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Für alle besten Freundinnen und Freunde. Ihr seid unbezahlbar!

Und für meine Kinder. Immer für euch.

PROLOG

Vignette

Es dämmerte. Über dem hellen Schein der untergehenden Sonne zerstreute sich ein purpurfarbenes Licht und die ersten Sterne zeigten sich schwach am Horizont. Schon bald würde der rote Mond den Himmel über Schloss Glamis beherrschen.

Coraline Strackmore wandte sich vom Fenster ab, senkte den Kopf und seufzte. Ihre Hände umklammerten ein gerahmtes Foto, das einen kleinen Jungen am Strand von Seacliff beim Muschelsuchen zeigte. Sie drückte es an ihre Brust und Tränen der Verzweiflung quollen aus ihren Augen. Als es plötzlich an der Tür klopfte, fuhr die Gräfin erschrocken zusammen.

»Coraline, Liebes?« Ihr Ehemann Henry streckte zaghaft den Kopf durch den Türspalt. Nur langsam schaute sie zu ihm auf. »Es ist so weit.«

Sie nickte, ließ ihren Blick wieder zum Fenster schweifen und wischte sich die Tränen aus den Augen.

»Du weißt, dass wir keine andere Wahl haben?«

Coraline schluckte hörbar, während sie das Bild des kleinen Jungen zurück auf die Anrichte des Salons stellte. »Ich weiß.« Diese Worte kamen ihr nur schwer über die Lippen. Sie klangen eher wie eine einstudierte Antwort – wenig überzeugt, erstickt und rau.

»Er sollte nicht das Gefühl haben, allein zu sein, wenn er in die Krypta gebracht wird. Meinst du nicht auch?« Ihr Mann hielt ihr seine Hand entgegen.

Die Gräfin nahm einen tiefen Atemzug und ließ sich von Henry aus dem Zimmer führen. »Nein, das sollte er nicht.«

Gemeinsam gingen sie in den Ostflügel des Schlosses, wo bereits drei Männer in schwarzen Ledermänteln auf sie warteten.

»Es hat begonnen«, sagte einer von ihnen. »Der Mond ist aufgegangen.«

Die anderen nickten entschlossen.

Graf Strackmore trat vor sie und hob die Hände. »Ich werde ihn selbst in die Krypta bringen«, sagte er, woraufhin die Männer überraschte Blicke tauschten.

»Denkst du wirklich, dass du das kannst?«, fragte einer von ihnen. Er war groß gewachsen, sein schulterlanges schwarzes Haar fiel ihm strähnig ins Gesicht, während er Henry aus forschen Augen musterte.

»Ich muss es tun«, antwortete dieser zögerlich.

»Das ist meine Aufgabe!« Im Blick des Mannes lag etwas Unberechenbares, etwas Erschreckendes.

Unwillkürlich trat der Graf einen Schritt zurück. Er sah zu seiner Frau, atmete hörbar ein und im nächsten Moment kam er seinem Gegenüber näher als zuvor. Diesmal war es sein Blick, der diesen erschreckte. »Aber er ist mein Sohn, Murdoch! Wenn es schon geschehen muss, dann durch meine eigene Hand. Er soll wissen, dass es nicht anders geht.«

Murdoch machte schmale Augen. »Er weiß es. Er hat es bereits in sich gespürt, noch bevor es erste Anzeichen gab. Was jetzt mit ihm geschehen muss, ist Tradition.«

»Es ist ein Fluch!«, wandte die Gräfin mit vor Wut zitternder Unterlippe ein. Ihr Mann legte beruhigend den Arm um sie. »Er kann nichts dafür, was er ist. Es ist allein unsere Schuld. Die Ahnen der Strackmores haben zu verantworten, was mit unseren Kindern geschieht.« Weinend sank sie auf ihre Knie.

»Nun«, sagte Murdoch mit einem hämischen Grinsen im Gesicht, »dann sollte eure Familie vielleicht damit aufhören, Kinder zu zeugen.«

Der Graf schluckte eine Erwiderung hinunter. Er ging vor seiner Frau in die Hocke und drückte ihren Kopf an seine Schulter. »Es ist nicht seine Schuld, trotzdem muss er dafür büßen – das weißt du so gut wie ich, Cora.«

Murdoch wartete nicht länger. Er öffnete die Tür zu seiner Rechten, hinter der ein leises Brummen zu hören war.

»Halt!«, ermahnte Henry ihn und trat rasch an seine Seite. »Ich sagte doch, überlass ihn mir.« Beim Anblick seines Sohnes erstarrte der Graf augenblicklich.

»Sieh genau hin! Das ist seine wahre Natur. Der Blutmond hat sie offenbart. Es wird schlimmer.« Murdoch sah ihn voller Genugtuung an.

Langsam stemmte sich auch die Gräfin wieder auf die Beine und ging auf das Zimmer ihres Sohnes zu. Im Türrahmen stehend, schlug sie fassungslos die Hände vor den Mund. »Zachary?«

Er reagierte nicht. Wie in Trance blickten seine blutunterlaufenen Augen zur Zimmerdecke hinauf, das Brummen war in ein Schnaufen übergegangen, das dem eines wilden Tieres glich. Weißer Schaum umgab die Mundwinkel und seine Haut war so durchscheinend, dass sich darauf die Blutgefäße abzeichneten.

»Mein Junge!« Die Gräfin wollte zu ihm, sich an sein Bett setzen und seine Hand ergreifen, aber ihr Mann hielt sie energisch zurück. »Er ist krank!«, rechtfertigte sie sich.

»Nosferatu – der wandelnde Tod«, zischelte Murdoch. »Es ist nichts, das man heilen könnte. Zachary ist der Fluchträger, daran gibt es keine Zweifel.«

»Nein!«, schrie die Gräfin unter Tränen. Bis zuletzt hatte sie gehofft, dass ihrem Kind diese Bürde erspart blieb – vergeblich.

Henry legte eine Hand an ihr Kinn, um sie dazu zu bringen, ihn anzusehen. »Cora, Liebling. Wir können ihm nicht helfen. Niemand kann das. Er ist verloren.«

»Er ist nicht länger der Junge, den ihr gekannt habt«, sagte Murdoch. »Sein Durst nach Blut macht ihn zu einer Gefahr für die Menschen. Selbst für euch.«

Er gab den beiden Männern hinter ihm ein Zeichen. Sie betraten das Schlafzimmer und zogen den jungen Mann aus seinem Bett. Vorbei an den verzweifelten Eltern, die ihnen durch einen langen Flur und schließlich über die große Freitreppe hinterhereilten. Ihr Weg führte sie hinunter in die ehemalige Kapelle, hinein in die Krypta des alten Schlosses, tief unter der Erde. Zachary wehrte sich nicht. Der Blutmond, der diese Nacht beherrschte, hatte seine Sinne betäubt, ihn in einen Rausch versetzt. Den ersten, den er als Verfluchter, als naturgeborener Vampir erlebte, und es sollte auch sein letzter sein.

In der Krypta warfen Murdochs Männer Zachary in eine steinerne Zelle, in deren Mauern Dutzende Kruzifixe hineingehauen waren. Sie schwächten Zachary, ließen ihn in sich zusammensinken. Direkt auf das silberne Kreuz, das auf dem massiven Boden schimmerte.

Ohne ein Fenster, das das Licht des Blutmonds hineinließ, wurde er wieder klar. Er kam zu sich und das Bild eines Gegeißelten verflog. Plötzlich sah die Gräfin in nichts anderes als die unschuldigen Augen ihres dreiundzwanzigjährigen Sohnes. Der Blutmond hatte ihn berufen und seine Willkür glich einer Folter.

