Harrison in Teufels Küche
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Kriminalroman von Freder van Holk
Der Umfang dieses Buchs entspricht 156 Taschenbuchseiten.
Eigentlich will Paul Harrison Schluss machen mit dem Detektiv-Beruf, aber sein Chef überredet ihn zu einem letzten Auftrag. Er soll in einem Hotelzimmer überprüfen, ob ein Toter Selbstmord begangen hat. Doch dann kommt alles anders, denn plötzlich ist Paul der Gejagte, und die Polizei will ihn wegen Mordes verhaften, denn der Tote war kein unbeschriebenes Blatt. Dann machen auch ein paar Ganoven Jagd auf Paul, er weiß sich nicht anders zu helfen, er muss den Mörder selbst suchen.
Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books und BEKKERpublishing sind Imprints von Alfred Bekker
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© Cover by Klaus Dill, 2018
© dieser Ausgabe 2018 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen in Arrangement mit der Edition Bärenklau, herausgegeben von Jörg Martin Munsonius.
Die ausgedachten Personen haben nichts mit tatsächlich lebenden Personen zu tun. Namensgleichheiten sind zufällig und nicht beabsichtigt.
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„Mord ist die dümmste Art, einen Menschen umzubringen“, sagte Tandy W. Coggs schnarrend und bewunderte dabei seinen linken Manschettenknopf. „Heutzutage gibt es soviel Autounfälle. Ich verstehe nicht, wozu jemand noch Gift oder Dolch braucht. Sogar Selbstmord halte ich nur für eine Notlösung.“
Er lag bequem in seinem Sessel, wie ein Mann, der schon die abendlichen Filzpantoffeln trägt. Tatsächlich sah er aus, als wäre er eben vom Schneider und vom Friseur gekommen, genau um jenen Stich zu adrett und frisch geputzt, der ihn um den Erfolg seiner Bemühungen brachte, als Gentleman zu wirken. Wenn er nachlässiger gewesen wäre, hätte man in dem rundlichen Fünfziger ein Stück von Napoleon und vielleicht sogar etwas von einem Buddha entdecken können, aber so erinnerte er immer ein bisschen an ein brühheißes, pralles Würstchen, das bei nächster Gelegenheit aus der Schale platzen würde. Andererseits war das keine schlechte Tarnung. Viele Leute hielten Tandy W. Coggs für eine gutmütige, harmlose Seele, ohne zu ahnen, dass in der freundlichen Verpackung ein gerissener Bursche steckte, der für seine Lizenz und für das Geld seiner Kunden allerlei leistete.
„Schreiben Sie einen Artikel darüber“, erwiderte Paul Harrison verdrossen. „Die Leute sind für so etwas dankbar. Ich denke jedenfalls nicht, dass es ein Mord war, aber was ich denke, wird niemand etwas nützen. Es wird allein darauf ankommen, die richtigen Sachverständigen vor die Schranken zu bringen.“
Er war den ganzen Tag unterwegs gewesen und fühlte sich müde. Er brauchte einen Schluck Alkohol, ein heißes Bad und ein anständiges Abendessen. Tandy W. Coggs gehörte nicht zu den Arbeitgebern, die ihren Angestellten so etwas anbieten. Er gab sich damit zufrieden, einen abgekämpften Mann stundenlang über jede Einzelheit berichten zu lassen.
„Sicher, sicher“, gab Tandy zu. „Trotzdem, wie war das mit der verklemmten Tür?“
„Noch genauso wie vorhin“, erwiderte Paul Harrison gereizt. „Bei mir ist jetzt Feierabend. Überhaupt – ich mache Schluss. Für immer! Sie können mir gleich mein restliches Geld und die Spesen mitgeben.“
Coggs schob sich langsam zurück, bis er gerade saß. Er sah jetzt munter aus und öffnete sogar die Augen. Sein rundes Gesicht verlor dabei viel von seiner sonstigen Harmlosigkeit. Es war, als kämen aus einem weichen Kissen plötzlich zwei Nadeln heraus.
