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Die Verantwortung der Intellektuellen – Redux
Bevor wir über die Verantwortung der Intellektuellen nachdenken, sollten wir uns klarmachen, wovon wir reden.
Der Begriff der »Intellektuellen« im modernen Wortsinn wurde 1898 durch das Manifest der Intellektuellen bekannt, das die Dreyfusards verfasst hatten, als sie, angeregt von Émile Zolas offenem Protestbrief an den französischen Präsidenten, dem Militär vorwarfen, die Anklage gegen Dreyfus wegen Hochverrats fingiert und die Affäre anschließend vertuscht zu haben. Die Haltung der Dreyfusards vermittelt den Eindruck, Intellektuelle seien entschlossene Anwälte der Gerechtigkeit, die den Mächtigen mit Mut und moralischer Integrität entgegentreten. Aber das entspricht keineswegs dem Bild, das man sich damals von ihnen machte. Die Dreyfusards waren eine Minderheit der gebildeten Schichten – eine Minderheit, die heftig angegriffen wurde, vor allem von namhaften Vertretern der »Unsterblichen in der den Dreyfusards feindlich gesonnenen Académie Française«, wie der Soziologe Steven Lukes schreibt. Für den Romancier, Politiker und führenden Dreyfusards-Gegner Maurice Barrès waren sie »Katheder-Anarchisten«. Laut Ferdinand Brunetière, auch einer dieser Unsterblichen, bezeichnete das Wort »Intellektueller« »eine der lächerlichen Absurditäten unserer Zeit – soll heißen, die Anmaßung, die darin liegt, Schriftsteller, Professoren und Philologen in den Rang von Übermenschen zu erheben«, die es wagen, »unsere Generäle als Idioten, unsere gesellschaftlichen Institutionen als lächerlich und unsere Traditionen als krank zu diffamieren«1.
Aber wer waren dann die Intellektuellen? Die Minderheit, die Zola unterstützte – er wurde wegen Beleidigung des Militärs zu einer Gefängnisstrafe verurteilt und floh außer Landes –, oder die Unsterblichen der Akademie? In der einen oder anderen Form stellt sich die Frage immer wieder.
Intellektuelle – zwei Kategorien
Eine Antwort lieferte der Erste Weltkrieg, als namhafte Intellektuelle beider Seiten fanatisch für ihre Länder Partei ergriffen. In ihrem Manifest der 93 wandten sich führende Vertreter eines der aufgeklärtesten Staaten der Erde mit den Worten an den Westen: »Glaubt uns! Glaubt, daß wir diesen Kampf zu Ende kämpfen werden als ein Kulturvolk, dem das Vermächtnis eines Goethe, eines Beethoven, eines Kant ebenso heilig ist wie sein Herd und seine Scholle.«2 Ihre Gegenspieler auf der anderen Seite der intellektuellen Front standen ihnen nicht nach an Begeisterung für die edle Sache, übertrafen sie aber noch in der Selbstbeweihräucherung. In der New Republic verkündeten sie: »Die wirksamen und entscheidenden Anstrengungen im Interesse des Kriegs (…) hat eine Klasse auf sich genommen, deren Mitglieder zusammenfassend, wenn auch etwas vage, als ›Intellektuelle‹ zu bezeichnen sind.« Diese progressiven Kräfte glaubten, sie handelten »im Geiste eines moralischen Urteils, zu dem die verantwortungsbewussten Mitglieder der Gesellschaft nach gründlicher Überlegung gelangten«, als sie die Vereinigten Staaten zum Kriegseintritt bewogen. Tatsächlich waren sie auf ein Propagandamanöver des britischen Informationsministeriums hereingefallen, das sich insgeheim bemühte, »die Gedanken des überwiegenden Teils der Weltbevölkerung zu beeinflussen«, vor allem aber die der progressiven amerikanischen Intellektuellen, damit diese ihnen halfen, in einem pazifistischen Land das Kriegsfieber zu entfachen.3
John Dewey war beeindruckt von der großen »psychologischen und erzieherischen Lektion« des Kriegs, die bewiese, dass Menschen – genauer, die »intelligenten Männer der Gesellschaft« – »sich der menschlichen Angelegenheiten annehmen und sie umsichtig und intelligent meistern können«, um die gewünschten Ziele zu erreichen.4 (Dewey brauchte nur wenige Jahre, um sich vom verantwortlichen Intellektuellen des Ersten Weltkriegs zum »Katheder-Anarchisten« zu entwickeln, der die »unfreie Presse« anprangerte und fragte, »wie weit geistige Freiheit und soziale Verantwortung unter der gegenwärtigen Wirtschaftsordnung noch in nennenswertem Ausmaß möglich sind«.)5
Natürlich reihte sich nicht jeder so gehorsam ein. Namhafte Persönlichkeiten wie Bertrand Russell, Eugene Debs, Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht wurden wie Zola zu Gefängnisstrafen verurteilt. Besonders hart traf es Debs, weil er gewagt hatte, Präsident Wilsons »Krieg für Demokratie und Menschenrechte« zu hinterfragen. Nach Kriegsende weigerte sich Wilson, ihn zu begnadigen, erst Präsident Harding lenkte schließlich ein. Einige Dissidenten wie Thorstein Veblen wurden zwar nicht ganz so unbarmherzig behandelt, sahen sich aber doch erheblichen Schikanen ausgesetzt. Veblen verlor seinen Posten bei der amerikanischen Lebensmittelbehörde, nachdem er in einem Bericht nachgewiesen hatte, dass sich der Arbeitskräftemangel in der Landwirtschaft beheben lasse, wenn Wilsons brutale Verfolgung der Gewerkschaften, vor allem der Industrial Workers of the World, eingestellt würde. Randolph Bourne wurde von den progressiven Zeitungen fallen gelassen, nachdem er den »Bund der wohlmeinend imperialistischen Nationen« und ihre überschwänglichen Bestrebungen kritisiert hatte.6 Das Muster von Lob und Strafe kennt man aus der Geschichte: Wer sich in den Dienst des Staates stellt, wird in der Regel von den Mainstream-Intellektuellen gelobt; wer diesen Dienst verweigert, muss mit Strafe rechnen.