»Was geht hier vor? Was tut ihr da?« Zachary sprang erschrocken auf. Er versuchte, sich aus der Zelle zu befreien, aber die Männer drängten ihn zurück. Ungerührt zogen sie die Mauer vor ihm hoch.

»Seht ihn euch doch an«, sagte die Gräfin. »Er ist keine Gefahr!«

»Er ist ein Vampir, Cora!«, entgegnete ihr Mann. »Schau nur richtig hin.« Er deutete auf das steinerne Gefängnis, aus dem Zachary versuchte, zu entkommen, doch das Kreuz zu seinen Füßen hielt ihn darin fest. Es bildete eine unsichtbare Barriere, die ihn daran hinderte, zu fliehen.

Seine Mutter schüttelte entgeistert den Kopf. »Das ist Wahnsinn!«

»Wir dürfen uns nicht täuschen lassen.« Der Graf hielt seine Frau an den Armen fest, um sie davon abzuhalten, in das Geschehen einzugreifen.

Nur noch wenige Mauersteine, dann war es vollbracht. Hilfe suchend starrte Zachary seinen Eltern aus dem finsteren Verlies entgegen. Er wusste, was mit ihm passierte. Er war an dem Ort, an dem bereits viele Strackmore-Nachkommen ihr Ende gefunden hatten. Der Fluch hatte sie alle gefordert und nun traf er auch ihn. Zachary wagte es nicht, daran zu denken, wie viele Zellen sich hinter der seinen befanden.

Als ihn nur noch ein einziger Stein von seinen Eltern und der Freiheit trennte, schob seine Mutter ihr Gesicht vor das Loch. Sie reichte ihm ihre Hand und er ergriff sie sofort. Tränen rannen seine Wangen hinab und er sah, dass auch die Augen seiner Mutter glitzerten.

»Ich liebe dich, mein Sohn«, hauchte sie mit erstickter Stimme. »Bitte vergiss das nicht.«

Er nickte schluchzend.

»Hör genau zu, was ich dir jetzt sage, Zachary. Ich werde einen Weg finden, diesen Fluch zu beenden. Das verspreche ich dir!« Ein letztes Mal drückte sie seine Hand ganz fest, dann setzte Murdoch wortlos den verbliebenen Stein. »Halte daran fest, mein Junge!« Die Gräfin legte ihre Hand auf die kalten Mauern, hinter denen ihr Sohn gefangen war. »Halte daran fest!«

Die Trauer über den Verlust ihres einzigen Kindes ließ sie innerlich zusammenbrechen. Verstört wandte sie sich zu ihrem Mann um, der reglos hinter ihr stand. In ihrem Blick lag kein Mitgefühl, nur blanker Hass.

»Es ist deine Schuld«, fuhr sie ihn an. »Ganz allein deine! Wie konntest du das nur zulassen?«

Sie rauschte aus der Krypta, aber ihre Worte hallten noch lange in dem hohen Raum wider. In diesem Augenblick ließ sie den Grafen für immer hinter sich.

KAPITEL EINS

Blutroter Mond

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Ein langer Tag lag hinter mir. Ich war müde. Erst die Arbeit im Café, dann die Party. Dank meiner neuen roten High Heels, die im Regal wesentlich bequemer ausgesehen hatten, brannten meine Füße. Eigentlich wäre ich nach der Arbeit lieber auf die Couch gefallen, hätte mir irgendetwas im Fernsehen angesehen, bis ich davor eingeschlafen wäre. Megan war jedoch meine beste Freundin und sie feierte ihre bestandene Zwischenprüfung in Psychologie. Zwei Gründe, weshalb ich mich auf ihrer Party hatte blicken lassen müssen.

»Du willst wirklich schon gehen, Sarah?«

Ich stand auf der Veranda der Blockhütte, aus der Hip-Hop dröhnte, und versuchte, Megans enttäuschte Miene nicht auf mich wirken zu lassen. Gelächter und das Aneinanderklirren von Flaschen waren von drinnen zu hören.

»Ich muss morgen früh raus!«, erklärte ich, während ich mir eine Strähne meines dicken rotblonden Haars hinters Ohr steckte, die zum wiederholten Mal in mein Sichtfeld gefallen war.

»Kann dein Vater nicht die erste Schicht übernehmen?«

»Er hat noch etwas zu erledigen. Ich habe ihm versprochen, das Café aufzuschließen.«

Megan wirkte wenig überzeugt.

Ich wollte ihr nicht sagen, dass meine Eltern einen Banktermin wegen der Hypothek hatten, die auf dem Café und unserem Haus lastete. Auch wenn ich ihr sonst alles anvertraute, die Sorgen wegen unserer miserablen finanziellen Lage wollte ich für mich behalten. Ich schämte mich dafür, und auszusprechen, wie schlecht es in Wahrheit um unser Café stand, wäre für mich einer Niederlage gleichgekommen. Ich wollte meine letzte Hoffnung nicht verlieren, dass sich vielleicht doch noch alles zum Guten wenden würde.

Megan stemmte die Hände in die Hüfte und legte den Kopf schief. »Ich möchte mal wissen, was mit dir los ist. Früher hättest du dir keine Party entgehen lassen.«

Ich lächelte sanft. »Das habe ich auch heute nicht. Ich kann nur nicht so lange bleiben. Tut mir leid! Du bist mir doch nicht böse?«

Megan klimperte mit ihren langen falschen Wimpern, dann kam sie auf mich zu und umarmte mich. »So ein Unsinn. Wieso sollte ich deswegen böse sein? Ich mache mir nur Sorgen um dich. In letzter Zeit siehst du ziemlich erschöpft aus. Meinst du nicht, dass du dich vielleicht etwas zu sehr in die Arbeit im Café reinhängst?«

Ich schüttelte leicht den Kopf.

Megan betrachtete mich eindringlich. »Du solltest deinen Eltern sagen, dass es dir zu viel wird. Es ist schließlich ihr Laden. Sie können nicht von dir verlangen, dass du dafür deine Zukunftspläne hinschmeißt.«

»Tun sie nicht.«

Megan hob die Augenbrauen. Es war offensichtlich, dass sie mir nicht glaubte. »Was ist mit Edinburgh?«

Wieder schüttelte ich den Kopf. »Ich kann jetzt nicht studieren gehen.«

»Weil deine Eltern dich brauchen«, sagte sie in einem leicht abfälligen Ton.

»Sie hindern mich nicht daran. Es ist nicht so, wie du denkst. Ein Studium ist im Moment einfach nicht möglich.«

Megan musterte mich eingehend. Sie presste bedauernd die Lippen aufeinander. »Na gut.« Sie drückte mich noch einmal an sich. »Fahr heim und hol dir eine Mütze Schlaf. Aber pass auf dich auf, ja?«

»Versprochen. Ich schreibe dir, sobald ich zu Hause bin.« Ich zückte die Autoschlüssel und ging zu meinem alten Mini Cooper, dessen hellblaue Farbe von Rostflecken durchwandert war. Die eingedellte Motorhaube stammte noch vom Vorbesitzer. Mit seinen zwölf Jahren war mein Mini sicherlich kein besonders schöner Wagen mehr, aber er erfüllte seinen Zweck, und das war entscheidend.

