Eva Häggkvist stellte das Tablett mit den Cupcakes auf den Tisch.
„Bitte, bedient euch“, rief sie der Rasselbande zu, die wild durch den Garten tobte, und wischte sich mit den Handrücken den Schweiß von der Stirn. Aber sie wollte sich nicht beschweren, Regenwetter wäre bedeutend schlimmer gewesen. Kaum auszudenken, wenn zehn lebhafte Kinder das Haus in Beschlag genommen hätten.
Jemand zupfte sie am Ärmel ihres Shirts.
„Ich muss mal dringend aufs Klo“, sagte Markus.
„Komm mit, ich zeige es dir“, sagte sie, nahm Markus an die Hand und ging mit ihm ins Haus. „Die zweite Tür links“.
Markus ließ ihre Hand los und verschwand sofort im Badezimmer.
Während Ehemann Jörn und ihre Schwester Luisa die Meute beaufsichtigten, hatte sich Eva in der Küche zu schaffen gemacht, um die hungrigen Mäuler zu stopfen. Die Teller mit dem Gebäck leerten sich wie durch Zauberhand in Sekundenschnelle und sie musste beinahe ununterbrochen für Nachschub sorgen. Kindergeburtstage waren eine Herausforderung in der heutigen Zeit.
Ihre Tochter Lena war zehn geworden und hatte auf einer richtigen Feier bestanden. Aber das war auch kein Problem. Der Garten war groß, der Pool eingezäunt, was konnte da schon passieren. Die bekleckerten Shirts würden die anderen Mütter waschen müssen. Ein Lächeln stahl sich auf Evas Gesicht, als sie eine weitere Ladung Gebäck aus dem Backofen nahm. Sie hatte sich gründlich verschätzt und viel zu wenig vorbereitet. Noch einmal würde ihr das allerdings nicht passieren.
Sie warf gerade einen prüfenden Blick aus dem Fenster, als Jörn die Küche betrat.
„Meine Güte, ich habe total vergessen, wie anstrengend ein Kindergeburtstag sein kann“, seufzte er und legte seine Hände auf ihre Schultern.
„Du sagst es“, antwortete sie. „Aber es sind nur noch drei Stunden, die wir durchhalten müssen. Dann wird die Meute wieder von ihren Müttern abgeholt.“
„Meute ist gut“, lachte er.
„So, und jetzt ab nach draußen, bevor sich einer von ihnen ein Bein bricht“, scherzte sie.
Noch bevor Jörn die Tür erreicht hatte, brach im Garten plötzlich die Hölle los. Ein tumultartiges Inferno entfachte sich und die Kinder schrien wild durcheinander. Eva ließ die Rührschüssel fallen und rannte nach draußen. Das blanke Entsetzen spiegelte sich auf den Gesichtern der Halbwüchsigen wider, die verstört auf den Pool deuteten.
Eva schaute in die Richtung und presste die Hände auf den Mund, um den Schrei zu unterdrücken. Der grausige Anblick, der sich ihr bot, ließ das Blut in ihren Adern gefrieren.
„Bringt die Kinder sofort ins Haus, ich kümmere mich um den Jungen“, rief Luisa, Evas Schwester, geistesgegenwärtig.
„Was haben wir nur getan, was haben wir nur getan …“, schluchzte Eva in ihrer Verzweiflung und verharrte bewegungsunfähig auf der Stelle, während Jörn die Kinderschar ins Haus trieb.
Nur Luisa schien Herr der Lage zu sein. Sie hob den Kopf des Jungen an und redete beruhigend auf ihn ein.
„Jetzt mach schon, Eva, ruf einen Krankenwagen“, schrie sie ihr zu.
Mit zitternden Händen zog Eva das Smartphone aus der Hosentasche und tippte die Notrufnummer ein. Sie war kaum in der Lage, sich vernünftig zu artikulieren und stammelte wirres Zeug. Kostbare Sekunden gingen dadurch verloren.
„Eva, du musst mir helfen, Jonas hochzuhalten“, rief Luisa und wie in Trance kam sie der Aufforderung nach.
„Jetzt mach schon, du musst den Oberkörper stützen, damit der Eisenpfahl nicht noch tiefer eindringen kann“, drängte Luisa.
