKEN, FÜHLEN
Manomaya-Kosha, der Mentalkörper oder die dritte Hülle, umfasst eine ganze Reihe mentaler Aspekte oder Funktionen, für die wir in der deutschen Sprache keinen zusammenfassenden Begriff haben. Das englische Wort mind trifft es da besser, es ist auch etymologisch verwand mit der Sanskrit-Wurzel man (denken, meinen), aus der Manomaya-Kosha sich ebenso ableitet wie das deutsche Wort mental. Sogar das Wort Mensch (englisch: man) kommt daher.
Wahrnehmung: Manomaya-Kosha ist die Schnittstelle zur Außenwelt. Die Sinnesorgane (Jnanendriyas) führen dem inneren Raum Daten zu, die dort weiterverarbeitet werden. Wir könnten das mit einem etwas technischen Begriff auch die „Input-Funktion“ des Mentalkörpers nennen.
Instinkte: Die Weiterverarbeitung von Signalen oder Reizen geschieht zunächst auf einer rein biologisch-instinktiven Ebene – so schnell, dass es unterhalb unserer bewussten Wahrnehmungsschwelle liegt. Es geht dabei um das Einschätzen von Situationen, ob etwas gefährlich ist oder nicht oder vielleicht unsere Überlebens-Chancen erhöht. Die Insinktebene ist das biologische Erbe, das wir mit allen Lebewesen teilen.
Denken: Manomaya-Kosha ist auch der Bereich des einfachen Denkens. Wir könnten es „Alltagsdenken“ nennen – ein Denken im übrigen, das uns oft mehr zu geschehen scheint, als dass wir es steuern: Auch das quälende Gedankenkarussel ist eine Funktion von Manomaya. Es kann sich verselbstständigen und automatisch ablaufen, was besonders dann problematisch ist, wenn es negative Gedanken sind. So sind viele Menschen geradezu mentale Automaten, gleichsam die Opfer ihrer nicht hilfreichen Gedanken. Der Mystiker Gurdjieff (1866–1949) sprach in diesem Zusammenhang von der „Mechanisiertheit“ des Menschen. Das erzeugt viel Leid.
Affekte: Wahrnehmungen und Gedanken lösen immer auch Gefühle aus, angenehme oder unangenehme. Auch die Emotionen sind eine Funktion des Mentalkörpers.
Handlungen: Schließlich ist Manomaya-Kosha – und das ist nun die andere Seite der Schnittstelle, die „Output-Funktion“ sozusagen – auch jener Teil unseres Geistes, der als Ergebnis der mentalen Verarbeitungsprozesse unsere Handlungen auf den Weg bringt, indem er den Handlungsorganen (Karmendriyas) entsprechende „Anweisungen“ gibt – zum Beispiel: „Bewege den Arm.“
Ego: All diese Vorgänge werden von einer Instanz zusammengehalten, die man Ahamkara, den „Ich-Macher“, nennt, unser Ego also. Wahrnehmungen werden dadurch zu meinen Wahrnehmungen, ebenso Gedanken, Gefühle oder Handlungen. Das Ego integriert die Vielfalt unserer Erfahrungen und Handlungen. Seine Seile knüpfen all das zusammen, was wir in der Summe dann Person nennen.
In der Taittiriya-Upanishad lesen wir über Manomaya-Kosha:
„So wie die zuvor beschriebene Dimension unserer selbst aus Prana besteht, gibt es eine weitere, innere Dimension, die aus Geist (mind) besteht (…) Sie hat, wie die anderen Dimensionen, die Gestalt einer Person.“10
Die Vorstellung, dass etwas so Ungreifbares wie Geist Form haben soll, mag uns ziemlich fremd erscheinen. Doch in der Philosophie des Yoga ist Geist im Grunde Stoff: Unglaublich fein zwar, feiner noch als atomare Teilchen, aber doch Stoff: „Geist-Stoff“.
INTELLIGENZ, WEISHEIT, INTUITION
Dringt man im Kosha-Modell nun noch weiter in die Feinstofflichkeit vor, dann gelangt man zu Vijnanamaya-Kosha, der vierten Hülle, die wir auch Intelligenz- oder Weisheitskörper nennen können (vijnana = erkennen, wissen). Es ist jener Teil unseres inneren Raumes, in dem sich höhere mentale Prozesse vollziehen: Komplexes Denken (logisch, mathematisch, wissenschaftlich, philosophisch), Intuition und schöpferische Impulse. Alles das ist im Übrigen ein Bereich, der schon ein Stück jenseits der kleinen Welt des Egos liegt, das immer haben und machen will – es ist der „Ort“, dem die Inspiration enstpringt.
