Eine Biographie von Richard und Isabel Burton
Übersetzt aus dem Englischen
von Alfred Goubran
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel „A Rage to Live. A biography of Richard & Isabel Burton“, bei W. W. Norton & Company, London/New York 1998. Übersetzung aus dem Englischen von Alfred Goubran.
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1. Auflage 2020
© 2020 by Braumüller GmbH
Servitengasse 5, A-1090 Wien
www.braumueller.at
Coverfoto: © Archiv Mary S. Lovell
ISBN 978-3-99200-277-1
eISBN 978-3-99200-278-8
Dieses Buch ist mit großem Dank
Quentin Keynes
gewidmet, der von Richard Burtons Lebensgeschichte immer fasziniert gewesen ist. Obwohl ihm 24 Stunden am Tag kaum reichen, um seinen eigenen Interessen nachzugehen, hat er mir stets uneingeschränkt seine Hilfe und Ermunterung zukommen lassen.
EINFÜHRUNG
1 EINE ZIGEUNER-KINDHEIT 1821–1840
2 VOM STUDENTEN ZUM GRIFFIN 1840–1842
3 DER SUBALTERNE 1843–1845
4 MIRZA ABDULLAH 1845–1846
5 NACHSOMMER 1846–1849
6 FRÄULEIN ARUNDELL 1831–1852
7 FLIRTS 1849–1853
8 DER PILGER 1853
9 TRÄUME VON AFRIKA 1853–1854
10 KATASTROPHE IM HORN VON AFRIKA 1854–1855
11 MIT BEATSON’S HORSE AUF DER KRIM 1855–1856
12 GEHEIME VERLOBUNG 1856
13 DER DUFT VON NELKEN 1856–1857
14 DIE LANGE SAFARI 1856–1857
15 DIE REGION DER GROSSEN SEEN 1857–1858
16 DER VERRAT SOMMER 1859
17 WENDEPUNKT 1859–1869
18 DER PRÄRIE-REISENDE 1860
19 HEIRAT 1861
20 KONSUL IN WESTAFRIKA 1861–1863
21 FLITTERWOCHEN AUF DER INSEL 1863–1864
22 DIE QUELLE DES NIL 1861–1864
23 DAS DUELL SEPTEMBER 1864
24 ZWISCHENSPIEL IN SÜDAMERIKA 1865–1868
25 WIEDER ZU HAUSE 1868–1869
26 DAMASKUS 1869–1870
27 SÜSSE UNRUH 1870–1871
28 ZAHL, PACK UND FOLGE! 1871–1873
29 TRIEST – DIE FRÜHEN JAHRE 1873–1875
30 EIN BEZAUBERNDER TAG UND NIEMAND STARB 1876–1879
31 DIE SCHATTEN WERDEN LÄNGER 1879–1880
32 ARABISCHE NÄCHTE 1881–1883
33 KAMA SHASTRA – PARADIGMEN DER LEIDENSCHAFT 1883–1886
34 LASS DEN WINTER KOMMEN 1887–1890
35 HANDLUNGEN UND REAKTIONEN 1890–1891
36 „HERMAPHRODITE“ UND DIE PORNOGRAPHEN 1891–1894
37 DAS LETZTE LÄUTEN DER KAMEL-GLOCKE 1894–1896
EPILOG 1896 u.ff.
ANHANG
Anhang 1 Der Burton-Nachlass
Anhang 2 Past Loves
Anhang 3 Zeittafel
Anhang 4 Bibliographie
Danksagung
Nachbemerkung
Biographien
Hinweis der Autorin
Burton gebrauchte oft veraltete Worte, er erfand Wörter (z. B. „unfriends“) und schrieb fremde Ortsnamen und Ausdrücke phonetisch auf, jedoch ist die Schreibweise inkonsistent. Darunter leiden auch die Vornamen der Gefährten: Jemand, der Huseyn heißt, wird in einem einzigen Buch etwa Hoseyn, Hosayn, Husayn und Huseyn geschrieben. Selbst bei seinen Buchtiteln gibt es Variationen: Zum Beispiel schrieb er Sind einmal als Sindh, Scinde und Scindh. Ortsnamen in Afrika erfuhren eine ähnliche Behandlung. Als allgemeine Regel habe ich in diesem Buch die heutigen Schreibweisen im Fließtext benutzt, aber die originalen Schreibweisen in den zitierten Auszügen beibehalten.
Hinweis des Übersetzers
Mary S. Lovells Buch richtet sich sowohl an Burton-Spezialisten und -Gelehrte wie auch an ein breiteres Lesepublikum. Die deutschsprachige Ausgabe muss Ersteres nicht leisten, da sich Burton-Spezialisten in der Regel an die Originalausgabe halten werden. Die unterschiedliche Schreibweise Burtons von Eigennamen wurde in den Zitaten beibehalten, Orts- und Ländernamen jedoch, wo dies möglich war, in der aktuellen deutschsprachigen Schreibweise wiedergegeben; Ausnahmen bilden historische Bezeichnungen – wie etwa der Staat Sindh im heutigen Pakistan –, die auch im Deutschen gängig sind. Die Übersetzung der Gedichte ist „frei“, so weit es das Reimschema betrifft. Bei den Fußnoten wurden, um die Lesbarkeit zu erleichtern, einerseits jene weggelassen, die nur für die wissenschaftliche Forschung von Belang sind – exakte Zuordnung von Zitaten, Quellenangaben etc. –, andererseits Fußnoten eingefügt, die dem besseren Verständnis des Textes dienen. Zusätzliche Erläuterungen im Text sind in eckige Klammern gesetzt [ ], die Einschübe in runden Klammern () stammen von der Autorin.
Er war einer jener Menschen, in denen die Natur über alle Stränge schlägt; sie stattet ihn nicht mit einem oder zwei, sondern mit zwanzig unterschiedlichen Talenten aus, alle weit über dem Durchschnitt, und hält dann ausgerechnet die eine Zutat zurück, die diese Talente vielleicht zur Perfektion gebracht hätte – ein Gefühl für Balance und Richtung …
Burton unternahm nie eine Expedition, um nur ein Ziel zu erreichen; er war stets auch unterwegs, um sich selbst in neuen Umgebungen zu erforschen. Deshalb sind seine Bücher größer als seine Reisen, und deshalb ist der Mann größer als seine Karriere. Das Mysterium von Zentralafrika erlosch, als das Land erforscht wurde, doch Burton lebt fort als ein faszinierendes und provozierendes Enigma.
Alan Moorehead
Ich kann Frau Burton jetzt vor mir sehen, eine stilvoll gekleidete Frau – meine kindliche Vorstellung von einer Prinzessin – redend, redend, redend … sie war von mittlerer Größe, dunkelhaarig, hatte einen hellen Teint und ihr Verhalten war sehr lebhaft … ihre Beredsamkeit schien sich nie zu erschöpfen … ausdrucksvoll bewegte sie ihre Hand und ihre Augen blitzten.