Später wurden die beiden Kategorien Intellektueller von renommierten Wissenschaftlern deutlicher unterschieden. Die lächerlichen Exzentriker wurden als »wertorientierte Intellektuelle« bezeichnet, die »für eine demokratische Regierung, zumindest potentiell, eine nicht geringere Herausforderung darstellen als in der Vergangenheit aristokratische Cliquen, faschistische Bewegungen und kommunistische Parteien«. Neben anderen Missetaten widmeten sich diese gefährlichen Kreaturen »der Verunglimpfung von Führung und Autorität« und attackierten sogar die Institutionen, die für »die Belehrung der Jugend« sorgten. Einige seien dermaßen tief gesunken, dass sie sogar wie Bourne die Lauterkeit der Kriegsziele anzweifelten. Diese bitterböse Verurteilung der Schurken, die die Autorität und etablierte Ordnung in Frage stellen, ist in der Studie The Crisis of Democracy aus dem Jahr 1975 nachzulesen. Die Autoren gehören der liberal-internationalistischen Trilateralen Kommission an – die das Gros der Carter-Administration stellte. Wie die progressiven Herausgeber der New Republic während des Ersten Weltkriegs fassten sie den Begriff des »Intellektuellen« weiter als Brunetière, so dass er die »technokratischen und politisch orientierten Intellektuellen« einschloss, verantwortungsbewusste und seriöse Denker, die sich zur Aufgabe gemacht haben, konstruktive Politik innerhalb etablierter Institutionen zu gestalten und dafür zu sorgen, dass die »Belehrung der Jugend« in den richtigen Bahnen verlief.7
Besonders besorgt waren die trilateralen Wortführer über das »Übermaß an Demokratie« während der Zeit der Unruhen, also in den sechziger Jahren, als die normalerweise passiven und apathischen Teile der Bevölkerung die politische Arena betraten und ihre Anliegen voranbrachten: Minderheiten, Frauen, die Jungen, die Alten, die arbeitenden Menschen (…) kurzum, die Bevölkerung, manchmal auch als »Partikularinteressen« bezeichnet. Sie sind zu unterscheiden von den »Herrschenden«, wie Adam Smith schreibt, die sich in der Regierungspolitik »besonders hervorgetan« haben und gemäß ihrer »elenden Devise« handeln: »Alles für uns selbst und nichts für andere.«8 Die Rolle der Herrschenden in der Politik wird in dem Werk der Trilateralisten weder beklagt noch diskutiert, vermutlich, weil die Herrschenden für die »nationalen Interessen« stehen, wie etwa jene, die sich selbst beglückwünschten, weil sie das Land »im Geiste eines moralischen Urteils« als »verantwortungsbewusste Mitglieder der Gesellschaft nach gründlicher Überlegung« in den Krieg geführt hatten.
Um die übermäßige Belastung zu mindern, die dem Staat durch die Partikularinteressen auferlegt werde, verlangten die Trilateralisten nach einer »Mäßigung der Demokratie«, nach der Rückkehr zur Passivität auf Seiten der weniger verdienstvollen Mitglieder der Gesellschaft, wenn nicht gar nach einer Rückkehr in die glücklichen Tagen, als »Truman in der Lage war, das Land mit Hilfe einer relativ kleinen Zahl von Wall-Street-Juristen und -Bankern zu regieren«, mit dem Erfolg, dass die Demokratie eine Blütezeit erlebte.
Die Trilateralisten hätten durchaus für sich in Anspruch nehmen können, dem Geist der amerikanischen Verfassung zu entsprechen, ein (wie der Historiker Gordon Wood schreibt) »im Kern aristokratisches Dokument, dazu bestimmt, die demokratischen Tendenzen der Zeit in Schach zu halten«, indem es den »besseren Leuten« die Macht überträgt, während es »die Menschen, die nicht reich, wohlgeboren oder prominent sind, von der Ausübung politischer Macht ausschließt«.9 In Madisons Verteidigung ist gleichwohl zu erkennen, dass seine Geisteshaltung präkapitalistisch war. Wenn er erklärt, die Macht müsse in den Händen der »wohlhabenden Mitglieder der Nation« liegen, dachte er wohl an »die Klasse der fähigeren Männer« nach dem Vorbild des »aufgeklärten Staatsmannes« und »wohlwollenden Philosophen« einer imaginierten römischen Welt, an Männer »von untadeliger und vornehmer Gesinnung«, »ausgestattet mit Intelligenz, Patriotismus und unabhängigen Lebensumständen«, »Männer, die klug genug sind, um die wahren Interessen ihres Landes zu erkennen, und nicht geneigt, die Liebe zum Vaterland und der Gerechtigkeit vorübergehenden oder parteiischen Erwägungen zu opfern.« So gerüstet, würden diese Männer »zum Wohle und der Entwicklung der öffentlichen Ansichten beitragen«, indem sie das öffentliche Interesse gegen den »Unfug« der demokratischen Mehrheit verteidigten.10 Ganz ähnlich dürften die fortschrittlichen Wilson’schen Intellektuellen Gefallen an jenen Resultaten der Verhaltenswissenschaften gefunden haben, die der Psychologe und Erziehungswissenschaftler Edward Thorndike 1939 beschrieb:
Die hochsignifikante Korrelation zwischen Intelligenz einerseits und Moral sowie Wohlwollen für Mitmenschen andererseits gehört zu den großen Glücksfällen unserer Art (…). So kommt es, dass uns diejenigen, die höher gestellt sind als wir, auch in der Regel mit größerem Wohlwollen begegnen, weshalb unsere Interessen bei ihnen oft besser aufgehoben sind als bei uns selbst.11
Eine tröstliche Lehre – obwohl manch einer den Eindruck haben dürfte, dass Adam Smith hier den schärferen Blick hatte.
Umwertung der Werte
Die Unterscheidung zwischen den beiden Kategorien von Intellektuellen liefert das Bezugssystem, das uns gestattet, die »Verantwortung der Intellektuellen« zu bestimmen. Ist damit ihre moralische Verantwortung gemeint, die sie als anständige Menschen wahrnehmen, indem sie ihre Privilegien und ihren Status dazu nutzen, um sich für Freiheit, Gerechtigkeit, Mitmenschlichkeit, Frieden und ähnliche sentimentale Anliegen einzusetzen? Oder bezieht es sich auf die Rolle, die man von ihnen als »technokratischen und politisch orientierten Intellektuellen« erwartet – soll heißen, dass sie die gesellschaftlichen Eliten und etablierten Institutionen nicht in den Schmutz ziehen, sondern ihnen dienen? Da sich die Macht meist durchsetzt, gilt in der Regel die letztere Kategorie als die der »verantwortlichen Intellektuellen«, während erstere abgelehnt und verleumdet wird – im eigenen Land, versteht sich.