Wer künstlerisch tätig ist, kann das ganz leicht nachvollziehen. Die besten Ideen sind meistens einfach „irgendwie“ da, weniger gemacht als geschenkt, aus einem inneren Quell sprudelnd. Man nennt das auch Inspiration. Da wird uns buchstäblich etwas eingehaucht. Die besten Einfälle und kreativsten Impulse, sei es in der Kunst oder in der Wissenschaft, kommen von Jenseits des Egos, aus einem Brunnen im Inneren, mit dem wir offensichtlich verbunden sind. Auch Vijnanamaya-Kosha wird in den Upanishaden als ein Aspekt beschrieben, der Gestalt hat:
„Jenseits der zuvor beschriebenen gibt es eine weitere, innere Dimension unserer selbst, die aus Intelligenz besteht. Auch sie hat die Gestalt eines Menschen.“11
GLÜCKSELIGKEIT
Die fünfte und tiefste Schicht im Kosha-Modell heißt Ananadamaya-Kosha oder Glückseligkeitskörper. Überpersonale Qualitäten haben dort ihren Sitz: Liebe, Freude, Mitgefühl und Güte – und eine Glückseligkeit, die sozusagen nicht von dieser Welt ist. Es sind nicht die oberflächlichen Freuden eines Egos darüber, dass die Dinge im Leben gerade so laufen, wie man sie haben will (oder eben nicht), sondern vielmehr Qualitäten, die gespeist sind vom ungebundenen und ewig freien inneren Licht, dem spirituellen Kern unseres Seins – Atman oder Purusha. Anandamaya-Kosha, sagt die Taittiriya-Upanishad, „besteht aus Glückseligkeit“. Sie beschreibt auch in poetischen Worten die Gestalt dieses Körpers:
„Die Liebe bildet den Kopf, die Freude seine rechte und die Fröhlichkeit die linke Schwinge; aus Glückseligkeit besteht der Rumpf und Brahman, das Höchste, ist sein Fundament.“12
Der Glückseligkeitskörper heißt wohl so, weil er unserem spirituellen Kern so nah ist. Sein Fundament ist Brahman; und Brahman, das Höchste, so sagt die Mystik Indiens, ist eins mit Purusha, dem reinen Bewusstsein, das in uns wohnt, oder Atman, dem inneren Licht, das uns belebt. Es ist also die Essenz, aus der das Leben fließt und vor deren Augen sich alles das abspielt, was sich in den verschiedenen Hüllen oder Koshas unseres Seins vollzieht.
In Anandamaya-Kosha ist nichts von „Ich bin dies“ oder „Ich bin das“. Es ist der Teil unseres Wesens, aus dem grundlose Freude quillt. Der Glückseligkeitskörper ist jenseits der Dramen, die das Leben schreibt, jene Dimension in die hinein Atman strahlt. Mystiker wie Kabir oder Mirabai, die im 15. Jahrhundert lebten, tauchten ein in diese Tiefenschicht, wo sie Sein, Bewusstsein und Glückseligkeit erfuhren: Sat–Chit–Ananda. In einem seiner Lieder schreibt Kabir über einen Vogel. Er meint damit sein Innerstes, die Seele, die mit dem Höchsten verschmilzt, ein Zustand, den er Sahaj nannte. Das ist ein Wort aus dem Hindi, das die Grundidee der Innerlichkeit transportiert, auch das Fließen, die Leichtigkeit und Natürlichkeit, die Einfachheit, Unangestrengtheit und Sanftheit, Spontaneität und Symbiose. Kabir berichtet über seine innere Erfahrung:
„In solche Höhen stieg der Vogel auf,
dass niemand weiß, wo er verblieben ist.
Er verschmolz mit Ihm*
wie der Tropfen mit dem Meer verschmilzt.
Aufgelöst bin ich im Glück von Sahaj,
Ich lebe in ewiger Stille.
Als ich in meinem Körper suchte,
fand ich dort mein wahres Selbst.“13
Im Innersten ruht zugleich das Größte; und die spirituelle Reise will genau dorthin, in dieses Zentrum – zum wahren Selbst.
