IMPRESSUM

JULIA erscheint in der HarperCollins Germany GmbH

Cora-Logo Redaktion und Verlag:
Postfach 301161, 20304 Hamburg
Telefon: +49(0) 40/6 36 64 20-0
Fax: +49(0) 711/72 52-399
E-Mail: kundenservice@cora.de

© 2018 by Harlequin Books S. A.
Originaltitel: „Cinderella’s New York Christmas“
erschienen bei: Mills & Boon Ltd., London
in der Reihe: ROMANCE
Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.

© Deutsche Erstausgabe in der Reihe JULIA
Band 232019 - 2019 by HarperCollins Germany GmbH, Hamburg
Übersetzung: Gudrun Bothe

Abbildungen: Harlequin Books S. A., alle Rechte vorbehalten

Veröffentlicht im ePub Format in 11/2019 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.

E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 9783733712570

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

Weitere Roman-Reihen im CORA Verlag:
BACCARA, BIANCA, ROMANA, HISTORICAL, TIFFANY

 

Alles über Roman-Neuheiten, Spar-Aktionen, Lesetipps und Gutscheine erhalten Sie in unserem CORA-Shop www.cora.de

 

Werden Sie Fan vom CORA Verlag auf Facebook.

PROLOG

Lieber Leo,

Du kannst Dir nicht vorstellen, wie viel Freude es uns bereitet, Dir diesen Brief zu schreiben. Wir haben so lange darauf warten müssen und hoffen, es geht Dir gut und Du bist gesund. Du sollst wissen, dass wir in den letzten fünfunddreißig Jahren jeden Tag an Dich gedacht und nach Dir gesucht haben. Du warst immer in unseren Herzen, Leo, immer.

Vor achtunddreißig Jahren waren wir törichte Teenager, die sich Hals über Kopf ineinander verliebt hatten. Unsere Eltern missbilligten unsere Beziehung und wollten uns nicht unterstützen, da sie sich ihres illegitimen Enkelkindes schämten. Es hat uns das Herz gebrochen, aber wir waren mittellos und mussten einer Adoption zustimmen, weil man uns beide sonst zu Hause rausgeworfen hätte.

Wir haben dafür gebetet, dass Du Adoptiveltern findest, die Dich so lieben, großziehen und unterstützen, wie wir es gern getan hätten. Jeden Tag sprachen wir über Dich und malten uns aus, wo Du sein könntest und wie Du wohl leben würdest.

Trotz aller Widerstände von unseren Familien blieben wir zusammen und heirateten schließlich. Sobald wir etwas Geld zusammen hatten, machten wir uns auf die Suche nach Dir. Wir wühlten uns durch Berge von Papierkram und mussten uns mit Menschen auseinandersetzen, die Geheimniskrämerei betrieben oder uns belogen. Es hat Jahre gedauert, bis wir erfuhren, dass Du in den USA lebst, und dort verlor sich Deine Spur endgültig.

Du hast einen Bruder, Sebastian, und eine Schwester, Noemi. Es war nicht leicht, mit ihnen über Deine Adoption zu sprechen, aber jetzt, da wir Dich gefunden haben, würden wir unsere Familie so gern wieder vereint sehen.

Es war schon immer unser größter Traum, eines Tages alle drei Kinder zum Weihnachtsessen als komplette Familie an einem Tisch zu versammeln. Es wäre fantastisch, wenn er dieses Jahr in Erfüllung gehen würde und Du uns in Mont Coeur in der Schweiz besuchen könntest – an dem Ort, der für uns Weihnachten symbolisiert.

Wir haben Dich an jedem Tag unserer erzwungenen Trennung vermisst, Leo. Zu wissen, dass Du lebst und es Dir gut geht, wärmt unser Herz. Wir würden es verstehen, wenn Du Deine Adoptiveltern als einzige Eltern betrachtest, und werden alle Deine Entscheidungen und Wünsche unbedingt respektieren. Aber nimm Dir die Zeit, unseren Traum … unsere Bitte in Erwägung zu ziehen.

Es gibt nichts, was wir uns sehnlicher wünschen, als unseren Sohn endlich in die Arme schließen und ihm sagen zu können, wie sehr wir ihn lieben.

Mama und Papa

Salvo und Nicole Cattaneo

1. KAPITEL

Er hätte diesen Brief niemals öffnen dürfen.

Der unbehagliche Druck in seiner Brust nahm mit jeder Stufe zu, die Leo zur Veranda des prachtvollen Chalets emporstieg. Obwohl das Weihnachtsfest noch Wochen entfernt war, wirkte das gesamte Skigebiet von Mont Coeur bereits wie im Festtagsrausch. Möglicherweise lag es an den Minusgraden und dem Schnee, der die ganze Bevölkerung schon Anfang November dazu animierte, Christbäume aufzustellen. Sämtliche Geschäfte in Mont Coeur waren mit Girlanden und funkelnden Lichtern geschmückt. Aus Lautsprechern schallte ihm überall Adventsmusik entgegen.

