Der Beginn einer neuen Ära!
Das G-Team droht zu zerbrechen: Mr. High wurde suspendiert, Philippa Decker sitzt in der Todeszelle, und im Verborgenen lauert ein mächtiger Feind. Um zu überleben und sein Team zu retten, muss Cotton jede Regel brechen. Aber welchen Preis wird er dafür zahlen?
Härter, schneller, explosiver: So haben Sie Cotton noch nie gelesen!
COTTON RELOADED – NEMESIS besteht aus sechs Folgen. Die Serie erscheint als eBook und Audio-Download (ungekürztes Hörbuch). COTTON RELOADED ist das Remake der erfolgreichsten deutschen Romanserie JERRY COTTON.
Cotton wird von seinem eigenen Team gejagt! Agent Dillagio muss sich dafür verantworten, dass seine Zielobjekte entwischen konnten. Cottons Ziehmutter Sarah Granger bietet den fliehenden Agents Unterschlupf – wodurch sie sich in tödliche Gefahr begibt. Denn noch immer sammelt Cotton Beweise für Philippa Deckers Unschuld. Da ergreift ein alter Bekannter seine zweite Chance, um Cotton endgültig zu beseitigen …
Das G-Team ist eine Spezialeinheit des FBI, die bei besonders schwierigen Fällen eingesetzt wird. Offiziell existiert die Einheit nicht. Sollte einer der Agenten gefangen oder getötet werden, werden FBI und Regierung jegliche Kenntnis bestreiten.
Die wichtigsten Mitglieder des G-Teams:
Jeremiah Cotton ist Mitte dreißig und stammt aus einem Kaff namens Grinnell, Iowa. Als er seine Familie bei den Anschlägen am 11. September 2001 im World Trade Center verliert, entschließt er sich, Polizist zu werden. Er fängt als Streifenpolizist beim NYPD an, doch schon bald wird er als Quereinsteiger ins G-Team berufen – was nicht allen gefällt.
Philippa Decker ist Cottons Senior-Partnerin und in vielem sein genaues Gegenteil. Sie ist etwas älter als Cotton, kühler und berechnender als er. Ihr Vater ist der schwerreiche Rüstungsunternehmer Graham Decker, doch man sollte nicht den Fehler begehen, Philippa für ein verwöhntes Töchterchen zu halten.
John D. High ist der ehemalige Special Agent in Charge (SAC) und Chef des G-Teams. In Folge 50 (»Tödliches Finale«) wird er suspendiert, als sein Team der mächtigen Geheimorganisation »Die Hand Gottes« zu nahe kommt.
Deborah Kleinman: Die neue Special Agent in Charge des G-Teams. Eine eiskalte Karrieristin – was nicht heißt, dass sie ihren Job nicht gut macht.
Steve Dillagio ist Agent des G-Teams. Ein raubeiniger Ex-Soldat – schlagfertig, manchmal gewalttätig, doch stets loyal seinem Team gegenüber.
Zeerookah: Der ehemalige Hacker mit indianischen Wurzeln ist der IT-Spezialist des G-Teams.
Joe Brandenburg ist kein Mitglied des G-Teams, sondern Detective beim NYPD. Dort war er Cottons erster Partner als Streifenpolizist.
Gabriel Conroy ist das Pseudonym eines in Los Angeles lebenden Autors. Er studierte in Kalifornien Film und Journalismus und arbeitete lange in der Filmbranche. Unter seinem echten Namen schreibt er Romane und Artikel, übersetzt Bücher und unterrichtet Deutsch. Als Gabriel Conroy lebt er seine Vorliebe für Pulp, Thriller, Horror und Heftroman-Stories aus.
Timothy Stahl, in den USA geboren, wuchs in Deutschland auf, wo er beruflich als Redakteur für Tageszeitungen und als Chefredakteur eines Wochenmagazins tätig war. 1999 kehrte er in die USA zurück und arbeitet seitdem als Autor und Übersetzer. Timothy Stahl lebt mit seiner Frau und seinen beiden Söhnen in Las Vegas, Nevada.
