Es gab in Madrid keine Kutschen. Der Kardinal-Legat mußte zur Audienz reiten. Man hatte ein weißes Maultier für ihn aufgetrieben, darauf saß er seitlich, nach Art der Frauen, das leuchtende Gewand lang hinabwallend. Es regnete fein und eisig auf seinen flachen Purpurhut. Der alte Fabio Fumagalli, Kanonikus von Sankt Peter, führte sein Reittier am Zügel. Hinterdrein und zur Seite stapften die Leute seines Gefolges im Schmutz, drei Kleriker minderen Ranges und mehrere Bediente, alle unheiteren Gesichts niederschauend auf ihre Strümpfe, die kotig wurden bis über die Waden. Die geistlichen Herren hielten mit beiden Händen ihre Röcke hoch wie Bauernweiber und gedachten der schöngepflasterten römischen Promenaden.
Es war eine seltsame Hauptstadt, nach der sie da entsandt worden waren. Einen Marktflecken, nichts anderes, hatte sich dieser König zur Residenz ausgesucht. Wenn 15000 Christenmenschen hier beieinander hausten, war es viel. Die Häuser waren fast alle aus Lehm, einstöckig, so niedrig, daß der Kardinal auf seinem Maultier mühelos hätte die Dächer berühren können. Dies war die Hauptstadt der halben Welt. Von diesem Schmutznest aus wurde Spanien regiert, Burgund, Lothringen, Brabant, Flandern, und die fabelhaften Goldreiche überm Weltmeer. Von hier aus empfingen in Neapel, Sizilien und Mailand spanische Vizekönige ihre Weisungen. Gegen den Herrscher, der hier sich gefiel, hielten sich mühsam noch aufrecht der König von Frankreich, die Republik Venedig und der Staat des Heiligen Vaters. In Tracht und Sitte war Spanisch Weltmode; von hier ging sie aus.
Die spärlichen Passanten im Novemberregen beugten das Knie vor dem Reiter im Fürstenkleid. Die zu ihm aufschauten, blickten betroffen. Da ritt ein Knabe. Ein schmales, blasses, kränkliches Gesicht schimmerte unter dem Purpurrand.
Der Kardinal Giulio Aquaviva war 22 Jahre alt. Der Papst hatte ihn hergeschickt, um sein Beileid zum Tode des Thronfolgers Don Carlos zu überbringen, eine sehr besondere Mission, denn niemand zweifelte daran, daß hier der Vater dem Sohn zum Sterben verholfen hatte.
Beinahe einen Monat war die Delegation unterwegs gewesen von Rom nach Madrid. Das Meer war stürmisch, allenthalben kreuzten die Raubschiffe der Barbaresken. Die geistlichen Herren gingen halbtot an Land. Ein Aufenthalt ohne Bequemlichkeit erwartete sie. Der Kardinal-Legat saß die Nächte durch aufrecht in seinem nassen harten Bett in der Madrider Nuntiatur und hustete.
Während der langen, entsetzlichen Seefahrt hatte sein Kommen noch einen weiteren finstern Sinn bekommen. Auch zum Tode der Königin konnte er nun gleich mitkondolieren. Die schöne, sanfte Elisabeth von Frankreich war nur 25 Jahre alt geworden. Nach den Marien von Portugal und von England war sie die dritte Tote in Philipps Ehebett. Was seine Hand berührte, das welkte und ging.
Vorwand genug nun also für die Reise. Denn ihr geheimer und eigentlicher Zweck war ein anderer. Zwischen dem Allerkatholischsten Könige, Schild des Glaubens, Richtschwert der Ketzer, und dem Vatikan herrschte Zwist. Der Sohn Karls des Fünften lag im Staub vor Gott und der reinen Lehre, keineswegs vor dem Papst. „Für Spanien gibt es keinen Papst,” hatte der Präsident seines Rates in öffentlicher Sitzung gesagt... Der 22 jährige kranke Herr war Träger sehr ernster Botschaften.
Denn der ständige Nuntius hatte garnichts erreicht. Audienzen wurden ihm selten gewährt, stets von neuem verwies man ihn auf den schriftlichen Weg. König Philipp liebte den schriftlichen Weg. Leise und zäh hauste er unter Papieren. So sparsam er sprach, so gern, so methodisch schrieb er. Das Gebet und die Akten, dies war sein Leben.
Von seinem Kondolenzgesandten erhoffte der Papst, was sein Beamter nicht durchsetzte. Unter tragischen Umständen würde der Jüngling vor diesem König erscheinen, vielleicht fand er den Weg zu seinem Gefühl, zu seiner belasteten Seele. Man liebte Aquaviva in Rom. Pius selbst, unter seiner dreifachen Krone ein unerbittlicher alter Dominikaner, liebte ihn. Vielleicht würde auch Philipp ihn lieben.
Der ständige Nuntius war voller Hohn. Zunächst einmal quartierte er den kranken Herrn schlecht ein in seinem Hause, kein Mensch kümmerte sich um sein Wohlergehen, seine Begleitung bekam nichts zu essen.
Schließlich schlug der Kanonikus Fumagalli Skandal. Er war ein weißbärtiger Bauer aus der Romagna, von mächtigem Körperbau, zum Soldaten mehr als zum Priester erschaffen, und dem Hause Aquaviva seit jungen Jahren dienend befreundet. Auch er liebte den hochgeweihten, zarten und frommen Jüngling. Mit dem Hausherrn hatte er eine kurze, völlig respektlose Unterhaltung. Danach wurde alles besser.
Aber mit befriedigtem Hohn beobachtete der Nuntius weiterhin, wie der Aufenthalt des ungebetenen Logiergastes sich müßig hinzog. Drei Wochen war er nun schon da. Auf die ehrerbietige Anfrage, wann die Traueraudienz genehm sei, war erst viele Tage überhaupt keine Antwort gekommen, endlich ein Bescheid aus der Staatskanzlei, das Beileid möge schriftlich abgestattet werden. Schriftlich, das Allerweltswort, aber dem Kirchenfürsten gegenüber, der einen Monat unter Fährnissen gereist war, eine kaum tragbare Insolenz. Dennoch war nichts übrig geblieben als nochmals zu bitten. Unmöglich konnte er nach Rom zurückfahren und Petri Nachfolger bekennen: man hat Deinen Botschafter garnicht ins Haus gelassen. Als endlich der Zutritt gewährt wurde, war von vornherein das Gleichgewicht peinlich verschoben. Und das war der Zweck gewesen.
Das Königsschloß war erreicht. Aber der geistliche Zug konnte den Eingang nicht finden. Ein Gerüst zog sich um den burgmäßigen, verwinkelten Alcazar. Im Regen hämmerten Arbeiter. Immer wurde an Philipps Häusern gebaut.