»Ach du Scheiße!«, rief auf einmal jemand hinter mir. Erschrocken drehte ich mich um. Megans Freund Ethan stand neben ihr und starrte hinauf zum Himmel. Unwillkürlich folgte ich seinem Blick.

»Was ist das denn auf einmal?«, hörte ich meine beste Freundin fragen.

Der Nachthimmel war von einem seltsamen Nebel durchzogen, der um einen kupferroten Mond wallte und den Horizont völlig für sich einnahm. Kein Stern war mehr zu sehen. Als hätte der unheimlich aussehende Mond sie alle verschlungen.

»Das heißt, dass heute Nacht Blut vergossen wird. Muahhh …«, raunte Ethan verschwörerisch.

»Mann, lass den Scheiß!«, brüllte Megan.

Ich wusste, er versuchte nur, uns Angst einzujagen, aber bei seinen Worten und dem Anblick des Spektakels am Himmel lief mir ein eiskalter Schauder über den Rücken.

Ethan lachte. Erst als er merkte, wie sehr uns der rot schimmernde Himmel beunruhigte, wurde er ernst. »Hey, das ist bestimmt nichts weiter als eine Mondfinsternis.«

»Bist du sicher?«, erkundigte sich Megan.

»Na klar! So sieht das am Anfang immer aus.«

Ein plötzlich aufkommender Wind wehte mir meine Haare ins Gesicht. Für einen Moment horchte ich auf, denn er erschien mir merkwürdig stumm. Als hätte jemand die Lautstärke heruntergedreht, drangen die Geräusche der Party für mich in den Hintergrund. Mein Blick suchte die umliegenden Baumkronen, die sich durch die Kraft des Windes zur Seite bogen. Keine raschelnden Blätter, kein einknickendes Geäst.

Ich sah zu Megan, deren Augen sich ein wenig verengten. Ethan nippte ungerührt an einer Bierflasche. Unwillkürlich schüttelte ich mich, bevor ich ins Auto einstieg. Wahrscheinlich war ich einfach nur total übermüdet.

»Und vergiss nicht, dich zu melden, wenn du zu Hause bist«, erinnerte mich Megan.

»Keine Sorge.« Ich winkte ihr und schlug die Autotür zu.

***

Es war kurz nach Mitternacht, als es zu regnen begann. Quietschend schoben sich die Scheibenwischer hin und her. Ich hatte die Wischblätter längst auswechseln wollen, doch ich war noch nicht dazu gekommen. Jetzt bildeten sie hässliche Schlieren, die meine Sicht verschlechterten. Der Mond verlieh dem regennassen Asphalt einen rötlichen Glanz. Unwirkliche Schatten, hervorgerufen von knorrigen Ästen, tanzten auf der einsamen Straße.

Gähnend schaltete ich das Radio ein, während der Wald an mir vorbeirauschte. Auf allen gespeicherten Sendern herrschte nichts als ein dröhnendes Rauschen. Der automatische Suchlauf dauerte eine kleine Ewigkeit.

»Muss kaputt sein«, murrte ich und schlug mit der flachen Hand gegen die Armatur. Gleich darauf war der Suchlauf erfolgreich, wenn auch etwas gewöhnungsbedürftig. Aus den Lautsprechern tönte eine sanfte Swing-Melodie im Stil der dreißiger Jahre. Die Musik klang, als käme sie aus einem Grammophon. Antiquiert, aber dennoch unterhaltsam und leicht. Froh darüber, irgendetwas zu empfangen, drehte ich lauter. Die Frau sang mit rauer Stimme von der Erbarmungslosigkeit der Liebe. Der Text war so einfach zu merken, dass ich den Refrain bereits nach der zweiten Strophe mitträllerte.

»Blue moon. You saw me standing alone …«

Ich hatte das Gefühl, dieses Lied zu kennen. Wahrscheinlich war es einer dieser Klassiker, die jeder schon einmal gehört hatte, wenn auch unbewusst.

Meine Augen brannten vor Müdigkeit. Ich riss sie gewaltsam auf, doch sie fühlten sich so staubtrocken an, dass es das Brennen nur noch schlimmer machte.

»Bleib wach, Sarah«, ermahnte ich mich selbst, in der Hoffnung, der Klang meiner Stimme würde dafür sorgen. »Gleich bist du da. Nur noch ein paar Kilometer.«

Die Straße schien kein Ende zu nehmen. Sie war mir noch nie so lang vorgekommen. Gähnend drehte ich die Lautstärke des Radios nochmals hoch und trommelte mit den Fingern im Takt der Musik auf dem Lenkrad.

Als die Scheinwerfer das Richtungsschild mit der Aufschrift Forfar anstrahlten, fühlte ich mich schon wacher. Hier endete der Wald. Erleichtert darüber, ihn hinter mir gelassen zu haben, stellte ich das Radio leiser und schnaufte durch.

Auf der bisherigen Strecke war mir kein einziges Auto entgegengekommen. Auch das letzte Stück des Weges in Richtung Stadt blieb einsam. Ich tröstete mich mit dem Gedanken, diese endlos erscheinende Fahrt bald hinter mich gebracht zu haben.

»Es ist nicht mehr weit«, sagte ich mir immer wieder.

Die Nacht wirkte furchteinflößend – dafür sorgten die dichten Nebelbänke, der Wind, der hin und wieder so stark war, dass er meinen Mini ins Wanken brachte, und nicht zuletzt der unheimliche Mond, der ununterbrochen auf mich herabschien. Beinahe sah es so aus, als würde er mich verfolgen.

»Bestimmt irgend so ein seltenes Naturereignis«, sagte ich mir. »Eine Mondfinsternis, wie es Ethan vermutet hat. Von der ich wahrscheinlich wüsste, hätte ich in den letzten Tagen ferngesehen.«

Ich hatte wirklich kaum noch Zeit für mich, geschweige denn für das Alltägliche. Megan hatte recht! Es musste sich etwas ändern. Ich sollte mir endlich eingestehen, dass die Arbeit im Café nicht das war, was mich ausfüllte, und die Existenzsorgen meiner Eltern mich allmählich auffraßen. Vielleicht sollte ich mit ihnen reden. Ja, wahrscheinlich wäre es das Beste.

Die Erschöpfung ließ mich frösteln. Gedanklich war ich bereits in meinem Schlafzimmer und zog mir die Bettdecke über die Schultern. Automatisch sackte ich ein wenig im Sitz zusammen. In meinem Zustand war die Eintönigkeit dieser Straße brandgefährlich. Inzwischen war ich jedoch zu müde, um mich selbst daran zu erinnern. Für den Bruchteil einer Sekunde schlossen sich meine Augen und meine Hände rutschten vom Lenkrad.

Und dann ging alles ganz schnell. Ich kam von der Fahrbahn ab, schlitterte in den Graben und überschlug mich. Im nächsten Augenblick durchzog ein stechender Schmerz meinen Körper. Blut rann meine Schläfen hinunter. Es fühlte sich warm und feucht an, als es die Wangen erreichte und von dort auf das eingedrückte Armaturenbrett tropfte.

Ich versuchte, meinen Arm zu bewegen, der über dem Lenkrad lag, wollte den Gurt lösen und mich aus dem Sitz befreien, aber mein Körper reagierte nicht. Mein Nacken spannte unerträglich. Es war mir nicht möglich, mich aufzurichten. Ich war wie gelähmt. Selbst das Schlucken verursachte höllische Schmerzen.

Ich wollte nach meinem Handy greifen, doch meine Handtasche lag nicht länger im Fußraum vor dem Beifahrersitz und war unerreichbar für mich.