Auch im Blick auf feindliche Länder wird die Unterscheidung zwischen den beiden Kategorien aufrechterhalten, allerdings mit einer Umkehrung der Werte. In den wertorientierten Intellektuellen der ehemaligen Sowjetunion sahen die Amerikaner ehrenhafte Dissidenten, während sie für die Apparatschiks und Kommissare – die technokratischen und politikorientierten Intellektuellen – nichts als Verachtung übrig hatten. Entsprechend empfinden wir heute Hochachtung für iranische Dissidenten und verurteilen die Iraner, die das religiöse Establishment unterstützen. So verhält es sich überall.
Auf diese Weise wird der Ehrentitel »Dissident« selektiv verwendet. Denn er gilt mit seinen positiven Konnotationen natürlich nicht für wertorientierte Intellektuelle im eigenen Land oder für solche, die US-gestützte Diktaturen im Ausland bekämpfen. Betrachten wir den interessanten Fall Nelson Mandela, der erst 2008 von der offiziellen Terroristenliste des Außenministeriums gestrichen wurde, so dass er ohne Sondergenehmigung in die Vereinigten Staaten reisen durfte. Zwanzig Jahre zuvor war er laut einem Pentagon-Bericht der kriminelle Anführer einer der weltweit »berüchtigtsten Terrorgruppen« gewesen.12 Deshalb musste Präsident Reagan das Apartheid-Regime unterstützen, indem er in offenem Widerspruch zu den Sanktionen des Kongresses die Handelsbeziehungen zu Südafrika intensivierte und Südafrikas Überfälle in Nachbarländern unterstützte, die nach einer Studie der Vereinten Nationen anderthalb Millionen Menschenleben kosteten.13 Das war nur eine Episode im Kampf gegen den Terrorismus, der nach Reagans Worten der »Pest des modernen Zeitalters« galt oder, wie es Außenminister George Shultz formulierte, »die Rückkehr der Barbarei in das moderne Zeitalter« bedeutete.14 Dieser Erfolgsbilanz könnten wir noch Hunderttausende von Getöteten in Zentralamerika und Zehntausende im Nahen Osten hinzufügen. Kein Wunder, dass der Große Kommunikator von den Wissenschaftlern der Hoover Institution als Gigant verehrt wird, »dessen Geist im Land umherzuwandern scheint und wie ein gütiger Genius seinen Blick auf uns ruhen lässt«.15
Aufschlussreich ist das Beispiel Lateinamerikas. Wer in Lateinamerika Freiheit und Gerechtigkeit verlangt, erhält keinen Zutritt zum Pantheon der ehrenhaften Dissidenten. So wurden eine Woche nach dem Fall der Berliner Mauer sechs führende lateinamerikanische Intellektuelle, allesamt Jesuitenpater, auf direkten Befehl des salvadorianischen Oberkommandos durch Kopfschuss getötet. Die Täter gehörten einem Elitebataillon an, das in Washington bewaffnet und ausgebildet worden war und bereits eine grausige Spur von Blut und Terror hinter sich herzog.
Der ermordeten Priester wurde nicht als ehrenhafter Dissidenten gedacht – ebenso wenig ihrer Leidensgefährten überall in der Hemisphäre. Ehrenhafte Dissidenten waren jene, die in den Feindesländern Osteuropas und in der Sowjetunion nach Freiheit verlangten. Diese Menschen haben sicherlich gelitten, aber nicht im Entferntesten so wie ihre Schicksalsgenossen in Lateinamerika. Diese Feststellung ist weitgehend unstrittig; in der Cambridge History of the Cold War schreibt John Coatsworth, von 1960 bis zum Zusammenbruch der Sowjetunion im Jahr 1990 habe »die Zahl der politischen Gefangenen, Folteropfer und hingerichteten gewaltfreien politischen Dissidenten in Lateinamerika diejenige in der Sowjetunion und ihren osteuropäischen Satellitenstaaten weit übertroffen«. Unter den Hingerichteten befanden sich viele religiöse Märtyrer, außerdem kam es zu Massakern, die durchgehend von Washington unterstützt oder eingefädelt wurden.16
Warum dann die Unterscheidung? Man könnte die Auffassung vertreten, die Geschehnisse in Osteuropa seien weit wichtiger als der globale Süden in unserer Reichweite. Auf die Begründung dieses Arguments wäre ich genauso gespannt wie auf die Erklärung, warum wir bei der Beurteilung US-amerikanischer Außenpolitik grundlegende moralische Prinzipien außer Acht lassen sollen, wie etwa die Pflicht, nach Möglichkeit zum Wohle anderer zu handeln, vor allem dort, wo wir eine Mitverantwortung tragen. Von unseren Feinden verlangen wir wie selbstverständlich, dass sie sich an diese Prinzipien halten.
In der Regel werden (oder sollen) wir uns nicht um das kümmern, was Andrej Sacharow oder Shirin Ebadi über die Verbrechen der USA oder Israels zu sagen haben; wir bewundern sie für das, was sie über ihre eigenen Staaten sagen oder gegen deren Untaten unternehmen. Das gilt in weit höherem Maße noch für die Menschen, die in freiheitlicheren und demokratischeren Gesellschaften leben und daher weit mehr Gelegenheit zu wirkungsvollem Tun haben. Es ist von einigem Interesse, dass das Handeln angesehenster Kreise sich nachgerade im Gegensatz zu den Geboten fundamentaler Moral befindet.
Die Kriege, die die USA von 1960 bis 1990 in Lateinamerika führten, sind, von ihren Schrecken abgesehen, auch von langfristiger historischer Bedeutung. Um nur einen wichtigen Aspekt herauszugreifen: Sie waren in nicht geringem Maße gegen die katholische Kirche gerichtet, um eine schreckliche Häresie zu zerschlagen, die 1962 auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil verkündet wurde. Damals habe Papst Johannes XXIII., so der renommierte Theologe Hans Küng, »eine neue Ära in der Geschichte der katholischen Kirche eingeleitet«, indem er den Lehren der Evangelien zu ihrer einstigen Bedeutung verhalf. Kaiser Konstantin hatte sie im 4. Jahrhundert ad acta gelegt, als er das Christentum zur offiziellen Religion des Römischen Reiches erhob und damit einen Umbruch einleitete, der aus der »verfolgten Kirche« eine »verfolgende Kirche« machte. Die Häresie des Zweiten Vatikanischen Konzils wurde von den lateinamerikanischen Bischöfen aufgegriffen, die sich zur »vorrangigen Option für die Armen« bekannten.17 Priester, Nonnen und Laien brachten fortan die radikalpazifistische Botschaft des Evangeliums zu den Armen und halfen ihnen, sich zu organisieren, um ihr bitteres Los in den Einflusssphären der US-Macht zu verbessern.