Sie zogen um den ganzen zackigen Komplex. Vor einer Hinterpforte stieg der Legat von seinem Tier. Pikenträger in riesigen Hüten, gelben Wämsern und rotgelben Pluderhosen hielten Wache. Sie verstanden kein Wort. Es waren Deutsche. Schließlich, auf das Rufen der Diener, kam ein Mann in Priesterkleidung die steile Stiege herab und gab auf Lateinisch Bescheid. Von hier aus war kein Zugang zu den königlichen Gemächern. Aufgesessen also noch einmal und im Halbkreis zurück zur Vorderfront mit den Gerüsten.
Die Begleitung verblieb in einem Wachtlokal zu ebener Erde. Es war kalt hier, durch die winzigen, vom Balkenwerk verstellten Fenster kam jetzt um Mittag kaum Licht. „Das sind Vergnügungsreisen!” sagte Fumagalli, der den nassen roten Hut des Legaten auf den Knien hielt, „die Eminenz wird uns sterben an diesem Ausflug!”
Der Kardinal ging langsam, unter Seitenstechen, die dunklen Treppen hinauf. Es roch schlecht in diesem mittelalterlichen Burgpalast. Ein Hofherr schritt seitlich voran, immer höher. Ich glaube, der König von Spanien sitzt auf dem Dach und erwartet mich da, dachte Aquaviva, denn er war fröhlichen Gemüts unter seinem Purpur, ein gütiger heiterer Knabe bei all seiner frommen Klugheit.
Nun ging es im obersten Stockwerk seitlich ab, durch einen offenen Zinnengang erst, in den der Nordsturm hereinblies, und von dem aus man das ganze lehmschmutzige Städtchen recht armselig liegen sah und jenseits das nackte, traurige Hochland von Kastilien. Dann kamen Säle, niedrig und lang, mit ein paar Truhen spärlich möbliert. Überall Herren vom geistlichen Stand, in der Sutane oder im Ordenskleid, in Gruppen sich beredend, untätig harrend. Ein viereckiges Zimmer dann, voll mit Bewaffneten. Ihr Offizier erwies klirrend Salut. Im nächsten Raum, einem völlig leeren Gang, verließ ihn der Hofherr zur Meldung.
Unmittelbar zu Aquavivas Häupten schlug eine Glocke stark und nachhallos die Mittagsstunde. Die Tür ging auf. Der Kämmerer ließ ihn passieren.
Das Zimmer war hell. Aus hohen Fenstern strömte von links und von rechts stumpfes, kalkiges Licht auf dem Schreibtisch zusammen, hinter dem König Philipp arbeitete. Er legte sein Gerät zur Seite und blickte aus großen, gewölbten, unnennbar ruhigen Augen dem Eintretenden entgegen. Der verneigte sich, und wartete dann in höfischer Haltung auf eine Anrede. Doch die kam nicht. So hatte er Muße, den meistberedeten Herrn der getauften Welt zu betrachten.
Der Anblick erstaunte ihn, und er gab sich auch Rechenschaft über den Grund. Philipp saß ohne Hut, wie er auf keinem seiner vielen Portraits erschien, und wie man also nicht gewohnt war, ihn sich zu denken. So sah der Kardinal, wie blond er war: hellblond das seidig frisierte Haupthaar, nur wenig dunkler der Bart, der einen großen, geistreich gezogenen Mund umrahmte. Sehr zart und hübsch gebildet die Nase, porzellanen durchsichtig die weiße Haut, Eleganz und Gepflegtheit der vorherrschende Eindruck. Nur die vorgebaute und schwere Stirn brachte einen unbestimmt drohenden Zug in das anmutige Ganze.
Schwarzer Samt war sein Anzug. Selbst die Halskrause war in diesen Tagen der Trauer verschwunden, der Orden des Vlieses hing an einer Kette aus dunklen Edelsteinen über der Brust und schimmerte schwach.
Soll ich selber denn anfangen? dachte Aquaviva und stellte mit Mißbehagen fest, daß ihm Gesicht und Hände vor verlegener Hitze brannten. Ein wenig ratlos schickte er den Blick durch das Königszimmer. Da war nicht viel zu sehen. Gobelins bedeckten die Wände. Wenige schwere und simple Möbel. Seitlich neben Philipp stand ein Tischchen mit einem kleinen Kruzifix und zwei Reliquienkästchen aus Silber.
„Einen jungen Priester schickt mir die Heiligkeit,” sagte ziemlich leise eine höfliche und vollkommen leere Stimme in mühsamem Italienisch. „Sagt Euern Auftrag!”
„Der Heilige Vater, Majestät, entbietet Euch seinen Gruß und seinen apostolischen Segen. Mein Auftrag ist, auszudrücken, mit wie tiefem, innigen Anteil die Heiligkeit den Tod Eures Infanten Don Carlos erfahren hat, und daß ihr tägliches, unermüdlich wiederholtes Gebet dem Entschlafenen gilt.”
„Das ist viel Ehre für diesen Prinzen,” sagte die glanzlose Stimme.
Aquaviva verstummte. Dies ging wider alle Voraussicht. Mochte an sämtlichen Höfen der Christenheit ohne Umschweife von diesem aufregenden Trauerfall geredet werden, der König selbst, dies stand doch wohl fest, würde mit ein paar steifen Redensarten alles zudecken. Er hatte ja Anlaß dazu.
Dieser Prinz war ein Krüppel und ein halb Irrsinniger gewesen. Da er der Erbe der halben Welt war, kannte die ganze Welt seine Schritte von Kind auf. Sie wußte von seinen Ammen, denen der Säugling die Brüste zerbiß, so daß sie starben, von den Tieren, die der Knabe lebendig am Pfahl briet, den Hofleuten, die er zu kastrieren befahl, seinen Wutausbrüchen, Schreikrämpfen, epileptischen Anfällen. Auch vor dem Vater machte das Halbtier nicht Halt. Daß er ihm den Tod schwur, wäre ertragen worden. Aber in der vergangenen Weihnacht wurde sein Plan ruchbar, zu fliehen und sich in Flandern an die Spitze der Ketzer zu setzen. Mit geheimnisvoller Schnelle war dies auch in Rom bekannt. Der Papst geriet in Ängste. Er wurde beruhigt. Schon hielt man in Madrid den Prinzen gefangen. Er starb. Zu diesem Tod überbrachte Aquaviva die Kondolation.
„Die Heiligkeit,” sprach er mit Anstrengung weiter, „hat einen Trauergottesdienst angeordnet. Am 5. September wurde er in Sankt Peter abgehalten. Um dem Erben eines so mächtigen Reiches die höchste Ehre zu erweisen, hat die Heiligkeit dieser Feier selbst angewohnt. Ich darf darauf hinweisen, Majestät, daß solche Ehre bis auf diesen Tag nur Königen zu Teil geworden ist.”
„Nur Königen,” wiederholte der König, plötzlich in hartem Latein. „Ich danke dem Heiligen Vater. Gott hat mir die Last auferlegt, den wahren Glauben unverletzt zu erhalten, Gerechtigkeit und Frieden zu halten und nach meinen wenigen Lebensjahren die anvertrauten Staaten in fester Ordnung zurückzulassen. Alles hing in erster Reihe von der Person meines Nachfolgers ab. Es hatte aber Gott zur Strafe meiner Sünden gefallen, den Prinzen Don Carlos mit so vielen und schweren Mängeln zu behaften, daß er zur Regierung ganz untauglich war. Fiel ihm das Reich als Erbe zu, so war es gefährdet. Er konnte keineswegs leben. Nehmet den Stuhl!”