Laura Friswell
Nach Richard Burtons Tod vernichtete seine Witwe Isabel alle seine unveröffentlichten Manuskripte, Tagebücher und Schriften in einem großen Feuer, das tagelang brannte …
Das ist zumindest die Schilderung der Ereignisse, wie sie gemeinhin erzählt und geglaubt wird und die Isabel Burtons Bild für die Nachwelt geprägt hat; und jene knapp zwanzig Biographien, die in dem Jahrhundert nach Richards und Isabels Ableben geschrieben wurden, haben den Vorwurf dieses literarischen Vandalismus nur bekräftigt. Doch schon der Umstand, dass eine Vielzahl privater und institutioneller Sammlungen in der ganzen Welt große Teile von Burtons Schriften beinhalten (viele, die in diesem Buch Verwendung fanden, wurden vorher nie publiziert oder ausgewertet), beweist, dass dieses Autodafé weder so umfassend noch die unüberlegte Handlung gewesen sein konnte, deren Isabel Burton so oft beschuldigt worden ist. Im Gegenteil: Die erhaltenen Burton-Schriften – mögen sie auch verstreut sein – stellen wahrscheinlich eine der umfangreichsten Sammlungen von Schriften eines Einzelnen dar, die uns aus jener Ära der Tagebuchverbrenner überliefert ist.
Diese überwältigende Fülle an erhaltenem Material verursachte beim Schreiben dieser Biographie das größte Einzelproblem, nämlich zu entscheiden, was davon veröffentlicht werden sollte, damit einerseits Burton-Forscher und -Sammler (die es in erstaunlicher Anzahl gibt) über die neuesten Funde informiert werden und andererseits der Leser, dem Burtons Geschichte neu ist, durch übermäßige Verdichtung bereits bekannter Fakten nicht zu kurz kommt. Auf allzu bekannte Anekdoten, die schon in früheren Biographien enthalten waren, musste verzichtet werden, um Platz für wichtigeres, neues Material zu schaffen. Die Erstfassung des Buchmanuskriptes bestand aus über 1000 Seiten und 280.000 Wörtern. Obwohl ich bereits für diese Erstfassung mehr als ein Drittel meiner Recherchen über Bord geworfen hatte, waren weitere Kürzungen notwendig.
Als ich 1992 für die Biographie von Jane Digby zu recherchieren begann (jene viktorianische Aristokratin, die Matriarchin eines Beduinenstammes wurde), war mir die offizielle Version von der Vernichtung der Burton-Papiere nur vage bekannt. Die Burtons waren während ihrer Zeit in Damaskus enge Freunde von Jane gewesen, und wie stets bei meinen biographischen Recherchen bestand meine erste Aufgabe darin, Schriftstücke und Tagebücher von Zeitgenossen meiner Protagonistin ausfindig zu machen. Dies führte mich in das Wiltshire Record Office in Trowbridge, wo, wie ich herausgefunden hatte, der Nachlass der Arundells aufbewahrt ist. Ich wusste, dass Isabel ein Mitglied der Arundell-Familie von Wardour Castle in Wiltshire war, und hoffte, unter den erhaltenen Papieren ihrer Verwandten einige Hinweise zu finden; Briefe von ihr, vielleicht aus Damaskus. Ich war angenehm überrascht, als ich von dem Archivar, Herrn Stephen Hobbs, davon unterrichtet wurde, dass sich „sieben Kisten unbestimmten Inhalts, die Isabel Burton gehörten“ im Besitz des Record Office befanden, und machte mich sogleich mit großem Eifer daran, sie auszupacken.
Obgleich sich wenig über Jane Digby in diesen Kisten fand, enthielten sie eine große Menge an faszinierendem Burton-Material: Briefe, Notizen, Familienfotoalben, Manuskripte, Tagebücher und Alben mit Zeitungsausschnitten – ich realisierte sofort, dass kaum etwas davon in die zwei neuesten Biographien, die ich über die Burtons gelesen hatte, Eingang gefunden hatte. Meine erste Vermutung war, dass die betreffenden Biographen die Trowbridge-Sammlung nicht ausfindig gemacht hatten, doch stellte sich nach weiteren Recherchen heraus, dass bisher kein Biograph Zugang zu diesem Material gehabt hatte. Es war bei Autoren und Forschern, die zu Burton publiziert hatten, völlig unbekannt und doch so bedeutend, dass es die Basis für eine neue Biographie bilden konnte. Meine Verleger teilten diese Ansicht. Und als es endlich so weit war, dass ich mich voll und ganz der Arbeit an dem Burton-Buch widmen konnte, legte ich mir, wie es meine Gewohnheit ist, zunächst einen Schlachtplan zurecht. Auch wenn es sich kein Biograph leisten kann, die vorhandene Bibliographie zu ignorieren, war ich doch entschlossen, dass meine Arbeit mehr als ein weiterer Aufguss früherer Biographien werden sollte. Lieber würde ich alle existierenden Originale, Schriften und Dokumente, die von den Burtons und ihrem Bekanntenkreis noch auffindbar waren, prüfen – wenn möglich fotokopieren – und diese als Arbeitsgrundlage nehmen; ich würde alle bekannten Sammlungen, die Burton-Material enthielten, lesen und bislang Unbekanntes aufspüren. Wenn ich auch nicht an die Orte reisen konnte, an denen Richard Burton in Indien, Pakistan und Südamerika gelebt hatte, war es mir doch möglich, all die anderen Plätze zu besuchen, die mit der Lebensgeschichte dieses außergewöhnlichen Paares in Zusammenhang standen und die mir vertraut waren: Ostafrika, Syrien, der Nahe und Mittlere Osten, die Vereinigten Staaten und zahlreiche europäische Städte, inklusive Triest, wo die Burtons bis zu Richards Tod im Jahre 1890 gelebt hatten.
Bei meinen Nachforschungen entdeckte ich zahlreiche neue Primärdokumente, die viele – nicht alle – der Fragen beantworten, die Burton-Gelehrte bislang ratlos gemacht haben. In Unkenntnis der Trowbridge-Papiere behaupteten frühere Biographen zum Beispiel (und nur einer hatte begrenzten Zugang zu den Schätzen der Quentin-Keynes-Sammlung, zu der mir uneingeschränkter Zugriff gewährt wurde), dass Burtons Ehe ein Desaster gewesen sei. Tatsächlich, wie wir später sehen werden, war sie ein beiderseitiges Vergnügen, und Richard Burton hat ihr viel zu verdanken. Ich fand zusätzliche, bisher unbekannte Depots mit Briefen und Unterlagen, etwa jene in den faszinierenden Archiven von Sansibar, die, wie die oben erwähnten, noch nie von Burton-Forschern gesichtet worden waren.