Meiner aufsteigenden Panik folgte die schreckliche Erkenntnis, dass ich allein war. Ungeordnet und hastig rotierten meine Gedanken – ich wollte noch nicht sterben. Ich dachte an meine Eltern und spürte, wie sich meine Augen mit Tränen füllten.

Mir stieg der beißende Geruch von Benzin in die Nase und ich ahnte Schreckliches.

»Hilfe«, hörte ich mich flüstern. Einmal. Zweimal. Dreimal. Es nützte nichts. Niemand war in meiner Nähe, der mich hätte hören können. Der Mond ließ sein unbarmherziges Licht wie einen Fingerzeig auf mich herabscheinen und mir war, als würde er mich auslachen.

Hoffnungsvoll klammerte sich mein Blick an den kleinen goldhaarigen Schutzengel, den mir meine Mutter zur bestandenen Führerscheinprüfung geschenkt hatte. Die Heftigkeit des Unfalls hatte ihn vom Rückspiegel gerissen. Nun lag er mit dem Gesicht zu mir gegen die Scheibe gelehnt und wurde vom Blutmond angestrahlt. Der bizarre Anblick rief mir Ethans fadenscheinige Warnung ins Gedächtnis.

Die Schmerzen raubten mir fast den Verstand. Ich spürte, wie meine Glieder taub wurden. Sollte das wirklich alles gewesen sein, was das Leben für mich bereithielt? Das Atmen fiel mir zunehmend schwerer. Mein Herzschlag ging stetig langsamer. Immer leiser strömte die Luft aus mir heraus, bis ich überhaupt nicht mehr einatmen konnte. Es wurde still.

Mein Blick glitt zurück auf die einsame Straße. Noch immer schimmerte sie rötlich im Schein des unheimlichen Mondes. Plötzlich sah ich die vagen Umrisse einer Person, die aus den Schatten trat. Wie ein Geist bewegte sie sich auf mich zu. Erst als sie vor der zersprungenen Windschutzscheibe angekommen war, erkannte ich, dass es sich um einen jungen Mann handelte. Ein berstendes Geräusch folgte. Vergeblich versuchte ich, den Kopf zur Seite zu drehen. Ich spürte die eiskalte Nachtluft ins Auto strömen. Kurz darauf schob sich das Gesicht des Mannes vor meins. Sein Erscheinen ließ mein Herz noch einmal kräftiger gegen den Brustkorb hämmern. Das Letzte, was ich sah, bevor mein Blick trüb wurde, waren seine leuchtend blauen Augen.

»Du bleibst«, hauchte der Mann, dann presste er seine Lippen auf meine. Ein süßer Geschmack ging auf mich über und wie ein Stromschlag fuhr ein gewaltiges Ruckeln durch meine Glieder. Als wäre ich von einem langen Tauchgang an die Oberfläche zurückgekehrt, schnappte ich nach Luft. Mein Herz nahm seine Tätigkeit wieder auf. Es pulsierte stark und gleichmäßig.

Vorsichtig löste sich der Fremde aus der intensiven Berührung und legte mir seine Hand in den Nacken.

Es war unglaublich. Meine Schmerzen ließen nach. Wie konnte das sein? Ich fühlte mich nicht länger wie jemand, der gerade fast gestorben wäre. Als hätte mich der Kuss dieses Mannes zurück ins Leben geholt.

»Wer bist du?«, fragte ich zaghaft, denn das Sprechen kostete mich noch viel Kraft. Aber ich musste wissen, wem ich mein Leben zu verdanken hatte.

Der Fremde lächelte sanft. »Hab keine Angst. Alles wird gut. Kannst du den Arm um mich legen?«

Ich wollte antworten, ihm sagen, dass ich nicht fähig war, auch nur den kleinen Finger zu bewegen, aber ich blieb stumm. Der Schock hatte mir die Sprache verschlagen.

Er betrachtete mich aufmerksam. »Ist schon gut.« Seine tiefe Stimme hatte eine beruhigende Wirkung auf mich. »Ich hole dich hier raus.«

Ich spürte, wie er mich aus dem Gurt befreite, dann umfasste er behutsam meine Taille, hob mich aus dem Autowrack und legte mich fernab der Straße ins Gras. Mir gelang es, mich ein wenig aufzurichten, meinen Arm zu bewegen. Als der Fremde sich noch einmal zu mir hinunterbeugte, führte ich die Hand an seine Wange.

»Hilfe ist unterwegs. Du wirst wieder gesund«, versicherte er mir und legte behutsam seine Hand über meine.

»Ich danke dir!«, flüsterte ich.

Der Fremde nickte leicht. Aus der Ferne näherte sich ein Rettungswagen und ich schaute den blinkenden Lichtern entgegen. Nur für einen Moment hatte ich den Blick abgewandt, doch als ich mich umsah, war ich allein. Meine Hand, die unter der meines Retters gelegen hatte, griff ins Leere, als wäre er ein Geist gewesen. Suchend schaute ich mich um. Bei den ruckartigen Bewegungen pochte mein Kopf.

Gedämpft hörte ich einen Knall. Plötzlich erhellten Flammen den Nachthimmel. Ich fühlte, wie sich die Hitze zu mir vortastete, als wollte sie mich verschlingen. Mir war schwindelig. Alles um mich herum begann sich zu drehen. Ohne dass ich etwas dagegen unternehmen konnte, fiel ich zurück ins Gras.

KAPITEL ZWEI

Unvergesslich

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Ich erwachte in einem Zimmer mit kahlen weißen Wänden. Der Geruch von Desinfektionsmittel und Latexhandschuhen schwebte im Raum. Es war unschwer zu erraten, wo ich mich befand.

Durch ein Fenster drang das matte Licht eines wolkenverhangenen Tages. Der Regen hämmerte gegen die Scheibe.

Allmählich kam die Erinnerung an das, was mir passiert war, zurück. Bruchstückhaft und verworren, aber sie ließ keine Zweifel darüber aufkommen, dass ich einen schweren Unfall erlitten hatte.

Rasch streckte ich beide Beine durch und wagte einen ängstlichen Blick unter die Bettdecke. Gott sei Dank!, dachte ich erleichtert. Alles noch dran.

Im nächsten Moment ging die Tür auf und meine Eltern kamen herein.

»Sie ist wach!« Meine Mutter, in der Hand einen Strauß bunter Rosen, eilte an mein Bett und drückte mir ihren Kuss auf die Stirn. »Wie geht es dir, Liebes?«

»Ich fühle mich ziemlich durchgeschüttelt«, antwortete ich schwach.

»Solange es nur das ist!«, sagte mein Vater. »Die Ärzte meinen, es grenzt an ein Wunder, dass du den Unfall überlebt hast.«

»Dein Auto war kaum mehr als solches zu erkennen«, ergänzte Mum.

Ich sah zwischen den beiden hin und her. »Ist das wahr?«

Dad nickte bekümmert. »Kannst du dich daran erinnern, was passiert ist?«

Ich dachte angestrengt nach. »Ich muss wohl kurz eingenickt sein.«

Meine Eltern betrachteten einander besorgt.

»Zum Glück konntest du dich aus dem Wagen befreien, bevor er in Flammen aufging!« Mein Vater hatte Tränen in den Augen, was mich sehr mitnahm, denn so aufgelöst hatte ich ihn noch nie gesehen.

Schockiert schluckte ich. Mein Mini war also Geschichte – auch das musste ich erst mal verarbeiten.