Die letzten Worte waren genau im selben Tone gesprochen wie das Vorangehende. Der junge Kardinal, betäubt und geblendet von so viel unerwarteter, schneidend heller Aufrichtigkeit, begriff nicht sofort.
„Nehmt Euch den Stuhl,” wiederholte der König.
Es stand nur einer im Zimmer, ein niedriger Schemel ohne Lehne. Aquaviva zog ihn heran. Das lebendige Rauschen seiner Seide um ihn beim Niedersitzen war wie ein Trost.
„Majestät, ich gehorche. Aber nicht sitzend dürfte ich mich meines ferneren Auftrags entledigen. Der Heilige Vater hat ihn mir nicht selbst mehr erteilen können, aber ich weiß, daß sein Herz ihn mir über das Meer zusendet. Gott hat vor wenigen Wochen auch Ihre Majestät die Königin zu sich heimgerufen, die beste, die frömmste, die edelste Seele, und so...”
„Es ist gut, Kardinal. War sonst noch etwas?”
Ablehnung schwang in der höflichen Stimme. Denn diese heitere, gütige, entzückende Französin hatte der König geliebt.
„Geschäfte schweben, Euer Majestät.”
„Geschäfte. Gewiß. Der Papst unterhält einen ständigen Vertreter bei meinem Hof.”
Aquaviva hatte zwei kreisrunde Flecken auf den Wangen, rot wie sein Kleid.
„Der ständige Nuntius ist schon lange von der Person des Heiligen Vaters entfernt. Meine Worte ersucht die Heiligkeit als unmittelbar aus ihrem Munde kommend zu betrachten.”
„Ich werde aufmerksam hören,” sagte Philipp. Ein Sturmstoß warf prasselnd den Regen gegen die Fensterscheiben. Beide lauschten. Als dies Geräusch vorüber war, setzte der König langsam und mit Präzision hinzu:
„Seine Heiligkeit weiß, und es kann sich daran nichts ändern, daß ich lieber auf meine Krone verzichten will, als mir das entreißen lassen, was der Kaiser und König, mein Souverain und mein Vater, vor mir besessen hat.”
Auf meine Krone verzichten... Es war cäsarisches Latein, jeder Satzteil wie eine Quader. Um Redensarten ging es hier nicht. „Wenn mein Sohn,” hatte der gleiche Mann einst gesagt, „der Ketzerei verfiele, würde ich selber Holz herbeitragen, um ihn zu verbrennen.” Er hatte noch keinen Sohn besessen, als er so sprach... Dieser unbedingten, schweren und langsamen Seele war jedes Äußerste zuzutrauen. Nicht über Rom, auf unmittelbarem Wege erging an ihn, der eingesetzt war in die Herrschaft, Gottes Befehl. Spaniertum und Rechtgläubigkeit waren das Selbe für ihn. Er war Gottes schwer beladener Verwalter, sein irdisches Königsdasein in unerschauter Machtfülle war ein schmaler Vorhof der Ewigkeit, auf die sein Auge unverrückbar gerichtet blieb. Draußen auf ödem Vorland der Sierra erstand schon die ungeheure Lebensgruft des Escorial, steinerner Traum seiner Frömmigkeit, fugenlos nackt sich hinlagernd in nackte Landschaft, Machtburg, Glaubenskaserne und Grabkirche, wo er die Toten seines Geschlechts zu vereinigen dachte. Er war ein schöner, eleganter Herr und vierzig Jahre alt. Aber schon waren mit jeder Einzelheit die dreißigtausend Totenmessen angeordnet, mit denen der ganze Heerbann spanischer Priester dereinst seiner Seele den Weg zur Seligkeit sichern sollte.
Kein Papst in aller Vergangenheit hätte diesem König mehr entsprechen können als der alte Mann, der jetzt auf Petri Stuhle saß, der asketische Mönch, Großinquisitor vordem — Philipps düster glanzloses Gegenbild jenseits des Südmeers. Und mit ihm lag er im Streit.
Es ging nicht um wenig. Es drohte die Loslösung. Es drohte die Spanische Staatskirche. Die Anzeichen waren da.
Giulio Aquaviva begann zu reden. Das kranke Haupt im Scharlachkäppchen geneigt, den Blick schräg vor sich hin auf eine Tierfigur des Teppichs geheftet, baute er die vatikanischen Beschwerden vor dem Allerkatholischsten Herrscher auf, sacht beginnend mit Läßlichem, minder Bedeutsamem, sodann Befremden, Betrübnis, Entsetzen kunstvoll steigernd, keine Periode ohne ein frommes Kompliment vor dem König, seine Verdienste hoch und höher erhebend, um hernach umso tiefer klagen und anklagen zu können. Er nahm all seine Klugheit, Glaubenskraft, Innigkeit, ja unbewußt auch allen rührenden Reiz seiner kranken Jugend zusammen, — welch gebrechlich holden Geräts bedient sich hier der wahre Glaube, hätte jeder andere Hörer bei sich denken müssen. Es ging um alles. Der Augenblick war entscheidend. Höchst ungewiß, ob er wiederkehrte. Giulio sprach nun ebenfalls Latein, bestes Latein, aus Höflichkeit gegen den König, der sich dieser Sprache soeben bedient hatte.
Der Anstände waren so viele. Von ganzer Seele wünschte der Papst sie beseitigt zu sehen. Er liebte und ehrte den König, auf ihm lag all seine Hoffnung gegen die Ketzerei, die allenthalben entsetzlich sich erhob. Mit welch christlicher Freude hatte er noch kürzlich erfahren, daß das Haupt der flandrischen Häresie, Graf Egmont, auf dem Brüsseler Schafott öffentlich gefallen war, ungeachtet der Dienste und Siege, die dieser Ketzer einst hatte leisten dürfen. Ganz sicherlich waren auch jetzt alle Übergriffe und Beleidigungen das Werk untergeordneter Diener, die Majestät hieß sie nicht gut.
Unerträglich zum Beispiel war das Verhalten des spanischen Vizekönigs in Neapel, des Herzogs von Alcala. Er verhöhnte die Autorität. Bischöfe, Abgesandte des Vatikans, ließ er tagelang im schlechtesten Vorzimmer warten. Kamen sie endlich vor ihn, so empfing er sie im Bette liegend, und, wie es hieß, nicht stets allein.
Philipp erwiderte nichts und blickte mit etwas hängender Unterlippe ins Leere.
Hierzulande war es nicht anders. Ein Jahr erst war es her, da hatte der Papst die Stiergefechte verboten. Den Veranstaltern war der Bann angedroht. Die im Stierkampf Getöteten durften nicht kirchlich bestattet werden. Aber sie wurden kirchlich bestattet. Aber die Bischöfe gaben dem Bann keine Folge. Aber der Zulauf und Prunk waren größer als je. Und das geschah schließlich unter den Augen des Königs.