Im selben Jahr, 1962, traf Präsident John F. Kennedy einige wichtige Entscheidungen. Unter anderem veränderte er den Auftrag lateinamerikanischer Streitkräfte – von der »Hemisphärenverteidigung«, ein Anachronismus aus dem Zweiten Weltkrieg, zur »inneren Sicherheit«, das heißt zum Krieg gegen die eigene Bevölkerung, wenn sie aufzumucken wagte.18 Charles Maechling Jr., der von 1961 bis 1966 den Planungsstab für Aufstandsbekämpfung und innere Sicherheit leitete, beschrieb die voraussehbaren Folgen der Entscheidung von 1962 als einen Wechsel von der Duldung »der Habgier und Grausamkeit der lateinamerikanischen Militärs« zur »offenen Mittäterschaft« an ihren Verbrechen, das heißt zur Unterstützung von Methoden, »die an die Vorgehensweise der Himmler’schen Vernichtungseinheiten erinnerten«.19 Eine wichtige Aktion war kurz nach dem Kennedy-Attentat der von Washington unterstützte und durchgeführte Militärputsch in Brasilien, der dort einen mörderischen und brutalen nationalen Sicherheitsstaat etablierte. Dann breitete sich die Repression seuchenartig aus: vom Putsch, der 1973 die Pinochet-Diktatur in Chile installierte, bis zur argentinischen Militärdiktatur (der schlimmsten von allen und Ronald Reagans Lieblingsregime in Lateinamerika). Die Wende in Mittelamerika – nicht die erste – erfolgte während der achtziger Jahre unter der Führung des »gütigen Genius« (so die Formulierung der Hoover-Wissenschaftler), der heute für diese Leistungen verehrt wird.
Die Ermordung der jesuitischen Intellektuellen zur Zeit des Mauerfalls brachte das endgültige Aus für die Ketzerei der Befreiungstheologie und den Höhepunkt eines Jahrzehnts des Schreckens in El Salvador, das begonnen hatte, als Erzbischof Óscar Romero, die »Stimme der Stimmlosen«, ermordet worden war, was denselben Urhebern zuzuschreiben ist. Voller Stolz bekannten sich die Sieger im Krieg gegen die Kirche zu ihrer Verantwortung. Die (inzwischen umbenannte) School of the Americas, berüchtigt für die Ausbildung lateinamerikanischer Killer, bezeichnete die Tatsache, dass die auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil ausgerufene Theologie der Befreiung »mit Hilfe der US-amerikanischen Streitkräfte« besiegt wurde, als eine ihrer »größten Leistungen«.20
Tatsächlich bedeuteten die Morde vom November 1989 nur fast das endgültige Aus; dazu waren noch weitere Anstrengungen erforderlich. Ein Jahr später wurden in Haiti die ersten freien Wahlen abgehalten, und zur Überraschung und Bestürzung Washingtons – das mit einem leichten Sieg für seinen eigenen Kandidaten, ein handverlesenes Mitglied der privilegierten Elite, gerechnet hatte – entschieden sich die organisierten Bewohner der Slums und Hügel für Jean-Bertrand Aristide, einen beliebten Priester, der sich zur Theologie der Befreiung bekannte. Unverzüglich machten sich die USA daran, die gewählte Regierung zu untergraben, und als diese nach einigen Monaten von einem Militärputsch gestürzt wurde, unterstützte die amerikanische Regierung die brutale Militärjunta und die Angehörigen der Eliten, die die Macht übernahmen. Unter Missachtung internationaler Sanktionen wurde der Handel mit Haiti verstärkt. Präsident Clinton vertiefte diese Wirtschaftsbeziehungen noch und ermächtigte im Widerspruch zu seinen eigenen Richtlinien die Ölgesellschaft Texaco, das mörderische Regime mit Öl zu versorgen.21 Ich werde die an anderer Stelle ausführlich erörterten skandalösen Folgen dieser Ereignisse übergehen, bis zu jenem Zeitpunkt im Jahr 2004, als Frankreich und die Vereinigten Staaten, die beiden ewigen Quälgeister Haitis, unter Mithilfe Kanadas noch einmal militärisch intervenierten, um den (wiedergewählten) Präsidenten Aristide zu entführen und nach Zentralafrika zu verfrachten. Aristide und seine Partei wurden danach praktisch von den zur Posse verkommenen Wahlen 2010/11 ausgeschlossen – die jüngste Episode einer schrecklichen Geschichte, die Hunderte von Jahren zurückreicht und kaum bekannt ist bei denen, die für all die Verbrechen verantwortlich sind. Diese erzählen sich lieber Geschichten von ihrem engagierten Bemühen, die leidenden Menschen von ihrem schlimmen Schicksal zu befreien.