Folge 3: Falsche Freunde
beTHRILLED
Digitale Originalausgabe
»be« – Das eBook-Imprint von Bastei Entertainment
Copyright © 2017 by Bastei Lübbe AG, Köln
Textredaktion: Uwe Voehl
Lektorat/Projektmanagement: Lukas Weidenbach
Covergestaltung: Christin Wilhelm, www.grafic4u.de
unter Verwendung von Motiven von © shutterstock: hxdbzxy | Miloje | ostill | Fotogenix
eBook-Erstellung: Urban SatzKonzept, Düsseldorf
ISBN 978-3-7325-3896-6
www.be-ebooks.de
www.lesejury.de
Lower Manhattan, 11. September 2001. 8:53 Uhr.
Das Erste, was ich hörte, war ihre Stimme. Der Rauch hing wie eine Wolke in der Luft, raubte mir den Atem. Er kam mir vor wie ein Lebewesen, als hätte er seinen eigenen Willen. Er hing unter der Decke, sickerte in die Flure.
»O Gott«, sagte die Stimme. »O Gott, bitte, wenn mich jemand hört …«
Im ersten Moment wollte ich fliehen. Raus hier, nichts wie raus aus der Hölle. Ich hatte Angst.
Bevor ich weiterrennen konnte, weiter nach unten in dem endlosen Treppenhaus, kam mir ein Gedanke, der mich erstarren ließ: Was wäre, wenn jemand in dem Fahrstuhl festsaß? Jemand, den ich liebte?
Ich drehte mich um und ging zur Aufzugstür, schlug ein paar Mal mit der flachen Hand dagegen.
»Hallo?«, rief ich. »Können Sie mich hören?«
Von drinnen drang ein Schluchzen zu mir heraus, ein kehliges Geräusch irgendwo zwischen Erleichterung und Verzweiflung.
»Wie viele seid ihr?«, wollte ich wissen.
»Ich bin allein«, kam die Antwort. »O Gott, bitte helfen Sie mir!«
Der Aufzug steckte zwischen dem 60. und 61. Stockwerk fest. Der Rauch wurde immer dichter. Ich konnte jetzt schon die Hitze spüren, die sich wie eine Druckwelle immer tiefer nach unten wälzte. Ich hörte das entsetzliche Ächzen in den Stahlbalken des Hochhauses, die bald unter der enormen Wucht des Aufpralls zerbersten würden.
8:46 Uhr morgens. Der American-Airlines-Flug 11 war in den Nordturm des World Trade Centers gerast. Eine Boeing 767, die sich mit fast achthundert Stundenkilometern in das Hochhaus gebohrt hatte. Im Namen eines Gottes, der mir fremd war. Nicht, weil er den Namen Allah trug, sondern weil ich mir nicht vorstellen konnte, dass der Schöpfer der Welt ein solches Opfer verlangen könnte. Die Maschine war zwischen dem 93. und 99. Stockwerk eingeschlagen. Alle Menschen an Bord, und alle, die sich in diesen Stockwerken befanden, waren augenblicklich tot. Auch die Flugzeugentführer. Mochte Gott ihren Seelen gnädig sein. Aber sie alle gehörten zu den Glücklichen – sie hatte der Tod wenigstens schnell geholt.
Wer sich in den Etagen oberhalb des Aufpralls befunden hatte, der hatte keine Chance mehr. Viele sprangen vor Angst aus den Fenstern. Viele verbrannten, langsam und qualvoll. Vierzigtausend Liter brennendes Kerosin traten aus den Flugzeugtrümmern aus. Ein flüssiger Großbrand, der immer weiter nach unten sickerte.
Die Stahlträger stöhnten wie ein monströses sterbendes Tier. Sie waren für eine solche Hitze nicht konzipiert. Ich zwängte meine Finger in die Aufzugstür, stemmte mich dagegen und versuchte mit aller Kraft, das verdammte Ding aufzuzerren. Mein Atem ging schneller. Der Schweiß trat mir auf die Stirn.
»Bitte …«, flehte die Stimme von drinnen.
Ich stöhnte vor Anstrengung. Aber ich schaffte es. Nach einer kleinen Ewigkeit gaben die Türhälften nach, und es gelang mir, sie etwa einen halben Meter weit auseinanderzuschieben.
Die Frau im Aufzug war Mitte vierzig. Sie trug ein elegantes Businesskostüm, hatte kurzes dunkles Haar.
Und sie saß in einem Rollstuhl.
»Sind Sie verletzt?«, fragte ich sie.
Sie schüttelte den Kopf.