ZUSAMMENFASSUNG
Das Modell der Koshas gibt uns einen ganzheitlichen Überblick über alle Aspekte unseres Seins:
• Wir haben einen physischen Körper.
• Es existiert ein System, das uns mit Lebensenergie versorgt: Der Prana-, Vital- oder Energiekörper.
• Wir können wahrnehmen – sensorisches System.
• Wir haben ein mentales System, das unserem biologischen Überleben dient – instinktives System.
• Wir verfügen über die Fähigkeit, als Handelnde in der Welt zu wirken und uns in ihr zu bewegen – motorisches System.
• Wir haben einen Ich-Sinn – das Ego.
• Es existieren mentale Bereiche unterschiedlicher Tiefe: Vom einfachen Denken bis hin zu höchsten mentalen Aspekten – das kognitive System.
• Wir haben Emotionen – das affektive System.
• Im Zentrum all dessen, zugleich alles überschreitend, ist Atman oder Purusha, unser inneres Licht reinen Gewahrseins.
In einer noch weiter zusammengefassten Gesamtschau ist der Mensch damit ein Wesen,
• das einen physischen Körper
• mit einem vielgestaltigen inneren Raum hat,
• in dessen Zentrum ein spiritueller Kern ruht.
In dieser Verdichtung erinnert das Modell der Koshas an die uns vertraute Dreiteilung von Leib, Geist und Seele. Doch das Modell scheint mir viel präziser und nachvollziehbarer und macht aus der Teilung letztlich Ein Ganzes.
Der Vollständigkeit halber sei hier auf das ebenfalls bekannte Drei-Körper-Modell der indischen Philosophie hingewiesen, das sich sehr gut in Übereinstimmung mit den Koshas bringen lässt: Annamaya-Kosha, die „Nahrungshülle“, wird dort Sthula-Sharira genannt, der grobstoffliche Körper. Die nächsten drei Hüllen (Pranamaya-, Manomaya- und Vijananamaya-Kosha) werden mit dem Begriff Sukshma-Sharira oder feinstoffl icher Körper zusammengefasst. Die Schicht um den Kern, Anandamaya-Kosha, heißt dann Karana-Sharira oder Kausalkörper. In der folgenden Grafik sind Koshas und Shariras in einer integrierten Gesamtschau abgebildet:
Abbildung: Die Modelle der Koshas und Shariras
* Das Höchste, Brahman, Gott
Energie West – Von der Vielfalt zur Einheit
Es ist gerade einmal zweihundert Jahre her, da war die Vielfalt der Kräfte, die in der Welt wirken, dem Menschen noch ein Rätsel: Man sah die Bewegung der Himmelskörper, das Anbranden des Meeres, den Wind und die Kraft des Wassers. Da waren die Hitze des Feuers, Blitz und Donner, Vulkanausbrücke und das Beben der Erde. Man kannte elektrische, chemische und mechanische Energien. Wo man auch hinsah: Die Welt begegnete dem Menschen im Wirken. Doch wo war der innere Zusammenhang? Gab es überhaupt einen?
In vier Schritten vollzog sich dann innerhalb von nur einhundert Jahren eine Evolution des Wissens, die heute an einen Punkt gelangt ist, wo die Wissenschaft des Abendlandes bemerkenswert nah an die Ideen der alten Mystiker heranzurücken scheint. Es ist paradox: Wo die moderne Welt der Erforschung des Geistes den Menschen immer weiter in die innere Zerrissenheit führt, steuert jene Disziplin, die sich der Erforschung der Himmelskörper und der atomaren Welten widmet, die Physik also, immer mehr auf die Idee der Einheit zu.
ENERGIE IST ENERGIE
Der englische Naturforscher Michael Faraday (1791–1867) forschte auf dem Gebiet der Elektrizität. Er entdeckte, dass verschiedene Formen von Energie sich ineinander umwandeln lassen: Zum Beispiel kann elektrische in mechanische Energie gewandelt werden und umgekehrt. Ebenso lässt sich chemisch gebundene Energie in elektrische oder mechanische transformieren. Wir kennen Beispiele aus unserem Alltag. In einem Wasserkraftwerk ist es die Kraft des herabstürzenden Wassers, das Turbinen antreibt, um aus dieser Bewegung elektrische Energie zu erzeugen, die unsere Fernseher, Computer oder Küchengeräte versorgt. Die chemische Energie einer Batterie treibt einen Elektromotor an, dessen Kraft ein Auto bewegt; und wenn wir im Dunkeln Fahrrad fahren, treibt die von unserer Muskelkraft verursachte Reifenbewegung einen Dynamo an, der eine Lampe zum Glühen bringt.