Eine weitere verhängnisvolle Entscheidung Kennedys war der 1962 gefällte Entschluss, ein Team der Special Forces unter dem Kommando von General William Yarborough nach Kolumbien zu entsenden. Yarborough riet den kolumbianischen Sicherheitskräften, »paramilitärische Aktivitäten, Sabotageakte und/oder Terrorangriffe gegen bekannte kommunistische Unterstützer durchzuführen« – Maßnahmen, die »von den Vereinigten Staaten mitgetragen würden«22. Was unter dem Ausdruck »kommunistische Unterstützer« zu verstehen ist, hat Alfredo Vázquez Carrizosa, hochgeachteter Präsident des Ständigen Komitees zum Schutz der Menschenrechte in Kolumbien und ehemaliger Außenminister, deutlich gemacht, als er schrieb, die Kennedy-Regierung habe »sich sehr bemüht, unsere regulären Streitkräfte in Brigaden zur Bekämpfung von Aufständischen umzuwandeln, die auch die neue Strategie der Todesschwadrone übernehmen«, wobei sie ein Konzept zugrunde legte,
das man in Lateinamerika als Nationale Sicherheitsdoktrin kennt (…) [nicht] Verteidigung gegen einen äußeren Feind, sondern ein Manöver, mit dessen Hilfe man dem militärischen Establishment die Entscheidungsgewalt zuspielt (…) [nebst] dem Recht, den inneren Feind zu bekämpfen, wie es festgelegt ist in der brasilianischen Doktrin, der argentinischen Doktrin, der uruguayischen Doktrin und der kolumbianischen Doktrin: Es handelt sich um das Recht auf Bekämpfung und Vernichtung von Sozialarbeitern, Gewerkschaftern, Männern und Frauen, die das Establishment nicht unterstützen und von denen man annimmt, sie seien kommunistische Extremisten. Damit könnte jeder gemeint sein, unter anderem auch Menschenrechtsaktivisten wie ich selbst.23
Vázquez Carrizosa lebte auf seinem schwer bewachten Wohnsitz in Bogotá, als ich ihn 2002 im Rahmen eines Projekts von Amnesty International besuchte. Wir eröffneten gerade unsere einjährige Kampagne zum Schutz der Menschenrechtler in Kolumbien, nachdem es dort zu einer erschreckenden Zahl von Angriffen gegen Aktivisten, Gewerkschafter und die üblichen Opfer von Staatsterror – die Armen und Schutzlosen – gekommen war.24 Unter dem Vorwand, es handle sich um den Krieg gegen Drogen, wurden in Kolumbien Terror und Folter durch chemische Kriegführung in landwirtschaftlichen Gebieten ergänzt. Die »Fumigation«, das heißt das flächendeckende Besprühen mit Herbiziden, führte bei den Überlebenden zu Not und massenhafter Flucht in die städtischen Elendsviertel. Heute schätzt die kolumbianische Generalstaatsanwaltschaft, dass die Paramilitärs – häufig in Zusammenarbeit mit dem US-finanzierten Militär – mehr als 140 000 Menschen umgebracht haben.25
Spuren der Massaker findet man überall. Auf einem fast unpassierbaren Feldweg, der zu einem entlegenen Dorf in Südkolumbien führte, kamen meine Begleiter und ich 2010 an einer kleinen Lichtung mit vielen einfachen Kreuzen vorbei – den Gräbern von Opfern eines paramilitärischen Angriffs auf einen örtlichen Bus. Die Berichte über die Morde sind entsetzlich genug; wer jedoch ein wenig Zeit mit den Überlebenden verbringt, die zu den freundlichsten und mitfühlendsten Menschen gehören, die ich jemals kennenlernen durfte, gewinnt einen noch lebhafteren und entsprechend schmerzlicheren Eindruck.
Das ist nur eine höchst lückenhafte Aufzählung jener Verbrechen, an denen die USA eine erhebliche Mitschuld tragen und die wir ohne Mühe zumindest hätten mindern können. Aber es ist dankbarer, mutig gegen die Menschenrechtsverletzungen offizieller Feinde zu protestieren – eine angenehme Beschäftigung, jedoch nicht unbedingt ganz oben auf der Dringlichkeitsliste dessen, was man von einem wertorientierten Intellektuellen erwartet, der seine Rolle ernst nimmt.
Die Opfer innerhalb unserer Machtsphäre werden, im Gegensatz zu denen in Feindstaaten, nicht nur ignoriert und rasch vergessen, sondern auch zynisch beleidigt. Ein typisches Beispiel ließ sich wenige Wochen nach dem Mord an den Intellektuellen in El Salvador beobachten, als Václav Havel Washington besuchte und im Kongress eine Rede hielt. Vor seinen begeisterten Zuhörern lobte Havel die »Verteidiger der Freiheit« in Washington, »die verstanden haben, welche Verantwortung« sich daraus ergebe, »die mächtigste Nation der Erde« zu sein. Verantwortung ist ein treffliches Wort, denkt man an die brutale Ermordung seiner salvadorianischen Gesinnungsgenossen. Die Klasse der liberalen Intellektuellen war hingerissen von seinem Vortrag. Havel habe seine Zuhörer daran erinnert, »dass wir in einem romantischen Zeitalter leben«, schwärmte Anthony Lewis von der New York Times.26 Andere prominente Liberale priesen Havels »Idealismus, Ironie und Menschlichkeit«, mit einem Wort, den Geist, »in dem er seine schwierige Doktrin von der individuellen Verantwortung verkündete«, während sich der Kongress – »offenbar voller Hochachtung« ob des Genies und der Integrität des Besuchers – die Frage stellte, warum in den USA ein solcher Mangel an Intellektuellen herrsche, die in dieser Weise bereit seien, »Moral über Eigeninteresse zu stellen«.27 Unschwer lässt sich vorstellen, wie die Reaktionen ausgesehen hätten, wenn Pater Ignacio Ellacuría, der prominenteste der ermordeten jesuitischen Intellektuellen, eine solche Rede in der Duma gehalten hätte, nachdem sowjetisch bewaffnete und ausgebildete Eliteeinheiten Havel und ein halbes Dutzend seiner Mitstreiter ermordet hätten – etwas, was natürlich unvorstellbar gewesen wäre.
Da wir selbst das, was vor unseren Augen geschieht, kaum sehen können, ist es nicht überraschend, dass Ereignisse ab einer gewissen Entfernung vollkommen unsichtbar werden. Ein aufschlussreiches Beispiel: Im Mai 2011 entsandte Präsident Obama neunundsiebzig Kommandos nach Pakistan, allem Anschein nach, um einen geplanten Mord an Osama bin Laden durchzuführen, dem Hauptverdächtigen für den schrecklichen terroristischen Anschlag vom 11. September.28 Obwohl das unbewaffnete und schutzlose Ziel der Operation leicht hätte gefangen genommen werden können, wurde bin Laden einfach ermordet und sein Leichnam ohne Autopsie über See abgeworfen – eine Handlungsweise, die in der liberalen Presse als »gerechtfertigt und notwendig« bezeichnet wurde.29 Es gab keine Gerichtsverhandlung wie bei den nationalsozialistischen Kriegsverbrechern – eine Tatsache, die den Vertretern ausländischer Rechtsinstanzen nicht verborgen blieb: Zwar billigten sie die Operation, kritisierten aber die Vorgehensweise. Die Harvard-Professorin Elaine Scarry erinnerte daran, dass das Mordverbot im Völkerrecht auf eine leidenschaftliche Ablehnung dieser Praxis durch Abraham Lincoln zurückgehe, der die Rechtfertigung eines solchen Mords als »internationale Gesetzlosigkeit« verurteilte, als »Gräueltat«, die alle »zivilisierten Nationen« mit »Abscheu« erfülle und »strengste Vergeltung« verlange.30 Lang, lang ist’s her.