„Warum, Paul?“
Paul Harrison stand auf und redete sich. Er war ziemlich langbeinig geraten, besaß aber breite Schultern. Sein Gesicht hätte für eine Schönheitskonkurrenz nicht ausgereicht, verriet aber einen Mann, der auf sich selbst stand und seine Position zu verteidigen wusste. Es war zu energisch, um viel weiche Stellen in ihm zu vermuten, und zu verschlossen, um ihn für einen Spaßvogel zu halten. Dafür lag jedoch sein helles Haar in geradezu lächerlich weichen Wellen auf seinem Kopf. Wahrscheinlich lag es daran, dass er nicht älter aussah, als er war, nämlich noch unter dreißig, so dass ihn viele Leute für einen netten Kerl hielten.
„Ich habe es satt, Tandy“, sagte er lockerer. „Ich habe es einfach satt, immer hinter irgendwelchem Dreck her zu schnüffeln. Ich hatte mir das alles ein bisschen anders vorgestellt. Und ich komme damit auch nicht weiter. Ich gehe allmählich auf die Dreißig zu. Es wird Zeit, dass ich wieder Grund unter die Füße bekomme. Ich gehe ins Exportgeschäft zurück. Etwas dagegen?“
„Schon gut, Paul“, beschwichtigte Coggs freundlich. „Wir brauchen nicht darüber zu reden. Ich habe von Anfang an damit gerechnet. Freut mich, dass ich Sie über die Zeit bringen konnte.“
Er holte sein Scheckbuch heraus. Paul Harrison setzte sich wieder. Er war froh, dass es so glatt ging. Andererseits wunderte er sich, Tandy W. Coggs gehörte nicht zu den Männern, die einen Vogel gern aus seinem Käfig herauslassen, und er, Paul Harrison, war in den letzten Monaten immerhin sein billigster und nicht einmal sein schlechtester Mann gewesen.
Tandy W. Coggs besaß eine Detektiv-Agentur, die sich mit allen möglichen Dingen von der Beobachtung untreuer Ehemänner bis zur Wirtschaftsberatung befasste. Das Geschäft ging gut. Coggs ließ ständig ein halbes Dutzend Männer für sich arbeiten. Einer von ihnen war Paul Harrison.
Paul Harrison war gelernter Exportkaufmann und er war den üblichen Weg gegangen, bis ihn der Koreakrieg aus der Bahn geworfen hatte. Er hatte nicht an den Schreibtisch zurückgefunden, sondern war Flieger geworden. Damit war für ihn ein paar Jahre lang alles in Ordnung gewesen. Dann hatte es bei einem gewagten Testversuch eine Karambolage gegeben, und als er Monate später wieder körperlich einigermaßen in Form kam, merkte er bald, dass es mit der Fliegerei vorbei war. Er begann zu zittern, sobald er nur ans Fliegen dachte. Die Ärzte hatten dafür schöne Namen, sprachen ihm eine Rente zu und hofften, dass die Nachwirkungen des Schocks mit der Zeit verschwinden würden. Sie hielten einen Schreibtisch genau für das richtige Möbel zur Beruhigung.
Paul Harrison nicht. Er war innerlich noch zu wild. Außerdem wusste er, dass er viel nachzuholen hatte. Bill Simmons wollte ihn zur Polizei holen. Dahin ging sein Ehrgeiz jedoch nicht. Aber immerhin – er landete bei Tandy W. Coggs als Rechercheur. Und das war gut so. Er bekam eine leidlich aufregende Beschäftigung, die wenigstens anfänglich den Geruch des Abenteuerlichen an sich hatte, und er bekam über den täglichen kleinen Spannungen seine
Nerven wieder in die Gewalt. Jetzt machte es ihm nichts mehr aus, sich in ein Flugzeug zu setzen.
Coggs wedelte den Scheck trocken, beugte sich nach vorn und schob ihn über den Tisch.