Eva spürte das warme Blut an ihren Händen, das sich klebrig anfühlte, und unterdrückte ein Würgen. Soeben war der Himmel eingestürzt und die Sonne würde nie wieder scheinen, egal wie kraftvoll sie auch in diesem Moment vom Himmel strahlte. Das Grün des Rasens verblasste zu einem Grau, genauso wie die liebevoll angelegten Blumenrabatten. Und der blaue Himmel schrumpfte zu einem Schwarzen Loch, das alles verschlang.
„Eva, du musst dich mehr anstrengen“, sagte Luisa. „Noch atmet er.“
Eva drückte den Jungen nach oben und spürte, wie das Blut von ihren Handgelenken auf den Boden tropfte. Es war einfach nur grauenvoll. Die Zeit schien stillzustehen, bis in der Ferne endlich das Martinshorn erklang.
Eva war nicht dazu in der Lage, die Fragen des Notarztes zu beantworten, und Luisa musste erneut übernehmen. Die Sanitäter stützten den Körper des Jungen und es gelang ihnen tatsächlich, diesen von der eisernen Zaunspitze zu befreien.
„Wird er es schaffen?“, hörte sie Luisa besorgt fragen.
„Der Junge hatte verdammt großes Glück, dass keine lebenswichtigen Organe getroffen wurden. Sind seine Eltern schon verständigt?“
„Das werden wir sofort erledigen“, antwortete Luisa beflissen.
„Sie müssen auch die Polizei verständigen“, sagte der Notarzt.
„Die Polizei?“
Als wäre das alles nicht schon schlimm genug, sollte jetzt auch noch die Polizei ermitteln? Warum?
„Selbstverständlich. Von allein wird der Junge schließlich nicht auf die Zaunspitzen gefallen sein.“
Eva biss sich auf die Unterlippe und schwieg.
„Wird er es schaffen?“, presste sie mühsam hervor.
„Er wird sicher für sein Leben gezeichnet sein. Aber ich bin zuversichtlich, dass er überlebt.“
Eva schloss dankbar die Augen. Jonas durfte nicht sterben, auf gar keinen Fall. Mit dieser Schuld würde sie nicht weiterleben können.
Die Türen des Krankenwagens schlossen sich und das Fahrzeug setzte sich in Bewegung. Eva spürte einen starken Druck auf ihrer Brust und sank zu Boden. Luisa war sofort zur Stelle, um sie aufzufangen und zu stützen.
„Komm, wir gehen ins Haus“, sagte sie.
Sie hatten gerade den Eingangsbereich erreicht, als ein Streifenwagen vorfuhr.
„Wir sind erledigt“, murmelte Eva und versuchte, das Zittern zu unterdrücken. Die zwei Beamten kamen direkt auf sie zu.
„Dürften wir einen Blick auf die Unfallstelle werfen?“
„Ja, sich …“, mehr brachte Eva nicht zustande.
„Wer hat die Leiter überhaupt in direkter Nähe des Zaunes aufgestellt?“, fragte der Polizist, der sich als Stefan Gunnarsson vorgestellt hatte.
„Ich weiß es nicht“, hauchte Eva.
„Lena hat sie aus dem Schuppen geholt“, teilte Luisa mit.
Eva erblasste. „Warum seid ihr nicht eingeschritten? Ihr solltet doch auf die Kinder aufpassen?“
„Wer konnte denn ahnen, dass so etwas geschehen könnte“, erwiderte Luisa.
„Was hat Jonas überhaupt auf der Leiter gewollt?“, fragte Eva.
„Ich vermute einmal, dass er über den Zaun in den Pool springen wollte.“
„Das kann doch alles nicht wahr sein.“ Eva war fassungslos. „Warum habt ihr nicht besser aufgepasst? Wo war Jörn zu dieser Zeit?“
„Er hat den Tisch abgeräumt.“
„Oh nein …“ Eva musste sich abstützen. Wann würde sie endlich aus diesem Albtraum erwachen?
„Wurden die Eltern bereits verständigt?“, wollte Gunnarsson wissen.
„Ich weiß es nicht …“, stammelte Eva.
„Moment, ich werde Jörn fragen“, sprang Luisa wieder ein und ließ Eva einfach stehen, um zum Haus zu eilen. Kurz darauf öffnete sie das Fenster. „Jörn hat die Eltern angerufen“, rief sie ihnen zu.
„Gut, aber auch die anderen Eltern müssen informiert werden. Wir können die Kinder nicht ohne deren Einwilligung befragen“, sagte Gunnarsson.
