Die Rückreise
Roman
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Innenillustrationen © KHIUS/shutterstock.com
Autorenfoto S. 367: Ursula Innerhofer
Grafik, Satz und Produktion: Tanja Kühnel
Lektorat: Anja Zachhuber
eISBN 978-3-7025-8077-3
Auch als gedrucktes Buch erhältlich
ISBN 978-3-7025-1015-2
www.pustet.at
Ohne Sprache ist nichts wahr.
Mit Sprache ist alles unwahr.
ERSTES BUCH
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
ZWEITES BUCH
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Ich habe mir die Latte immer schön hoch gelegt, damit ich auch dann gut sein konnte, wenn ich sie verfehlte. Ich weiß nicht, ob das bedeutet, dass ich zu viel oder zu wenig wollte. Wenig wollen gibt ein gutes Gefühl und ist irgendwie weise. Den Bescheidenen umflort die Verschwiegenheit des besseren Wissens und deutet auf geheime Größen hin. Doch wie soll man bescheiden sein, wenn es um alles geht? Ich meine, wie soll man wenig wollen, wenn es nur alles oder nichts gibt?
Gott im schwarzen Himmel, bin ich froh. Ich hätte auch andere Wege gehen können. Aber, eben, man sollte keine anderen Wege gehen. Man sollte nur genau diesen einen gehen.
Wie seltsam das alles war, von Beginn an. Und ich mitten drin und ausreichend verrückt, es auch zu bedienen, ausreichend gegennormal, das Fraglose zu hinterfragen und dann auch noch Konsequenzen zu ziehen, obwohl ich schon einen Hauch dessen spürte, was da kommen würde. Aber gut.
Angefangen hat alles mit dem schwarzen Muster, das über den Himmel zog, als die Raben kamen. Einundzwanzig dieser riesigen Kohlraben waren wie Gewölk über dem Hügelkamm aufgetaucht und hereingeschwebt, koordiniert wie eine Mannschaft. Manche richteten ihre Köpfe nach einander und knurrten sich gelangweilte Kommentare zu, andere ließen Nebenbemerkungen fallen, ohne ihre Blicke vom Horizont zu nehmen. Ihr kehliges Gurgeln hallte durch den Graben – und entführte mich weit zurück.
Es war Kindheit, es war Winter, das Land war weißgrau verkrustet und hatte geschlossen. Ich blickte stumm in die Landschaft, meine Haube saß schief, meine Gedanken bohrten sich ins reglose Bild. Da zogen Raben durch den verlassenen Raum und sie klangen, als schabten sie mit einer hölzernen Raspel an der hohlen Luft. Als sie über mich hinwegflogen, drehte sich der Klangkörper ihrer Stimmen und war nun von hinten zu hören, wie er das Weite suchte und seinen Hall hinter sich herzog, während ich unten am Boden in der stehenden Stille zurückblieb.
Wie klingen Raben in der Stille eines Wintertages, fragte ich mich, und konnte nicht einmal sagen, ob da ein feuchtes Blubbern aus ihren Kehlen kam, oder ob man es besser trockenes Blubbern nennen sollte. Wenn es denn ein Blubbern war. Das war meine Frage: Wie oder wonach klingen Raben? Sie wurde zur ältesten aller Fragen, die ich je hatte.
Immer schon hatte ich es mit der Sprache der Tiere. Sie konnte etwas, das die Menschensprache nie konnte. Wenn ein Hahn krähte, spürte ich etwas. Es kam von ganz tief und schmeckte wie Erinnerung. Da war eine körperlich spürbare Gleichschaltung mit etwas diffus Bekanntem, aber nichts Konkretes. Wenn ein Mensch sprach, war es umgekehrt. Da wurde etwas Konkretes wachgerufen, ohne je diese gefühlte Entsprechung auszulösen. Na ja. Wie auch immer.
Meine Lust, den Klang der Raben in Wörter zu verwandeln, hat jedenfalls nie aufgehört. Noch heute höre ich ihre Rufe mit dem ganzen Körper, wenn es auch mit den Jahren immer schwächer wurde. Damals hörte ich sie als Schmerz, als ein zu Schmerz verdichtetes Verlangen, wiederzugeben, was ich erlebte, wenn ihre Rufe auf die Membran in meiner Brust trafen und ihr Echo in den Nervenbahnen verebbte.
Diese Lust hat mich nie anders als gekränkt zurückgelassen. Wie hätte ich sie auch bedienen sollen? Wie hätte ich etwas festhalten können, das ich nicht einmal angreifen konnte, etwas, das zudem immer gerade dabei war, sich zu verflüchtigen? Auch war mir diese Lust nie ganz geheuer. Sie kam aus einer Tiefe, die mir unheimlich war, weil sie tiefer schien, als ich selbst und sie sich dennoch in mir befand. So suchte ich nach treffenden Wörtern, ohne zu wissen, ob es sie überhaupt gab. Ich suchte nach Begriffen, die diesen Erinnerungsgefühlen nicht nur einen Namen geben, sondern die Gefühle selbst wieder wecken konnten. Meine Suche galt Wörtern, die den Klang der Raben isolieren und aus der Natur abbauen konnten, ihn gewinnen wie einen Rohstoff, haltbar und lagerungsfähig machen und in Bereitschaft halten, um jederzeit wiederverwendet zu werden.
Später, erwachsen, schüttelte ich langsam den Kopf, als mir klar wurde, dass ich es doch nur selbst gewesen war, was ich da im Nachhall der Rabenstimmen wahrgenommen hatte, wie einen Lufthauch, der verschwand, noch bevor ich ihn atmen konnte. Aber mein Vorhaben war unverändert. Ich wollte diesen Lufthauch anhalten, ihn einfangen und in Wörter sperren wie in kleine Käfige. Ich wollte diesen Lufthauch meiner Seele stabilisieren, indem ich ihn mit Wörtern schiente und verpackte, um ihn wiederholbar zu machen. Ich wollte Haltbargefühle erzeugen, Gefühlskonserven, die jederzeit und auch von vielen gleichzeitig geöffnet werden konnten.
Wie recht ich damals doch hatte, als das Land weißgrau verkrustet war. Ich war ein Seher. Ein Dichter im besten Sinn. Danach war ich nie mehr einer. Später begann ich einer sein zu wollen und dann begann ich mir einzubilden, einer zu sein, bis ich mir endlich einzubilden begann, keiner zu sein. Ist ja egal. Ich sag’ nur. Man muss ja kein Dichter sein, um sagen zu wollen, was man sagen möchte, und zwar genau das, was man sagen möchte, und nicht nur fast genau das.
Nun, Jahrzehnte später, waren diese schwarzen Gestalten also zurückgekehrt. Simultan wie ein Geschwader sanken sie in einer Kreiskurve in den Graben herein und begannen, prominent und arrogant, langsam über dem alten Bauernhof zu kreisen, der nach Jahren der Verlassenheit wieder Lebendigkeit zeigte. Sie sahen mich im Gras liegen. In ihren Kehlen blubberte es.