Es ließe sich noch weit mehr über die Bin-Laden-Operation sagen, etwa über die Bereitschaft Washingtons, das Risiko eines größeren Krieges einzugehen und sogar die Weitergabe von kernwaffenfähigem Material an Dschihadisten in Kauf zu nehmen. Doch begnügen wir uns mit der Namensgebung: »Operation Geronimo«. Die Bezeichnung rief Empörung in Mexiko hervor und löste Proteste indianischer Gruppen in den USA aus, doch davon abgesehen, scheint niemand zur Kenntnis genommen zu haben, dass hier bin Laden mit dem Apachenhäuptling gleichgesetzt wurde, der den mutigen Widerstand seines Volkes gegen die unrechtmäßigen Invasoren anführte. Die saloppe Namensgebung erinnert an die Leichtfertigkeit, mit der unsere mörderischen Waffen nach den Opfern von Verbrechen benannt sind: Apache, Blackhawk, Cheyenne. Wie hätten wir wohl reagiert, wenn die deutsche Luftwaffe ihre Kampfflugzeuge »Jude« oder »Zigeuner« genannt hätte?
Gelegentlich werden diese »schändlichen Sünden« explizit geleugnet. Begnügen wir uns mit einigen jüngeren Beispielen: Vor zwei Jahren beschrieb Russell Baker in der New York Review of Books, einem der führenden linksliberalen Intellektuellenblätter, was ihn das Werk des »heroischen Historikers« Edmund Morgan gelehrt habe: dass nämlich Kolumbus und die frühen Entdeckungsreisenden bei ihrer Ankunft »die ungeheure Weite eines Kontinents vorfanden, die nur spärlich von Ackerbauern und Jägern bevölkert war (…). In dieser grenzenlosen und jungfräulichen Welt, die sich vom tropischen Dschungel bis in den eisigen Norden erstreckte, dürfte es kaum mehr als eine Million Bewohner gegeben haben.«31 Diese Berechnung liegt um mehrere Zehnmillionen daneben, und über die »ungeheure Weite« war eine ganze Reihe von Hochkulturen verstreut. Die Behauptung blieb unwidersprochen, obwohl die Redaktion vier Monate später eine Berichtigung veröffentlichte, in der sie feststellte, dass Nordamerika vermutlich bis zu achtzehn Millionen Einwohner hatte – wobei immer noch einige Zehnmillionen »vom tropischen Dschungel bis in den eisigen Norden« unerwähnt blieben. Das alles war schon seit Jahrzehnten bekannt – einschließlich der Hochkulturen und der Verbrechen, die folgen sollten –, aber nicht wichtig genug selbst für einen beiläufigen Satz.
Ein Jahr später sprach der renommierte Historiker Mark Mazower in der London Review of Books von der »Misshandlung der Indianer«, was wiederum widerspruchslos hingenommen wurde.32 Würden wir für vergleichbare Verbrechen, die auf das Konto unserer Feinde gingen, das Wort »Misshandlung« akzeptieren?
Die Bedeutung des 11. September
Wenn wir unter der Verantwortung der Intellektuellen die moralische Verantwortung verstehen, als rechtschaffene Menschen ihre Position zu nutzen, um sich für Freiheit, Gerechtigkeit, Mitmenschlichkeit und Frieden einzusetzen und nicht nur über die Verfehlungen unserer Feinde zu sprechen, sondern, was weit wichtiger ist, auch über die Verbrechen, in die wir selbst verstrickt sind und die wir einschränken oder beenden können, wenn wir das wollen – wenn all dies der Fall ist, was sollen wir dann vom 11. September halten?
Die Ansicht, der 11. September habe »die Welt verändert«, ist weit verbreitet und durchaus nachvollziehbar. Zweifellos hatten die Ereignisse für die USA innen- und außenpolitisch tiefgreifende Konsequenzen. Eine war, dass Präsident George W. Bush sich dadurch veranlasst sah, eine Neuauflage des Reagan’schen Kriegs gegen den Terrorismus zu verkünden – nachdem der erste praktisch »verschwunden« war (um eine Formulierung unserer Lieblingskiller und -folterer aus Lateinamerika aufzugreifen), vermutlich weil sich seine Ergebnisse nicht so recht mit unserem Selbstbild vertrugen. Weitere Folgen waren die Invasionen Afghanistans und des Irak, in jüngerer Zeit die militärischen Interventionen in mehreren anderen Ländern der Region sowie die regelmäßige Drohung, den Iran anzugreifen (»alle Optionen sind offen«, lautet die Standardformel). Der Preis war in jeder Hinsicht außerordentlich hoch. Daraus ergibt sich eine naheliegende Frage, die hier nicht zum ersten Mal gestellt wird: Gab es eine Alternative?
Zahlreiche Analytiker sind zu dem Ergebnis gekommen, bin Laden habe in seinem Krieg gegen die Vereinigten Staaten erhebliche Erfolge erzielt. »Er hat wiederholt behauptet, die einzige Möglichkeit, die USA aus der muslimischen Welt zu vertreiben und ihre Satrapen zu besiegen, bestehe darin, die Amerikaner in eine Reihe kleiner, aber kostspieliger Kriege zu verwickeln, die sie letztlich ruinieren würden«, schreibt der Journalist Eric Margolis. »Die Vereinigten Staaten sind – zunächst unter George W. Bush und dann unter Barack Obama – direkt in bin Ladens Falle getappt (…). Grotesk übertriebener militärischer Aufwand und eine zwanghafte Verschuldungspolitik (…) sind möglicherweise das verhängnisvolle Vermächtnis des Mannes, der dachte, er könne die Vereinigten Staaten besiegen.«33 Nach einem Bericht des Costs of War Project des Watson Institute for International and Public Affairs an der Brown University dürften sich die Gesamtkosten auf 3,2 bis 4 Billionen Dollar belaufen34 – eine stattliche Bilanz, die bin Laden da vorzuweisen hat.
Dass Washington gewillt war, bin Laden in die Falle zu gehen, war von Anfang an ersichtlich. Der leitende CIA-Analytiker Michael Scheuer, der von 1996 bis 1999 bin Ladens Spuren verfolgte, schreibt: »Bin Laden hat Amerika eingehend dargelegt, warum er Krieg gegen uns führt.« Der Al-Qaida-Führer habe »die Absicht gehabt, die US-amerikanische und westliche Politik gegenüber der islamischen Welt von Grund auf zu verändern«. Nach Scheuers Darlegung hatte bin Laden damit weitgehend Erfolg: »Die Streitkräfte und die Politik der USA haben die Radikalisierung der islamischen Welt vollendet – etwas, was Osama bin Laden seit Anfang der neunziger Jahre in Ansätzen, aber beileibe nicht vollständig gelungen ist. Ich denke, insofern ist der Schluss erlaubt, dass die Vereinigten Staaten von Amerika bin Ladens einziger unentbehrlicher Verbündeter bleiben.«35 Man könnte sagen, sie sind es über seinen Tod hinaus.