»Das war ich nicht«, verbesserte ich Dad kurz darauf, denn die Erinnerung an die vergangene Nacht wurde immer klarer. »Ich hätte mich nie allein befreien können. Ich war eingeklemmt.« Meine Stimme klang nun kraftvoller. »Es war jemand bei mir. Ein Mann. Er hat mich aus dem Auto geholt.« Ich sah, wie meine Eltern ratlose Blicke tauschten. »Ohne ihn wäre ich nicht mehr am Leben.«

Langsam tasteten sich meine Hände unter der Bettdecke hervor. Die linke war bandagiert. Als ich sie auf dem Laken ablegte, bemerkte ich ein Ziehen im Gelenk. Im rechten Handrücken steckte eine Kanüle, über die mir eine Infusion verabreicht wurde.

»Du meinst sicher einen der Sanitäter«, spekulierte meine Mutter.

»Nein«, erwiderte ich kopfschüttelnd. »Er war kein Sanitäter. Der Mann war vor den Rettungskräften bei mir.«

»In dieser gottverlassenen Gegend? Bist du dir da ganz sicher?« Dad musterte mich kritisch.

»Ja!«

Wieder tauschten meine Eltern Blicke. Diesmal wirkten sie überaus besorgt.

»Ich werde mal eine Vase für die Blumen holen. Und nach dem Arzt schicken.« Mum lächelte leicht, dann verschwand sie zur Tür hinaus.

»Stimmt etwas nicht?«, erkundigte ich mich vorsichtig.

Mein Vater nahm sich einen Stuhl und setzte sich neben mich.

»Sarah.«

Nie zuvor hatte ich ihn derart ernst gesehen.

»Was ist denn?«

»Letzte Nacht, nach dem Unfall … Da war kein Mann, der dich aus dem Auto gezogen hat. Du warst allein, als der Krankenwagen bei dir eintraf. Darüber sind sich alle Rettungskräfte einig.«

»Er verschwand, bevor der Krankenwagen kam. Ich weiß doch, was ich gesehen habe. Außerdem, wer soll die Rettungskräfte sonst alarmiert haben?«

Dad schüttelte leicht den Kopf. »Ich weiß es nicht. Laut den Sanitätern gab es einen anonymen Hinweis.«

»Siehst du? Das bestätigt doch, was ich sage.«

Dad wirkte nicht überzeugt. »Tatsache ist, dass ihn niemand gesehen hat. Sarah, bei dem Aufprall bist du mit dem Kopf hart auf dem Lenkrad aufgeschlagen.«

Ich schnaufte tief durch. »Dann soll ich allein aus dem Auto geklettert sein?«

Mein Vater nickte geduldig.

»Aber ich habe jemanden gesehen. Ich erinnere mich genau. Und er hat …« Ich stockte kurz.

»Was?«

Statt meinem Vater zu antworten, atmete ich ein weiteres Mal tief durch und behielt das, was ich glaubte, erlebt zu haben, für mich. Die Tatsache, dass mich ein Kuss vor dem Tod bewahrt hatte, klang einfach zu verrückt. Womöglich hatte ich mir den Fremden mit den strahlend blauen Augen wirklich eingebildet.

Benommen fasste ich mir an die Stirn. Ein breites Pflaster deckte sie ab. Ich zog die Möglichkeit in Betracht, dass der Mann nur eine Halluzination gewesen war. Etwas, das sich mein Unterbewusstsein in dieser lebensbedrohlichen Situation herbeigesehnt hatte. Aber wer oder was auch immer er gewesen war, nur durch ihn hatte ich dem sicheren Tod entkommen können.

***

Auch Megans Besuch ließ nicht lange auf sich warten. Sie hatte sich bei meiner Mutter gemeldet, nachdem meine versprochene Nachricht ausgeblieben war, und so von meinem Unfall erfahren.

Sie machte sich schwere Vorwürfe, weil sie mich in der Partynacht hatte fahren lassen, obwohl ich so müde gewesen war. Sie schwor, bis auf Weiteres keine Partys mehr zu geben, erst recht nicht auf der Blockhütte in Glamis. Stattdessen überhäufte sie mich mit Pralinen, Blumen und Klatschzeitungen und versicherte mir, dass sie mich nie wieder nachts allein irgendwo hinfahren lassen würde.

Ich erzählte auch ihr von meinem geheimnisvollen Retter. Zu meiner Enttäuschung reagierte sie darauf ähnlich wie meine Eltern.

»Es ging sicher alles unglaublich schnell«, sagte sie nur, tätschelte mir den Arm und erinnerte mich daran, dass eine Kopfverletzung Wahrnehmungsstörungen verursachen konnte.

Ich verstand einfach nicht, warum niemand auch nur in Erwägung ziehen wollte, dass es den Fremden wirklich gegeben hatte. Je mehr ich darüber nachdachte, umso sicherer wurde ich mir, dass er existierte. Dass er irgendwo da draußen war.

***

Zehn Tage hatten mich die Ärzte im Krankenhaus behalten. Mir ging es deutlich besser. Ich merkte nichts mehr von dem Trümmerbruch meines Handgelenks, der ebenso verheilt war wie die Rippenfrakturen – das machten die Röntgenaufnahmen deutlich. Unter den Ärzten löste meine rasche Genesung Stirnrunzeln aus. Ich war erleichtert, denn das hieß, ich konnte nach Hause.

Am Morgen meiner Entlassung zog die Krankenschwester grummelnd die Vorhänge auf. »Schade, dass das Wetter Sie an Ihrem großen Tag nicht netter begrüßt. Die grauen Wolken scheinen sich über unserer Stadt festgesetzt zu haben. Dabei sagten die im Fernsehen für heute Sonnenschein voraus.« Sie drehte sich halb zu mir um, sodass ich ihre enttäuschte Miene sah. »Und Sie haben wirklich keinerlei Schmerzen mehr?« Sie musterte mich skeptisch.

Ich schüttelte den Kopf. »Um ehrlich zu sein, ich fühle mich super!«

»Na dann.« Sie nahm mein Handgelenk und tastete nach meinem Puls. Während sie dem Sekundenzeiger auf ihrer Uhr folgte, verzog sie kritisch das Gesicht.

»Stimmt etwas nicht?«, fragte ich.

»Hm«, machte sie. »Ihre Herzfrequenz ist leicht erhöht.«

»Das muss die Aufregung sein«, versicherte ich. »In meinem ganzen Leben habe ich mich noch nie so sehr auf mein Zuhause gefreut.«

Sie lachte. »Na, wenn das so ist. Aber lassen Sie den Puls noch mal von Ihrem Hausarzt kontrollieren. Und sollten Sie sich nicht wohlfühlen …«

»Dann gehe ich sofort zum Arzt.«

»Richtig!« Grinsend zog sie eine Mullkompresse aus ihrer Kitteltasche. »Dann mal raus mit der Nadel. Oder wollen Sie die mitnehmen?«

»Ganz bestimmt nicht! Ich bin heilfroh, das Ding loszuwerden.«

Die Krankenschwester lachte. »Das glaube ich Ihnen gern.« Beim Herausziehen der Kanüle ziepte es. »Die Haut ist ein wenig gereizt«, erklärte mir die Schwester mit Blick auf das Hämatom, das die gerötete Einstichstelle umgab. »Es wurde allerhöchste Zeit, dass die Nadel rauskommt.« Sie bedeckte die etwas nachblutende Stelle mit der Kompresse. »Noch kurz drücken, bis es aufgehört hat, zu bluten.«

Ich nickte und tat, was sie sagte.