„Das wäre es also, Paul. Schade für mich, aber ich will Ihnen nicht im Wege stehen. Wie wär’s zum Abschluss mit einem Whisky?“
„Lieber nicht“, grinste Paul. „Sie würden es Ihr Lebtag lang bereuen, einen Whisky verschenkt zu haben.“
„Ihre blöde Stichelei!“, wehrte Coggs gekränkt ab. „Ich bezahle meine Leute anständig, aber ich bin schließlich kein Gastwirt. Wenn ich jeden Mann, der seinen Rapport macht, traktieren wollte …?“
Er griff nach dem Hörer. Das Telefon summte. Coggs meldete sich. Eine kräftige, entschiedene Stimme knallte gegen sein Ohr.
„Hallo, Tandy? Hör’ zu, du musst mir helfen. Ich stehe hier vor einem Toten. Es sieht nach Selbstmord aus. Wie komme ich hier heraus, ohne dass es jemand erfährt?“
„Ist das ein Hörspiel, Eddy?“, fragte Coggs verdutzt zurück.
„Keinen Namen!“
„Aber dreimal lachen, he?“
„Mir ist nicht danach zumute“, kam präzis die Antwort. „Denke bloß nicht, dass ich mir einen Witz mit dir machen will. Ich stehe hier tatsächlich vor einem unbekannten Toten und komme mir verdammt vor wie die Maus, die den Speck erwischt hat, aber in der Falle sitzt. Wenn sie mir fünf Minuten vor der Wahl einen Kriminalfall anhängen können ...“
„Ich verstehe“, sagte Tandy W. Coggs sanft. „Der Gouverneur würde jedenfalls anders heißen als du. Hast du etwa die Absicht, mir einen Auftrag zu erteilen?“
„Selbstverständlich. Ich schicke dir morgen hundert Dollar.“
„Hundert? Also doch ein Witz, nicht? – Tausend.“
„Bist du – hm, also gut, meinetwegen tausend. Aber nur, wenn die Sache klappt.“
„Warum sollte sie nicht? Moment!“
Er hob den Apparat vom Seitentischchen herüber und reichte Paul Harrison den zweiten Hörer. Dann kritzelte er einen Namen auf einen Zettel, den er Harrison hinschob.
Eddy H. Morris. Paul Harrison war sofort im Bilde. Morris rührte sich seit Monaten eifrig, um Gouverneur zu werden. Er besaß die besten Aussichten. Paul Harrison verstand auch, warum ihn Coggs mithören ließ. Bei unsauberen Geschichten war es immer besser, ein Tonband oder einen Zeugen mithören zu lassen.
„Also weiter, Eddy“, nahm Coggs freundschaftlich das Gespräch wieder auf. „Erzähle, was los ist. Wie kommt der Tote in deine Wohnung?“
„In meine Wohnung?“, grollte der Mann am ändern Ende der Leitung. „Bist du wahnsinnig geworden, Tandy? Ich bin augenblicklich im Majestic, Apartment 32, und ich …“
„Wo?“, fragte Coggs scharf dazwischen.
„Majestic 32. Ich kam zufällig hier herein und ...“
„Moment!“, unterbrach Coggs abermals, und diesmal klang es fast, als würde er in der nächsten Sekunde anfangen, zu kreischen. „Ich bin bestimmt wahnsinnig. Oder du bist es. Du stehst dort in einem Hotelzimmer und rufst mich über die Hotelleitung an, he? Und du hast einen Toten vor dir und verlangst von mir, dass ich dir einen Rat geben soll? Mann, das ist entweder tatsächlich ein Witz, oder du bist so voll, dass dir der Whisky aus den Ohren läuft. Hältst du mich für einen Idioten? Wenn die Telefonistin mithört, bin ich meine Lizenz los. Ich kann dir nur einen Rat geben: Ruf die Polizei an!“
„Dafür zahle ich dir keine tausend Dollar“, knurrte Morris. „Und dein Gift kannst du dir sparen. Du weißt genau, dass ich die Polizei nicht anrufen kann. Das wäre so kurz vor der Wahl das richtige Fressen für gewisse Leute. Ich muss aus der Sache heraus, ohne dass die Polizei davon erfährt.“
„Die Telefonistin schreibt schon mit.“
„Quatsch! Diese Mädchen haben mehr zu tun, als an jeder Strippe zu lauschen. Wir müssen das Risiko tragen.“
„Ich nicht, nicht für zwanzigtausend.“
„Für tausend. Denk an unsere alte Freundschaft!“
„Damit kann ich meine Miete nicht bezahlen.“
„Fünftausend!“
Tandy M. Coggs leckte sich mit der Zunge über die Lippen und schielte zu Harrison hin. Paul Harrison grinste. Jetzt saß Coggs in der Zwickmühle. Fünftausend Dollar waren ein anständiger Happen Geld für eine telefonische Beratung, und Coggs konnte immer Geld gebrauchen. Er war geradezu wild darauf. Das Geschäft ging gut, aber Paul Harrison hatte ihn im Verdacht, dass ihn sein zweiter Frühling reichlich viel Geld kostete.