Es gibt gute Gründe für die Annahme, dass man nach dem Attentat vom 11. September die dschihadistische Bewegung hätte spalten und schwächen können, was auch innerhalb der Bewegung heftig kritisiert wurde. Außerdem hätte man die Möglichkeit gehabt, dieses »Verbrechen gegen die Menschlichkeit«, wie es zu Recht genannt wurde, als Straftat zu behandeln, das heißt, eine internationale Operation zur Verhaftung der Verdächtigen zu veranlassen. Das war unmittelbar nach dem Angriff auch im Gespräch, wurde aber von den Entscheidungsträgern in Washington nicht einmal in Betracht gezogen. Offenbar verschwendete man keinen Gedanken an das Angebot der Taliban – wie ernst auch immer es gemeint sein mochte –, die Al-Qaida-Führer auszuliefern, um sie vor Gericht zu stellen.
Damals zitierte ich Robert Fisks Einschätzung, das schreckliche Verbrechen vom 11. September sei »niederträchtig und extrem grausam« gewesen – ein zutreffendes Urteil. Es hätte aber noch schlimmer sein können. Nehmen wir an, Flug 93, der von mutigen Passagieren in Pennsylvania zum Absturz gebracht wurde, hätte das Weiße Haus getroffen und den Präsidenten getötet. Nehmen wir an, die Täter hätten den Plan gehabt (und durchgeführt), eine Militärdiktatur zu errichten, die Tausende umgebracht und weitere Zehntausende gefoltert hätte. Nehmen wir an, das neue Regime hätte mit Hilfe der Verbrecher ein internationales Terrorzentrum eingerichtet und von dort aus andernorts ähnliche Folter-und-Terror-Staaten geschaffen. Als i-Tüpfelchen hätte man dann ein Team von Wirtschaftswissenschaftlern – nennen wir sie die »Kandahar Boys« – eingeflogen, um die amerikanische Volkswirtschaft in eine der schlimmsten Krisen ihrer Geschichte zu stürzen. Kein Zweifel, das wäre erheblich schlimmer gewesen als der 11. September.
Wie wir alle wissen sollten, handelt es sich hierbei nicht um ein Gedankenexperiment, sondern um reale Ereignisse. Ich beziehe mich natürlich auf die Geschehnisse, die in Lateinamerika häufig als »der erste 11. September« bezeichnet werden, das heißt, auf den 11. September 1973, als es den USA nach langen, intensiven Bemühungen endlich gelang, die demokratische Regierung Salvador Allendes durch einen Militärputsch zu stürzen und stattdessen das grauenhafte Regime von General Augusto Pinochet einzusetzen. Anschließend gab die Diktatur den Chicago Boys – Wirtschaftswissenschaftlern, die an der Universität Chicago studiert hatten – den Auftrag, die chilenische Wirtschaft umzustrukturieren. Wenn man die Zerschlagung der Wirtschaft sowie die Opfer von Folter und Entführungen zugrunde legt und deren Zahl mit fünfundzwanzig multipliziert, um entsprechende Vergleichswerte zu erhalten, kann man erkennen, dass jener erste 11. September weitaus gravierender war als der zweite.
Das Ziel des Umsturzes bestand nach den Worten der Nixon-Administration darin, den »Virus« zu vernichten, der all diese »Ausländer« ermutigen könnte, »uns zu linken« – uns zu linken, indem sie versuchten, ihre eigenen Ressourcen zu kontrollieren oder, allgemeiner, einen Washington nicht genehmen unabhängigen politischen Weg einzuschlagen. Dahinter verbarg sich die Schlussfolgerung, zu der Nixons Nationaler Sicherheitsrat gekommen war: Wenn es den Vereinigten Staaten nicht gelinge, Lateinamerika zu kontrollieren, könnten sie nicht erwarten, »eine erfolgreiche Ordnung in anderen Teilen der Welt herzustellen«. Washingtons »Glaubwürdigkeit« wäre dann in Frage gestellt, wie Henry Kissinger meinte.
Der erste 11. September hat im Gegensatz zum zweiten die Welt nicht verändert. Er blieb »ohne besondere Folgen«, wie Kissinger seinem Chef ein paar Tage später versicherte. Anhand seiner Darstellung in der konventionellen Geschichtsschreibung kann man Kissinger kaum widersprechen – mögen die Überlebenden das auch anders sehen.
Diese Ereignisse ohne besondere Folgen waren nicht auf den Militärputsch beschränkt, der die chilenische Demokratie zerstörte und für all die Schrecken verantwortlich war, die danach kamen. Wie erwähnt, war der erste 11. September nur ein Akt in dem Drama, das 1962 begann, als Kennedy den lateinamerikanischen Streitkräften den Auftrag erteilt hatte, sich fortan vorrangig um die »innere Sicherheit« zu kümmern. Auch die tragischen Ereignisse, die sich anschlossen, blieben ohne besondere Folgen – wie üblich, wenn die Geschichtsschreibung in den Händen verantwortungsbewusster Intellektueller liegt.
Intellektuelle und ihre Entscheidungen
Wenden wir uns wieder den beiden Kategorien der Intellektuellen zu. Es scheint fast eine historische Konstante zu sein, dass konformistische Intellektuelle – diejenigen, die offizielle Zielsetzungen unterstützen und offizielle Verbrechen ignorieren oder rationalisieren – in ihren Gesellschaften geehrt und privilegiert werden, während man die wertorientierten auf die eine oder andere Weise bestraft. Dieses Muster reicht zurück bis zu den frühesten geschichtlichen Aufzeichnungen. Der Mann, dem man vorwarf, die Jugend Athens zu verderben, bekam den Schierlingsbecher verabreicht; die Dreyfusards wurden beschuldigt, »die Seelen und in der Folge die ganze Gesellschaft zu verderben«; und die wertorientierten Intellektuellen der sechziger Jahre mussten sich mit dem Vorwurf auseinandersetzen, sie würden »die Jugend indoktrinieren«.36 Im Tanach, der hebräischen Bibel, treten Protagonisten auf, die nach modernen Maßstäben dissidente Intellektuelle wären – die Rede ist von den »Propheten«. Sie erzürnten das Establishment aufs Heftigste mit ihren kritischen geopolitischen Analysen, mit der Verurteilung der Verbrechen, die auf das Konto der Mächtigen gingen, ihrem Ruf nach Gerechtigkeit und ihrer Anteilnahme für das Schicksal der Armen und Leidenden. Ahab, der schlimmste aller Könige, verurteilte den Propheten Elias als Hasser des Volkes Israel oder, um die modernen Versionen dieses Vorwurfs zu zitieren, als den ersten »von Selbsthass zerfressenen Juden« beziehungsweise »Anti-Amerikaner«. Die Propheten wurden unfreundlich behandelt, im Gegensatz zu den Hofschranzen, die man später als falsche Propheten entlarvte. Das Verhaltensmuster ist verständlich. Alles andere wäre überraschend.