Lässt man diese neuen Funde unberücksichtigt, stellen die letzten zwei großen Biographien über Richard Burton erstklassige Studien dar. Fawn Brodies brillante und scharfsinnige Synopsis von Burtons Arbeit an Tausend und eine Nacht kann schwer übertroffen werden. Frank McLynns Analyse über Burtons akademische Meisterschaft ist die eines Gelehrten, der über einen anderen schreibt.1 Doch aus Mangel an historischen Beweisen verließen sich beide Autoren allzu ausgiebig auf die post-freudianische Psychoanalyse, um über Burtons Motive zu spekulieren, sein allgemeines Verhalten und seine Beziehung mit Isabel zu interpretieren. Obwohl ich in keiner Weise eines dieser beiden exzellenten Bücher abwerten möchte, muss ich sagen, dass mir bei dieser Methodik äußerst unbehaglich zumute war, zumal wenn sie ohne unterstützende historische Beweise dazu benützt wird, eine persönliche Theorie zu untermauern, grundlegende Charaktereigenschaften Burtons begründet und, im Besonderen, auf seine sexuellen Vorlieben schließt. Das bedeutet: Jene, die die Fragen stellen, liefern auch gleich die Antworten – ein Jahrhundert nach dem Tod der betreffenden Person durch Auswahl höchst selektiver Zitate, die oft aus den fiktionalen Schriften der betreffenden Person stammen, und, zumindest in einem wichtigen Fall, durch Verwendung falscher Daten (siehe S. 423–426).
Auf diesem Weg kamen beide Autoren zu dem Schluss, dass Burton entweder ein Krypto-Homosexueller oder bisexuell gewesen ist. Teil der Begründung, die beide verwendeten, war der Umstand, dass Burton gern junge Männer um sich scharte wie John Hanning Speke, Charles Tyrwhitt Drake, Vincent Lovett Cameron und Forster Fitzgerald Arbuthnot. Doch wird dabei vollkommen ignoriert, dass einige seiner engsten, lebenslangen Freunde – Richard Monckton Milnes, Henry Murray, Walter Scott und George Bird, um nur einige zu nennen – um viele Jahre älter als er gewesen sind und dass er ebenso mit Gleichaltrigen wie John Steinhaueser und Alfred B. Richards befreundet war. Kurz: Burton machte sich leicht Freunde, quer durch die Generationen und beiderlei Geschlechts. Es ist definitiv unwahr, zu behaupten, wie es ein Biograph getan hat, Burton sei ein Weiberhasser gewesen, der keine Frauen als Freunde gehabt hätte.
Ich bin keine ausgebildete Psychologin und lehne Psychologie als biographisches Hilfsmittel nicht automatisch ab (obwohl ich gestehen muss, dass ich Beklemmungsgefühle bekomme, wenn ich in einer Biographie Sätze wie „Er war von sexueller Schuld gequält.“ lesen muss). Aber die Psychoanalyse ist keine exakte Wissenschaft, auch wenn die betreffende Person noch am Leben ist und selbst in der Lage, Fragen zu beantworten. Der Vorwurf der Homosexualität hat in unserer Zeit nicht mehr die Macht zu schockieren. Die Gesellschaft hat es in den hundert Jahren, die seit der Verfolgung Oscar Wildes vergangen sind,2 zwar gelernt, Toleranz zu üben, doch scheint es in dem gegenwärtigen Klima für den Protagonisten einer Biographie nicht mehr zu genügen, einfach nur außergewöhnlich zu sein. Es herrscht ein verstörender Trend vor, dem Betreffenden irgendeinen psychiatrischen Defekt, der gerade in Mode ist, zu unterstellen, um die Leserschaft zu vergrößern. Meine Recherchen haben eine Vielzahl an zuvor unveröffentlichten Materialien zutage gefördert, die unzweifelhaft belegen, dass Burton heterosexuell war und vor seiner erfolgreichen Ehe einige heterosexuelle Affären hatte; dass er eine Reihe enger platonischer Freundschaften mit Frauen pflegte, wie etwa der Romanschriftstellerin Ouida und Lallah Bird (ein Mitglied in den Kreisen der Bohème), mit beiden unterhielt er von seiner Jugend bis zu seinem Tod eine lebhafte und liebevolle Korrespondenz; und dass er Isabel in einem romantischen Sinn liebte.
Burton war ein Fragender, ein Universalgelehrter, der mit intellektueller Neugier fächerübergreifend nach Antworten suchte; deshalb schließe ich bei ihm sexuelle Experimente nicht aus. Zeit seines Lebens, und auch noch als er (wie ich vermute) in seinen mittleren Jahren impotent wurde, betrachtete er alle Aspekte des Sexuellen – sexuelles Verhalten, sexuelle Liebe, sexuelle Genüsse und Vorlieben – als einen wichtigen Bereich des anthropologischen Studiums. Und wie die alten Griechen, die er las und oft zitierte, mit Vorliebe Ovid, empfand er keine Scham wegen seines Interesses, das er als Urinstinkt im Menschen anerkannte. Ich bin mir jedoch absolut sicher, dass es keinen historischen Beweis gibt, der die Theorie, Burton sei homosexuell gewesen, stützt. Die Last des Beweises ist aufseiten jener, die das Gegenteil behaupten. Es genügt nicht, die wenigen Kapitel, die er über homosexuelle Praktiken geschrieben hat, als schlüssige Beweise anzuführen, wenn sich das Gros seiner erotischen Schriften mit heterosexuellen Aktivitäten befasst und er sich zudem in seiner privaten Korrespondenz bei mehreren Gelegenheiten auf Homosexualität als Perversion bezogen hat.
Meine Vermutung ist, nach vier Jahren Arbeit, drei davon ausschließlich der Recherche gewidmet, dass Richard als junger, ungebundener Offizier von dem „unanständigen“ pornographischen Element der Erotika, auf die er in Indien und Arabien stieß, anfangs amüsiert und normal angeregt war. Die autoritative Gelehrsamkeit in seinen fachkundigen und heute berühmten Übersetzungen des Kama Sutra, Der parfümierte Garten und Die Arabischen Nächte verrät jedoch ein weit komplexeres Interesse an der Materie als das eines Mannes, der sich kichernd mit seinen Kumpels an einem Stück verbotener Literatur ergötzt.