„Also schön“, seufzte Tandy. „Ich bin einverstanden, weil ich mir denke, dass ihr euch ein neues Gesellschaftsspiel ausgedacht habt und mal sehen wollt, wie ein Detektiv reagiert. Erzähle, was du zu erzählen hast!“
„Wieso?“, fragte Morris gereizt zurück. „Was soll der Quatsch mit dem Gesellschaftsspiel? Ich habe überhaupt nichts zu erzählen. Ich bin hier ganz aus Versehen hineingeraten, weil ich die falsche Zimmernummer erwischt habe. Der Tote liegt windschief in einem Sessel und …“
„Wie heißt er?“
„Britt.“
„Idiot!“, seufzte Tandy abermals. „Jetzt weiß jedes Kind, dass du nicht aus Versehen in das Zimmer geraten bist.“
„Verdammt! Hm – also jedenfalls liegt er da, und seine rechte Hand hängt über einer Pistole, die auf dem Teppich liegt. Wie gesagt – mir kommt es wie Selbstmord vor. Komisch ist nur, dass der ganze Raum durcheinander ist.“
„Was heißt das?“, fragte Tandy scharf.
„Nun, als ob einer alles durchsucht hätte.“
„Du?“
„Nein.“
Coggs zischte etwas heraus, das keine Worte besaß. Paul Harrison fand, dass er ziemlich wütend dabei aussah. Tandy hatte auch allen Grund dazu. Ein durchwühltes Zimmer sprach bei Weitem mehr für Mord als für Selbstmord, und für die Polizei wie für die Lizenz machte es einen gewaltigen Unterschied, ob man in einem Fall von Selbstmord oder von Mord eingriff.
„Also was soll ich tun?“, drängte Morris.
„Verdammt!“, sagte Tandy mit Inbrunst, aber dann kam der kleine Napoleon in ihm zum Zug. Er bellte in das Mikrophon hinein, als hätte er seine Sekretärin zum Diktat bei sich.
„Zieh Handschuhe an, falls du welche mit hast. Nimm dein Taschentuch und wische alle Stellen ab, an die du mit den Fingern gekommen bist. Tür nicht vergessen. Sieh dich um, dass nichts von dir liegenbleibt. Ruf die Hauszentrale an und gib ein Telegramm an mich auf. Text: Erwarte Sie schnellstens Majestic 32 Britt. Britt – vergiss das nicht! Du bist jetzt dieser Britt. Dreh’ die Dampfheizung ab. Kippe den blauen Schalter auf Nicht stören. Türen nicht verschließen. Dann nimm dein Taschentuch vor die Nase und geh einfach hinaus. Kümmere dich nicht um irgendwelche Leute auf dem Gang. Du hast nur ein paar Meter bis zur Nebentreppe. Spiele um Himmels Willen nicht den Verbrecher. Du bist ein Mann mit reinem Gewissen, der sich eben noch die Nase ein bisschen nachputzt. Wirst du das schaffen?“
„Verlass dich drauf. Aber wenn später die Polizei ...?“
„Den Rest musst du mir überlassen. Deshalb das Telegramm. Ich schicke einen meiner Leute, der sich um den Aufwasch kümmert.“
„In Ordnung. Danke, Tandy!“
Paul Harrison legte seinen Hörer ab, nahm seinen Scheck vom Tisch und stand auf.