»Dann wünsche ich Ihnen alles Gute, Miss.«

»Danke!«, antwortete ich.

Die Schwester verließ das Zimmer. Ich setzte mich auf die Bettkante und blickte aus dem Fenster. Der Himmel war so dunkel, als hinge er voll Asche. Für den Bruchteil einer Sekunde glaubte ich, zwischen den Wolken denselben roten Mond durchblitzen zu sehen, der mich bereits in der Unfallnacht erschreckt hatte.

»Das kann doch nicht sein«, murmelte ich und stemmte mich auf die Beine. Auf dem Weg zum Fenster fiel die Kompresse zu Boden. Als ich mich bückte, um sie aufzuheben, bemerkte ich, dass meine Hand völlig unversehrt war. Die Rötung und das Hämatom waren ebenso verschwunden wie die Einstichstelle der Kanüle. Meine Haut fühlte sich glatt und gesund an.

Merkwürdig, dachte ich und rieb mir ratlos über die Hand. Geistesabwesend wandte ich mich wieder dem Fenster zu. Der anhaltende Regen hatte nachgelassen. Angestrengt starrte ich in das durchgängige Grau, das den Horizont mit Dunkelheit erfüllte, doch die leuchtend rote Silhouette des Mondes war nicht mehr zu sehen.

KAPITEL DREI

Mein Geist

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Dass ich ohne schwere Verletzungen davongekommen war, grenzte für viele an ein Wunder. Die Sanitäter behaupteten, sie hätten noch nie gesehen, dass jemand einen so schweren Verkehrsunfall überlebte. Für sie hatte ich unglaubliches Glück gehabt. Meine Eltern sagten, dass ich einen riesigen Schutzengel an meiner Seite gehabt hätte.

Jeder schien eine Erklärung für den glimpflichen Ausgang meines Sekundenschlafs auf der einsamen Landstraße zu haben. Auch wenn ich mit niemandem mehr über meinen geheimnisvollen Retter sprach, würde er mein Grund bleiben. Und wann immer ich an den Unfall dachte, schaffte es der Fremde, jene Nacht zu der zu machen, in der ich ein neues Leben erhalten hatte.

In den drei Wochen seit meiner Entlassung aus dem Krankenhaus hatte es nicht einen Tag gegeben, an dem ich nicht an den geheimnisvollen Fremden gedacht hatte. Ich träumte von ihm. Davon, wie er seine Arme um mich legte und mich küsste. Jeden Morgen wachte ich mit einer fast unerträglichen Sehnsucht nach ihm auf. Es war schrecklich, nicht zu wissen, ob es ihn gab, ob ich ihn jemals wiedersehen würde.

Verzweifelt suchte ich nach Ablenkung, also begann ich, gegen den Willen meines Vaters, wieder in unserem Café zu arbeiten. Die Füße stillzuhalten, passte einfach nicht zu mir, außerdem hätte es mein Gedankenkreisen nur noch schlimmer gemacht. Ich fühlte mich gut, also ging ich, auch gegen den ärztlichen Rat, wieder meinem normalen Leben nach. Mit Ausnahme von nächtlichen Autofahrten, auf die ich vorerst verzichten wollte.

***

Ich balancierte gerade drei Reihen aufgestapelte Espressotassen auf einem Tablett aus der Küche, als Megan hereinschneite.

»Du kannst es einfach nicht lassen!« Sie verschränkte die Arme vor der Brust und stierte mich vorwurfsvoll an. Eingeschüchtert stellte ich das Tablett auf der Theke ab, sodass die Tassen lautstark klirrten. »Hat der Arzt nicht gesagt, du sollst dich schonen?«

Ich verdrehte die Augen und machte mich daran, das Geschirr ins Regal zu räumen. »Wie heißt es so schön? Wer rastet, der rostet. Außerdem ist heute nicht viel zu tun.« Ich deutete mit dem Kinn auf die beiden besetzten Tische.

Megan war anzusehen, dass sie angestrengt ein weiteres Argument gegen mein frühzeitiges Arbeiten hinunterschluckte. Anstatt mich jedoch weiter zu belehren, klatschte sie in die Hände. »Gut. Du hast es nicht anders gewollt.« Zielstrebig ging sie zur kleinen Kommode neben der Vitrine und holte eine Schürze daraus hervor.

»Du musst mir nicht helfen.« Ich blickte sie aus schmalen Augen an und zeigte nochmals auf die wenigen Gäste, die bei uns frühstückten. »Heute ist nichts los.«

Megan funkelte mich entschlossen an, während sie sich die Schürze umwickelte. »Hier«, sagte sie schroff und stellte sich mit dem Rücken zu mir. »Bind mal zu.«

»Und du bist sicher, dass du nichts Besseres zu tun hast?« Widerwillig schnürte ich die Schleife.

»Natürlich habe ich etwas Besseres zu tun«, fauchte Megan. »Aber du lässt mir ja keine Wahl. Ich will schließlich nicht, dass du mir umkippst. Es wundert mich sehr, dass sich deine Eltern darüber keine Sorgen machen. Wo sind sie eigentlich?« Sie ließ den Blick suchend umherschweifen.

»Fang bitte nicht wieder damit an. Dad wollte nicht, dass ich schon arbeite. Es war ganz allein meine Entscheidung.«

Sie betrachtete mich verständnislos.

»Ich kann nicht den ganzen Tag rumsitzen und nichts tun.«

»Sagt ja auch keiner. Ich finde es nur nicht sehr vernünftig von dir. Es ist noch zu früh. Du wärst beinahe gestorben.«

Megans letzter Satz kam mir lauter vor als alles, was sie zuvor gesagt hatte.

Plötzlich überkam mich ein merkwürdiges Gefühl. Als würde jemand meinen Namen rufen. Ich wandte ich mich zur Tür und erstarrte. Mein Herz klopfte wie verrückt und ich spürte, wie mir die Hitze ins Gesicht stieg. Megan redete pausenlos, doch ich hörte nicht mehr hin. Ich hatte nur noch Augen für den Mann, der gerade hereingekommen war. Die Hände tief in den Taschen seines dunkelblauen Mantels vergraben, setzte er sich an den Tisch in der hintersten Ecke, gleich neben der Jukebox.

Megan zog an meinem Ärmel, doch ich konnte nicht aufhören, den Fremden anzustarren, der mir seltsam vertraut vorkam. Ich war wie hypnotisiert.

»Was ist denn, Sarah? Du siehst ja so aus, als hättest du einen Geist gesehen.«

»Ich denke, das habe ich auch.«

Ich ließ sie stehen und ging auf den Gast zu, der soeben unser Café betreten hatte. An seinem Tisch angekommen, schnellte mein Puls nochmals in die Höhe, sodass es mir schwerfiel, ein Wort herauszubringen. Der Blick des Mannes blieb auf die seidene Mohnblume gerichtet, die in einer kleinen Vase auf der Mitteldecke stand. Meine Mutter liebte Mohn, sie hatte die gesamte Dekoration im Gastraum auf die roten Feldblumen ausgerichtet, nach denen sie, und nicht zuletzt auch unser Café, das Poppy's, benannt war.

»Entschuldigen Sie bitte«, begann ich, nachdem ich meine Stimme wiedergefunden hatte. Der Gast zeigte keine Regung. »Aber … haben wir uns schon einmal gesehen?« Ich zitterte vor Erwartung. War er es? Der Mann, dem ich mein Leben verdankte – meine Erklärung, mein Gespenst?