Richard Burton war ein Mann mit vielen Facetten, der die ungleichen Qualitäten eines waghalsigen Abenteurers und Gelehrten in sich vereinte. Beinahe ein Genie, erreichte er nie das Ziel, das seines gewesen sein hätte können, weil er nie gelernt hatte, seinen enormen Intellekt zu disziplinieren, der es ihm ermöglichte – um nur ein Beispiel zu nennen –, 29 Sprachen zu lernen und ein Dutzend zusätzlicher Dialekte, viele davon fließend, sodass er Einheimische glauben machen konnte, er sei in ihrem Land geboren. Er hatte die Liebe eines Lehrers, sein Wissen weiterzugeben, und seine Bücher sind ein Füllhorn an Informationen, auch wenn sie nicht leicht zu lesen sind. Doch macht sie Burtons natürliche Neugier zu reichhaltigen Fundgruben des Wissens auf den unterschiedlichsten Gebieten. Er brach das Studium an der Oxford University nach knapp einem Jahr ab und eignete sich danach sein Wissen im Selbststudium an. Dennoch bezeugen seine Schriften und Bücher seine Fähigkeit, über die entlegensten Themen und Gebiete auf höchstem Niveau zu debattieren, selbst mit Menschen, die ihr Leben einem Spezialstudium gewidmet hatten. Einmal beendete er einen Brief an Gerald Massey, einem angesehenen Shakespeare-Spezialisten, in dem er über das unerschöpfliche Talent des Autors schrieb, mit dem Satz: „Jeder Mensch macht sich seinen eigenen Shakespeare.“
Nach demselben Maßstab macht sich auch jeder Biograph seinen eigenen Burton, durch seine individuelle Wahrnehmung der Fülle an Material, das zu gehaltvoll ist, um zur Gänze genutzt zu werden. Es gibt genügend Informationen über Burton in seinen eigenen Werken, privaten Schriften und den Publikationen und Texten anderer Schriftsteller, um ein Dutzend der Kapitel in diesem Buch zu selbstständigen Büchern auszuarbeiten. Und Burton packte so viel Leben in seine – beinahe – sieben Lebensjahrzehnte, dass jedes von ihnen potentiell eine oder zwei Veröffentlichungen verdient hätte.
Aber selbst ein Leben, das so reich an Erlebnissen und Abenteuern war, scheint nicht zu genügen, um bleibende Berühmtheit zu garantieren. Ein junger Verwandter von mir wurde unlängst dabei gehört, wie er einem Freund erzählte, dass ich „ein Buch über Richard Burton“ schreibe.
„Aber“, fügte er entschuldigend hinzu, „es ist nicht der berühmte.“3
1Brodie, Fawn: The Devil Drives (Eyre & Spottiswoode, 1967) und McLynn, Frank: Snow Upon the Desert (Murray, 1993).
2Wegen homosexueller „Unzucht“ (gross indecency) wurde Oscar Wilde zu zwei Jahren Zuchthaus mit harter Zwangsarbeit verurteilt. Der Gefängnisaufenthalt ruinierte seine Gesundheit. Nach seiner Entlassung lebte er verarmt in Paris, wo er im Alter von 46 Jahren starb. Anm. d. Übers.
3Man kommt nicht umhin, anzumerken, dass auch der Bekanntheitsgrad des berühmten Richard Burton (ein britischer Schauspieler 1925–1984) seit Erscheinen der Erstausgabe dieses Buches (1998) deutlich abgenommen hat. Anm. d. Übers.
Richard Burton eröffnet seine Autobiographie mit den Worten: „Autobiographen beginnen gewöhnlich zu spät. Respektable, ältere Gentlemen setzen sich hin, um ihre Erinnerungen zu Papier zu bringen, und beschreiben mit liebevoller Genauigkeit ihre Säuglingsjahre, die Kindheit und die Knabenzeit und legen die Feder aus der Hand, ehe sie noch bei der Adoleszenz angelangt sind …“1 Glücklicherweise hat Burton seine Feder nicht aus der Hand gelegt. Da viele seiner frühen Schriften in einem Lagerhausbrand vernichtet wurden, ist er für das meiste, das uns über seine ersten Lebensjahre bekannt ist, die einzige Autorität. Auch wenn sich einige der wesentlichsten Fakten durch sorgfältige Recherche bestätigen lassen, müssen wir ihn für die farbenprächtigeren Anekdoten (manchmal cum salo granis) beim Wort nehmen.
Burton begann seine Autobiographie, deren Anfänge er 1876 auf dem Weg nach Indien seiner Frau diktierte,2 mit einem erstaunlichen Fehler. Er gab an, dass sein Geburtsort das Haus seiner Großeltern gewesen sei, Barham House, Barham Wood, nahe Elstree in Hertfordshire. Tatsächlich aber ist er am 19. März 1821 um halb zehn Uhr abends in Torquay, in der Grafschaft Devon, zur Welt gekommen. Man könnte nun vermuten, dass er selbst nicht wusste, dass er dort geboren wurde, wäre da nicht der Umstand, dass er in seinem Aufnahmeantrag für das Trinity College, Oxford, im Alter von 19 Jahren, seinen Geburtsort als „Torquay“ angab. Er war das erste Kind von Captain Joseph Netterville Burton und dessen Frau Martha. Zum Zeitpunkt der Taufe, sechs Monate nach der Geburt, war die junge Familie bereits nach Barham House umgezogen, um bei den Eltern seiner Mutter, Richard und Sarah Baker, zu leben. Auf Verlangen der Eltern machte der amtierende Geistliche neben dem Taufeintrag einen Vermerk über Richards Geburt und Geburtsort.
Die Kräfte des Schicksals waren im Leben des Kindes schon früh am Werk, denn es scheint, dass ein Streit zwischen dem König und der Königin von England letztlich, zumindest teilweise, für das Wanderleben verantwortlich war, das Richards Eltern sich später aneigneten und das wohl die Ursache für die lebenslange Rastlosigkeit ihres Sohnes war.
Captain Joseph Burton stammte mütterlicherseits aus Irland. Er wird als sehr gutaussehend, mit hohem „römischen“ Profil, dunklem Teint, schwarzen Augen und durchdringendem Blick beschrieben. Er war der dritte Sohn von zwölf Kindern eines protestantischen Geistlichen, der von Westmorland im Norden Englands nach Irland ausgewandert war und seine Pflichten als Geistlicher mit denen eines Gutsherrn in Tuam, in der Grafschaft Galway, verband. Von Josephs Mutter, auch das Kind eines Geistlichen, hieß es, dass sie die Urenkelin von König Louis XIV. und seiner Geliebten, der Gräfin von Montmorency, sei und die „unverkennbaren bourbonischen Charaktereigenschaften“ geerbt hätte. Das Leben in Irland war nicht teuer, und die Familie lebte in komfortablen Umständen, dennoch war Joseph – wie seine Brüder – dazu angehalten, sich seinen Lebensunterhalt selbst zu verdienen. „Vornehm geboren“ gab es nur zwei akzeptable Optionen, die ihm offenstanden: ein Offizierspatent in der Armee zu erwerben, was teuer sein konnte, oder seinem Vater in die Kirche zu folgen.