Was in aller Welt gaben diese Wesen von sich? Ein versöhnliches Sägen? Was war dieses Chrr, Chrr oder so? War das ein forschendes Kratzen? Dürres Geratsche? Chrr, Chrr. Hölzernes Nagen? Entspanntes Röcheln? Röchelten sie? Schnarrten sie? Knarrten sie? Murrten sie mit der selbstverständlichen Beleidigtheit unverschämter Einzelkinder? Passte ihnen gar nichts? Stänkerten sie gewohnheitsmäßig mit kargen Abfälligkeiten wie Ruheständler im Park? Knurrten sie knapp und kategorisch wie die Wächter einer dunklen Exekutive? Wiederholten sie ihre Äußerungen aus Zufriedenheit, weil sie funktionierten, oder aus Not, weil sie nicht funktionierten? Wiederholten sie sich überhaupt? Oder sagten sie laufend etwas anderes und nur mein Menschenohr nahm keine Unterschiede wahr? So wie ihr Rabenohr umgekehrt meine Aussagen als notorisch wiederkehrende Lautketten vernehmen musste, wie hängengebliebene Geräuschsequenzen, die zwar typisch nach Mensch klangen, aber keine Aufschlüsse zuließen, was sich im Inneren der Geräuschsequenzen abspielte, und ob es sich um österreichische, tibeto-birmanische oder lolo-burmesische Lautketten handelte. Egal. Im Ton der Raben vernahm ich zumindest keine Not. Sie klangen entspannt und am Punkt. Sie musterten mich.
Sicher, ich hätte das, was Raben von sich gaben, auch mit einer Notbezeichnung bekleben und einfach »rabeln« nennen können. Aber ich fand das unerträglich. Ich hätte damit grob anzeigen können, was ich meinte, aber nur, wenn ohnehin bekannt war, was ich meinte. Aber nichtssagende Namen für das Unbeschreibbare zu verwenden, konnte doch nicht der Sinn der Sprache sein.
So hatten sie es nämlich gemacht, die Namensgeber der Raben, als sie ihnen unterstellten, sie würden krähen. Die Diktion dieser Herrschaften war, der Rabe wäre mit äußerlich ähnlichen Vögeln verwandt und man könne daher alle miteinander unter flächendeckender Identitätsverwischung als Krähen bezeichnen. Einfach, weil »Kra« diesen Namensgebern eine angemessene Lautnachahmung schien und daher gut genug für ein Etikett. Sie beschrieben damit nichts. Sie tauften. Sie nannten diese Vögel »die Kra machen«. Fast mytho-poetisch, diese Hilflosigkeit. Egal.
Alle einundzwanzig Raben waren nun gelandet. In den Bäumen unterhalb der großen Wiese, die vom Bauernhaus weg ins Tal hinunter hing, hatten sie in gleichen Abständen voneinander Platz genommen und richteten ihre Aufmerksamkeit auf mich wie unsichtbare Scheinwerfer. Manche tauschten Blicke aus, bevor sie wieder mich ansahen. Ich war irritiert. Die Szene schien mir unwirklich und ich dachte, sie zu mystifizieren oder irgendwie anders zu überhöhen, doch bildeten die Mitglieder dieses seltsamen Senates eindeutig einen großen, formschönen Halbkreis mit mir exakt im Mittelpunkt gegenüber. Und sie lauschten. Der Wind legte sich. Vom gegenüberliegenden Hügel krähte ein Hahn.
Ich erhob mich aus dem Gras und blickte hinunter in das schwarz gefiederte Halbrund. Ich dachte, sieh einer an: Auch die Menschen benützen solche Talare, wenn sie beschlussmäßig Einfluss nehmen. Die Raben schwiegen, als wollten sie die Flüchtigkeit der Situation nicht stören. Vom Frauenberg her wehte Glockengeläut. Die Tagung, in die ich hier geraten war, schien mir kein bisschen abwegig und genau das beunruhigte mich. Aus dem Tierreich erhielt ich Nachhilfe in Fragen der Lautkommunikation und fand das ganz normal.
Was denke ich eigentlich, fragte ich mich, wenn ich auf der Suche nach richtigen Wörtern bin? Wenn ich also noch gar nicht denke, sondern nach den Bestandteilen des Denkens suche? Denke ich auch ohne Sprache? Aber ist Denken nicht Sprechen mit dem Hirn? Irgendwie musste es auch außerhalb der Sprache ein Denken geben, dachte ich, denn wie könnte ich sonst mit einem verwendeten Ausdruck unzufrieden sein?
Plötzlich, als wäre die Sitzung geschlossen, erhoben sich die Einundzwanzig fast gleichzeitig von den Baumkronen und das Geschwader zerstob in der Luft wie schwarzes Laub in einer Windböe.
Ich muss sagen, die Suche nach Wörtern hat mich immer schon mehr beansprucht als das Leben selbst. Ich habe schon zu viel nachgedacht, als ich noch für alles zu jung und zu klein war und von allem so beeindruckt, dass ich, solange ich nicht schlief, hauptsächlich staunte. Ich denke, mein kleiner Fehler könnte gewesen sein, dass ich irgendwie falsch geliebt habe. Sehr, ja, aber falsch. Ich habe gestaunt und geliebt und das war vielleicht irgendwie zu wenig. Man halte sich vor Augen: Ich habe einen Bleistift mittlerer Härte geliebt. Ich habe mein leeres Tagebuch geliebt, in das ich nie auch nur ein einziges Wort schrieb. Und bitte, im Ernst: Ich war in eine Hominidin verliebt. Was soll man dazu sagen? Okay, sie war unglaublich attraktiv, aber eine Hominidin? Und ich war ja nicht ein bisschen in sie verknallt, sondern unsterblich verliebt bis ich fast erwachsen war. Während also meine Geliebte etwa eine Million Jahre weit weg war, erlebte ich den Höhepunkt meiner Teenager-Karriere, als ein Homo-Sapiens-Mädchen mir sagte, ich würde sie an Van Morrison erinnern, wie er auf einen Bus wartet und einstweilen an einem Zahnstocher kaut. Genau wie beim jungen Van Morrison würde mein Oberkörper oft ein bisschen schräg vornüber hängen und mein Kopf skeptisch zur Seite gelegt sein, als würde ich abwägen, was ich nun von der Situation halten sollte, obwohl sie mich nicht sonderlich betraf. Und das Homo-Sapiens-Mädchen sagte, manchmal käme ihr vor, ich würde in die Sonne lächeln und dabei nichts sehen, kein Gesicht, keine Augen, in die ich lächeln könne, weil ich geblendet wäre und es sei ihr nicht klar, ob ich bloß schüchtern wäre, oder lauerte. Da flackerte etwas heiß in mir auf, aber ich begriff kein bisschen, was sie meinte. Ich fühlte mich nur als Van Morrison, ließ meinen Oberkörper noch ein bisschen stärker zur Seite hängen und lächelte lässig in die Sonne.
Also gut.