Faraday vermutete, dass auch Licht letztlich Energie sein müsse. Die wissenschaftliche Zunft lachte ihn damals noch für seine Idee aus. Dem schottischen Physiker James Clerk Maxwell (1831–1879) gelang jedoch der Nachweis, dass Faraday richtig lag: Licht ist elektromagnetische Strahlung.
Nach Faraday und Maxwell war die unüberschaubare Welt der energetischen Vielfalt übersichtlicher und zugleich erstaunlicher geworden. Ihre Erkenntnisse verweisen auf die zentrale Idee, dass alle Energie letztlich eins ist. Die vielen Kräfte können ineinander transformiert werden. Sie sind nur unterschiedliche Ausdrucksformen eines Phänomens. Energie ist Energie.
MATERIE IST MATERIE
Auf dem Gebiet der Materie vollzog sich ganz Ähnliches wie im Nachdenken über Energie. Der französische Chemiker Antoine Laurent de Lavoisier (1743–1794) konnte nachweisen, dass sich Materie in andere Formen überführen lässt, ohne dass dabei Masse verloren geht. So kann man beispielsweise Wassermoleküle in Wasserstoff und Sauerstoff-Atome aufspalten und diese neuen Formen wieder in die gleiche Menge Wasser zurückverwandeln. Bei diesen Wandlungsprozessen wird kein einziger Tropfen eingebüßt. Gemeint sind dabei nicht bloß unterschiedliche Aggregatzustände ein und derselben Substanz – wenn uns zum Beispiel Wasser einmal als Flüssigkeit, ein anderes Mal als Eis, Schnee oder Dampf begegnet und dabei doch nur Wasser bleibt –, vielmehr handelt es sich um völlig unterschiedliche Formen von Materie, um eigene, neue Substanzen also. Die Natur hat es bei der Materie offenbar genauso eingerichtet wie bei der Energie, wonach sich nämlich alles auf ein grundlegendes Prinzip zurückführen lässt. Materie ist Materie.
So ruhte nun am Ende des 19. Jahrhunderts alles wissenschaftliche Denken auf zwei unumstößlichen Säulen. Energie und Materie begriff man als wesenhaft unterschiedliche Prinzipien und als die ewigen Konstanten der Wirklichkeit.
MATERIE IST ENERGIE
Bald schon aber sollte auch die Idee der Trennung von Energie und Materie sich in Luft auflösen und die Annahme zweier ewiger Konstanten sich als Irrtum erweisen. Albert Einstein (1879–1955) konnte zeigen, dass auch Stoff im Grunde nichts anderes ist als Energie. Man kann das eine mathematisch ins andere überführen. Fast jedes Schulkind kennt Einsteins berühmte Gleichung: E = mc2 (Energie = Masse x Lichtgeschwindigkeit zum Quadrat). Das dürfte die wohl einzige mathematische Formel sein, die es jemals schaffte, gleichsam zu einer Pop-Ikone zu werden. Materie, so weiß man heute jedenfalls, ist hoch verdichtete Energie.
BEWUSSTSEIN IST KRAFT
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts sollte die seltsame Welt der Quanten das wissenschaftliche Weltbild dann vollends verwirren. Die Forschungsergebnisse so bedeutender Physiker wie Max Planck, Niels Bohr, Erwin Schrödinger und Werner Heisenberg – wie Einstein allesamt Nobelpreisträger – stellten die bislang kalkulierbare und abgesicherte Welt der Physik auf den Kopf.