„Viel Spaß, Tandy! Besser, ich bin draußen, wenn die Polizei angerückt kommt. Wenn die Telefonistin tatsächlich …“
„Quatsch!“, unterbrach Tandy wegwerfend. „Automatischer Selbstwähler. Da steht die Chance für uns eine Million zu eins, nicht umgekehrt.“
„Trotzdem – ich für meine Person ...“
„Eddy besaß schon immer gute Nerven“, ging Tandy glatt darüber hinweg, als hätte er es überhaupt nicht gehört. „Ein anderer hätte es nicht gewagt, mich einfach anzurufen. Wetten, dass er dort heraus spaziert, ohne dass sich jemand an ihn erinnert? Klappen Sie nur Ihre Knochen wieder zusammen, Paul. Sie können erst losgehen, wenn Eddys Telegramm hier ist.“
„Habe ich mir gedacht“, grinste Paul. „Gott sei Dank gehöre ich nicht mehr zum Geschäft.“
Tandy blickte schnell auf und sagte scharf: „Sie sind für den heutigen Tag bis Mitternacht bezahlt worden.“
„Ohne mein Wissen. Wie viel wollen Sie heraus haben?“
„Nichts. Ich zahle noch hundert Dollar drauf.“
„Gute Nacht!“
Paul ging zur Tür, aber da kam Tandy wie angestochen aus seinem Sessel heraus und stellte sich ihm in den Weg.
„Werden Sie nicht albern!“, fauchte er wütend. „Sie haben weiter nichts zu tun, als hinzugehen und sich die Geschichte anzusehen. Allenfalls können Sie ein bisschen auf räumen, damit die Polizei nicht erst an etwas anderes als Selbstmord denkt. Mit dem Telegramm in der Tasche sind Sie genug gedeckt.“
Paul blickte gelassen auf ihn herunter.
„Weiter nichts, he? Nee, Tandy, ich habe keine Lust, mich noch zu guter Letzt in eine dreckige Sache hineinziehen zu lassen. Das stinkt doch aus allen Nähten. Morris hat diesen Britt umgelegt, und ich soll nun dafür sorgen, dass es nach Selbstmord aussieht? Ich nicht. Ich habe genug schmutzige Wäsche für Sie gewaschen, und einen Mord decken?“
„Mord?“, zischte Tandy. „Wer spricht denn von Mord? Ich kenne Eddy. Wenn er Britt umgebracht hätte, würde er es gesagt haben. Für mich geht es nur darum, ihn aus einer Polizeisache herauszuhalten, damit sie ihm bei der Wahl nicht in die Quere kommt. Er ist ein anständiger Kerl, und es ist eine verdammte Geschichte, einen anständigen Kerl in einem Dreck sitzen zu lassen, in den er ganz aus Versehen hineingeraten ist. Oder nicht?“
Paul Harrison schob ihn zurück. Sein Tonfall war jetzt erheblich mürrischer.
„Sprudeln Sie mich nicht so an, Tandy! Nächstens werden Sie mir Bibelsprüche verlesen. Der anständige Kerl kümmert Sie einen Pfifferling. Für Sie geht es um fünftausend, und um weiter nichts.“
Tandy wurde ruhig und melancholisch.
„Was wissen Sie denn, Paul? Ich kenne Eddy seit dreißig Jahren. Für mich ist das ein guter Kamerad, so wie für Sie einer von denen, die mit Ihnen zusammen in einem Flugzeug gesessen haben. Ich kann ihn nicht im Stich lassen, auch wenn es mich die Lizenz kostet. Was verlange ich denn schon von Ihnen? Sie sollen sich doch die Szene nur einmal ansehen, weiter nichts. Wenn Sie den Eindruck gewinnen, dass Eddy beteiligt sein könnte, haben Sie freie Hand. Ist das ein ehrliches Angebot oder nicht?“
Paul Harrison blickte ihn misstrauisch an. Er ließ auch nicht gern einen guten Freund im Stich, aber er traute Tandy nickt. Das war nicht seine Art. Und die Sache stank eben.
„Sie werden mich noch rühren“, sagte er bissig. „Wenn die Polizei Wind bekommt ...“
„Haben Sie eine Lizenz zu verlieren oder ich?“, schnappte Tandy dazwischen.