Das mit den Raben, um zur Geschichte zurückzukommen, war wie der erste Blitz eines Gewitters, der gelb und lautlos am Horizont aufflackert wie eine kaputtgehende Glühbirne. Dann wurden die Blitze heller und schärfer und bald ging es Schlag auf Schlag: Zwei Tage nach der Rabensitzung entdeckte ich die Kluft. Am Tag darauf erkannte ich, dass ihre Überbrückung unmöglich war. Und noch am selben Tag wurde alles anders.
Die Kluft. Sie war überall, wo Menschen sprachen. Sie verlief unabänderlich und ausnahmslos durch jedes einzelne Menschen-Gespräch und hielt das, was gesagt wurde, von dem fern, was gemeint war. Die Kluft, das war die Kluft zwischen Gesagtem und Gemeintem. Die Kluft war ein ganzes Netz aus Klüften. Ich meine, gespürt hatte ich sie immer schon, aber jetzt erschien sie mir in dem grafischen Muster, in das sich eine Stadt verwandelt, wenn man sie von hoch oben sieht. Ich befand mich auf einem Spaziergang am Kahlenberg und blickte hinunter auf die Stadt, die weichgezeichnet von bläulichem Dunst mit ihren Kästchen und Linien dalag wie ein riesiger Schaltplan. Und da sah ich sie.
Alle spürten, dass es die Kluft gab. Alle spürten, dass es in Sachen Verständigung kein Gelingen gab. Jemand sagte etwas und die anderen erstarrten irritiert oder gar beschämt und alle wussten, dass etwas anderes gemeint war, während das Gemeinte wortlos über dem Gesagten schwebte. Du siehst den Menschen, der etwas gesagt hat und so vertraut war mit dem, was er sagte und so fremd zu dem, was er sagen wollte und du siehst: Das Gesagte ist vertraut und harmlos und wirkungslos, das andere, das Gemeinte, ist fremd und unheimlich. Die Kluft ist ein dichtes Netz aus Klüften. Die Kluft ist wie ein Schaltplan aus schwarzen Bahnen, die wie ein Gitter aus Klüften im Ausgesprochenen liegen und das Gesagte vom Gemeinten trennen. Wenn jemand etwas sagt, ist es, als hätte jemand anderer es gesagt. Wenn jemand etwas sagt, ist er selbst verblüfft wie die anderen, weil er, wie die anderen, selbst doch weiß, dass er etwas anderes sagen wollte. Er hört sich selbst und es ist so fremd, sich zu hören, als wäre er sich fremd, als kennte er den wahren Sprecher nicht, der sich vornüberbeugt, um zu lauschen, nachdem er etwas gesagt hat und nun stutzt, als hätte er im Nebenraum Geräusche gehört. Als hätte jemand anderer mit seiner Stimme gesprochen und etwas anderes gesagt, als er selbst sagen wollte. Und dann blickt er drein, fragend, verwirrt, so, als würde er vor einer Maschine stehen, die nicht funktioniert. Die, wenn er auf den Knopf drückt, etwas anderes macht, als er dachte. Etwas anderes, als zu erwarten war, wenn er davon ausging, dass die Maschine machte, was er dachte, dass sie machen würde, weil alle es dachten und er nur dachte, was alle dachten und nur sagte, was alle sagten, ein bisschen anders als die anderen vielleicht, aber nicht viel anders.
Die Kluft machte es sichtbar: Wer spricht, wird belauscht. Das Gesagte wird vom Gemeinten beschattet. Wer etwas sagt, ist betreten. Beschämt. Einsam. Er spricht, doch er erreicht sich nicht. Er hat gar nicht gesagt, was er sich da sagen gehört hat, er hat es nur ausgelöst mit seinen Lauten, mit denen er versucht hat, etwas anderes auszulösen, etwas, das nur in ihm selbst war, was nur er sagen hätte können, aber er hat ein mechanisches Ergebnis bekommen wie von einem blinkenden Automaten im Prater, der immer nur eines derselben wenigen Ergebnisse auswirft, über die er verfügt.
Es ist peinlich. Es ist so offensichtlich. Ein unverhülltes Vergehen. Es ist wie Missbrauch mit Augenkontakt. Beschämend. Es nötigt dich, den Blick zu senken. Alle sind fremdbestimmt und alle wissen, dass alle fremdbestimmt und missbraucht sind und jedes Mal, wenn jemand etwas sagt, also etwas Fremdes von sich gibt, etwas von etwas Fremdem vorgefertigt zur begrenzten Auswahl Gestelltes von sich gibt, ist er betreten von der Offensichtlichkeit des Vergehens und er schämt sich unterwürfig für seine Behinderung, für seine Machtlosigkeit, für die Ausweglosigkeit und die nicht verhinderbare und nicht aufschiebbare und unaufhörliche Wiederholung des Vergehens, welches ein Vergehen am Gemeinten ist.
Die Kluft, das bist du. Die Kluft ist der Schatten, der neben dir steht wie dein Unterschied. Als wärst du ausgeschnitten und zur Seite verschoben und würdest die Sicht auf einen dunklen Eingang hinter dir zur Hälfte freigeben. Die Kluft ist der Zwischenraum, das Maß des Danebenen, der Raum des Ungesagten, der Hort des Gemeinten. Der Kern. Dein Unterschied.
Du sagst etwas und alle nicken nur, als würden sie verstehen. Aber, genauer gesagt, nicken sie, als würden sie nichts verstehen und nur signalisieren wollen, sie verstünden etwas. Sie nicken realitätskonform nichts verstehend. Und was sie sagen, klingt so verdächtig, liegt so daneben, dass du spürst, wie das Gemeinte auf der Strecke bleibt, in der Kluft, wo sich das Gemeinte wie ein Restbestand sammelt, ausgesondert von einem Gitter, das nur durchlässt, was durchpasst. So landet das Gemeinte verlässlich in der Kluft, während das Nichtgemeinte verlässlich durch- und ankommt, weil es vom Aussonderungsgitter positiv auf Nichtgemeintheit geprüft wurde.
Das Gemeinte aber, das ist der Kern. Das bist du. Du bist das Gemeinte. Das von der Sprache nicht bewältigte und vom Gitter nicht bewilligte. Das nicht Sagbare. Das entsorgte Gemeinte. Das bist du wirklich. Das, woraus deine Alleinheit gemacht ist. Die Einsamkeit zwischen Gesagtem und Gemeintem. Im Schatten, in der Kluft, wo das Gemeinte hängen bleibt, da bist du wirklich. Draußen im Licht und in den Farben bist du nur, was die Sprache aus dir macht, im Schatten aber, in der Kluft, dort bist du wirklich. Dort liegt alles auf Halde, was du meinst. Die Sprache macht aus dir dunkle Materie. Sie macht aus dir Gegenmaterie. Na ja, egal.