»Unwahrscheinlich«, antwortete er leise und ohne mich anzuschauen.

»Ich hätte schwören können, dass …«

Blitzartig blickte er auf. Nun hatte ich keine Zweifel mehr. Mein Puls raste vor Aufregung.

»Sie sind es!«, sagte ich versehentlich so laut, dass ich die Aufmerksamkeit der anderen Gäste auf uns lenkte.

Das Gesicht des Mannes blieb maskenhaft. »Und wer soll ich sein?«

Ich schüttelte den Kopf. Es war unmöglich, dass ich mich irrte. Nein, ich war mir sicher. Vor mir saß mein Lebensretter, der in der Unfallnacht wie aus dem Nichts gekommen und genauso wieder verschwunden war.

»Sie waren da! Auf der Landstraße. Bei meinem Unfall.« Ich nickte, als könnte ich ihn dadurch überzeugen. Durchdringend sah ich ihn an, aber ein Geständnis blieb aus. Entweder wollte er nicht, dass jemand von seiner Heldentat erfuhr, oder er hatte schlichtweg keine Ahnung, wovon ich sprach.

Unvermittelt erhob er sich von dem Stuhl und drängte sich unsanft an mir vorbei. »Ich weiß beim besten Willen nicht, was Sie meinen«, sagte er. »Sie müssen mich mit jemandem verwechseln.«

»Nein«, wisperte ich fassungslos und mit erstickter Stimme, dennoch hörte er meinen Protest. Bevor er zur Tür hinaus verschwand, schenkte er mir einen kurzen, aber intensiven Blick. Für einen flüchtigen Moment sah er hin- und hergerissen aus. Ich hatte das Gefühl, als wollte er bleiben, als wäre er wegen mir hergekommen – obwohl sein Verhalten etwas Gegenteiliges zeigte. Ich blieb wie angewurzelt stehen, denn ich verstand nicht, was gerade passiert war.

Megan kam zu mir und sah mich besorgt von der Seite an. »Was bitte war das denn gerade?«

Erst jetzt fielen mir die mich anstarrenden Gesichter auf. Am liebsten wäre ich vor Verlegenheit im Boden versunken.

Megan zog mich hinter die Theke und blickte mich verdattert an – auf eine Erklärung wartend.

»Er war es«, hauchte ich und starrte zur Tür. »Ich bin mir hundertprozentig sicher.«

Sie konnte mir nicht folgen. »Von wem sprichst du? Doch nicht von dem Typen, der eben gegangen ist?«

»Von dem Mann, der mir das Leben gerettet hat. Und ja, er war gerade hier.«

Megan seufzte tief. »Ach, Sarah, das hatten wir doch alles schon. In der Unfallnacht warst du allein. Du hast dir das nur eingebildet.«

»Wie ist es dann möglich, dass ich ihn wiedererkannt habe?«

Zögernd sah Megan zur Tür, anschließend wieder zu mir. »Vielleicht seid ihr euch irgendwann schon einmal flüchtig begegnet. Wie ein Déjà-vu. So was kommt vor.«

Ich schaute sie an und erforschte noch einmal meine Gefühle. Konnte das sein? Ich zweifelte an mir, an dem, was mit mir los war. Ich erkannte mich selbst nicht wieder. Mein Herz polterte immer noch wie wahnsinnig in meinem Brustkorb. Es schien sich genauso wenig beruhigen zu können wie ich. Mein Verstand kämpfte jedoch dagegen an. Gerade noch war ich überzeugt gewesen, den Mann gefunden zu haben, von dessen Kuss ich jede Nacht träumte. Jener Kuss war magisch gewesen, spirituell. Es konnte nicht nur eine Halluzination gewesen sein. Den Mann heute hier wiedererkannt zu haben, lieferte mir doch die Bestätigung, dass meine Erinnerung keine Lüge war.

»Auf jeden Fall hast du ihn ziemlich erschreckt«, bemerkte Megan. »Wenn er einfach so das Café verlässt …« Sie schüttelte den Kopf. »Was hast du denn zu ihm gesagt?«

Ich fasste mir an die Stirn, die von kaltem Schweiß klebte. »Ich habe ihn gefragt, ob wir uns kennen. Weiter nichts.«

»Dann warst du wohl etwas zu forsch.« Megan sah an mir hinunter. Ihr Blick haftete auf meinen zitternden Händen. »Du solltest dich etwas ausruhen.« Sie schob mich in den Pausenraum neben der Küche. »Es geht dir nicht gut. Das sieht jeder. Ich übernehme für dich, bis dein Vater da ist.«

Ich wehrte mich nicht gegen ihren Vorschlag und blieb, in eine Decke gehüllt, wo ich war. Grübelnd zog ich die Beine eng an meinen Körper. War ich dabei, den Verstand zu verlieren? Eigentlich fühlte ich mich gut. Zumindest körperlich.

Wie hoch war die Wahrscheinlichkeit, dass ich mir in der Not einen Mann herbeigesehnt hatte, dem ich zuvor nur flüchtig begegnet war? Das ergab doch keinen Sinn. Ich wusste überhaupt nichts mehr. Außer eines: Nicht ich war diejenige, die sich irrte, sondern die Menschen, die behaupteten, ich wäre nach meinem Unfall ohne fremde Hilfe aus dem Autowrack geklettert.

Mein Herzschlag dröhnte in meinen Ohren. Ich war nicht verrückt. Nein.

KAPITEL VIER

Spekulationen

Vignette

»Wenn nicht bald die Sonne scheint, gehen mir die Rosen kaputt.« Meine Mutter kniete im Vorgarten und legte die Stirn in Falten. Eigentlich hatte sie ein Händchen für Blumen. Wie jedes Jahr standen ihre Rosen voller Knospen, doch zum ersten Mal blieben sie geschlossen.

Ich konnte mir nicht vorstellen, dass es etwas mit der Wetterlage zu tun hatte, schließlich waren wir in Schottland an einen wolkenverhangenen Himmel gewöhnt. Diesmal schien das Wetter jedoch zu stagnieren. Seit Wochen war kein Sonnenstrahl auf die Grafschaft Angus gefallen, weshalb die älteren Einwohner bereits von drohendem Unheil sprachen. Etwas, das sich unaufhaltsam auf uns zubewegte.

Der Mangel an Licht und Wärme wirkte sich auch auf die Stimmung aus. Besonders im Café waren meine Eltern der vorherrschenden schlechten Laune hilflos ausgeliefert. Was auch der Grund dafür war, dass sich Mum einmal mehr in den Garten geflüchtet hatte. Bei ihren Pflanzen konnte sie am besten abschalten.

Nach meinem kleinen Zusammenbruch hatte mein Vater mich dazu verdonnert, die nächsten Tage zu Hause zu bleiben. Was mir mehr als schwerfiel, dennoch fügte ich mich seinem Willen. Mum schien sich mit ihm gegen mich verschworen zu haben. Sie behielt mich im Auge und achtete darauf, dass ich mich auch bei der Hausarbeit nicht übernahm.

»Sieh dir das an«, sagte sie und ging im Blumenbeet in die Hocke. Ratlos schüttelte sie mit dem Kopf. Ich trat an ihre Seite und blickte wie sie auf den breitgewachsenen Rhododendron. »Nicht eine Blüte ist aufgegangen!« Sie sagte das so, als wäre dies ein eindeutiges Zeichen für den nahenden Weltuntergang.

