Mein Vater besaß zur Zeit meiner Geburt ein kleines Haus, an das ein Gärtchen stieß, in welchem sich einige Fruchtbäume, namentlich ein sehr ergiebiger Birnbaum, befanden. In dem Hause waren drei Wohnungen, deren freundlichste und geräumigste wir einnahmen; ihr Hauptvorzug bestand darin, daß sie gegen die Sonnenseite lag. Die andern beiden wurden vermietet; die uns gegenüberliegende war von dem alten Mauermann Claus Ohl nebst seiner kleinen krummen Frau bewohnt, und die dritte, zu der ein Hintereingang durch den Garten führte, von einer Tagelöhnerfamilie. Die Mietsleute wechselten nie, und für uns Kinder gehörten sie zum Hause wie Vater und Mutter, von denen sie sich auch, was die liebreiche Beschäftigung mit uns anlangte, kaum oder gar nicht unterschieden. Unser Garten war von andern Gärten umgeben. An der einen Seite befand sich der Garten eines jovialen Tischlermeisters, der mich gern neckte und von dem ich noch heute nicht begreife, wie er, was er doch später tat, sich selbst das Leben nehmen konnte. Ich hatte einmal als ganz kleines Bürschchen mit altklugem Gesicht über den Zaun zu ihm herüber gesagt: »Nachbar, es ist sehr kalt!« und er wurde nicht müde, dieses Wort gegen mich zu wiederholen, besonders in den heißen Sommermonaten.
An den Garten des Tischlers stieß der des Predigers. Dieser war von einer hohen hölzernen Planke eingefaßt, die uns Kindern das Überschauen verwehrte, nicht aber das Durchblinzeln durch Spalten und Risse. Dies machte uns im Frühling, wenn die fremden schönen Blumen wiederkamen, an denen der Garten reich war, eine unendliche Freude; nur zitterten wir, der Prediger möchte uns gewahr werden. Vor diesem hatten wir eine unbegrenzte Ehrfurcht, die sich ebensosehr auf sein ernstes, strenges, milzsüchtiges Gesicht und seinen kalten Blick, als auf seinen Stand und seine uns imponierenden Funktionen, zum Beispiel auf sein Herwandeln hinter Leichen, die immer an unserem Hause vorbeikamen, gegründet haben mag. Wenn er zu uns hinüber sah, was er zuweilen tat, hörten wir jedesmal zu spielen auf und schlichen uns ins Haus zurück.
Nach einer andern Seite bildete ein alter Brunnen die Grenze zwischen unserem Garten und dem nachbarlichen. Von Bäumen beschattet und tief, wie er war, die hölzerne Bedachung gebrechlich und dunkelgrün bemoost, konnte ich ihn nie ohne Schauer betrachten. Geschlossen wurde das längliche Viereck durch den Garten eines Milchhändlers, der wegen der Kühe, die er hielt, bei der ganzen Nachbarschaft in einem Herrenansehen stand, und durch den Hof eines Weißgerbers, des verdrießlichsten aller Menschen, von dem meine Mutter immer sagte, er sähe aus, als ob er einen verzehrt hätte und den andern eben beim Kopf kriegen und anbeißen wolle. Dies war die Atmosphäre, in der ich als Kind atmete. Sie konnte nicht enger sein, dennoch erstreckten sich ihre Eindrücke bis auf den gegenwärtigen Tag. Noch sieht mir der lustige Tischler über den Zaun, noch der grämliche Pfarrer über die Planke. Noch sehe ich den vierschrötigen, wohlgenährten Milchhändler, die Hände in der Tasche, zum Zeichen, daß sie nicht leer sei, in seiner Tür stehen, noch den Weißgerber mit seinem galliggelben Gesicht, den ein Kind schon durch seine roten Backen beleidigte und der mir noch schrecklicher vorkam, wenn er zu lächeln anfing. Noch sitze ich auf der kleinen Bank unter dem breiten Birnbaum und harre, während ich mich an seinem Schatten erquicke, ob sein von der Sonne beschienener Gipfel nicht eine wegen Wurmstichs frühreife Frucht fallen läßt; noch flößt mir der Brunnen, an dessen Bedachung alle Augenblick etwas genagelt werden mußte, ein unheimliches Gefühl ein.
Mein Vater war im Hause sehr ernster Natur, außer demselben munter und gesprächig; man rühmte an ihm die Gabe, Märchen zu erzählen, es vergingen aber viele Jahre, ehe wir sie mit eigenen Ohren kennen lernten. Er konnte es nicht leiden, wenn wir lachten und uns überhaupt hören ließen; dagegen sang er an den langen Winterabenden in der Dämmerung gern Choräle, auch wohl weltliche Lieder, und liebte es, wenn wir mit einstimmten. Meine Mutter war äußerst gutherzig und etwas heftig; aus ihren blauen Augen leuchtete die rührendste Milde; wenn sie sich leidenschaftlich aufgeregt fühlte, fing sie zu weinen an. Ich war ihr Liebling, mein zwei Jahre jüngerer Bruder der Liebling meines Vaters. Der Grund war, weil ich meiner Mutter glich und mein Bruder meinem Vater zu gleichen schien, denn es war, wie sich später zeigte, keineswegs der Fall. Meine Eltern lebten im besten Frieden miteinander, solange sich Brot im Hause befand; wenn es mangelte, was im Sommer selten, im Winter, wo es an Arbeit fehlte, öfter vorkam, ergaben sich zuweilen ängstliche Szenen. Ich kann mich der Zeit nicht erinnern, wo mir diese, obgleich sie nie ausarteten, nicht fürchterlicher als alles gewesen wären, und eben darum darf ich sie nicht mit Stillschweigen übergehen.