»Geben Sie mir Ihre Hand.«
Sie streckte die Hände aus. Die Fahrstuhlkabine lag tiefer als das Stockwerk. Ich legte mich flach auf den Bauch und streckte ihr die Arme entgegen.
»Was ist mit Ihren Beinen?«, fragte ich.
Sie schüttelte den Kopf. »Aber ich habe ziemlich starke Arme.«
Endlich berührten sich unsere Fingerspitzen. Dann umklammerte ich ihre Handgelenke.
»Okay«, sagte ich. »Ich versuch Sie jetzt hochzuziehen.«
Sie nickte. Als ich ihren Körper aus dem Rollstuhl zerrte, schleiften ihre Beine nutzlos über den Boden. Ich spannte meine Muskeln und winkelte die Ellbogen langsam an, wie bei Klimmzügen. So zog ich die Frau näher zu mir heran. Gleichzeitig robbte ich mit dem Körper nach hinten. Dann griff ihre linke Hand nach der Betonkante.
»Gut so«, stöhnte ich. »Jetzt …«
Und da geschah es. Ein gewaltiges Knirschen ging durch den Aufzug. Ich hörte ein lautes, schnappendes Geräusch, dann ein Klappern. Ich wusste genau, was das bedeutete. Das erste Aufzugskabel war gerissen. Die metallene Kabine zitterte, dann sackte sie plötzlich einen halben Meter tiefer. Die Frau schrie auf. Ihre Hand verlor den Halt und tastete wild suchend umher. Alles, was sie jetzt noch hier oben hielt, waren meine Finger um ihr Handgelenk. Ihre Augen weiteten sich vor Panik. Meine Handfläche wurde feucht vor Schweiß. In wenigen Sekunden, das wusste ich, würde die Frau mir aus den Händen rutschen.
»Hier!«, rief ich.
Ihr Blick fand den meinen, ich schaute auf die Bodenkante am Rand des Schachts, und eine Sekunde später griff sie danach. Ihr Atem ging schnell und hektisch. Irgendwo in der Ferne des Treppenhauses schrien Menschen. Ich musste an zu Hause denken, an Grinnell, wenn auf einer der Farmen geschlachtet wurde.
Ich hievte die Frau so gut es ging nach oben. Es gelang mir, ihren Oberkörper über die Kante zu hieven. Ich schrie fast auf vor Anstrengung. Uns blieben nur noch Sekunden. Der Rauch war dichter geworden. Meine Augen brannten. Kaum lag die Frau neben mir auf dem Boden, ließ ich ihre Hände los und griff nach ihrer Hüfte, schleifte sie zu mir.
Dann zerriss das zweite und letzte Drahtseil. Die Frau war noch nicht ganz aus der Kabine. Ich zerrte mit einem letzten, verzweifelten Ruck an ihrem Körper, da raste das metallene Gerüst auch schon nach unten. Wie eine Guillotine.
Einige Zentimeter ihres rechten Fußes steckten noch in der Aufzugskabine.
Ich hörte ein widerliches Knirschen und sah, wie die Zehen des Fußes fast chirurgisch abgetrennt wurden. Übelkeit kam in mir hoch.
Die Frau schaute auf ihren zermahlten, blutigen Beinstumpf und sagte etwas, das ich nie wieder vergessen sollte: »Mein Schuh!«
Ich legte meine Arme um sie und zog sie weiter zu mir, weiter weg von dem Aufzugsschacht. Der Stumpf ihres Fußes hinterließ eine blutige Spur auf dem Betonboden. Hektisch zog ich meinen Gürtel aus und legte ihn um das Bein, zerrte fest daran und machte einen Knoten – ein provisorischer Druckverband, damit sie nicht verblutete. Ihre Augen folgten meinen Bewegungen. Ich hörte nur ihren Atem und das schreckliche Echo der fernen Schreie, die sterbenden Menschen. Ich konnte mir nicht erklären, warum die Frau nicht schrie. Erst später wurde mir dann klar, dass ihre Nerven unterhalb der Taille keinerlei Signale senden oder empfangen konnten. So wie sie ihre Beinmuskeln nicht bewegen konnte, war sie auch nicht in der Lage, Schmerz zu empfinden.