Sein Dilemma löste sich relativ einfach, als die Armee König Georgs III. bei Rekrutierungen in Irland freie Offizierspatente für Gentlemen feilbot, so sie eine Anzahl Männer aufboten, die bereit waren, in den Sold des Königs zu treten. Der siebzehnjährige Joseph trieb ein paar Dutzend Jugendliche vom Gut seines Vaters zusammen, die froh waren, den jungen Herrn, schon um des bloßen Abenteuers willen, zu begleiten. Es dauerte jedoch nicht lang, bis der Reiz des Abenteuers verflogen war und die jungen Männer von Tuam in die Heimat zurückkehrten, doch da hatte Joseph Burton bereits sein Offizierspatent erhalten und war auf Sizilien stationiert, wo er seinen Dienst im Jahre 1802 unter Sir John Moore versah und 1807 zum Leutnant befördert wurde. Ein gutes Jahrzehnt später zeichnete er sich bei der Eroberung von Genua aus und im Jahr 1815 war er zwar immer noch Hauptmann, doch mit dem „lokalen Rang“ eines Majors, rangältester Offizier einer kleinen britischen Garnison in Genua in Italien.
An diesem Punkt seiner militärischen Karriere intervenierte das Schicksal in der üppigen Gestalt Ihrer Königlichen Hoheit Prinzessin Caroline, der in Ungnade gefallenen Frau des Prinzregenten. Im April und im Mai 1815, während des Genua-Besuches der Prinzessin, hätte sich Captain Burton wohl kaum gedacht, welch großen Einfluss sie, wenn auch indirekt, auf sein künftiges Leben haben würde. Für ihn und seine Offizierskameraden war sie die Frau des Thronerben und als solcher gebührte ihr, gemäß ihrer Position, uneingeschränkt Respekt und Loyalität. Sie ihrerseits erwies sich den britischen Offizieren gegenüber als äußerst liebenswürdig und lud sie ein, sie in ihrer Residenz zu besuchen, die ungefähr eine halbe Meile vor der Stadt, in den vornehmen Vorstädten lag. Ihre heitere Leutseligkeit wurde geschätzt, und man kann ohne große Übertreibung sagen, dass sie während ihres kurzen Aufenthaltes die Zuneigung und Bewunderung der Offiziere errang.
Als Napoleon in St. Helena sicher verwahrt war und endlich Frieden herrschte, kehrte Joseph nach Irland zurück, wo er das Familiengut, nach dem Tod seines Vaters, in katastrophalem Zustand vorfand. Mit Erlaubnis seiner Mutter bestellte er die Pächter, die seit geraumer Zeit keinen Zins gezahlt hatten, zu sich und machte ihnen deutlich, dass er in Zukunft persönlich die ausstehende Pacht und die Rückstände eintreiben würde. Danach wurde, wenn er den Besitz abritt, in regelmäßigen Abständen auf ihn geschossen, Zins hob er jedoch keinen ein. Er brauchte nicht lange, um sich darüber klar zu werden, dass eine bukolische Existenz in Irland kein Ersatz für die Herrlichkeiten Italiens sein konnte. Seinen zahlreichen Brüdern und Schwestern hatte er sich entfremdet, und das feuchtkalte Klima verschlimmerte sein Asthma. Deshalb kehrte er zu seinem Regiment, der 36. Infanterie in Nottinghamshire, zurück. Doch das Asthma machte ihm weiterhin zu schaffen, und sein Urlaub wurde, krankheitsbedingt, verlängert.
Auf einer jener Partys oder Bälle – unverheiratete Offiziere wurden zwangsläufig mit solchen Einladungen regelrecht überschüttet – begegnete er Martha Baker, einer von drei Erbinnen eines reichen Gutsbesitzers in Hertfordshire. Sie heirateten zu Beginn des Jahres 1820, ungefähr zur selben Zeit, als König Georg III., nach einer Rekordregierungszeit von 59 Jahren, starb. Der neue Monarch, Georg IV., hatte nicht die Absicht, den Thron mit seiner verstoßenen Ehefrau, die er verabscheute, zu teilen, und als Konsequenz daraus wurde der unglückselige Joseph im Mai oder Juni jenes Jahres – er war gerade erst von seiner Hochzeitsreise aus dem Lake District zurückgekehrt – vor ein geheimes Komitee zitiert, dessen Aufgabe es war, Beweise für die Untreue der Prinzessin (jetzt Königin) Caroline zu sammeln. Er sollte gegen sie aussagen, um dem König die Scheidung von ihr zu ermöglichen.
Joseph konnte sich vermutlich an wenig erinnern, soweit es das sogenannte skandalöse Verhalten der Prinzessin in Italien betraf, das eher einen Verstoß gegen den guten Geschmack darstellte, als ein moralisches Fehlverhalten. Ihr schlimmstes Vergehen in Genua schien darin bestanden zu haben, dass sie sich in einem illuminierten Phaeton, der die Form einer Muschel hatte, durch die Straßen kutschieren ließ. Der Wagen war mit Perlmutt dekoriert und wurde von zwei winzigen gescheckten Ponys gezogen, die ein Kind anführte, das als rosafarbener Cupido gekleidet war. Im Inneren ruhte die Prinzessin: „Eine üppige Frau um die fünfzig, klein, rundlich und mit stark gerötetem Gesicht, eingehüllt in ein gazeartiges, tief dekolletiertes Kleid mit einem rosa Korsett. Die rosa Federn ihres Kopfschmucks wehten im Wind und ein kurzer weißer Rock, der kaum ihre Knie bedeckte, gab den Blick frei auf zwei fette rosa Beine.“3
Es heißt, George IV. sei erbleicht vor der schieren Vulgarität des Ganzen und errötet wegen des Bildes, das so in Europa von der Britischen Königlichen Familie entstand, die durch Verschulden der unglückseligen Prinzessin, die nun Königin war, zur Zielscheibe des Gespötts geworden war. Doch Seiner Majestät besonnenere Untertanen, welche die oftmals ausschweifenden und kostspieligen Vulgaritäten des Königs in seiner Zeit als Thronerbe toleriert hatten, waren nicht so leicht davon zu überzeugen, dass die Sünden der Königin in einem Maße anstößig waren, dass sie es verdient hätte, abgesetzt zu werden. Captain Joseph Netterville Burton nahm, wie die Mehrheit der britischen Oberschicht, Partei für die Königin, nicht zuletzt, weil sie sich vor fünf Jahren gegenüber den Männern seiner Garnison so freundlich erwiesen hatte. Deshalb, als dazu aufgefordert, schlug er es aus, als Zeuge der Anklage aufzutreten.