Aquaviva erhob den Blick und machte eine respektvoll abwartende Pause.
Philipp antwortete auch. Ein paar Worte freilich nur. Aber es war höchst seltsam: Aquaviva verstand nicht. Etwas in der Sprache des Königs klang fremd, rauh entgleitend. Hab ich denn Fieber, dachte Aquaviva, mir scheint, ich bin doch ganz klar im Kopfe... Fragen konnte er nicht. Er fuhr fort.
Das waren Einzelheiten. Aber wurde denn in Spanien die apostolische Gerichtsbarkeit überhaupt noch geachtet? Und wie war es mit den Finanzen? Besteuerte nicht der König den Klerus nach Gutdünken und leitete ungeheure Summen der spanischen Staatsfinanz zu, statt in die römische Hauptkasse der katholischen Christenheit? Gott wußte, und der König wußte es auch, daß dem Heiligen Vater Eigennutz fern lag. Christi Statthalter lebte wie ein Bettelmönch. Eine Brotsuppe und ein halbes Glas Wein zu Mittag, am Abend ein wenig Obst. Seine Kleidung war so schlecht, daß sie Anstoß erregte. Doch er benötigte das Geld für die Verwaltung des ungeheuren Seelenreiches, das ihm anvertraut war. Er bat seinen geliebten und großen Sohn, dies doch einsehen zu wollen.
Der König sprach wieder einige Sätze. Der Kardinal verstand wieder nicht. Er öffnete vor Anstrengung des Horchens den Mund, der ihm austrocknete. Er bekam Tränen in seine guten Augen, vor Scham, Ärger und Ratlosigkeit. Und diesmal merkte der König, daß er nicht verstanden wurde. Einen Schein wie von einem bleichen Lächeln meinte Aquaviva über das gepflegte Antlitz hingleiten zu sehen. Das konnte ein Irrtum sein. Aber was und wie, bei allen Heiligen, sprach dieser König? Das war doch eine seltsame Art von Latein — denn Italienisch war es nicht, obwohl es auch wieder ähnlich klang und einzelne Worte aufzufassen waren — einerlei, der Kardinal konnte nicht dasitzen und grübeln. Es hieß weiterkämpfen auf wankendem, weichendem Boden. In diesem Augenblick sehnte sich der fromme Knabe Aquaviva namenlos nach seinem Appartement im Vatikan, nach seiner kleinen, dämmerigen, immer so gut geheizten Hauskapelle, wo er vor einem schönen Muttergottesbild des Umbriers Perugino innig gern zu beten pflegte. Das waren gute Stunden. Der Heilige Vater hatte ihm da eine Fahrt durchs Fegfeuer auferlegt, nun denn, er mußte durch die Flammen hindurch.
Er richtete sich in die Höhe. Er gab seiner Stimme Metallklang. Es kam ein Schul- und Hauptfall, der endlich ausgetragen werden mußte. Um den unglücklichen Erzbischof von Toledo handelte es sich, den ersten Prälaten des Landes, Bartolomé Carranza, der von der spanischen Inquisition der Neigung zum Luthertum angeklagt war. Von der spanischen Inquisition allein, Aquaviva unterstrich das. Nie habe Rom an die Schuld des höchst würdigen Mannes geglaubt. Der Papst, der Strengste der Strengen, finde keine Schuld an ihm. Ginge es nach der Kurie, so wäre der unglückselige Greis längst befreit. Aber die spanischen Richter widersetzten sich — und zwar auf strikten Befehl des Königs. Inzwischen aber stehe das Toledaner Bistum, das erste und reichste in Spanien, verwaist, und der Staat ziehe die gewaltigen Einkünfte ein, ohne Rest. Nicht der Heilige Vater, nicht er sein Legat, wohl aber die Meinung der Welt sehe hier die eigentliche Ursache der königlichen Unerbittlichkeit.
Dem sei wie dem wolle — Aquaviva erhob sich, es schien ihm der Augenblick dazu — dies werde nicht weiter geduldet. Der Heilige Vater habe ihm in diesem Punkt äußerste Deutlichkeit auferlegt. Es handle sich um den Entscheidungskampf der spanischen Theologie mit der römischen. Die Frage sei, ob der Allerkatholischste Herrscher, Schild des Glaubens, Schwert der Ketzer, sich löblich unterwerfe oder ob er die Autorität des Papstes mißachte und die Spanische Staatskirche wolle, also den Abfall. Unmißverständlich wünsche der Papst zu erklären, daß er in diesem Fall vor nichts zurückschrecken werde, vor nichts — vor dem Bannfluch nicht!
Schweigen. Schweigen. Kein Auffahren des Königs, nicht die mindeste Geste, kein Zucken in den weißen Zügen. Eine höflich lauschende Miene, ein Blick, der an dem Kardinal vorbei schräg zum Wandteppich ging.
„Der Apostolische Stuhl,” sprach Aquaviva nun feierlich, „entscheidet gegen die Inquisition. Der Erzbischof kehrt nach Toledo zurück. Der Papst fordert seine Rehabilitierung. Carranza verdient sie. Und” — mit einem außerordentlichen Effekt plötzlicher Milde und Wärme — „nicht nur der Christ, der gehorsame Katholik, auch der Sohn muß sie willig gewähren, denn der Kaiser und König, sein Souverain und sein Vater, Karl glorreichen Namens, ist im Kloster Yuste in den Armen dieses selben Bischofs Carranza gestorben.”
Das war nun gesprochen. Aquaviva atmete hoch auf aus seiner schmalen Brust. Gut angelegt, gut gesteigert, das Äußerste gesagt, mit dem Banne gedroht, und geschlossen mit einem vollen menschlichen Glockenton. Darauf mußte geantwortet werden. Das war kein Gegenstand mehr für Kanzleien. Da gab es kein Verweisen auf den schriftlichen Weg. Der Kardinal wartete.
Der König wartete auch. Dann, ohne das Auge zu erheben, mit mäßiger Stimme begann er zu reden. Und Aquaviva verstand nicht. „Imperator et rex, dominus meus et pater” zwar begann es, aber schon wieder glitt das Idiom ab, verwandelte sich — wo hatte er denn seine Ohren gehabt: Philipp sprach Spanisch zu ihm, ein besonderes Spanisch allerdings, wie er dunkel zu spüren glaubte. Es war so. Ganz sacht und allmählich entstellte der Spanier seine Sprache ein wenig, tilgte Zungen- und Gaumenlaute, färbte das O dunkel in U um und brachte so ein foppendes Pseudolatein zustande, dessen Sinn der Andere stets zu erhaschen meinte, und das ihm doch immer entglitt. Ein Meisterspiel, das durfte man sagen.
Es fehlte sehr wenig, und Giulio hätte geweint. Was war er auch hergereist, ohne die Sprache zu kennen. Aber wem erschien denn das nötig! Noch war Italienisch das Idiom der vornehmen Welt und Latein gemeinsam allen kirchlich Erzogenen. Zu jeder Mission in Europa war man damit gerüstet. Gegen diesen einen Menschen freilich nicht.