Am Tag nach meinem Kahlenberg-Spaziergang wurde mir also klar, dass die Kluft selbst nicht das große Problem war. Das große Problem war, dass ihre Schließung nicht funktionierte. Diese Kluft zu überbrücken war unmöglich. Die Menschen verwendeten den größten Teil ihrer Gespräche darauf, die Kluft zwischen Gesagtem und Gemeintem zu schließen, aber mit immer mehr Gesagtem statt Gemeintem. Was hätten sie auch tun sollen.
Da saß ich in dieser Routinebesprechung in der Redaktion und plötzlich, wie nebenbei, hörte ich es mich aussprechen: Die Sprache funktioniert nicht. Und kaputte Sprache ist mit kaputter Sprache nicht zu überwinden.
Die Sprache war kaputt. War immer schon kaputt gewesen. Die Sprache, dieses mit Lautbildern aus modulierter Atemluft operierende Kommunikationssystem, das den Menschen zu einem geistigen Wesen gemacht hat, war defekt wie ein Funkgerät, das zwar blinkte und zischte, aber nichts übermittelte. Man konnte hineinbrüllen so oft und so deutlich man wollte, am anderen Ende war nur ein elektrisches Sieden zu hören, zerfetzt von durchbrechenden Schleifgeräuschen, die man für Botschaften hielt und die man mit weiteren Schleifgeräuschen näher erörtern wollte. Doch die Sprache der Menschen warf nicht aus, was man ihr eingab und das bedeutete, dass alles, was Menschen je gesagt hatten und alles, was Menschen je gehört hatten, falsch war. Dafür gab es so viele Beweise, wie jemals von Menschen gemachte Aussagen.
Das hatte nebenbei auch etwas Tröstliches. Ich hatte entdeckt, dass es nicht am Menschen lag. Nicht die Menschen erzeugten das Chaos, weil sie unfähige Raubtiere waren, sondern ihr Informationsübermittlungssystem, weil es schlicht defekt war. Das war mehr als eine Begnadigung. Es war eine Enthaftung wegen erwiesener Unschuld.
Doch das half mir wenig, ich meine, diese Amnestie traf mich nicht. Die Menschen waren nicht schuld, ich aber schon. Die Menschen wurden enthaftet, ich aber wurde verbannt. Der Rest der Menschheit wurde entlastet, ich aber enteignet. Ich nahm zur Kenntnis: Keine einzige der Botschaften, die ich verschickt hatte, war je angekommen. Ich hatte noch nie in meinem Leben etwas gesagt, wie ich dachte, es gesagt zu haben. Ich hatte die Sprache für eine Gefährtin gehalten, für eine befreundete Riesin, die Zauberkräfte besaß und mit der man Himmel und Hölle bereisen konnte. Doch diese geheiligte, verdammte Wortsprache konnte einfach nicht, was ich ihr zugeschrieben hatte.
Diese Erkenntnis verdankte ich meinem Talent zum Hinschauen und meinem Hang zum Verwerflichen, ohne den ich heute noch an der Kluft stehen, in den Wind rufen und mir einbilden würde, drüben auf der anderen Seite verstünde jemand etwas.
Ich bin in diese Erkenntnis bei heiterem Himmel hineingestolpert. Das ging so: Ich saß also in dieser Redaktionssitzung und verdrehte die Tatsachen, damit sie mir passten. Ich verbog sie ein bisschen, damit man einen schöneren Titel für meine Geschichte machen konnte, die sich im Vorfeld der Nationalratswahl um Wahlkampf-Sprache drehen sollte, genauer gesagt um die erstaunlich mangelhaften Sprachkompetenzen mancher Spitzenkandidaten.
Der Wahlkampf war in die heiße Phase gekommen und besonders einer der Spitzenkandidaten hatte begonnen, Nerven zu zeigen. Er begann öffentlich um sich zu schlagen wie ein kreischendes Kind, das wegen angeblicher oder tatsächlicher Gemeinheiten seine Arme hin und her um den Oberkörper schleudert und dabei egozentrische Grimassen schneidet. Dabei handelte es sich um den amtierenden Bundeskanzler der Republik Österreich, der während seiner gesamten Amtszeit Erklärungsbedarf angehäuft hatte. Nun war auch der Wahlkampf desaströs verlaufen, es hatte überall zu brennen begonnen und alle, besonders seine eigenen Parteifreunde, schauten regungslos zu wie Ehrengäste bei einer Einäscherung. Selbst jene Billigblätter und billigen Gratisblätter waren auf Distanz gegangen, aus denen er in großer Regelmäßigkeit als Macher herausgestrahlt hatte, sowohl aus dem redaktionellen Teil wie aus den ganzseitigen Partei-Inseraten. In seiner Partei wollte niemand mehr verstehen, warum er es wieder geschafft hatte, aufgestellt zu werden, wo er doch längst drauf und dran gewesen war, das Gleichgewicht zu verlieren, was in der Politik bedeutete, dass das Gleichgewicht schon verloren war. In dieser Situation ließ der Gerade-Noch-Regierungschef mit einer erstaunlichen Behauptung aufhorchen: »Dieses Land braucht einen Kanzler, wo die Partei hinter ihm steht.«
Mit diesem Satz des Regierungschefs begann ich meine Ausführungen in der Sitzung. Gelächter brach los. Ein Fotograf äffte den Kanzler nach: »Also braucht man nirgendwo in diesem Land einen Kanzler, denn die Partei steht nirgends hinter ihm.« Heiterkeit. Überlegenes Schmunzeln.
Ich fuhr fort. Dahinter stecke ein großes Zeit-Thema. Wir hätten es mit einer schleichenden Sprachverarmung zu tun, die sich durch alle Schichten ziehe und viele Ursachen habe. Sätze wie »du verstehst mich nicht« oder »das habe ich nicht gesagt« zählten zu den statistisch am öftesten verwendeten Sätzen überhaupt. Für die Existenz einer Sprachkrise gebe es nicht nur zahlreiche frei beobachtbare Indizien, sondern auch viele eindeutige Beweise: Unlängst habe etwa eine Studie gezeigt, dass Kinder ihre motorischen Fähigkeiten zunehmend einbüßten, ein Schreibgerät so zu führen, dass lesbare Buchstaben zurückblieben. Sie würden die körperlichen Voraussetzungen zur Aneignung von Schrift verlieren. Die Menschen würden immer analphabetischer. Wir hätten eine neue Sprachkrise. Ein Babel 4.0.
Die Diskussion dauerte mehr als eine halbe Stunde. Sarkastische Wortspiele wurden erfunden, Beispiele sprachlicher Verwerfungen Prominenter zitiert. Weitere Aspekte der Sprachverarmung wurden erwähnt, wie die Chat-Sprache, die nur noch Satzfetzen und Abkürzungen kannte und auf das Denken selbst zurückwirke, denn die Leute begannen ihre Gedanken ihren Ausdrucksmöglichkeiten anzupassen. Es entstünde etwas wie eine Chat-Denke. Die Betroffenen erinnerten dabei an körperlich Lädierte, die schmerzhaften Stellungen auswichen und erst dadurch behindert wirkten.