Über die Verantwortung der Intellektuellen kann man kaum mehr als ein paar einfache Wahrheiten feststellen: Intellektuelle sind in der Regel privilegiert, Privilegien bieten Chancen, und wer Chancen hat, trägt Verantwortung. Folglich hat der Einzelne die Wahl.
Anmerkungen zum Kapitel
1. Steven Lukes: Emile Durkheim: His Life and Work, Palo Alto 1973, S. 335
2. »An die Kulturwelt! Ein Aufruf« (Manifest der 93 Intellektuellen), 1914, Wikipedia, de.wikipedia.org/wiki/Manifest_der_93 (aufgerufen am 10. August 2016)
3. »Who Willed American Participation«, New Republic, 14. April 1917, S. 308 ff.
4. John Dewey: The Middle Works of John Dewey, Volume 11, 1899 – 1924: Journal Articles, Essays, and Miscellany Published in the 1918 – 1919 Period, Jo Ann Boydston (Hg.), Carbondale 1982, S. 81 f.
5. John Dewey: »Our Un-Free Press«, in: The Later Works of John Dewey, Volume 11, 1925 – 1953: Essays, Reviews, Trotsky Inquiry, Miscellany, and Liberalism and Social Action, Jo Ann Boydston (Hg.), Carbondale, Southern Illinois University Press, 1987, S. 270
6. Randolph Bourne: »Twilight of Idols«, Seven Arts, October 1917, S. 688 – 702
7. Michael Crozier, Samuel P. Huntington, Joji Watanuke: The Crisis of Democracy: Report on the Governability of Democracies to the Trilateral Commission, New York 1975), www.trilateral.org/download/doc/crisis_of_democracy.pdf (aufgerufen am 10. August 2016)
8. Adam Smith: Der Wohlstand der Nationen, München 2013, S. 338
9. Gordon S. Wood: The Creation of the American Republic, 1776 – 1787, New York: W. W. Norton, 1969, S. 513 f. Lance Banning: The Sacred Fire of Liberty: James Madison and the Founding of the Federal Republic, Ithaca, Cornell University Press, 1995; Banning vertritt zwar entschieden die Auffassung, Madison habe sich um eine bürgernahe Demokratie bemüht, beurteilt aber die Tendenz der Verfassung genauso wie Wood (S. 245).
10. James Madison, Thomas Jefferson, 9. Dezember 1787,
founders.archives.gov/documents/Madison/01-10-02-0197 (nicht verfügbar, 10. August 2016). Vgl. auch Ralph Louis Ketcham: James Madison: A Biography, Charlottesville 1990, S. 236, 247, 298.
11. Edward Thorndike: »How May We Improve the Selection, Training, and Life Work of Leaders?«, Teachers College Record, April 1939, S. 593 – 605
12. »Terrorist Group Profiles«, Außenministerium, Januar 1989. Vgl. auch Robert Pear: »US Report Stirs Furor in South Africa«, The New York Times, 14. Januar 1989.
13. United Nations Inter-Agency Task Force, Africa Recovery Programme/Economic Commission for Africa: South African Destabilization: The Economic Cost of Frontline Resistance to Apartheid, 1989, S. 13
14. Noam Chomsky: »The Evil Scourge of Terrorism«, Rede vor der Internationalen Erich-Fromm-Gesellschaft, Stuttgart, 23. März 2010
15. Äußerungen über Reagan von Martin Anderson und Annelise Anderson von der Hoover Institution der Stanford University, zitiert von Paul Boyer in: »Burnishing Reagan’s Disarmament Credentials«, Army Control Today, September 2009.
16. John Coatsworth: »The Cold War in Central America, 1975 – 1991«, in: The Cambridge History of the Cold War: Volume 3: Endings, Melvyn P. Leffler, Odd Arne Westad (Hg.), Cambridge 2010
17. Noam Chomsky: Hopes and Prospects, Chicago 2010, S. 272
18. Papers of John F. Kennedy, Presidential Papers, National Security Files, Meetings and Memoranda, National Security Action Memoranda [NSAM]: NSAM 134, Report on Internal Security Situation in South America, JFKNSF-335-013, John F. Kennedy Presidential Library and Museum, Boston, Massachusetts
19. Lars Schoultz: Human Rights and United States Policy Toward Latin America, Princeton, NJ, Princeton University Press, 1981; Charles Maechling Jr.: »The Murderous Mind of the Latin American Military«, Los Angeles Times, 18. März 1982
20. Nachzulesen in: Adam Isacson, Joy Olson, Just the Facts, Washington 1999, S. IX.
21. Noam Chomsky: »Humanitarian Imperialism: The New Doctrine of Imperial Right«, Monthly Review, 1. September 2008
22. Noam Chomsky: Rogue States, Chicago 2015, S. 88
23. Noam Chomsky: Deterring Democracy, New York 1991, S. 131
24. Chomsky, Hopes and Prospects, S. 261
25. Daniel Wilkinson: »Death and Drugs in Colombia«, The New York Review of Books, 23. Juni 2011
26. Anthony Lewis: »Abroad at Home«, The New York Times, 2. März 1990
27. Mary McGrory: »Havel’s Gentle Rebuke«, The Washington Post, 25. Februar 1990
28. Mark Mazzetti, Helene Cooper, Peter Baker: »Behind the Hunt for Bin Laden«, The New York Times, 2. Mai 2011
29. Eric Alterman: »Bin Gotten«, The Nation, 4. Mai 2011
30. Elaine Scarry: »Rules of Engagement«, Boston Review, 8. November 2006
31. Russell Baker: »A Heroic Historian on Heroes«, The New York Review of Books, 11. Juni 2009
32. Mark Mazower: »Short Cuts«, London Review of Books, 8. April 2010
33. Eric S. Margolis: »Osama’s Ghost«, American Conservative, 20. Mai 2011
34. Daniel Trotta: »Cost of War at Least $3.7 Trillion and Counting«, Reuters, 29. Juni 2011
35. Michael Scheuer: Imperial Hubris: Why the West Is Losing the War on Terror, Washington 2004
36. Anschuldigungen gegen die Dreyfusards, zitiert in: Geoffrey Hawthorn: Enlightenment and Despair: A History of Social Theory, Cambridge 1976, S. 117