Ihm fiel ein, was ihm gestern noch der französische Botschafter flüsternd erzählt hatte: wie der König die langsame Agonie seines Sohnes durch eine Öffnung in der Kerkerwand viele Stunden lang beobachtet habe, ruhigen Herzens, ohne sich bemerkbar zu machen. Er hatte gestern Herrn Fourquevaux kein Wort geglaubt; jetzt glaubte er’s.
Philipp sprach. Er sprach sehr ausführlich, mit feinen Modulationen der Stimme jetzt, leise zwar, aber in eleganten, effektvollen Kadenzen, mit einem offenkundigen, ruhigen Genuß. Er hatte Zeit. Er ließ sich Zeit. Es hatte für den unglücklichen Knaben im roten Mantel den Anschein, als werde er weiterreden bis zum Abend. Vor seinen Ohren brauste und zischte es, hie und da schlug ein halbvertrautes Wort durch die Brandung — er schwankte, er wäre fast auf seinen Sessel zurückgesunken, er war ja auch krank. Da sagte die höfliche Stimme abschließend auf Italienisch:
„Dies ist es, was ich sagen kann, Kardinal. Ich halte Sie nun nicht mehr zurück.”
Er mochte, ohne sichtbare Geste, eine Glocke in Bewegung gesetzt haben. Die Tür stand offen und der Kämmerer bereit, ihn hinwegzuführen.
Der Regen draußen hatte aufgehört. Eine bleiche Sonne, fast schon eine Wintersonne, schien. Der alte Fumagalli führte das Maultier am Zügel. Besorgt schaute er zu seinem Herrn und Zögling auf, der leichenbleich und erschöpft sich in seinen Frauensattel werfen ließ.
„Du siehst so müde aus, geliebter Sohn,” sprach er leise zu ihm hinauf. In guten und in sehr schlechten Stunden duzte er ihn immer noch wie als Knaben.
„Müd bin ich,” sagte der von seinem Maultier herunter.
„Du mußt fort aus diesem Lande, Giulio. Das ist kein Klima für Dich.”
„Ich gehe, sobald man mich ruft.”
„Was sollst Du denn noch! Was willst Du noch hier?”
„Spanisch lernen. Such einen Lehrer!”
„Das ganze Vorzimmer ist voll, Eminenz,” sagte Fumagalli, der von draußen zurückkam. „Ein Dutzend Kerlchen sitzen da, alle sehr hungrig und trübselig anzuschauen.”
„Ein Dutzend Sprachlehrer! Wo kommen die her?”
„Aus den Humanistenschulen. Es gibt sechs oder sieben in diesem Kuhdorf. Denen hab ich Zettel hingeschickt.”
„Sehr praktisch von Dir,” sagte Aquaviva.
„Wissen möchte ich bloß, warum Ihr noch Spanisch lernen wollt!”
Der Kardinal sah ihn an. „Noch sagst Du, Fabio, noch! Du gibst mir nicht viele Jahre mehr, wie?”
„Noch — als erwachsener Mann und Fürst der Kirche!” rief Fumagalli erschrocken.
„Ich werde Dir eine Geschichte erzählen. Hör zu! Am Abend, ehe der weise Sokrates sterben sollte, kam ein Freund ins Gefängnis und sah, daß der Musiklehrer da war und ihm auf der Leier ein Lied beibrachte. Wie denn, rief der Freund, morgen sollst Du sterben und lernst heute noch ein neues Lied? Und Sokrates sprach: wann soll ich es denn lernen, Du Lieber?”
„Wer redet vom Sterben! Das bißchen Husten. Hast Du’s denn warm genug?”
Aquaviva saß in einem Lehnsessel, gut zugedeckt, neben ihm stand mit heller Glut ein Kohlenbecken aus Bronze, rund und groß, ruhend auf drei wundervoll gearbeiteten Löwentatzen. Fumagalli hatte das schöne Stück mit eigenen Händen aus dem Schlafzimmer des apostolischen Nuntius geholt, ohne jemand zu fragen.
„Gut warm habe ich’s,” sagte Aquaviva. „Was aber das Spanische betrifft, so ist eine zweite Audienz nicht ausgeschlossen, und da macht sich’s doch hübsch, wenn ich den König mit ein paar Brocken überraschen kann.”
Fabio kniff die Augen zusammen. So verdächtig gemütlich redete er immer von diesem König! Erzählt hatte er garnichts. Aber kränker war er seit dem Empfangstag.
„Zweite Audienz! Ich glaub’ nicht daran. Er ist droben beim Escorial und überwacht seine Bauleute.”
„Einerlei. Ohne Spanisch kommt man nicht aus. Es ist auch wichtig für die vatikanische Korrespondenz. Der Heilige Vater wird es anerkennen.”
„Wie die Eminenz meint. Dann werd’ ich also ein paar von den Vögeln hereinlassen.”
„Aber einzeln, Fabio! Immer nur einen!”
Das Vorzimmer war voller Menschendunst. Die Zahl der Bewerber hatte sich fast noch verdoppelt. Es waren meist junge Leute, schlecht genährt und nicht besser gewaschen. In ihren Studentenkragen aus grobem schwarzem Tuch saßen sie aufgereiht auf der samtbezogenen Mauerbank, drehten ihre Mützen in den Händen und beschauten einander mit unguten Blicken. Wer würde den unerhörten Treffer ziehen in dieser Lotterie?
Mit Notwendigkeit blieb Fumagallis Auge sogleich auf einer Erscheinung haften, die sich aus all dieser schlechtgelüfteten Jugend auffällig heraushob. Er trat auf den Mann zu, der sich erhob und nun im langfließenden, dunklen Seidenmantel groß vor ihm stand, das hochgeschnittene Barett auf dem grauhaarigen, bartlosen Haupt.
„Sind Euer Ehren nicht irrtümlich hier?” fragte er höflich, denn die Tracht des Mannes schien ihm gelehrte Grade zu verraten. „Der Empfang heute dient einem besonderen Zweck.”
„Der Zweck ist mir bekannt, Euer Würden, und mit Vorbedacht bin ich hier.”
Fumagalli vollführte eine einladende Geste und schritt gegen die Türe voran. Zugleich mit dem Gelehrten hatte sich neben ihm ein Student erhoben, ein schlankes, behendes Bürschchen mit lebhaften Augen, angezogen wie alle, nur vielleicht besser gewaschen, und machte unsicher Anstalten, mitzugehen.
„Du bleib nur einstweilen,” sagte der Mann im Talar, „Du würdest nur alles verderben.” Gehorsam nahm der Student wieder Platz, für die Protektion, die er genoß, von allen Seiten durch zornige Blicke versengt.
„Euer Eminenz,” meldete Fabio drinnen mit Förmlichkeit, „unter den Wartenden befand sich auch dieser Herr. Es schien mir richtig, ihn als Ersten einzuführen.”