Der stellvertretende Chefredakteur, der die Sitzung leitete, hatte nur schweigend zugehört und sagte jetzt: »Das ist eigentlich eine eigene Cover-Geschichte für nach der Wahl.« Ich nickte.
»Wie lautet der Titel?«, fragte er, »was steht im Vorspann?«
Ich blickte in die Luft: »Keine Ahnung. Vielleicht: ›Der Sprachfehler‹. Oder ›Sprache sprachlos‹. Oder ›Was kann Sprache?‹ Oder ›Das Babel-Gebrabbel‹.« Und nach einer Pause: »›Das Muss-Verständnis‹?«
»Das versteht man nicht«, sagte der Art-Direktor und kaute an seinem Bleistift.
Der rauflustige Fotograf schlug vor: »›Die Sprecher-Verbrecher‹!« Ein anderer: »›Die Sprach-Blase‹? Oder ›Die Entsprachung‹? Oder vielleicht straight: ›Das Ende der Sprache‹?«
Nein. Das war alles nichts. Eine Cover-Geschichte musste eine echte These haben. Dass Sprache nicht beherrscht und dennoch missbraucht wurde, war einfach nichts Neues. Dass sie Missverständnisse erzeugte und Verwirrung stiftete, dass Politiker sich wanden und nichts sagen wollten und dabei stotterten, war altbekannt und das wollte niemand lesen. Man müsse, sagte ich, viel weiter gehen und nach vorne gerichtet zuspitzen, vielleicht so: »Sprache funktioniert nicht.«
Das klinge schon eher nach etwas. Das sei eine klare Mitteilung. Etwas völlig Neues. So etwas wolle man lesen. Das habe man noch nie gehört. »Die Sprache funktioniert nicht. Sie ist defekt.« Zu sagen, die Menschen würden lügen, sei langweilig. Aber neu sei: Nicht die Menschen sind schuld, sondern die Sprache. Das betreffe jeden einzelnen und entlaste ihn von der großen Beschuldigung. Toll. Dagegen wäre »Das Ende der Sprache« ein platter Slogan, den niemand ernst nehme.
Der stellvertretende Chefredakteur biss sich auf die Unterlippe. »Kann man das?«, fragte er, »kann man sagen, Sprache funktioniert nicht?«
»Sicher«, sagte ich. »Sie funktioniert jedenfalls sicher nicht so, wie man sich das als Laie vorstellt.«
»Wie stellt man sich das als Laie vor?«
»Na, dass der eine etwas ausspricht, dieser Inhalt sodann durch die Luft fliegt und zugestellt wird und der Empfänger diesen übermittelten Inhalt zur Verfügung hat.«
»Nein?«
»Nein, absolut nicht.«
Der stellvertretende Chefredakteur wollte die Diskussion abgeschlossen haben, ohne sich in jedes Detail zu vertiefen und sich dem Rest des Programmes zuwenden. »Also dann vielleicht doch«, sagte er, hielt kurz inne, und fuhr fort: »Titel: Der Sprachfehler. Untertitel: Das Kommunikationssystem, das den Menschen zum Menschen macht, funktioniert nicht. Geht das?«
Ich nickte.
Damit war eine große Titelgeschichte über die neue Sprachkrise beschlossen und meine kleine Wahlkampf-Story über analphabetische Spitzenkandidaten entfiel. Mein Magen fühlte sich lau an. Von der anderen Straßenseite blitzte reflektiertes Sonnenlicht vom Fenster des Führerhäuschens eines Baukranes, der sich gedreht hatte. Ich starrte auf die eisengraue Kunststoffplatte des Konferenztisches und hörte nicht mehr, worüber nun geredet wurde. Nach einiger Zeit erhob ich mich, nickte in die Runde und verließ die Besprechung. Wohl niemand dachte, auch ich nicht, dass ich nie wieder zurückkehren würde.
Ich ging zum Lift. Ich war mit etwas völlig anderem aus der Konferenz gekommen, als ich hineingegangen war. Ich hatte mich sprechen gehört und gestaunt. Als ich mich sagen hörte »die Sprache funktioniert nicht« war mir, als hätte sich die Raumakustik verbogen oder was weiß ich. Keine Ahnung. Meine nach vorne gerichtete These war durch bloßes Aussprechen lebendig geworden. In knallige Titel-Sprache verpackt, war ihr Inhalt in Kraft getreten.
Als die Lifttür aufschwang, blickte ich in das Gesicht einer bestens gelaunten Mitarbeiterin aus der Abo-Abteilung, die nach unten wollte, was ich nicht bemerkte. Ich stieg ein, quittierte ihr Strahlen mit einem Lächeln und lehnte mich gegen den großen Spiegel gegenüber der Tür, ohne mein Ziel-Stockwerk einzutippen. Dann ging es wie im freien Fall nach unten. Ich fuhr wieder hoch und ging in mein Zimmer.
Ich setzte mich an meinen Schreibtisch. Das halbe Büro lag wie nach Schneefall unter einer weißen, hügeligen Decke aus herausgerissenen Notizzetteln, Zettelteilen und geglätteten Papierfetzen und zeigte die weiß schimmernde Gelöschtheit einer Winterlandschaft, in der selbst die Stille noch etwas Gedämpftes hatte. Ich beugte mich über die Notizen, aber die Textstelle, auf die mein Blick fiel, war unleserlich. Ich wandte mich von ihr ab und einer anderen zu, fixierte eine dritte und dann noch eine. Nichts. Ich konnte meine eigene Schrift nicht lesen. Ich weitete meine Augen um zu prüfen, ob geweitete Augen am Ergebnis etwas änderten. Aber da waren nur abstrakte Muster, verbogene Haken, Schleifen und Kurven, sinnlos bekleckert mit abgerutschten Punkten, da und dort unterstrichen. Ein psychotisches Gekritzel, dessen einzige Systematik eine zeilenartige Anordnung war. Fremd wie ein archäologischer Fund starrte mich ein schriftähnliches Muster an und versperrte den Zugang zu meiner eigenen Erinnerung. Ich stand wie vor zugeknallten Türen. Meine eigenen Informationen waren zu einem Geheimnis geworden. Mein Wissen hatte sich in Unwissen verwandelt. In verschmutztes Unwissen, denn herkömmliches Unwissen war sauber wie ein leeres Blatt Papier, man wusste ja nicht, was man nicht wusste. In meinem Fall aber war es ein konkretes Unwissen, ein gewusstes Unwissen, ein verschuldetes Unwissen, ein strafbares Unwissen, das wie Sauerstoffmangel wirkte.
Ich betrachtete die Berge aus Altpapier, die ich mein Büro nannte. Die verbogenen Türme aus Akten, Ordnern, losen Papierpacken, noch original verpackten und längst verstaubten Sachbüchern, die Tassen mit den ausgetrockneten Kaffeeresten, den vor Jahren vertrockneten Gummibaum, den Teppich aus Notiz-Zetteln, die Kartons in der Ecke. Jetzt sah es nicht mehr nur aus wie eine Müllhalde, jetzt war es zu einer Müllhalde geworden. All das Geschriebene, das herumlag, ob lesbar oder nicht, war unecht und leer wie das totenbleiche Licht, das, obwohl es heller Tag war, aus den Neonröhren von der Decke starrte wie eine synthetische Behauptung von Licht. Und fast völlig lautlos war es auf einmal geworden, sodass ich meinte, das Knistern der elektronischen Geräte zu hören, die nach einem Stromausfall abkühlten und nun nach Strom und schwarzem Kunststoff stanken.