Über Josephs militärische Laufbahn ist, abgesehen von den standardgemäß knappen Einträgen in seiner Militärakte, wenig bekannt. Richard Burton erzählt uns, dass sein Vater ein unerschrockener Duellant gewesen sei, „er verwundete einen Offizierskameraden zweimal und pflegte ihn hernach jedes Mal liebevoll“. Die Beleidigung bei diesen Gelegenheiten sei gewesen, dass „etwas Unschönes gesagt worden war“. Und auch wenn der erste Ehrenhandel damit endete, dass Joseph seinen Gegner – einen irischen Landsmann – nur am Arm verletzte, so hatte dieser beim zweiten Treffen weniger Glück und blieb für den Rest seines Lebens verkrüppelt. Keine dieser Ehrenhändel ist in seiner Militärakte erwähnt. Ehe er in der Angelegenheit des Königs in das Kriegsministerium zitiert wurde, war Joseph der Posten eines Adjutanten für Lord William Bentinck, dem Generalgouverneur von Indien, angeboten worden, mit allen Beförderungsaussichten, die eine solche Position mit sich brachte. Jedoch setzte Joseph all dies aufs Spiel, als er es „rundweg ablehnte“, als Zeuge gegen die Königin auszusagen, obwohl es ihm vom Obersten Befehlshaber (Lord Wellington), der im Auftrag des Königs handelte, befohlen worden war. Das bedauernswerte Resultat dieser Weigerung war, dass er angewiesen wurde, sich aus dem aktiven Dienst zurückzuziehen, und für unbestimmte Zeit auf „Halbsold“ gesetzt wurde.4
Das erste Kind des Ehepaares, Richard Francis, wurde im März des darauffolgenden Jahres geboren. Zu diesem Zeitpunkt lebten die Burtons schon in Torquay, damals ein „reizender & romantischer Kurort“ mit etwa 2000 Einwohnern, der, wie ein zeitgenössischer Reiseführer informierte, „zu einem beliebten Erholungsort für Kranke geworden war“. Tor Church verzeichnet viele Bakers in seinen Registern. Vermutlich wohnte das Paar bei Marthas Verwandten, damit Joseph, um sein Asthma zu lindern, sowohl die Vorteile des milden Frühlings Südwestenglands als auch die Wohltaten des Kurorts zugutekamen. Und, wie es der Zufall will, ist Richard keinen Kanonenschuss weit entfernt von den Geburtsorten zweier Männer zur Welt gekommen, mit denen er oft verglichen werden sollte: den elisabethanischen Gelehrten/Abenteurern Walter Raleigh und Francis Drake.
Richard Burton war der festen Überzeugung, dass seine Eltern bereits im Ausland lebten, als er nur wenige Monate alt war, und dies stimmt merkwürdigerweise mit seiner „ersten Erinnerung“ überein, bei der er in Barham House, „nach dem Abendessen, heruntergebracht worden war, um weiße Johannisbeeren zu essen, und auf dem Knie eines großen Mannes saß, mit gelbem Haar und blauen Augen“, eine Beschreibung, die auf seinen Großvater Baker passt. Doch in Wahrheit ist Richard, wie Dokumente der Familie belegen, schon fünf Jahre alt gewesen, als Joseph Burton aus Gesundheitsgründen mit seiner Familie nach Europa ging. Bis dahin hatten zwei weitere Kinder das Licht der Welt erblickt: 1823 Maria Katherine Elizabeth und Edward Joseph im Juli 1824. Captain Burtons älterer Bruder Francis hatte inzwischen Marthas jüngere Schwester Sarah geheiratet. Richard Baker hegte zweifellos ein gewisses Misstrauen gegen seine zwei Burton-Schwiegersöhne. Nachdem er an einem Herzinfarkt gestorben war, stellte sich heraus, dass er vorsorglich das nicht unbedeutende Erbe seiner Töchter in Stiftungen angelegt hatte, die sie zwar mit einem Einkommen auf Lebenszeit versahen, ihnen jedoch keinen Zugriff auf das Kapital gewährten. Allerdings soll der alte Mann in den jungen Richard vernarrt gewesen sein, und es wird erzählt, dass er auf dem Weg zu seinen Rechtsanwälten, um sein Testament zugunsten des Kindes zu ändern, zusammengebrochen und gestorben sei. Vermutlich waren es das englische Wetter und die Höhe ihrer Einkünfte, welche die Burtons dazu bewogen, in das mildere Klima Südeuropas zu ziehen, denn Josephs Asthma hatte sich verschlimmert und er fand die englischen Winter unerträglich. 1825 ließ sich die Familie im Herzen Frankreichs, in Tours, nieder, wo bereits eine ansehnliche englische Gemeinde lebte, was überrascht, bedenkt man, dass beide Länder ihren Konflikt erst kürzlich beigelegt hatten.
Joseph und Martha Burton mieteten das Château de Beauséjour, eine großräumige alte Villa auf einem Hügel am rechten Ufer der Loire, umgeben von Weideland und Weinbergen, mit einem herrlichen Ausblick auf die umliegende Landschaft. Hier blühten die jungen Burtons auf, und das, obwohl ihr englisches Kindermädchen, das es unerträglich fand, unter Ausländern zu leben, bald wieder abreiste und ihre Schützlinge der Obhut einer Reihe französischer Nachfolgerinnen überließ. Die Kindheit der Burtons war die übliche Mischung aus Klassenzimmer, Hunden und Pferden. Sie schliefen in einem Kinderzimmer unter dem Dach und erinnerten sich später noch daran, dass sie während der in den heißen Sommern häufig auftretenden heftigen Stürme „aus unseren kleinen Kinderbetten gescheucht und in den Salon gebracht wurden“, und dass sie mit ihrer Arche Noah und geschnitzten Holztieren spielten. Die Sommerferien verbrachte die Familie in Saint-Malo und an anderen Seebädern der Bretagne.
Nach eigener Aussage liebte Captain Burton Richard „mehr als jedes andere Lebewesen auf Erden“ und betrachtete seinen aufgeweckten Sohn als Wunderkind. Richard genoss die beste Erziehung, die durch einen Privatlehrer zu bekommen war. Darum mag es nicht weiter überraschen, dass er bereits in einem sehr frühen Alter das Alphabet, das Einmaleins und Gebete zu lernen begann, doch dass er mit drei Jahren in Latein und mit vier in Altgriechisch unterrichtet wurde, ist vielleicht eher ungewöhnlich. Kaum, dass er gehen konnte, begann sein, wie er es nannte, „Studium der Waffen“, sodass Schießen und Fechten – besonders Letzteres – ihm zu lebenslangen Leidenschaften wurden.