Der Gelehrte stellte sich vor. Er war Don Juan Lopez de Hoyos, wohlbekannten Namens, wie er hinzufügte, Doktor der Universität Valladolid und Vorsteher einer jener Grammatik- und Kunstschulen, der berühmtesten in ganz Spanien, er verschwieg es selber nicht.
„Euer Besuch ist eine Ehre für mich,” sprach Aquaviva und wies auf einen Sessel. „Ich weiß sie zu schätzen. Aber unmöglich darf ich glauben, daß ein Mann Eurer Grade bereit ist, Elementarunterricht zu erteilen.”
„Eminenz, es war vorauszusehen, wie viele Anwärter sich einstellen würden. So habe ich einen meiner Zöglinge herbegleitet, in der Hoffnung, ihm durch Empfehlung zu dienen. Das Glück ist so blind,” setzte er hinzu, da er in den Zügen des Kardinals eine kleine ärgerliche Verfinsterung zu bemerken glaubte, „es mag mir erlaubt sein, ihm ein wenig die Augen zu öffnen.”
„Mir wollen Euer Ehren die Augen öffnen, ohne Metapher gesprochen. Ich sehe aber ganz gut.” Und Aquaviva lachte.
Der Humanist entschloß sich mitzulachen. „Der junge Mann, der mich begleitet, ist schüchtern, er bringt es nicht fertig, sein Licht leuchten zu lassen. Lobt ihn jemand, so widerspricht er eher — er hätte sich Eurer Eminenz selbst nicht empfohlen. Und da er begabt ist...”
„Er braucht doch nur Spanisch zu können.”
„Spanisch können! Das eben ist’s! Spanisch kann nur, wer Latein kann. Und wie kann er Latein! Den Beweis dafür habe ich mitgebracht.”
Aus den Falten seines Doktortalars hatte er zwei Hefte in Quart hervorgeholt und hielt sie auf seinen schwarzbekleideten Händen dem Kardinal hin.
„Was ist das?” fragte Aquaviva, ohne die Schriften zu nehmen. Er war voller Abwehr gegen den Schulfuchs und Musterlateiner, der ihm da aufgeredet werden sollte.
„Das eine Heft,” antwortete Hoyos, „enthält gedruckt ein Gedicht, mit dem mein Schüler bei dem jüngsten öffentlichen Dichterturnier den ersten Preis davon getragen hat — den ersten, Eminenz, obwohl der sonst in unserem Lande fast stets nach hohem Stand und Protektion vergeben wird. Das zweite...”
„Bleiben wir bei dem einen! Vielleicht beliebt es Euer Ehren, die Verse vorzulesen.”
„Mit Freuden,” sagte der Humanist. „Es handelt sich natürlich um eine Glosse.”
„Glosse?”
Man sah Hoyos an, daß so viel Ignoranz ihn erstaunte. „Bei unseren Wettbewerben,” erklärte er ein wenig überheblich, „wird den Kandidaten in Versform ein Thema gestellt. Dies auf der Stelle zu kommentieren, in makellosen Strophen, darum handelt es sich. Die Zeilen des Themas werden dabei wiederholt.” Und er las:
„Wär Vergangnes nicht entflohn,
Könnt ich wieder glücklich sein,
Träfen meine Wünsche ein,
Wär ich noch des Glückes Sohn.”
„Vergänglichkeit ist also das Thema?”
„Und dies die Glosse,” sprach Hoyos:
„So wie alles einst entschwindet,
So entschwand mein süßes Glück,
Da ihm nichts die Schwingen bindet,
Kehrt es nimmer mir zurück.
Ob sich auch im Staube windet
Dieses Herz vor seinem Thron,
Ach seit Jahren seufz ich schon,
Doch es senkt sich nicht hernieder.
Glücklich wär ich immer wieder,
Wär Vergangnes nicht entflohn.”
„Scheußlich,” sagte Fumagalli, ebenfalls auf Latein. Der Humanist fuhr herum, ins Herz getroffen. Ungesehen von ihm warf Aquaviva dem Freund einen sehr strengen Blick zu.
„Ich meine nur,” erläuterte der Kanonikus, „es scheinen hier gewisse Widersprüche zu bestehen. Entweder ist das Glück ein Vogel, hat Schwingen und fliegt durch die Luft, oder es ist ein Fürst und sitzt auf einem Thron. Aber Beides...”
„In gar keiner Weise, mein Herr, widerspricht das der Kunst! Die Kunst umwandelt ihren Gegenstand und läßt ihn jeden Augenblick in andersfarbigem Lichte neu aufleuchten. Das ist ein Elementargesetz,” schloß er mitleidig. „Gestatten Eminenz, daß ich fortfahre.”
„Bitte!”
„Nicht begehr ich andre Freuden,
Siege oder Ruhm und Macht,
Nicht des Reichtums Herrlichkeiten,
Weder Glanz noch eitle Pracht,
Nur Zufriedenheit sei mein,
Ach in ihres Lichtes Schein,
Der wie Morgensonne schimmert
Und in meinen Augen flimmert,
Könnt ich wieder glücklich sein.”
„Es genügt,” sagte der Kardinal. „Ich sehe schon.”
„Aber es rundet sich ja noch nicht! Zwei Strophen fehlen.”
„Sie werden auf gleicher Höhe stehen, Meister Hoyos. Was aber beweist mir, daß dieser flinke Latinist ein ebenso tüchtiger Lehrer des Spanischen sei?”
„Diese zweite Schrift hier beweist es.” Und er hielt Aquaviva das andere Büchlein so dringend hin, daß der nicht umhin konnte, es zu nehmen.
Es war auf edlerem Papier gedruckt und zeigte auf seinem Umschlag ein Titelbild: einen Schau- und Staatskatafalk, der mit Wappen, Emblemen, Figuren und Inschriften ganz übersät, von Kerzen und wehenden Fahnen umstellt war.
„Was Eminenz in Händen halten, ist der offizielle Bericht über das Leichenbegängnis der jüngst verstorbenen Königin. Er ist gestern erschienen. Die Trauerode, ausgewählt durch die berufensten Richter, hat eben den jungen Mann zum Verfasser, den ich empfehle — und dessen Verse jener Herr dort als scheußlich bezeichnet.”
„Nehmt das nicht tragisch! Vergeßt es. Was aber die Ode betrifft...”
„So ist sie spanisch, Eminenz, und Ihr könnt sie nicht lesen. Verlaßt Euch auf meine Autorität, wenn ich sage: sie ist im feinsten, blumigsten Hochkastilianisch verfaßt, voll von Vergleichen und eleganten Figuren, von der Alltagssprache so weit entfernt als nur möglich.”
„Aha!”
„Seine Abstammung disponiert meinen Zögling zu guten Formen. Er ist von Familie, adelig, Hidalgo...”
Der Rektor blickte sich um nach Fumagalli, der aber unbeteiligt zum Fenster hinaussah, und beugte sich auf seinem Sessel vor: „Er trägt den Namen und ist ein naher Verwandter...” Er flüsterte.