Weltberühmt wurde das so genannte Doppelspalt-Experiment. Es führte zu der paradoxen Erkenntnis, dass Licht sowohl Wellen- als auch Teilchennatur haben kann, also zwei völlig unterschiedliche Eigenschaften in sich vereint: Es ist das eine und zugleich ein ganz anderes. Noch verwirrender aber ist, dass es das eine oder das andere – Welle oder Partikel – jeweils in Abhängigkeit davon zu sein scheint, ob man es beobachtet oder nicht. Zwischen Beobachter und Beobachtetem, so legen es die unzählige Male wiederholten und immer wieder neu bestätigten Experimente nahe, muss ein Zusammenhang bestehen, den man in der klassischen Physik noch nie zuvor bemerkt hatte: Der Akt des Beobachtens selbst scheint die beobachtete Realität zu verändern. Der Gedanke drängt sich auf, dass die Anwesenheit von Bewusstsein etwas bewirkt; und wo etwas bewirkt wird, da muss wohl auch eine Kraft sein. Ohne es zu wollen, näherte sich die zersplitterte Welt des wissenschaftlichen Denkens damit Schritt für Schritt einem Modell der Einheit, an dessen vorläufig letztem Punkt nun die Frage aufscheint, ob auf dem Grunde des Seins nicht etwas liegen könnte, was aus der Perspektive der Mystik immer schon dort lag: Geist oder Bewusstsein. Erwin Schrödinger schrieb einmal:
„Die Vielheit ist bloßer Schein; in Wahrheit gibt es nur ein Bewusstsein. Das ist die Lehre der Upanishaden, und nicht nur der Upanishaden allein. Das mystische Erlebnis der Vereinigung mit Gott führt stets zu dieser Auffassung, wo nicht starke Vorurteile entgegenstehen; und das bedeutet: leichter im Osten als im Westen.“14
Energie Ost – Bewusstsein ist Kraft
Über den in der Quantenphysik angedeuteten Zusammenhang von Bewusstsein und Kraft gab es im Denken der Yoga-Philosophie noch nie einen Zweifel. Seit Jahrtausenden gilt dort die ebenso einfache wie radikale Erkenntnis, dass alle Schöpfung letztlich Energie ist. Dieser Energie gab man den schönen Namen Maha-Prana, die „Große Energie des Lebens“, oder auch Maha-Shakti, die „Große Kraft“. Der ganze Kosmos und alle Formen darin, sogar unsere Gedanken und Gefühle, sind, so sagen die Yogis seit altersher, Kraft. Diese Kraft hat eine Grundlage, ein unveränderliches Sein, dem sie entströmt – Bewusstsein.
Die spirituelle Philosophie Indiens nennt dieses Bewusstsein Brahman, was wörtlich „das Höchste“ heißt. Alles, was existiert, der ganze Kosmos mit seinen Myriaden Formen und Phänomenen darin, gilt als Ausdruck dieses einen Bewusstseins: „Was auch ist – das ganze All – vibriert“, sagt Yama, der Gott des Todes, der über die Unsterblichkeit spricht, in der Katha Upanishad, „weil es von Brahman, dem Höchsten, ausgegangen ist, das an seinem Grunde existiert.“15 Damit haben die jahrtausendealten mystischen Texte der indischen Philosophie konsequent zu Ende gedacht, was sich auf dem westlich-wissenschaftlichen Weg von der Vielheit zur Einheit erst seit etwa zweihundert Jahren anbahnt: Energie ist Energie und Materie ist Materie. Materie ist Energie und auch Bewusstsein ist Energie. Bewusstsein ist letztlich alles, und sein Ausdruck ist Energie. Alles ist Eins – also auch wir, die wir aus dieser Einheit kommen. Im Tantra, jenem vielgestaltigen spirituell-philosophischen und praktischen Yoga-Weg, der sich ganz besonders mit der energetischen Realität unseres Seins auseinandersetzt, die zugleich als eine Realität des Bewusstseins begriffen wird, nennt man das Eine Bewusstsein, jenes Licht, das durch das Fenster eines jeden Körperwesens leuchtet: Shiva.
2.
Energie des Lebens
Prana ist das Leben in allen Wesen.
TAITTIRIYA UPANISHAD
Ursprüngliche Energie: AUM
In der Dreiheit der indischen Gottheiten Brahma, Vishnu und Shiva symbolisert Shiva den Prozess der Auflösung – den Tropfen individuellen Bewusstseins, der mit dem Meer des kosmischen Bewusstseins verschmilzt. Dieser Tropfen ist jener Funke an Bewusstsein in uns, dem wir unser körperliches Leben verdanken. Durch das Fenster unserer Sinne schaut er in die Welt und erliegt Maya, der Täuschung. Er glaubt sich in Freud und Leid darin verloren, weil er, trunken von der Welt, sein Zuhause vergessen hat: „Dass das Eine als vieles erscheint, das Absolute als relativ, das Unendliche als endlich: Das ist Maya“, sagen die Upanishaden.16
ivasozusagen