Ich schloss die Augen. Sie war kaputt. Unsere schöne Sprachmaschine warf schadhafte Produkte aus, die nicht nur wertlos waren, sondern auch hochgiftig. Man hatte immer schon gesehen, dass ihre Produkte seltsam unpassend waren und man drehte und wendete sie ratlos, als hätte man in der Anwendung etwas falsch gemacht, ohne dahinterzukommen, was. Aber es war nur ein diffuser Verdacht, und so lebte man mit diesen Ergebnissen und hielt das Falsche für richtig, weil man weder das Falsche noch das Richtige je gesehen hatte, sondern immer nur dachte, es zu sehen. Nie war jemand auf die Idee gekommen, die Maschine zu hinterfragen. Sie lief ja.
Die Sprache war defekt und das bedeutete Unermessliches. Die Geschichte der Menschheit war eine Geschichte der Missverständnisse. Sie war eine Geschichte des Suchens nach den richtigen Wörtern und den Konsequenzen dafür, sie nicht gefunden zu haben. Der Gesamtzustand der Welt war das Abbild einer gescheiterten Sprache, das Sittenbild einer an der Sprache gescheiterten Menschheit. Funktionierende Sprachkommunikation war pure Illusion.
Das war doch der Grund, warum auf der Welt ständig Dinge passierten, die niemand wollte, dachte ich. Wenn ein Friedensabkommen nicht hielt, was hielt da nicht? Doch nicht der Friedenswille, sondern das Abkommen. Und ein Abkommen war das Ergebnis eines Tauschhandels mit Wörtern. Was nicht hielt, waren natürlich verhandlungsstrategisch in Stellung gebrachte Wortkombinationen. Es war doch sonnenklar: Konflikte eskalierten, weil die richtigen Worte nicht gefunden wurden und keiner wusste, dass es die gesuchten Wörter gar nicht gab. Kriege brachen aus, nicht weil die Menschen so gerne Krieg führten, sondern weil die Sprach-Kommunikation nicht ausreichte, sie zu verhindern. Es ging hier nicht um österreichische Innenpolitik, sondern um den Zustand, in dem sich die Welt befand. Dieser Zustand war insgesamt das Ergebnis erfolgloser Kommunikation. Die Geschichte der Menschheit war eine Geschichte der sprechenden Fäuste, die in Aktion traten, wenn die Wörter ausgingen. Dieses Prinzip reichte von der Sandkiste über den Kaffeehaus-Tratsch bis zur Paar-Therapie und bis ins weltpolitische Gipfeltreffen. Dieses Prinzip war allgegenwärtig.
Keine von Menschen gemachte Aussage hatte jemals die Wirklichkeit abgebildet. Und das war nur das eine. Das andere war, dass auch nichts zutreffend sein konnte, was Menschen mit ihren Gedanken im Kopf machten, denn selbstverständlich bestanden auch Gedanken aus sprachlichen Begriffen. Was der Mensch dachte, konnte nur falsch sein. Er hatte alle seine Wahrnehmungen falsch verpackt, in eine Sprache gehüllt, die den Packungsinhalt nicht wiedergab. Er lebte in einer Scheinwelt, die von einer Scheinsprache projiziert wurde. Ok, dachte ich, na lustig: Die Welt, wie ich sie sehe, gibt es nicht. Sie ist ein Produkt der kollektiven Einbildung, wir würden uns verständigen. So war das. Vorausgesetzt, ich war nicht wahnsinnig geworden. Und das war ich nicht. Ich war nicht wahnsinniger als davor.
Als ich das Haus verließ, war die Konferenz noch nicht zu Ende, aber ich war schon in die Gegenrichtung unterwegs. Das war mir zu dem Zeitpunkt noch nicht bewusst, aber im Rückblick kommt mir vor, dass ich da mein Ziel bereits gepeilt hatte. Ich griff nach einem Notizblock und zwei oder drei Bleistiften mittlerer Härte, hielt inne, ließ beides wieder fallen, wollte mich zum Gehen abwenden, nahm das Schreibzeug dann doch an mich und ging. Richtung Anfang.
Auf der Straße bemerkte ich, dass es auch etwas wie Wetter gab. Es hatte geregnet und mittlerweile schon wieder aufgehört. Die Luft war warm und nass wie in den Tropen und es wurde langsam dunkel. Im Westen war die Wolkendecke aufgerissen, aber die untergehende Sonne hatte es zum Glück nicht mehr geschafft, noch einmal in die wohlige Regendüsternis zu leuchten und sie kaputtzumachen mit ihren letzten, dünnen Strahlen, die ohnehin schon zu schwach waren, den Tag noch einmal zurückzubringen. Jetzt begann es von Osten her erneut zuzuziehen. Fettiges, hochschwangeres Gewölk kroch heran und hielt knapp über der Stadt. Über den Kanten der Häuserschluchten stand eine vulgäre Decken-Freske aus schwarzen Bäuchen wie regloser Rauch. Die Mariahilfer Straße war wie ein in schwarzen Fels getriebener Stollen hinunter zur Zweierlinie, in dem es donnerte und hupte und rot vor Bremslichtern flackerte, als würde eine angelaufene Evakuierung nicht funktionieren. In der U-Bahn roch es nach feuchten Menschen und dem nassen Moder von Altkleidern. Am Stephansplatz lagen die Pflastersteine im Widerglanz bunter Leuchtreklamen und ein obdachloser Zeitungsverkäufer lächelte ermutigend. Die Dame in Louis Vuitton schleppte alleingelassen ihre Einkaufstaschen und warf tapfer ihre Mähne in den Nacken. Im Stravinsky war alles voll.
Im Stravinsky war immer alles voll. Es war einfach zu klein, um nicht voll zu sein. Schon nachmittags kehrte hier die tägliche Feierlichkeit ein und heizte die Kneipe auf Betriebstemperatur. Wer das Stravinsky betrat, der erschien wie auf einer Bühne. Er lächelte bescheiden nickend, als bedanke er sich für den Applaus. Die Luft war erfüllt mit gelassenem Lachen, verziert mit dem dünnen Klirren von Sektflöten und zerhackt von schwer aneinander gerammten Krügeln. Glühende Augen wanderten. Grauberger von der Innenpolitik des Wiener Boten lehnte an der Theke und war in die druckfrische Abendausgabe seiner Zeitung vertieft. Er las seine eigene Geschichte, die er wenige Stunden zuvor abgegeben hatte. An einer Textstelle lachte er schallend auf, nickte anerkennend und legte das Blatt zur Seite. Er bestellte ein neues Bier, dazu einen Schnaps, rauchte sich eine Zigarette an und lächelte nickend in sich hinein.