„Also gehen Sie selbst.“
„Ich bin krank“, behauptete Tandy ungeniert. „Meine Galle. Ich habe schon den ganzen Nachmittag gelegen und war nicht einmal im Büro.“
„Dann wird sich Ihre Galle freuen, wenn sie in Bewegung kommt.“
„Bin ich ein Urlauber?“, fragte Tandy wieder melancholischer. „Ich habe heute Abend noch mehr zu erledigen. Mein Gott, wenn ich damals soviel Umstände gemacht hätte, als Sie zu mir kamen …“
Paul Harrison gab es auf. Er hatte tatsächlich Tandy einiges zu verdanken. Für ihn war es immerhin eine kleine Lebensrettung gewesen, dass ihn Tandy so beschäftigt hatte, wie es seine Nerven brauchten, und nebenbei hatte sich Tandy nicht geschont, wenn es darauf angekommen war, ihm etwas beizubringen.
„Also schön“, murrte er. „Ich will es mir ansehen, aber mehr nicht.“
„Das genügt!“, atmete Tandy auf und ging zu seinem Wandschrank, um jetzt tatsächlich mit einer Flasche und zwei Gläsern anzurücken.
*
Es war kurz vor sieben Uhr abends, als Paul Harrison den Lieferanteneingang des „Majestic“ betrat.
Er ging an der Küche vorbei nach oben. Einige Leute begegneten ihm. Da er sich nicht für sie interessierte, kümmerten sie sich auch nicht um ihn. Er kam in den dritten Stock hinauf, ohne angehalten zu werden.
Apartment 32 lag nicht am Hauptgang, sondern an einem Quergang am Ende des Hauptganges. Der Etagenkellner hatte einen weiten Weg bis zu ihm, und zwischen Nebentreppe und Tür konnte man allenfalls mit den Leuten zusammentreffen, die ebenfalls am Quergang wohnten. Dieser Britt musste sich das Apartment herausgesucht haben, um es seinem Mörder so leicht wie möglich zu machen.
Die Tür war nicht verschlossen. Paul Harrison ging einfach hinein, schloss aber vorsichtshalber hinter sich ab. Dann drückte er die innere Tür auf und geriet in einen Vorraum mit Garderobe und drei Türen. Die Anordnung war so üblich, dass er nicht erst lange zu raten brauchte. Er ging ohne Zögern auf die mittlere Tür zu.
Er hatte sie fast erreicht, als sie von innen her aufgestoßen wurde und an seiner Nase vorbei schwang. Mit ihr kam eine Frau hastig über die Schwelle. Die Eile in ihr trieb sie noch einen Schritt weiter, dann stieß sie einen unterdrückten Laut aus und stand steif vor Schreck.
Paul Harrison war ebenfalls erschrocken, aber er befand sich bei Weitem im Vorteil und konnte schon die Details aufnehmen, während die Unbekannte noch mit sich zu tun hatte. Sie sah weniger nach einer Frau als nach einem jungen Mädchen aus. Er schätzte sie auf höchstens zwanzig. Sie konnte auch erst siebzehn sein, aber er rechnete damit, dass Kinder immer besonders jung aussehen, wenn man sie beim Naschen in der Küche erwischt. Sie besaß ein schmales, hübsches Gesicht, das ohne den Schock wohl brauner und noch hübscher aussehen mochte; dunkles, kurzgeschnittenes Haar mit einigen Locken am Mützenrand, und dunkle Augen, die der Schreck übermäßig aufgerissen hatte. Sie trug eine Baskenmütze und einen Dufflecoat, beide silbrig schimmernd, dazu dunkelblaue Teenagerhosen mit einigen farbigen Streifen, dazu leichte Sportschuhe aus dem gleichen Material wie Mütze und Dufflecoat. Das Ganze sah ziemlich einfach aus, wenigstens für Paul Harrison. Er war eben zwar Detektiv, aber Junggeselle, und ahnte nicht, dass dieses silbrige Material vom geschorenen Seehund kam und seinen Preis besaß.
Die Unbekannte stand vor einem üblen Hintergrund. Der Raum hinter ihr war erleuchtet, und das Licht fiel auf einen Mann, der halb aus einem Sessel herausgerutscht war und sehr tot aussah.
