Die Welt von Gestern

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Über dieses Buch

Stefan Zweig, Juli 1941, vor dem Haus Ramapo Road 7, Ossining, Staat New York. Hier entstand die erste Fassung seiner Erinnerungen.

© Stefan Zweig Zentrum Salzburg

Die Welt von Gestern ist ein Abgesang auf die österreichisch-jüdisch-bürgerliche Kultur und ein Dokument des Exils: Zweig hatte sich schon bei der Lektüre von Autobiographien der Weltliteratur eingehend mit dem Genre der »Selbstbiographie« beschäftigt. Das »umfassende Epos des eigenen Ich« sei »die seltenst gelungene, weil verantwortungsvollste aller Kunstgattungen«, schreibt er 1927. Notizen für dieses Buch sammelt Zweig bereits 1939. Im November 1941, im Alter von 60 Jahren, schließt er in Petrópolis, seinem letzten Wohnort im brasilianischen Exil, das umfangreiche Manuskript ab, bevor er kurze Zeit später Suizid begeht.

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Fußnoten

  1. Stefan Zweig, Drei Dichter ihres Lebens. Casanova, Stendhal, Tolstoi, Frankfurt a. M. 2014, S. 16 [zuerst 1928].

  2. Stefan Zweig, Brief an Viktor Fleischer vom 23. Dezember 1926, in: S. Z., Briefe 1920–1931, hrsg. von Knut Beck und Jeffrey B. Berlin, Frankfurt a. M. 2000, S. 177.

  3. Stefan Zweig, Brief an Felix Braun vom 20. Juni 1939, in: S. Z., Briefe 1932–1942, hrsg. von Knut Beck und Jeffrey B. Berlin, Frankfurt a. M. 2005, S. 250.

  4. Stefan Zweig, Brief an Lavinia Mazzucchetti vom 9. März 1940, in: S. Z., Briefe 1932–1942, hrsg. von Knut Beck und Jeffrey B. Berlin, Frankfurt a. M. 2005, S. 680.

  5. Stefan Zweig: Drei Dichter ihres Lebens. Casanova, Stendhal, Tolstoi, Frankfurt a. M. 2014, S. 11 [zuerst 1928].

  6. Ebd., S. 9.

  7. Romain Rolland / Stefan Zweig, Briefwechsel 1910–1940. Bd. II, übers. und hrsg. von Eva Schewe, Gerhard Schewe und Christel Gersch, Berlin 1987, S. 282.

  8. Stefan Zweig: Drei Dichter ihres Lebens. Casanova, Stendhal, Tolstoi, Frankfurt a. M. 2014, S. 13 [zuerst 1928].

  9. Stefan Zweig, Brief an Sigmund Freud vom 8. September 1926, in: S. Z., Briefe 1920–1931, hrsg. von Knut Beck und Jeffrey B. Berlin, Frankfurt a. M. 2000, S. 163.

  10. Stefan Zweig: »Ein Brief [An Robert Müller, 1919]«, in: S. Z., »Worte haben keine Macht mehr.« Essays zu Politik und Zeitgeschehen 1916–1941, hrsg. von Stephan Resch, Wien 2019, S. 76 f.

  11. Vgl. S. 111 in diesem Buch.

  12. Sigmund Freud, Brief an Arnold Zweig vom 31. Mai 1936, in: S. F., Briefe 1873–1939, ausgew. und hrsg. von Ernst L. Freud und Lucie Freud, Frankfurt a. M. 1960, S. 445.

»Begegnen wir der Zeit, wie sie uns sucht.«

  Shakespeare: Cymbeline

Ich habe meiner Person niemals soviel Wichtigkeit beigemessen, dass es mich verlockt hätte, anderen die Geschichte meines Lebens zu erzählen. Viel musste sich ereignen, unendlich viel mehr, als sonst einer einzelnen Generation an Geschehnissen, Katastrophen und Prüfungen zugeteilt ist, ehe ich den Mut fand, ein Buch zu beginnen, das mein Ich zur Hauptperson hat oder – besser gesagt – zum Mittelpunkt. Nichts liegt mir ferner, als mich damit voranzustellen, es sei denn im Sinne des Erklärers bei einem Lichtbildervortrag; die Zeit gibt die Bilder, ich spreche nur die Worte dazu, und es wird eigentlich nicht sosehr mein Schicksal sein, das ich erzähle, sondern das einer ganzen Generation – unserer einmaligen Generation, die wie kaum eine im Laufe der Geschichte mit Schicksal beladen war. Jeder von uns, auch der Kleinste und Geringste, ist in seiner innersten Existenz aufgewühlt worden von den fast pausenlosen vulkanischen Erschütterungen unserer europäischen Erde; und ich weiß mir inmitten der Unzähligen keinen anderen Vorrang zuzusprechen als den einen: als Österreicher, als Jude, als Schriftsteller, als Humanist und Pazifist jeweils just dort gestanden zu sein, wo diese Erdstöße am heftigsten sich auswirkten. Sie haben mir dreimal Haus und Existenz umgeworfen, mich von jedem Einstigen und Vergangenen gelöst und mit ihrer dramatischen Vehemenz ins Leere geschleudert, in das mir schon wohlbekannte »Ich weiß nicht wohin«. Aber ich beklage das nicht; gerade der Heimatlose wird in einem neuen Sinne frei, und nur der mit nichts mehr Verbundene braucht auf nichts mehr Rücksicht zu nehmen. So hoffe ich wenigstens eine Hauptbedingung jeder rechtschaffenen Zeitdarstellung erfüllen zu können: Aufrichtigkeit und Unbefangenheit.