Ich ging manchmal ins Stravinsky, weil ich den Gestank dort mochte. Alle pafften eine nach der anderen und durch den stehenden grauen Nebel wanden sich blaue Rauchschwaden. Es roch sauer nach altem Bier und schaumig nach neuem. Zwischen Duftfäden aus Moschus oder sowas stank das Holz modrig nach Alter. Die Wandverkleidungen, die Sitzbänke, die Theke, die hinterspiegelten Regale, alles vor mehr als 100 Jahren wie aus einem Stück Holz geschnitzt und geschwärzt von den tausend Nächten und den tausend Geschichten.
Da entdeckte ich Paul. Er stand da, sein Schnauzer hing ihm zerfranst über die Unterlippe und wie eh und je schmunzelte er wissend, als wäre er nie weggewesen. Paul, das war alte Schule. Um Leute wie ihn zu treffen, kam ich manchmal hier her.
»Und?«, sagte er, »was schreibst?«
»Was weiß ich«, sagte ich abwehrend, »etwas über Sprache.«
Paul zog die Brauen hoch und wartete.
»Na schau«, sagte ich, »die Story lautet: Die Sprache ist an allem schuld. Nicht der Mensch ist böse, sondern die Sprache. Sie ist sehr, sehr böse. Sie macht alles kaputt, weil sie selbst kaputt ist.«
Paul schmunzelte: »Sprachkrise. Eh gut. Wann kommt das?«
»Ich habe erst angefangen. Ich muss einmal jemanden finden, der mir so etwas zumindest entfernt bestätigt, oder wenigstens ansatzweise nicht dementiert. Bisher habe ich nur bemerkt, dass Sprache ein endlos riesiges Gebiet ist. Seit Jahrtausenden sagen alle gescheiten und weniger gescheiten Menschen etwas über sie. Und sie alle umschreiben mit schönen, intelligenten, oder anderswie interessanten Sätzen, dass sie keine Ahnung haben, was Sprache überhaupt sein soll.«
Er nickte. »Ich bin froh, dass ich in Pension bin.«
Grauberger hob den Kopf und grinste. Der lange Kellner mit der Glatze und der sicherheitshalber vornübergebeugten Körperhaltung fischte den vollen Aschenbecher von der Theke und ließ den Inhalt mit der Fingerfertigkeit eines Trick-Magiers im Abfallkübel verschwinden.
»Aber wen willst du wirklich damit zitieren?«, fragte Paul, »du kannst ja nicht daherkommen und sagen, ich, liebe Leute, sage euch hiermit, eure Sprache hat einen Totalschaden. Die werden sagen, lieber Herr Reporter, vielleicht sind doch sie selbst es, der einen Totalschaden hat.«
»Weiß nicht«, sagte ich, »ausgegangen bin ich von einer harmlosen Geschichte über Wahlkampf-Sprache, weißt eh, qua, qua, über tiefenpsychologisch und manipulativ sein wollendes Spitzenkandidaten-Gestammel und so weiter. Aber wenn man auch nur ein bisschen genauer hinschaut, wird die Sache gleich höchst gescheit und dann drängen sich Fragen auf, die die Sprache selbst betreffen und alles, was da dranhängt und dahintersteckt. Und weißt du, was da dahintersteckt? Alles. Einfach alles.«
Da hob sich Pauls Zeigefinger wie ein Stoppsignal: »Moment. Ich kenne da jemanden über zwei Ecken, der vielleicht was für dich ist. Ein emeritierter Linguistik-Professor. Hans Reich. War sehr umtriebig. Hat in den USA und in der Ukraine gelehrt. Ich weiß nichts Genaueres. Jedenfalls hatte er Jahre lang Streit mit Kollegen auf der ganzen Welt, weil er der Meinung war, dass diese Vielzahl an Sprachen, die es gibt, aus einer einzigen Ursprache hervorgegangen ist, und der Mensch daher nicht an mehreren Orten unabhängig voneinander zu sprechen begonnen hat.«
»Das denken viele«, sagte ich.
»Ja, aber Reich sagt, dass die Sprachpioniere die Schrift vom Himmel abgelesen haben. Dabei ist er überhaupt kein Spinner.«
Das interessierte mich. »Der Mann durfte an Universitäten lehren?«
»Genau«, sagte Paul, »das ist der Streitpunkt. Er ist übrigens einer aus der Familie des Wilhelm Reich.«
»Aha? Wilhelm Reich himself?«
»Großneffe oder sowas.«
Grauberger schaltete sich ein. Wilhelm Reich sei einer der Helden seiner jungen Jahre gewesen. Er, Grauberger, habe ihn auf eine Stufe mit Leuten wie Gandhi und Nietzsche gestellt. Ein echter Regenmacher sei das gewesen. »Die Deutschen«, sagte er und sein Gesicht zuckte vorwurfsvoll nach oben, »die Deutschen wären besser Reich gefolgt. Aber Hitler hat ihnen besser gefallen. Kein Wunder. Hitler hat ihnen eingeredet, dass sie toll sind und überhaupt die besten. Reich aber hat die Wahrheit gesagt. Ein Aufdecker, der niedergemacht wurde, weil niemand seine Enthüllungen ertragen konnte.«
Er nahm einen Schluck vom Bier und zog ärgerlich an der Zigarette. »Reich hat gesagt, dass das deutsche Volk flächendeckend an einer Zwangsneurose leidet. Jede einzelne typisch deutsche Charaktereigenschaft ist ein Symptom der Zwangsneurose. Dieses als große Tugend besungene Kompanie-Verhalten der Deutschen ist ein Krankheitsbild.«
Die Österreicher seien auch nicht ganz frei von diesen Symptomen, warf Paul ein.
Grauberger nickte, zog an der Zigarette und hob den Zeigefinger, während er den Rauch ausstieß, um einstweilen keine Wortmeldungen zuzulassen. »Und Freud!«, schnappte er, »dieser narzisstische, schwanzgesteuerte Traumtänzer hat Reich als kommunistischen Auftragsforscher verunglimpft und umbringen wollen, wissenschaftlich zumindest, aus purer, blinder, primitiver Eifersucht, weil Reich zu viel erkannt hatte und es wagte, Freuds Unsinn vom natürlichen Todestrieb des Menschen zu widersprechen.« Grauberger redete sich in eine Aufgebrachtheit, die er mit gierigen Zigarettenzügen stabilisierte.