Als Richard sechs war, Maria vier und Edward drei, endete der Privatunterricht. Mit ihren Bücherbündeln, die mit Lederriemen zusammengeschnürt waren, wurden sie jeden Tag in einer kleinen Kutsche zur Schule in die nahe gelegene Stadt gebracht. Richard hasste es – was im Widerspruch zu seinem unstillbaren, lebenslangen Wissensdurst und seiner leichten und raschen Auffassungsgabe steht. Seine Antipathie war dem Schulleiter, Herrn Gilchrist, geschuldet, den Richard mit den Worten „brutal … er prügelte seine Schüler bis zum Äußersten“ beschrieb. Richard besuchte diese Schule ab dem sechsten Lebensjahr für nur drei Jahre, und fünfzig Jahre später war er immer noch in der Lage, sich in aller Deutlichkeit daran zu erinnern, welch einen Genuss es Herrn Gilchrist bereitet hatte, seine kleinen Schützlinge mit dem Stock zu traktieren. Es ist bezeichnend, dass Richard für den Rest seines Lebens gegen jede Form von Autorität rebellierte. Der Schulbesuch erweiterte zumindest seinen Lehrplan, und zusätzlich zu den Unterrichtsfächern, die er zu Hause begonnen hatte, zeigte Richard eine frühe Begabung für Französisch und Zeichnen, doch kein Talent für Musik oder Tanz. Er schien darauf auch stolz zu sein, denn er empfand diese Betätigungen als unmännlich.
Das Leben der Burtons in Tours wurde von den regelmäßigen Besuchen anderer Familienmitglieder unterbrochen. Tante Georgina (die jüngste der drei Baker Schwestern) war der Liebling aller; sie heiratete schließlich Robert Bagshawe, der einen Parlamentssitz für Harwich innehatte. Großmama Burton mit ihrem „offensichtlichen“ bourbonischen Aussehen und ihrem resoluten irischen Naturell wurde anscheinend mehr geduldet als geliebt. Richard erzählt von ihr folgende Geschichte: Als sie einmal allein mit einem Dienstmädchen zu Hause war, wurde eingebrochen. Sie ging nach oben, öffnete das Fass mit dem Schießpulver, lud die Pistole und ging wieder nach unten, um die Eindringlinge zu konfrontieren, die schnellstens das Weite suchten. Als sie das „rohe, irische“ Dienstmädchen fragte, wo es in dem Durcheinander seine Kerze gelassen hatte, antwortete dieses, es hätte sie „oben auf dem Fass mit dem schwarzen Salz“ liegen gelassen. Die unerschrockene Großmutter Burton musste dann hinaufgehen und vorsichtig die Kerze in Sicherheit bringen, ehe deswegen das ganze Haus in die Luft flog.
Es war jedenfalls während einem dieser Aufenthalte von Großmutter Baker, dass sich Joseph im Jahr 1832 dazu entschloss, wieder nach England zurückzukehren, um seine Söhne auf die „richtigen“ Schulen zu schicken. Damals waren die Burtons, da es bequemer für den Besuch der Tagesschule war, bereits von dem alten Château auf dem Hügel hinunter in die Stadt Tours gezogen. Richard erinnert sich in seiner Autobiographie, dass er und sein Bruder Mitglieder einer „Gang“ von kleinen anglo-französischen Rabauken waren, die Fensterscheiben einwarfen, sich mit Straßenkindern schlugen und die Gewehre ihrer Väter entwendeten, um auf Kirchdenkmäler und Wetterfahnen zu schießen. Es war eindeutig Zeit für einen Ortswechsel.
Das entbehrliche Hab und Gut wurde fristgerecht versteigert, und die verbleibenden Besitztümer wurden – zusammen mit den sechs Familienmitgliedern, einem Dienstmädchen und mehreren Hunden – für die lange und beschwerliche Rückreise nach England in eine riesige altmodische, gelbbauchige Reisekutsche gepackt. Es war schon schlimm genug, dass sich der Postillion, obgleich „er Siebenmeilenstiefel trug“, damit zufriedengab, konstant seine fünf Meilen5 pro Stunde auf den langweiligen, schnurgeraden, pappelgesäumten, unbefestigten Straßen zurückzulegen, doch die Dinge verschlimmerten sich, als sie sich Paris näherten, wo, wie sie gehört hatten, die Cholera wütete, sodass Großmutter Baker fortan, wann immer sie sich einer Stadt näherten, darauf bestand, die Nasenlöcher der Kinder mit Kampfer zu verstopfen. Die Gasthöfe, die sie aufsuchten, waren unhygienisch und teuer, und die Reise war für alle Beteiligten eine große Strapaze. Richard erinnerte sich ihrer Schrecklichkeiten noch als alter Mann, obwohl die Familie die gleiche Reise schon öfter unternommen haben musste, um zu ihren Sommerfrischen zu gelangen, die er so heiter beschrieb. Endlich erreichten sie Dieppe, und nach einer kurzen Pause, in der sie (während sich Richards Mutter von den Unbilden der Reise erholte) die vertrauten Sandstrände genossen, segelten sie weiter nach England.
Die Kinder, gelangweilt und aufsässig, waren von Anfang an entschlossen, ihr Vaterland nicht zu mögen. Ein Gespann Mietpferde wurde vor die Familienkutsche gespannt, und Richard und Edward amüsierten sich damit, die Pferde mit einem langen Stock zu triezen, bis sie von den Postjungen dabei erwischt und dazu verurteilt wurden, die Reise im Inneren der Kutsche fortzusetzen. Dort waren sie darauf beschränkt, unvorteilhafte Vergleiche zwischen ihrem Zuhause in Frankreich und ihrem Geburtsland anzustellen. Selbst Brighton – damals das strahlendste Zentrum der Gesellschaft außerhalb Londons – wurde verdammt als „voller Rauch … mit einer Luft, die man nicht atmen kann … klein … spröde … schwermütig“. Der Strand, anders als Dieppes goldene Sandstrände, war „kiesig“, das Meer „grau und unruhig“. Das Essen, nach der französischen Cuisine, war „ekelerregend“, die Qualitätsstandards von Milch und Brot lösten bei ihnen eine besondere Abscheu aus und der Wein, verglichen mit dem exzellenten Bordeaux, an den sich ihre jugendlichen Gaumen schon gewöhnt hatten, schmeckte „wie Medizin“. Nach dem angenehmen, warmen Klima Mittelfrankreichs war das Wetter – natürlich – scheußlich. Etwas tief in Richard würde England immer ablehnen, auch wenn er sich darauf stets als sein „Zuhause“ bezog.
Nach einiger Zeit ließ sich die Familie in Richmond nieder, damit die Söhne für den Besuch einer größeren öffentlichen Schule „präpariert“ werden konnten. Joseph hatte für seine Söhne Eton oder Harrow ins Auge gefasst und, als Ziel, Oxford oder Cambridge. Ein Freund der Familie empfahl eine geeignete Vorschule in Richmond Green. Ein Haus war bald gefunden. Doch auch hier stehen Richards Erinnerungen im Widerspruch zur Realität. Er schreibt:
Nach allerlei Versuchen, sich in den winzigen Puppenzimmern der stickigen Stadt einzuhausen, fanden sie zuletzt ein Haus, das nur aus Höflichkeit so bezeichnet wurde, in der „Maids of Honour Row“, zwischen dem Fluss und dem Grünen gelegen, ein Haus mit einem vorgelagerten Gartenstreifen, den ein hüpfender Sperling in dreißig Sekunden queren konnte.