Denn losgelöst von allen Wurzeln und selbst von der Erde, die diese Wurzeln nährte, – das bin ich wahrhaftig wie selten einer in den Zeiten. Ich bin 1881 in einem großen und mächtigen

Dies unser gespanntes, dramatisch überraschungsreiches Leben zu bezeugen, scheint mir Pflicht, denn – ich wiederhole – jeder war Zeuge dieser ungeheuren Verwandlungen, jeder war genötigt, Zeuge zu sein. Für unsere Generation gab es kein Entweichen, kein Sich-abseits-Stellen wie in den früheren; wir waren dank unserer neuen Organisation der Gleichzeitigkeit ständig einbezogen in die Zeit. Wenn Bomben in Shanghai die Häuser zerschmetterten, wussten wir es in Europa in unseren Zimmern, ehe die Verwundeten aus ihren Häusern getragen waren. Was tausend Meilen über dem Meer sich ereignete, sprang uns leibhaftig im Bilde an. Es gab keinen Schutz, keine Sicherung gegen das ständige Verständigtwerden und Mitgezogensein. Es gab kein Land, in das man flüchten, keine Stille, die man kaufen konnte, immer und überall griff uns die Hand des Schicksals und zerrte uns zurück in sein unersättliches Spiel.

Ständig musste man sich Forderungen des Staats unterordnen, der stupidesten Politik zur Beute hinwerfen, den phantastischsten Veränderungen anpassen, immer war man an das Gemeinsame gekettet, so erbittert man sich wehrte; es riss einen mit, unwiderstehlich. Wer immer durch diese Zeit ging oder vielmehr gejagt und gehetzt wurde – wir haben wenig Atempausen gekannt –, hat mehr Geschichte miterlebt als irgendeiner seiner Ahnen. Auch heute stehen wir abermals an einer Wende, an einem Ab

Ich bin mir der ungünstigen, aber für unsere Zeit höchst charakteristischen Umstände bewusst, unter denen ich diese meine Erinnerungen zu gestalten suche. Ich schreibe sie mitten im Kriege, ich schreibe sie in der Fremde und ohne den mindesten Gedächtnisbehelf. Kein Exemplar meiner Bücher, keine Aufzeichnungen, keine Freundesbriefe sind mir in meinem Hotelzimmer zur Hand. Nirgends kann ich mir Auskunft holen, denn in der ganzen Welt ist die Post von Land zu Land abgerissen oder durch die Zensur gehemmt. Wir leben jeder so abgesondert wie vor hunderten Jahren, ehe Dampfschiff und Bahn und Flugzeug und Post erfunden waren. Von all meiner Vergangenheit habe ich also nichts mit mir, als was ich hinter der Stirne trage. Alles andere ist für mich in diesem Augenblick unerreichbar oder verloren. Aber die gute Kunst, Verlorenem nicht nachzutrauern, hat unsere Generation gründlich gelernt, und vielleicht wird der Verlust an Dokumentierung und Detail diesem meinem Buche sogar zum Gewinn. Denn ich betrachte unser Gedächtnis nicht als ein das eine bloß zufällig behaltendes und das andere zufällig verlierendes Element, sondern als eine wissend ordnende und weise ausschaltende Kraft. Alles, was man aus seinem eigenen Leben vergisst, war eigentlich von einem inneren Instinkt längst schon vordem verurteilt gewesen, vergessen zu werden. Nur was sich selbst bewahren will, hat ein Anrecht, für andere bewahrt zu werden. So sprecht und wählt, ihr Erinnerungen, statt meiner, und gebt wenigstens einen Spiegelschein meines Lebens, ehe es ins Dunkel sinkt!