„Wie bitte?“
Eva war nicht dazu in der Lage, auch nur einen einzigen klaren Gedanken zu fassen. Jonas war schwerverletzt ins Krankenhaus gefahren worden und kämpfte um sein Leben, weil sie ihre Aufsichtspflicht vernachlässigt hatten. Daran gab es nichts schönzureden. Der bittere Stempel der Schuld war ihnen vom Schicksal aufgedrückt worden.
Gunnarsson wiederholte seinen Satz.
„Ja, natürlich, die Eltern.“
Als die ersten Fahrzeuge vorfuhren, wünschte sich Eva, im Erdboden zu versinken. Diese Blicke würde sie nie vergessen – Verachtung, Zorn, Ungläubigkeit. Weitere Polizisten trafen ein, um die Kinder zu verhören und Eva fühlte sich wie eine gebrandmarkte Schwerstkriminelle. Dabei hatte sie doch nur in der Küche Cupcakes gebacken. Es dauerte Stunden, bis der ganze Spuk vorbei war und sie sich unter Tränen in den Sessel fallen ließ.
„Wo steckt Lena?“, fragte sie Luisa.
„In ihrem Zimmer.“
„Sie soll zu mir kommen“, bat Eva kraftlos.
Tim, ihr Ältester stand mit traurigem Blick in der Tür.
„Alles wird wieder gut, Mama.“
Eva erhob sich, um ihren Sohn in den Arm zu nehmen. Der schlaksige Vierzehnjährige befand sich mitten in der Pubertät, war aber dennoch ein ruhiger und besonnener Junge und das ganze Gegenteil von Lena. Ihre Tochter war ein Wirbelwind und fegte durchs Haus im wahrsten Sinne des Wortes. Sie konnte sehr aufbrausend werden, wenn sich das Universum nicht um sie drehte.
„Wir kriegen das wieder hin, ganz bestimmt“, murmelte Eva und strich ihrem Sohn liebevoll durchs Haar.
„Ich wollte gerade dazwischengehen, als Jonas auch schon zum Sprung angesetzt hatte.“
Seine Schultern bebten und Eva drückte Tim ein wenig fester an sich.
„Dich trifft keine Schuld, du bist doch selbst noch ein Kind.“
Früher hätte Tim aufs Heftigste widersprochen, aber nun blieb er stumm. Eva zerriss es das Herz, dass er alles hatte mit ansehen müssen.
„Kann ich in mein Zimmer gehen?“
„Natürlich. Ich werde dir nachher einen Beruhigungstee kochen, sobald ich mit Lena gesprochen habe.“
Mit hängenden Schultern stieg Tim die Stufen nach oben. Kurz darauf erschien Lena im Wohnzimmer.
„Warum hast du die Leiter aus dem Schuppen geholt?“, fragte Eva mit vorwurfsvoller Stimme.
„Weil Jonas das so wollte“, antwortete Lena schulterzuckend.
„Aber ich habe doch ausdrücklich gesagt, dass du dich an die Anweisungen von Papa und Luisa halten sollst.“
„Aber Jonas wollte im Pool schwimmen und die Tür war abgeschlossen“, erwiderte Lena trotzig.
„Warum hast du deinen Vater nicht um Erlaubnis gefragt?“
Eva forschte im Gesicht ihrer Tochter. Sie wirkte kühl und distanziert, so als ginge sie das alles nichts an. Manchmal war dieser Umstand sehr beängstigend und ein wenig mehr Betroffenheit oder Schuldgefühle wären in dieser vertrackten Situation angebracht gewesen.
„Lena?“
„Ja?“
„Ich habe dir eine Frage gestellt?“
„Mama, ich habe mir nichts dabei gedacht.“
„Aber du hast doch gesehen, was geschehen ist? Jonas wäre beinahe gestorben, er wird sein Leben lang gezeichnet sein.“
„Wie gezeichnet?“, fragte Lena irritiert.
„Es werden Narben von den Verletzungen zurückbleiben, die ihn ein Leben lang an dieses Unglück erinnern.“
Täuschte sie sich oder hatte sie tatsächlich ein Funkeln in Lenas Augen gesehen? Was war nur mit ihrer Tochter los? Ständig setzte sie sich über die Anweisungen ihrer Eltern hinweg und reagierte starrköpfig. Lena muss doch gewusst haben, was passieren könnte, sie war schließlich kein kleines Kind mehr.