Weit davon entfernt, jenes armselige Domizil aus Richards Erinnerung zu sein, war Maids of Honour Row wohl eines der begehrenswertesten Wohnhäuser der Stadt. Ein großes, klug und elegant entworfenes Reihenhaus, nur einen Steinwurf von einer der attraktiven, ausgedehnten Flusslandschaften der Themse entfernt, bot es zudem den Vorzug, dass man von dort bis zur Schule sehen konnte, die sich gegenüber auf der anderen Seite von Richmond Green befand. Es fehlte dem Haus der großzügige offene Ausblick des Châteaus in Tours, das natürlich Richards Maßstab für ein Zuhause war – dies und der Verlust an Freiheiten würdigten es in seiner Erinnerung zu einem Gegenstand des Spottes herab.
Gewiss, der Freiraum, den die zwei Buben bisher genossen hatten, war durch den Besuch der Vorschule rigoros eingeschränkt, was zweifellos in Captain Burtons Absicht gelegen hatte. Richard verabscheute die Schule und behauptete, sie sei „der Schrecken aller Schrecken“, doch wahrscheinlich war sie nicht besser oder schlechter als jede andere in jenen Tagen. Sie wurde von Reverend Charles Delafosse geleitet, ein „barscher und wohlbeleibter Mann mit dunklem Haar und kurzem Backenbart, dessen große Adlernase ungeheure Mengen an Schnupftabak aufnehmen konnte“. Es war, schrieb Richard, „eine Art Dotheboys Hall“, wo Gentlemen damit zufrieden waren, ihre Söhne hinzuschicken, um 100 £ im Jahr plus Extras für die gleiche Erziehung zu bezahlen, die man auf dem Kontinent auch für 20 £ erhalten konnte.
Worin auch immer die akademischen Meriten der Schule bestanden haben mögen, Richard erinnert sich hauptsächlich an die ständigen Faustkämpfe: „Einmal“, schrieb er, „hatte ich 32 Ehrenhändel zu begleichen.“ Die Vorliebe seines Vaters für Duelle schien sich ihm vererbt zu haben, und es ist gut möglich, dass Richard deshalb unbeliebt war, weil er wie eine französische Straßenkatze kämpfte, „mit Knien und Füßen so gut wie mit den Fäusten“; schwerlich die Kampftechnik eines englischen Embryo-Gentlemen. Er wurde geschlagen „wie ein abgelaichter Hering“, so sehr, dass auch die Dienstmädchen, welche die Buben jeden Samstagabend badeten, auf seine blauen Flecken aufmerksam wurden. „Verflixter Junge“, sagte eine von ihnen wenig mitfühlend. „Was hat er wieder angestellt? Er ist am ganzen Körper grün und blau.“ Zieht man alle Komponenten in Betracht, Richards abgrundtiefen Hass auf die Schule, seine Kämpfe und die Berichte von den schweren Prügeln, die er bezog, die Beschreibung seiner Schwester, dass er „ein dünner, verschlossener kleiner Junge war, mit schmalen Gesichtszügen und großen schwarzen Augen … stolz, feinfühlig und nervös“, und zählt die Tatsache hinzu, dass er irgendwie „anders“ war – er sprach fließend Französisch und sog das Gelehrte auf wie ein Schwamm –, ist es durchaus denkbar, dass er das Opfer schwerer Schikanen durch seine Mitschüler war.
Es ist deshalb keine Überraschung, wenn man erfährt, wie glücklich der Junge war, als, ein Jahr später, nachdem mehrere Schüler an Masern gestorben waren, die Schule vorübergehend geschlossen wurde und die zwei Brüder zu ihrer Tante Georgina geschickt wurden, der sie von den ganzen Schrecken der Alptraum-Anstalt berichteten. Sie war nur allzu bereit, ihnen zuzuhören, besonders nachdem der „leichenhaft“ dünne Richard selbst an Masern erkrankt war. Sie informierte die Eltern über die Behauptungen der beiden, und Captain Burton, der das Opfer, in England leben zu müssen, nur als lohnend empfand, solange die Erziehung seiner Söhne davon profitierte, entschied, mit seiner Familie nach Frankreich zurückzukehren.
Er wartete lediglich ab, bis Richard genas, eine Gouvernante für Maria und ein Privatlehrer für Richard und Edward engagiert waren, dann schiffte sich die Familie mit ihrer kleinen Entourage nach Boulogne ein. Wir wissen nicht, wie Frau Burton oder Maria diese zweite Auswanderung empfand, doch Captain Burton war glücklich, in das angenehme südliche Klima und zu den Wäldern Frankreichs zurückzukehren, mit all den Wildschweinhatzen und Jagden, die er sich nur wünschen konnte; und Richard und Edward waren außer sich vor Freude ob der Aussicht, Delafosses Anstalt nie wieder betreten zu müssen. Älter geworden, räumte Richard, als er seine Autobiographie diktierte, allerdings ein, dass der Umzug sein Schicksal als Außenseiter unwiderruflich besiegelt hätte.
Jeder junge Mann, der im viktorianischen England vorankommen wollte, musste eine angesehene Schule besucht und die Regeln und Sitten an öffentlichen Schulen verinnerlicht haben; zusätzlich über ein „Netzwerk“ an Mitschülern verfügen, die ihn und seine Verhältnisse kannten und als einen der ihren akzeptierten, was umso wichtiger war, wenn der betreffende junge Mann über keine bedeutenden finanziellen Mittel verfügte. Obwohl Richard die Verantwortung dafür übernahm, seinen Vater zur Rückkehr nach Frankreich überredet zu haben, machte er ihm doch den Vorwurf, an seinem früheren Entschluss, seine Söhne in England erziehen zu lassen, nicht festgehalten zu haben. Hätte Captain Burton darauf bestanden, dass sie ihre Zeit mit Delafosse aussitzen und danach, wie geplant, nach Eton gehen, hätte er sich, fand Richard, viel Kummer in seinem späteren Leben erspart.
… künftige Soldaten und Staatsmänner müssen in Eton oder Cambridge ausgebildet werden … je englischer sie sind, selbst ihr Haarschnitt, desto besser. Weil wir im Ausland aufgewachsen sind, haben wir die englische Gesellschaft nie völlig verstanden, noch hat uns die Gesellschaft verstanden. Und … es ist ein tatsächlicher Vorteil, einer Gemeinde anzugehören. Es ist etwas Großartiges, wenn du, nachdem du eine Schlacht gewonnen oder Zentralafrika erforscht hast, zu Hause, in irgendeinem kleinen Winkel der großen Welt, willkommen geheißen wirst, wo man stolz auf deine Taten ist, weil sie auch dem Ort Ehre bringen. Im anderen Fall bist du ein Heimatloser, ein Streuner; ein Licht, das kein Zentrum hat.