Paul wendete sich mir zu: »Ich schicke dir seine Nummer, weiß aber nicht, wo er sich aufhält.«
Am winzigen Tisch in der hinteren Ecke saßen drei parlamentarische Mitarbeiter sozialdemokratischer Abgeordneter und der Sprecher des Sozialministers unter vergilbten Plakaten und in zu engen italienischen Anzügen. Der Pressesprecher, Mayer, hatte das roteste und am stärksten aufgequollene Gesicht der Runde. Offenbar war er den ganzen Tag nicht zum Essen gekommen, stürzte sich jetzt gierig auf den Teller mit Frischkäse, Tomaten und Basilikum, den ihm der lange Kellner mit einem kunstvollen Schwung vorgesetzt hatte. Mayer überschüttete das Gericht mit viel zu viel von dem dunkelroten Weinessig und viel zu wenig Olivenöl und keuchte beim ersten Bissen wie ein geschocktes Waldtier. Dann entdeckte er mich, hob abwehrend die Hand und kündigte an, die versprochenen Unterlagen zu irgendeiner Geschichte »umgehend« zu übermitteln: »Kann ich dich morgen anrufen?«
»Sicher, immer, hungriger Mensch«, sagte ich, »aber iss langsamer. Sonst sage ich es den SPÖ-Frauen.«
Mayer nickte schräg und deutete ein müdes Lächeln an. Er war stets bemüht, den Schreiberlingen alles rechtzumachen, auch wenn sie noch so viel Mist schrieben. Er signalisierte Unterwürfigkeit vor allen Medien, das war sein berufliches Versprechen und seine Grundstellung. Ich hatte mein Mineralwasser noch nicht angerührt, stürzte es jetzt in einem Zug hinunter, umarmte Paul, boxte Grauberger sanft in den Bauch, zeigte Mayer den erhobenen Daumen und verließ das Stravinsky.
Es hatte nicht mehr zu regnen begonnen. Die Stadt war still geworden und meine Schritte klopften auf den Pflastersteinen. Die Stimmung, die sich nach der Redaktionssitzung breitgemacht hatte, war vom Lärm im Stravinsky verdrängt worden und tauchte jetzt wieder auf. Ich spazierte über den Stephansplatz, bog hinunter in die Rotenturmstraße, vorbei am verlassenen Standplatz der Pferdefuhrwerke, von denen nur der scharfe Geruch nach Dung und Urin zurückgeblieben war. Ich mochte diesen Duft. Er hatte nichts Abstoßendes für mich. Man sollte ein Parfüm mit einer Note »Pferd« machen, dachte ich. Eines dieser intelligenten Parfüms, die nicht einfach nur nach etwas rochen, sondern subtile Duftbilder öffneten, die sich veränderten wie die Jahreszeiten, je länger sie auf der Haut waren und deren flüchtige Noten von keiner Nase begriffen werden konnten. Pferdedung, Whisky, Weihrauch vielleicht. Vielleicht auch Zimt und etwas Lemoniges. Nein, Zimt ist zu süß, vielleicht eher Sandel oder Elefantengras dachte ich, aber Elefantengras ist ja auch süß, also keine Ahnung, ich wusste ja nicht, welchen Gesetzen die Alchemie der Düfte folgte. Von allen Bestandteilen musste man jedenfalls so wenig verwenden, dass man sie nicht direkt erkannte und sie gemeinsam in einem völlig neuen Duft aufgingen, der diffus und ungreifbar an Verschiedenes erinnerte, man aber nichts davon nennen konnte.
Ich bog in die Bäckerstraße. Ein zitronengelber Lamborghini, der gegen die Fahrtrichtung unterwegs war, wurde heruntergebremst und fauchte aggressiv. Seine nass-roten Bremslichter stachen wie zwei Lichtschwerter schräg in die alte Gasse. Dann erloschen sie wieder und die Bäckerstraße sank zurück in ihre mittelalterliche Dunkelheit.
»Der Sprachfehler. Das Kommunikationssystem, das den Menschen zum Menschen macht, funktioniert nicht.«
Ok. Ist ja ok, sagte ich mir, ruhig Blut. Man kann ja jederzeit dazulernen. Man kann etwas Neues entdecken und dann ändern sich halt die Sachverhalte. Das ist Entwicklung. Jeden Tag werden neue Dinge entdeckt, die alte Denk-Gebäude zusammenfallen lassen. Ein Knochenfund, und schon muss die Geschichte umgeschrieben werden. Aber dann wird sie eben umgeschrieben und es geht weiter. Doch wenn die Sprache nicht das ist, was man dachte, dass sie ist, geht nichts mehr weiter. Dann ist nicht nur ein Knochen falsch, sondern alles. Absolut alles müsste umgeschrieben werden. Aber diesmal kann nichts umgeschrieben werden. Mit welcher Sprache denn?
Ich weiß nicht mehr, wie die Zeit an diesem Abend so schnell vergehen konnte. Es war schon lange nach Mitternacht, als ich in der Bäckerstraße stand und mich umdrehte. Der Lamborghini lauerte an der Ecke. Er röchelte unter dem Würgegriff seiner Bremsen und harrte der Entscheidung, in welche Richtung er nun hechten sollte. Die beiden Insassen schienen sich zu streiten. Er, der am Steuer saß, schüttelte heftig dementierend den Kopf. Sie, am Beifahrersitz, schnappte bekräftigend nach ihm und ihr Gesicht zuckte immer wieder in seine Richtung, als würde sie ihn anbellen. In den östlichen Himmel schlich das erste Violett und wie eine Wettererscheinung zog eine riesenhafte schwarze Wolke russischer Saatkrähen von Westen her lärmend über die Stadt auf dem Weg in den Prater, wo sie wie Früchte schwer in den Baumkronen hängen wollten.
Ich hatte Lust einzuschlafen und einige Tage vorher wieder aufzuwachen, damit sich alles als Traum herausstellen konnte. Ich musste lachen. Ich musste angreifen. Ich musste so tun, als sei alles nur eine Zeitungsgeschichte. Ich musste einfach nur einmal angreifen und dann weitersehen. Also griff ich an: Wo also lag der Fehler? Was genau funktionierte nicht? Was war das überhaupt: Sprache. Gab es Menschen der Sprache, die über ihr zentrales Informationsübermittlungssystem sagten, es funktioniere nicht? Linguisten? Denker? Dichter? Bauern? Räuber? Geisteskranke? Egal, ich würde sie finden.
Wo die Recherche langgehen musste, war klar, es gab ohnehin nur eine einzige Vorgangsweise: Hinfahren und nachschauen. Es gab keine Alternative zur Reporter-Absoluten des Hinfahrens und Nachschauens. Reportagen waren im Homeoffice nicht machbar. Nichts auf der Welt war so, wie es sich vom Schreibtisch aus gesehen darstellte. Alles änderte sich radikal, wenn man hinfuhr und nachschaute.
Ich wusste, was ich zu tun hatte. Es war mir nie unklar. Ich musste mich auf die klassische Suche nach dem verlorenen Schlüssel machen. Ich musste den Weg zurückgehen, den mein Untersuchungsgegenstand durch seine Geschichte genommen hatte, den Blick dabei immer konzentriert am Wegrand, und wenn da kein Schlüssel zu entdecken sein würde, würde mich mein Weg eben ganz zurück bis an seinen Anfang führen.
Ich ging davon aus, dass das Hirnprogramm »Sprache« nicht als Missgeburt auf die Welt gekommen war, denn das machte nun wirklich keinen Sinn. Das Menschengehirn war doch nicht eine Million