„In der Tat?” sagte Aquaviva. „Das ist interessant, und es freut mich.”
„So darf ich ihn rufen?”
„Ich bitte darum, Meister Hoyos.”
Der Humanist nahm Abschied, von Aquaviva durch eine Geste entlassen, die zwischen Gruß und Segen taktvoll die Mitte hielt.
„Miguel!” hörte man ihn im Vorzimmer rufen, „Seine Eminenz erwartet Dich,” und dann den Raum durch die jenseitige Pforte verlassen.
Das Bürschchen mit den lebhaften Augen trat ein. Als es sich aus tiefer Verneigung in die Höhe richtete, malte sich sehr komisch ein ungeheures Erstaunen in seiner Miene. Offenkundig hatte es einen eisgrauen Patriarchen erwartet und fand nun einen Altersgenossen. Der Mund blieb ihm offen, und die blitzenden Augen zu Seiten der Adlernase wurden ganz rund. Auch diese Adlernase selbst wirkte komisch, ganz als wäre erst sie allein fertig geworden in dem unflüggen Gesicht, und als sollte der Rest ihr erst nachrücken.
„Tretet nur näher,” sagte der Kardinal und spürte, daß ihn das Lachen in der Kehle kitzelte. „Ihr habt einen enthusiastischen Fürsprech an Euerm Rektor.”
„Meister Hoyos ist sehr gut zu mir, Eminenz. Er weiß, daß ich arm bin, und will mir helfen.”
Die Stimme war fertig, nicht tief zwar, doch klingend und von männlicher Wärme.
„Ihr seid ein Dichter, wie man mir zeigt.” Aquaviva hob das Heftchen mit dem Katafalk in die Höhe.
„Das eben macht mich ängstlich, Eminenz, ob ich zu einem Sprachlehrer auch geschickt bin. Wenn man zu sehr darauf gedrillt ist, über jeden Gegenstand in der Welt spanische und lateinische Verse zu machen, verliert man am Ende die Natürlichkeit. Dichtung und täglicher Umgang sind zweierlei.”
„Ihr meint also eigentlich, ich sollte mir meinen Lehrer nicht unter Studenten suchen?”
Er wurde rot. „Während ich draußen saß, habe ich mir in der Tat überlegt, ob der erste beste Juwelier oder Waffenschmied für Euer hohe Gnaden nicht tauglicher wäre.”
„Setzt Euch doch,” sagte der Kardinal. Das Bürschchen nahm Platz. „Ihr redet, als wünschtet Ihr garnicht, die Stelle zu bekommen.”
„Ich wünsche es mir brennend, Eminenz, es wäre ein Glück ohne Gleichen. Aber ich habe eine entsetzliche Angst, zu enttäuschen.”
„Ihr bringt ja auch Vorzüge mit. Ein Waffenschmied oder was Ihr sonst meint, spricht die Sprache des Volks. Ihr aber seid aus berühmtem Haus, seid von Adel...”
„Wieso?”
„Nun, Euer Lehrer wird sich nicht irren. Ihr seid Hidalgo.”
„Ach Gott!”
„Was heißt denn das Wort? Es klingt stolz.”
„Filius de aliquo — Sohn von jemand Rechtem, und stolz klingt es wirklich. Aber es bedeutet garnichts. Hidalgo ist jeder. Zum Beispiel jeder, der in der Residenzstadt des Königs wohnt, durch Dekret.”
„Euer Waffenschmied wäre es auch?”
„Wär es auch, Eminenz.”
Fumagalli in seiner Ecke wiegte den bärtigen Kopf. Er war gewonnen und schnitt dem Kardinal ungesehen eine wohlgefällige kleine Grimasse. Aber Aquaviva reagierte darauf nicht.
So jung er war, so hatte ihn doch sein Rang mit zu viel Eigensucht und höfischem Raffinement in Berührung gebracht. Der Junge da war ihm zu treuherzig. Das konnte Methode sein.
„Sollten wir einig werden,” sprach er ohne Lächeln, „so würdet Ihr in kurzem Euer Land verlassen müssen. Ich verhehle Euch nicht, daß Euer Platz in meinem Haushalt ein ziemlich geringer wäre. Ihr wäret nicht mehr als ein Page oder Kammerdiener. Macht Euch da keine Illusionen!”
„Ich wäre glücklich, nach Rom zu gehen, Eminenz.”
„Auch der Rang Eures Verwandten würde Euch da keine Ausnahmestellung erwirken. Ihr habt wohl keinen Begriff, was alles an Bischofsverwandten in Rom sich umhertreibt. Die Stadt ist voll davon.”
„Jetzt verstehe ich Euer hohe Gnaden nicht mehr,” sagte das Bürschchen betreten.
„Stellt Euch nicht so!” Aquaviva hatte eine Falte der Ungeduld zwischen den Brauen. „Euer Lehrer hat mir ja gesagt, daß Ihr ein Neffe des Erzbischofs seid.”
„Welches Erzbischofs?”
„Des Erzbischofs von Tarragona, Gaspar Cervantes.”
„Das müßt ich doch auch wissen, Eminenz.”
„Es stimmt also nicht?”
„Ich kenne ihn nicht, ich weiß nichts von ihm.”
Die skeptische Falte in Aquavivas Gesicht war verschwunden. Er wechselte mit dem Kanonikus einen Blick. Der verließ seinen Platz, öffnete die Türe zum Vorzimmer und rief hinaus:
„Die Stelle ist schon besetzt, meine Herren Studenten! Seine Eminenz läßt bedauern.”
Füßescharren, Gemurmel. Sie gingen und ließen eine Atmosphäre zurück, die dick war von Neid und Körperdunst. Fumagalli riß draußen die Fenster auf.
An Don Rodrigo de Cervantes Saavedra und seine Gattin Doña Leonor aus dem Geschlechte de Cortinas,
zu Alcala de Henares,
im Hause neben der Posada de la Sangre de Cristo.
Geehrte, geliebte Eltern!
Kaum drei Monate ist es her, seitdem Ihr mir beim Abschied Euern Segen mitgabt auf die Reise, mir aber ist es zu Mute, als seien inzwischen Jahre vergangen. Soviel Neues hat Euer Kind unterdessen gesehn und erfahren, wovon dieser Brief Euch nur einen ganz unzulänglichen Begriff geben kann. Täglich danke ich Gott, der es so gnädig gefügt hat, daß mir in jungen Jahren seine Welt sich schon öffnet, voll mit Wundern, von denen ich vor kurzer Zeit nicht einmal zu träumen gewagt hätte.
Ein Hauptmann der päpstlichen Schweizergarde, der nach Spanien reist, hat die Beförderung dieses Briefes übernommen. Er scheint ein guter und redlicher Mann zu sein, und so vertraue ich ihm gleichzeitig einen Wechsel über 40 Realen an, den Euch das Bankkontor in Madrid bar auszahlen wird. Da es ja nur drei Reitstunden hinüber sind, wird gewiß bald jemand von Euch das Geld abheben können. Die Summe ist nicht groß, und ich bitte, daß Ihr sie nur als einen Anfang betrachtet. Vielleicht fügt es Gott, daß ich reich werde, und Eurer Bedürftigkeit ein Ende machen kann. Täglich begegnet man hier Leuten, die weit geringerer Erziehung sind als Euer Kind, und die es doch zu großem Wohlstand gebracht haben.