Sie war seit einem Reitunfall im Alter von 13 Jahren gelähmt. Zeit genug, um sich damit abzufinden. Sie dachte kaum noch daran, betrachtete sich selbst nicht als gelähmt. Sie war einfach so, wie sie war. Sie selbst. Irgendwann hatte sie für sich den Entschluss gefasst, sich allein durch ihren Charakter zu definieren, nicht durch eine Verletzung. Leicht war das nicht gewesen, denn viele andere sahen und definierten sie nur so – als Frau, die im Rollstuhl saß. Nur manchmal träumte sie nachts noch davon, sie würde reiten. Oder fliegen.
Das alles erzählte sie mir, während ich sie auf meinem Rücken die sechzig Stockwerke des World Trade Centers runtertrug. Ihre Arme waren um mich geschlungen, ich spürte ihren Atem an meinem Ohr. Sie redete ohne Unterlass. Weil sie Angst hatte. Genau wie ich.
Ich taumelte keuchend und wie verrückt vor Panik die Stufen hinunter. Ein Stockwerk nach dem anderen. Es schien kein Ende zu nehmen. Mit jedem Schritt wog die Frau schwerer. Bald fingen meine Arme vor Erschöpfung an zu zittern, aber ich dachte gar nicht daran, anzuhalten. Das Ächzen im Gebäude wurde immer lauter. Die Hitze brachte mich fast um den Verstand.
Schließlich – und als ich schon wusste, dass ich in ein paar Minuten zusammenbrechen würde – sah ich einen kräftigen Mann im Blaumann und mit pelzartiger Brustbehaarung im Treppenhaus. Er hob erstaunt die buschigen Augenbrauen. Ein Fensterputzer namens Theo, Sohn griechischer Einwanderer, wie er mir später bei einem kühlen Bier mal erzählen sollte. Wir halten heute noch Kontakt. Die Überlebenden des 11. Septembers verband etwas Besonderes miteinander.
Theo half mir. Gemeinsam trugen wir die Frau zwischen uns.
Unten angelangt, brachten wir sie aus der Lobby hinaus. Sofort kamen Sanitäter und Feuerwehrmänner, nahmen sie uns ab und kümmerten sich um sie. Die Sanitäter legten sie auf eine Trage, horchten nach ihrem Herzschlag, fühlten ihren Puls. Theo und ich standen erschöpft da und schauten zu. Wir standen unter einem Vordach aus Metall. Und auf dem Metall hörte ich immer wieder wummernde Geräusche. Als würde jemand mit regelmäßigen Abständen draufstampfen.
Ich weiß noch, dass ich irritiert nach oben schaute und fragte: »Was ist das?«
Erst viel später sollte ich erfahren, dass es Menschen waren. Verzweifelte, die aus vielen Dutzend Metern Höhe in die Tiefe sprangen, vielleicht in der Hoffnung zu überleben, vielleicht auch, um da oben nicht elend verbrennen zu müssen und schneller zu sterben.
Von der Trage aus fand mich der Blick der Frau, die wir gerettet hatten.
»Ich heiße Sarah«, sagte sie zu mir. »Sarah Granger.«
»Jeremiah.«
Ich streckte die Hand aus, und sie schüttelte sie. Solch eine alltägliche Geste inmitten einer solchen Hölle kam mir grotesk vor. Aber dieser Augenblick von Normalität tat auch gut.
»Jeremiah. Schöner Name«, meinte sie.
»Ich muss wieder rein«, sagte ich.
Sie schaute mich fragend an.
»Meine Eltern …«, setzte ich an, und dann spürte ich, wie plötzlich die Tränen in mir hochstiegen, brennend heiß.
Ich wollte gerade aufspringen und wieder zurück in die Lobby laufen, als es geschah.
Zuerst ein dumpfes Rumpeln. Ein gewaltiges Zittern. Wie bei einem Erdbeben. Dann sah ich die Feuerwehrmänner mit ihren schweren Rucksäcken und Äxten aus der Lobby rennen, auf uns zu.
»Raus, raus, raus!«, schrie einer. »Das verdammte Ding kommt runter!«
Die Sanitäter schoben die Trage vor sich her, im Laufschritt, mitten auf die Straße. Ich warf Theo, dem Fensterputzer, einen Blick zu, dann rannten wir hinterher. Um uns herum Menschen, die verzweifelt Schutz suchten. Ich hörte nur noch die Schreie ringsum, das Grollen des einstürzenden Gebäudes, sah vor Angst verzerrte Gesichter.
Und wir rannten der Trage hinterher, schoben mit an, immer schneller und schneller.