Paul Harrison notierte das nur am Rande. Seine Aufmerksamkeit blieb bei dem Mädchen, das kaum einen Meter von ihm entfernt mit dem Schock fertig zu werden versuchte. Jetzt kam das Schluchzten, auf das er gewartet hatte, und gleichzeitig kehrte das Blut in ihr Gesicht zurück.
„Schöner Schreck um die Abendstunde, nicht?“, half er nach. „Tut mir Leid. Wenn ich gewusst hätte, dass Sie hier sind, hätte ich vorher geklingelt.“
Es war der falsche Zungenschlag. Sie ging nicht darauf ein, sondern trat schnell einen Schritt zurück, griff in die Tasche ihres Dufflecoats und riss einen kleinen Selbstlader heraus.
„Ich schieße, wenn Sie mich nicht vorbei lassen!“, drohte sie gefährlich leise.
Paul Harrison blickte genau in das kleine, schwarze Loch hinein. Er kannte diese Sorte von Automatic zu gut, um sich auf das kleine Kaliber zu verlassen. Und das Gesicht hinter dem Loch reizte ihn nicht zu einer Spielerei. Die Unbekannte würde schießen. Die Panik hockte noch in ihr, aber dieses konzentrierte, entschlossene Gesicht sprach für einen Menschen, der sich genauso weit zusammenreißen kann, um eine Panik durch den Lauf einer Pistole hindurch zu jagen.
„Schon gut“, beruhigte er, ohne sich zu rühren. „Ich halte Sie nicht auf. Guten Abend!“
Sie wich weiter von ihm zurück und ging halb rückwärts auf die Doppeltür zu. Ihr Gesicht entspannte sich etwas, blieb aber wachsam.
„Wer sind Sie?“
„Sie können mich Liebling nennen“, schlug er trocken vor, denn er hatte keine Lust, sie einzuweihen. „Wenn Sie noch eine Minute Zeit haben, können wir in aller Ruhe …“
„Haben Sie ihn erschossen?“
„Na na? Sehe ich so aus?“
Sie hatte die Tür erreicht.
„Ja, Sie sehen so aus“, bestätigte sie ernsthaft. „Aber es war ein gutes Werk. Ich werde vergessen, dass ich Sie hier gesehen habe.“
„Danke!“, knurrte er. Immerhin war das ein bildhübsches junges Ding, und wenn er sich auch nicht viel aus Frauen machte, so fand er es doch nicht erfreulich, dass er keinen besseren Eindruck erweckt hatte. „Sie übersehen, dass ich eben erst eingetroffen bin. Nicht ich, sondern Sie kamen mit einer Pistole dort heraus.“
„Ich habe ihn nicht umgebracht.“
„Ich auch nicht, falls Sie das interessiert.“
„Es interessiert mich nicht“, erwiderte sie kühl und wischte hinaus. Sie war sofort wieder da.
„Sie haben die Außentür abgeschlossen?“
„Meine Gewohnheit“, antwortete er. „Ich lasse mich nicht gern überraschen, wenn ich mich bei anderen Leuten umsehe.“
„Sind Sie von der Polizei?“
„Nein.“
„Geben Sie den Schlüssel her!“
Er zog ihn aus der Tasche und hielt ihn auf dem Handteller hin. „Bitte!“
„Werfen!“
Er schüttelte nachsichtig den Kopf. Sie war wirklich eine Anfängerin, wie sie im Buch stand. Der Teufel mochte wissen, was sie hier mit einer Pistole in der Hand zu suchen hatte. Aber soviel Intelligenz besaß sie natürlich, um ihn einzuschließen, falls er ihr den Schlüssel aushändigte.
„Ich werde Ihnen aufschließen“, sagte er so gutmütig, wie er es fertigbrachte. „Ihr Glück, dass ich Mitleid mit Kindern habe. Ich hätte jetzt ebenso gut eine Waffe aus der Tasche herausbringen können. Was dann? Stecken Sie Ihr Spielzeug nur getrost weg. Ich tue Ihnen nichts.“