„Wie werden die Narben aussehen?“, fragte sie und Eva schluckte. Das war mehr, als sie verkraften konnte.
„Warum interessiert dich das?“
„Nur so.“
Wieder ein Schulterzucken.
„Lena, so kann das auf gar keinen Fall weitergehen. Papa und ich werden uns eine angemessene Strafe für dich überlegen, aber vorher wirst du auf ein Blatt Papier schreiben, warum du die Leiter ohne Erlaubnis aus dem Schuppen geholt hast.“ Eva atmete tief durch, um ihre Wut zu zähmen. „Und jetzt geh bitte auf dein Zimmer.“
„Okay.“
Lena machte auf dem Absatz kehrt, sauste nach oben, und Eva schlug in ihrer Verzweiflung die Hände vors Gesicht. Wie sollte es nur weitergehen? Sie konnten auf keinen Fall in Uppsala bleiben und schon gar nicht in dieser Nachbarschaft. Dabei hatten sie sich das Haus erst vor fünf Jahren gekauft, liebevoll renoviert und hergerichtet. Der Traum war geplatzt.
Damals hatten Jörn und sie sich für dieses Haus entschieden, weil es einen ländlichen Charme versprühte und trotzdem etwas Stilvolles an sich hatte. Der große Pool, der mit einem eleganten schmiedeeisernen Zaun gesichert war, hatte sie schließlich überzeugt. Nie im Traum hätte Eva daran gedacht, dass die Spitzen der Eisenpfosten zur tödlichen Falle hätten werden können.
Jörn betrat mit hängenden Schultern das Wohnzimmer und setzte sich neben sie.
„Nur eine kurze Pause, mit schwirrt der Kopf“, sagte er.
„Ich bin auch fix und fertig“, antwortete Eva. „Aber das dürfen wir Lena nicht durchgehen lassen“, beschwor sie ihn.
„Bitte nicht jetzt, ich bin kaum noch aufnahmefähig.“
„Wann sollen wir sonst darüber reden?“
Eva warf ihm einen fragenden Seitenblick zu. Sie wollte reden, nein, sie musste darüber reden, weil sie das Gefühl hatte, daran zu ersticken.
Jörn stand auf.
„Ich bin draußen, aufräumen“, sagte er und lief zur Tür.
Eva blieb wie betäubt zurück. Luisa setzte sich neben sie.
„Was für ein irrer Tag“, sagte Luisa.
„Ich weiß einfach nicht mehr, wie es weitergehen soll“, flüsterte Eva. „Wir können uns in der Nachbarschaft nicht mehr blicken lassen, unser bisheriges Leben ist mit diesem verhängnisvollen Unfall unwiederbringlich zerstört worden.“
Luisa legte ihre Hand auf Evas Schulter.
„Sag doch so etwas nicht. Auf der ganzen Welt passieren Unfälle und Wegziehen ist auch keine Lösung.“
„Die Leute werden sich über uns das Maul zerreißen und mit Lena ist es schon schwierig genug.“
„Weil sie eine Einzelgängerin ist?“
„Ja, du kennst doch das Problem.“
„Vielleicht interpretierst du auch viel zu viel hinein. Ich komme mit Lena bestens klar.“
Eva schloss einen Moment lang die Augen, der Seitenhieb ihrer Schwester hatte gesessen. Es störte sie sehr, dass sich Luisa manchmal aufführte, als wäre sie die bessere Ehefrau und Mutter, dabei hatte sie weder Kinder noch einen Mann. Aufgrund der angespannten Situation konnte Eva gar nicht anders, als zum Rundumschlag auszuholen.
„Warte nur ab, bis es bei dir endlich so weit ist. Dann werde ich mit deinen Kindern auch besser auskommen.“
Luisa sagte nichts und presste die Lippen zusammen.
„Ich werde jetzt einen Tee für Tim kochen, ihn hat das alles sehr mitgenommen.“
„Und Lena?“, fragte Luisa.
Eva ignorierte die Frage, drehte sich wortlos um und ging in die Küche. Als sie einen Blick aus dem Fenster warf, entdeckte sie Jörn im Garten. Er hatte damit begonnen, das Blut mit Hilfe des Dampfstrahlers wegzuspülen, und das Wasser des Pools verfärbte sich dunkel. Warum nur hatte ihnen das Schicksal so übel mitgespielt?