»Vielleicht blühen sie dieses Jahr einfach etwas später.«

»Nein.« Meine Mutter presste resigniert die Lippen aufeinander. »Blumen haben normalerweise so etwas wie eine innere Uhr. Es ist, als wäre ihre Zeit einfach stehen geblieben.« Sie schaute zum grauen Himmel hinauf. »Ich kann mich nicht erinnern, wann wir schon einmal so dunkle Tage erlebt haben.«

Ich legte ihr die Hand auf die Schulter und lächelte breit. »Mum, wir leben in Schottland!«

Sie sah mich mit gerunzelter Stirn an, verärgert darüber, dass ich sie und ihre Blumen nicht ernst genug nahm.

»Du fängst doch jetzt nicht auch mit dem verrückten Gerede der Alten an, oder?« Ich hob eine Augenbraue und musterte sie abwartend.

Zu meiner Verwunderung wirkte sie unentschlossen. Sich räuspernd, sah sie abwechselnd zu mir und zum Himmel, an dem die düsteren Wolken wie in einer Schleife unaufhörlich entlangzogen. Der Tag war von einer merkwürdigen Stille geprägt. Nicht ein Vogel sang. Als wäre die Natur auf stumm geschaltet.

»Wenn man der Geschichte glaubt …« Mum schluckte schwerfällig.

Ich runzelte die Stirn. »Welcher Geschichte denn?«

Sie schaute mich todernst an. So hatte ich sie noch nie gesehen. Eine tiefe Sorgenfalte zeichnete sich zwischen ihren Augen ab.

»Mum? Ist alles okay?«

Schlagartig entspannten sich ihre Züge und sie schnaufte, als würde sie damit eine dunkle Vorahnung fortjagen. Hastig schüttelte sie den Kopf. »Es ist ja doch nur eine Geschichte.« Sie machte eine wegwerfende Handbewegung. »Ein Märchen, das den Kindern Angst einjagen sollte.«

»Hat Großmutter Irene sie dir erzählt?«, fragte ich mit einem leichten Grinsen nach und hackte ein besonders widerspenstiges Unkrautbüschel aus dem Beet.

»O ja. Alle in meinem Alter kennen sie. Zumindest diejenigen von uns, die in Forfar und Umgebung geboren wurden. Die Geschichte war damals ein notwendiger Teil der Erziehung. Sie sollte die Kinder dazu bringen, pünktlich zu Hause zu sein.«

»Ich verstehe nicht, warum man Kindern Angst machen muss, um ihnen etwas beizubringen. Ich bin mir nicht sicher, ob ihnen das guttut.«

Meine Mutter wischte sich mit dem Handrücken über die Stirn und prustete angestrengt. »Aus dem Grund habe ich dir solche Geschichten nie erzählt.« Sie zwinkerte mir mit einem Auge zu.

»Und aus mir ist trotzdem etwas geworden.« Lachend widmete ich mich wieder dem Unkraut.

Mum stieg mit ein. Kurzerhand ließ sie den Rechen sinken und drückte mich an sich. »Ich bin unglaublich stolz auf dich. Und deinem Vater geht es genauso. Wir wissen zu schätzen, wie sehr du uns im Café unterstützt. Gerade jetzt, wo sich die Zeiten geändert haben und es nicht mehr so gut läuft wie früher.«

Sie löste sich von mir und blickte mir in die Augen. »Aber wir wissen auch, dass eine andere Zukunft auf dich wartet. Denk nicht, wir würden nicht sehen, dass du nur deinem Pflichtgefühl uns gegenüber folgst. Du solltest das tun, was dich glücklich macht. Dein Vater und ich kommen schon zurecht.«

Ich fiel ihr in die Arme. »Danke!«

Sie strich mir liebevoll über den Rücken. »Aber wofür denn?«

Auf einmal stiegen mir Tränen in die Augen. Ich holte tief Luft. »Einfach so.«

Sie lachte leise. In diesem Moment wusste ich, dass es das Richtige gewesen war, meine Studienpläne erst einmal auf Eis zu legen. Mir wurde klar, dass ich hier sein sollte, bei meinen Eltern, in Forfar. Der Unfall hatte mich vieles klarer sehen lassen. Dazu gehörte auch, dass mir bewusst geworden war, wie viel mir meine Familie bedeutete. Ich war noch hier, weil ich für meine Eltern da sein wollte, so wie sie es stets für mich gewesen waren. Und weil ein Gefühl mir sagte, dass meine Heimatstadt etwas für mich bereithielt. Etwas, mit dem ich nicht rechnete.

***

Am Nachmittag kam Megan mit Ethan vorbei. Die beiden führten seit vier Jahren eine On-Off-Beziehung. Ich konnte nicht sagen, dass sie ein gutes Paar abgaben. Im Vergleich zu Megan war Ethan mit Forfar verwachsen und hatte nicht vor, die Stadt zu verlassen. Megan hingegen sprach seit ihrer Kindheit von nichts anderem, als eines Tages aus Forfar rauszukommen. Sie wollte in der Großstadt leben, die Welt bereisen und irgendwann eine gute Partie machen. Reich waren Ethans Eltern nicht gerade, aber durchaus gut situiert. Ihnen gehörte ein Bioladen, in dem er hauptsächlich für die Warenlieferungen zuständig war. Eines Tages würde er das Geschäft übernehmen. Ethan und Bio. Für mich passte das zusammen wie Marmelade auf Cheeseburger. Er war fastfoodsüchtig, jemand, der seine Freizeit mit Videospielen verbrachte und sich nicht darum scherte, ob seine Jeans Fair-Trade-zertifiziert war. Das Einzige, was seine Zugehörigkeit zum Wilks-Clan verriet, waren seine dunkelblonden Locken, die er seit Jahren kinnlang geschnitten trug, weil Megan diesen Look so mochte.

»Vorsicht, heiß!« Meine Mutter stellte die dampfende Kanne zwischen uns auf den Esstisch. Sie ließ nie eine Teezeit aus. In den vergangenen Tagen hatte ich ihr dabei Gesellschaft geleistet, weshalb sie ihn nun wie selbstverständlich servierte. »Wollt ihr lieber etwas anderes?«, fragte Mum, nachdem Megan und Ethan verunsichert dabei zusahen, wie sie ihnen die Tassen zuschob.

»Nein, ist schon gut, Mrs Heys. Danke.« Megan lächelte freundlich.

Meine Mutter wirkte zufrieden und füllte die Tassen.

»Und? Was macht der Kopf?« Ethan nippte an seinem Tee und verzog das Gesicht zu einer Grimasse.

»Schmeckt er dir nicht?«, erkundigte sich Mum im Türrahmen zur Küche stehend.

»Hm, nicht so ganz mein Geschmack.« Er stellte die Tasse vorsichtig zurück auf den Tisch. Megan und ich betrachteten ihn grinsend.

»Du musst das nicht trinken«, sagte ich, nachdem sich meine Mutter in die Küche zurückgezogen hatte und wir im Esszimmer unter uns waren.

Er beugte sich zu mir. »Gott sei Dank«, antwortete er mit gesenkter Stimme.

»Meinem Kopf geht es übrigens gut. Danke«, kam ich auf seine Nachfrage zurück.

»Hab gehört, du hattest einen kleinen Aussetzer.«

Ich schenkte Megan einen übellaunigen Blick. Natürlich hatte sie sich ihm anvertraut. »Mir geht es prima«, grummelte ich. »Ich bin topfit.«

»Also hast du nichts mehr von dem geheimnisvollen Mister X gehört?« Ethan beäugte mich kritisch.

»Ähm, nein.«