Wir rannten noch, als das Dröhnen und die Druckwelle uns erreichten und uns von den Füßen rissen. Die Trage wurde umgeworfen. Dann waren nur noch weißer Rauch um mich und ein gewaltiges Heulen in meinen Ohren.
Und in diesem Moment wusste ich mit brutaler, schmerzhafter Gewissheit, dass ich Mom und Dad und meine Schwester nie wiedersehen würde.
Hauptquartier des G-Teams, 22:09 Uhr. Jetzt.
»Ich hoffe, es tut richtig weh, Agent Dillagio«, sagte Deborah Kleinman. Sie wies mit dem Kinn auf sein Knie. Da hatte ihn Cottons Tritt getroffen. Kräftig und punktgenau.
»Geht so«, erwiderte Dillagio.
»Schade«, meinte Kleinman.
Das Debriefing im Konferenzraum mit allen Verantwortlichen war vorbei. Minutiös waren sie den Einsatz in der Kanalisation unter Manhattan durchgegangen.
Reine Zeitverschwendung, fand Steve Dillagio. Cotton und Decker waren durch das Netz ihrer Jäger geschlüpft und entkommen. Und sie waren entkommen, weil er sie entkommen ließ. Das hatte niemand direkt so gesagt. Weil auch niemand es direkt gesehen hatte. Dillagio war den beiden am Ende allein auf den Fersen gewesen und dann eben nicht schnell genug. So einfach war das. Nur die ganze Wahrheit war es nicht …
Und das schien SAC Deborah Kleinman zu ahnen. Wahrscheinlich deshalb hatte sie ihn, nachdem sie die große Runde drüben im Konferenzraum aufgelöst hatte, noch in ihr Büro herübergebeten. Oder vielmehr befohlen. Das war ihr gutes Recht. Sie war die Leiterin des G-Teams. Und Dillagio hatte kein Problem damit, Autoritäten anzuerkennen. Andernfalls wäre er früher ein schlechter Soldat gewesen und heute ein schlechter Agent.
Kleinman nahm hinter ihrem Schreibtisch Platz. Unterlagen stapelten sich darauf, nur scheinbar ungeordnet, wie Dillagio vermutete. Kleinman wusste genau, was sie tat. Hatte den Überblick. Musste ihn haben. Sonst wäre sie nicht die Nachfolgerin von John D. High geworden. Große Fußstapfen, in die sie hatte treten müssen. Zu groß für High Heels hatte so mancher im Team gedacht. Dillagio nicht. Der Präsident der Vereinigten Staaten hatte Kleinman persönlich auf diesen Stuhl gesetzt. Und das hatte er sicher nicht ohne guten Grund getan, auch wenn Dillagio den Grund nicht kannte. Er interessierte ihn auch nicht. Ging ihn nichts an, berührte seine Arbeit nicht.
Er war versucht, Kleinman zu fragen, ob er sich setzen dürfe. Cottons Tritt vors Knie hatte wirklich gesessen. Aber er verkniff sich die Frage.
Kleinman machte es sich bequem und schlug die Beine übereinander. Der Rocksaum ihres dunklen Kostüms rutschte einen Fingerbreit hoch. Dillagio machte keinen Hehl daraus, dass er hinguckte. Sie reagierte nicht darauf, faltete nur die Hände über dem Knie. So setzte sie sich immer hin, wenn sie Agents zum Rapport bestellte. Dillagio kannte sie längst gut genug.
»Agent Dillagio«, begann sie ohne Umschweife, »ich glaube Ihnen nicht.«
»Ma’am?« Er hob eine Braue, schaute Kleinman fragend an. Ihre graugrünen Augen fixierten ihn, ohne zu blinzeln.
»Sie wissen, was ich meine«, erwiderte sie ungerührt.
»Nein, Ma’am, tut mir leid.«
»Na schön«, meinte sie, hob die Schultern, nur ein wenig, und ließ die Wangenmuskeln zucken, absichtlich. »Wenn Sie lieber spielen wollen – bitte.«
Jetzt waren es seine Mundwinkel, die zuckten. Unabsichtlich. Und das entlockte ihr nun doch eine Reaktion, ein winziges Blitzen im Auge, wie er glaubte. Aber vielleicht war es auch nur eine Spiegelung des Deckenlichts, das sich auf der Glasfront des Chefbüros brach.