Bitte suchet doch auch Ihr nach einer Gelegenheit, mir Nachrichten zu senden, und erneuert dabei Euern Segen. Gebet mir auch Kenntnis vom Ergehen meiner Schwestern Andrea und Luisa und meines sehr geliebten Bruders Rodrigo, besonders auch darüber, ob er inzwischen seinen Plan ausgeführt hat und als Soldat dem Könige dient. Ich wünschte sehr, daß es der Fall sei, denn das Sprichwort, das sie bei uns zuhause haben, scheint mir die Wahrheit auszusprechen:
Kirche, Meer oder Königshaus,
Wähle dir eines, so kommst du aus.
Wenn Ihr nun aber fragt, wohin Ihr solche Nachrichten in der gewaltigen Stadt Rom richten sollt, damit sie mich auch erreichen, so lautet die Antwort majestätisch genug, nämlich an den Vatikanischen Palast. Jawohl, es ist so, im gleichen Hause und unter einem Dach mit dem Nachfolger Petri wohnt Euer Sohn, obgleich das mit dem Dach auch wieder nicht so wörtlich zu nehmen ist. Denn der Vatikan hat viele Dächer und wohl mehr als tausend Zimmer. Er ist für sich eine Stadt und keine gar kleine, in langen Zeiträumen entstanden und ohne große Regel durcheinandergebaut, so daß es auch jemand, der länger darin wohnt, schwer fallen kann sich zurechtzufinden. Von den tausend Gemächern aber bewohne gewiß ich eines von den allergeringsten, es befindet sich ganz oben in einem Turm, den einst der Papst Paschalis aufgeführt haben soll, und darin es mehr Ratten gibt als Bequemlichkeit. Immer ist die Rede davon, ihn abzureißen und etwas Schöneres an die Stelle zu setzen, aber immer wieder kommen schlechte Zeiten, dann ist zu wenig Geld vorhanden, und alles bleibt liegen. So ist es sogar mit der Kirche Sankt Peter, an der seit dem Tode des Meisters Buonaroti vor jetzt fünf Jahren nur noch nachlässig weitergebaut wird. Von der großen Kuppel, die sich über dem Hauptaltar erheben soll, ist noch nichts zu sehen als ein mächtiges Gerüst, darin aber selten Arbeiter erscheinen, und dessen Latten morsch werden und manchmal herunterfallen.
Was Ihr nun sicherlich zuerst wissen wollt, wird sein, ob ich den Papst in Person erblickt habe, so daß ich eine Beschreibung von ihm abgeben kann. Dies ist bis jetzt zweimal der Fall gewesen. Das erste Mal wurde er mir aus einem Fenster gezeigt, wie er in einem der inneren Gärten mit zwei Ordensgeistlichen sich erging. Von Prunk und Reichtum der Kleidung war nichts an ihm zu bemerken. Er trug einen weißen Mantel, der nicht einmal ganz sauber war, wandelte barhaupt und stützte sich auf einen Stock. Er ist ein Greis von vielleicht 65 Jahren, völlig kahl, mit langem schneeweißem Bart, augenscheinlich sehr mager und von furchteinflößendem Ausdruck. Man sieht gleich, daß mit ihm nicht zu spaßen ist, und daß die Verteidigung unseres heiligen Glaubens bei ihm in guten Händen ruht. Bei keiner Sitzung der Inquisition soll er fehlen, die Gefängnisse werden zu klein für die vielen Ketzer, und im vergangenen Jahr allein sind sechs durch das Feuer und zwei mit dem Strang hingerichtet worden. Das zweite Mal sah ich den Papst, da er in Sankt Peter die heilige Messe las. Er las sie nicht vor dem Hauptaltar, dies geschieht nur viermal im Jahre, aber sieben große goldene Leuchter brannten, und die Wände waren mit Purpur behangen. Der Papst teilte selbst die Kommunion aus, und seine Haltung dabei stach sehr ab von jener der meisten anwesenden Prälaten, die recht ungeniert herumsaßen, bedeckten Hauptes, und konversierten als wären sie sonstwo. Da ich frühzeitig gekommen war, konnte ich jede Einzelheit deutlich beobachten. Die Geräte sind ganz die gewöhnlichen, nur am Kelch fiel mir eine unbekannte Vorrichtung auf, die aus drei goldenen Röhrchen besteht. Man erzählte mir später geheimnisvoll, sie solle den Papst vor Gift schützen. Übrigens spendete er selbst nur an wenige bevorzugte Personen, mit und nach ihm übernahmen dies Amt die Kardinäle Saraceni, Serbelloni, Madruzzo und mein sehr geliebter Herr, Kardinal Aquaviva.
Dies war eines der seltenen Male, daß mein Herr seine Zimmer verlassen konnte. Mit seiner Gesundheit steht es garnicht gut, sie hat den Strapazen der Seefahrt und des Madrider Winterklimas nicht standgehalten. Viele geben ihm nur noch Monate, höchstens einige Jahre, und er selber spricht mit größter Unbefangenheit von seinem sicheren frühen Tode. Er ist von einer unbeschreiblichen Milde und freundlichen Heiterkeit, und wenn es wirklich dahin kommt, so wird er gewiß, ohne viel Aufenthalt unterwegs, zur Herrlichkeit eingehen. Mit andauerndem Fleiß erledigt er von seinem Sessel aus die Geschäfte seiner Ämter, zu denen vor kurzem noch ein besonders ehrenvolles gekommen ist: das große Bleisiegel ist ihm anvertraut, und kein Breve geht aus dem Palaste hinaus, er hätte es denn mit seiner Hand bekräftigt. Zu seinen spanischen Studien, um derentwillen er mich doch mitgenommen hat, findet er hingegen nicht so viel Zeit, als mir lieb wäre, so daß ich oft mehrere Tage hindurch ganz frei bin und hingehen kann, wohin mir beliebt. Dann komme ich mir unnütz vor, so recht wie einer aus dem ungeheuern Heer der Nichtstuer und Lungerer, die den Vatikan und die Kardinalshaushalte bevölkern, und von denen jeder geheimnisvoll tut, als sei er unentbehrlich.
Ich selber sehe deutlich, wie wenig der Kardinal mich hier in Rom nötig gehabt hat. Denn hätte er hier nach einem spanischen Sprachlehrer gesucht, so konnte er fünfzig haben für einen. Die Stadt ist voll von Spaniern, spanische Priester, spanische Mönche und Reisende sind in erstaunlicher Zahl vorhanden, unsere Tracht ist sehr gewöhnlich und kommt auch unter den Römern selbst immer mehr in Aufnahme, und sogar viele Bettler betteln auf Spanisch.