Dahinter wimmelte es an den Computerstationen von Agents, die allesamt sehr beschäftigt waren. Das G-Team hatte sehr viel mehr zu tun, als nur auf zwei abtrünnige ehemalige Agents Jagd zu machen. Dillagio führte diese Jagd als Vertreter des G-Teams zwar an, aber die Leute, die ihm dafür zur Verfügung standen, kamen überwiegend aus den Reihen der Nationalgarde, der Bundes- und Staatspolizei von New York und dem NYPD. Eine kleine Armee war das. Trotzdem hatte sie nicht gereicht, um zwei Leute zu schnappen, die sich in den Abwasserkanälen verkrochen hatten.
Das kam Deborah Kleinman spanisch vor. Und Dillagio konnte es ihr nicht verdenken.
»Ich glaube nicht«, nahm sie ihren Faden wieder auf und wurde konkret, »dass Sie keine Gelegenheit hatten, die Ex-Agents Cotton und Decker zu stellen.«
Sie sah ihn unverwandt an. Er hielt ihrem Blick stand.
»Das habe ich auch nicht behauptet«, entgegnete er.
»Sie hätten also die Chance gehabt, die beiden – oder wenigstens einen von beiden – dingfest zu machen?«
»Hinterher ist man immer schlauer.«
»Hätten Sie zum Beispiel einen gezielten Schuss abgeben können, um Cotton oder Decker an der weiteren Flucht zu hindern?«, wollte Kleinman wissen.
Dillagio sah Cotton in dem stinkenden Tunnel tief unter der Erde stehen, er sah seine eigene Hand, die eine Pistole auf Cotton gerichtet hielt – und dann nach unten sank. Als wäre irgendetwas plötzlich zu schwer geworden – die Hand oder die Waffe … oder etwas anderes.
»Ich schieße nicht auf Unbewaffnete«, sagte er.
Kleinmans Augen wurden ein wenig schmaler. »Ist das alles? Oder schießen Sie auch nicht auf alte Freunde?«
»Ich hab keine Freunde.« Er retournierte ihren Blick wie einen hart aufgeschlagenen Ball im Tennis.
»Punkt für Sie, Dillagio.«
Sie nickte knapp, setzte sich gerade hin und rückte mit dem Stuhl ganz an ihren Schreibtisch heran. Dann nahm sie sich einen der Plastikhefter. Dillagio konnte nicht erkennen, was er für Unterlagen enthielt; er sah nur, dass sie nicht seinen Fall betrafen. Sie ging also schon zum nächsten Thema über. Für ihn das Zeichen, dass sie ihm das Kommando der Sonderkommission nicht entzog. Er hätte es ihr keineswegs verübelt, nachdem er quasi zugegeben hatte, dass er die beiden – irgendwie – hatte entwischen lassen. Er an ihrer Stelle hätte es wahrscheinlich getan. Aber er war ihr dankbar. Die Sache war noch nicht vorbei, und das ärgerte ihn.
Im gleichen Zug erkannte er aber auch, was sie wirklich getan hatte: Sie hatte ihn gereizt.
Indem sie ihn praktisch dazu getrieben hatte, seinen Fehler einzuräumen, hatte sie ihn auch bloßgestellt. Und sie kannte ihrerseits ihn gut genug, um zu wissen, dass er kein zweites Mal hier stehen wollte, um noch so einen Lapsus zuzugeben.
Deborah Kleinman hatte den Pitbull, den sie auf die Flüchtigen Cotton und Decker gehetzt hatte, mit diesem kleinen Trick noch schärfer gemacht.
Sie klappte den Hefter auf. Dillagio erhaschte einen Blick auf die Satellitenaufnahme einer Wüstenlandschaft, in der irgendwelche Punkte mit Pfeilen markiert und mit Linien verbunden waren. Eine Hand auf dem Ausdruck, sah Kleinman zu ihm hoch.
»An die Arbeit, Agent Dillagio. Das Ziel Ihrer Soko ist ja leider immer noch dasselbe: Finden Sie Cotton und Decker.«
»Ma’am.«
Dillagio drehte sich um und ging.
Auf dem Weg zu seinem Büro machte ihm sein angeschlagenes Knie wieder zu schaffen.
Es war ihm jetzt auch ein persönliches Anliegen, Cotton zu finden …
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Hauptquartier des G-Teams, 22:52 Uhr. Jetzt.
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