An jedem anderen Tag hätte Leo die Szenerie als perfektes Weihnachtskartenmotiv bezeichnet, doch heute war eben kein Tag wie jeder andere.

Das Luxuschalet seiner Eltern wirkte wie die Inkarnation festlicher Weihnachtsdekoration. Durch die gläsernen Türflügel sah er einen imposanten Weihnachtsbaum im Mittelpunkt des geräumigen Wohnbereichs stehen, geschmückt in opulentem Rot und Gold. Stechpalmenzweige zierten das geschnitzte Treppengeländer und den steinernen Sims des Kamins, in dem ein Feuer brannte.

Leo seufzte und schaute beklommen zu den funkelnden Lichterketten an der Fassade empor. Dies müsste sich ganz anders anfühlen. Alles müsste anders sein.

Er hätte heute hier die Eltern treffen sollen, die ihn sofort nach seiner Geburt zur Adoption freigegeben hatten. Um mehr über die Menschen zu erfahren, die laut ihrer Aussage jeden Tag an ihn gedacht hatten. Stattdessen war er auf Drängen eines Familienanwalts angereist, von dem er nichts wusste, und wegen der Intervention seiner Schwester Noemi, die er nie kennengelernt hatte. Um den letzten Willen seiner Eltern mitgeteilt zu bekommen.

Die anheimelnde Atmosphäre fühlte sich für ihn seltsam fremd an. Einen Lebensstil wie diesen hatte er nie kennengelernt, ebenso wenig wie die Freuden eines echten Familienfestes.

Leo schauderte und versuchte das lähmende Schuldgefühl zu ignorieren, das sich nicht abschütteln ließ. Vielleicht würden seine Eltern noch leben, wenn er nicht gefunden worden wäre und auf ihren Brief geantwortet hätte. Vielleicht wären sie dann nicht bei einem Helikopterabsturz in New York ums Leben gekommen.

Anstatt sie kennenzulernen, musste er jetzt ihrer Testamentseröffnung beiwohnen, zusammen mit seinen unbekannten Geschwistern.

Alles daran fühlte sich schrecklich bedrückend und falsch an.

Sein Magen krampfte sich zusammen, als er klingelte. Wer weiß, ob sein Bruder und seine Schwester ihre Meinung nicht längst geändert hatten und gar nicht mehr da waren? Es wäre so einfach, auf der Stelle umzudrehen und in das Luxusdomizil zurückzukehren, das seine tüchtige PA für ihn gebucht hatte.

Hinter der Glasscheibe bewegte sich etwas, dann sah er eine schlanke, hochgewachsene Frau auf sich zueilen. Ihr dunkles Haar trug sie als schimmernden, kinnlangen Bob. Ihr folgte ein großer, muskulöser Mann in bedächtigerer Gangart. Sogar von draußen bemerkte Leo die steilen Falten auf seiner Stirn.

Die Frau riss die Tür förmlich auf. „Leo?“

Ihre braunen Augen leuchteten hoffnungsvoll, die schmalen Hände zuckten nervös. Offenkundig beherrschte sie sich nur mit größter Anstrengung.

„Ja …“, war alles, was er in rauem Ton hervorbrachte.

Sie stieß einen kleinen Schrei aus und schlang ihre Arme um seinen Hals. „Oh, Leo! Ich bin so froh, dich endlich zu treffen!“

Er stand da wie festgefroren, unsicher, ob er ihre Umarmung erwidern sollte. Nach einer gefühlt endlosen Zeit zog sie sich schließlich zurück und wischte sich eine Träne aus dem Auge. „Ich bin Noemi. Aber das hast du dir doch sicher schon gedacht.“ Sie wischte sich noch einmal über die Augen und wies auf den Mann hinter ihr. „Und das ist Sebastian, dein Bruder.“

Für den dieser Moment mindestens so befremdlich zu sein schien wie für ihn selbst. Misstrauen und Ablehnung rollten wie gewaltige Wogen auf Leo zu, während Sebastian sich nicht von der Stelle rührte, sondern nur knapp nickte.

Leo schluckte mühsam und versuchte, sich zu fassen. Dies waren also seine Geschwister.

Sein Leben lang hatte er sich nach einem Bruder oder einer Schwester gesehnt, doch seine Adoptiveltern hatten immer behauptet, ein Kind bedeute bereits die Grenze ihrer Belastbarkeit. Er hatte nie nachvollziehen können, warum sie ihn überhaupt adoptiert hatten, da sie so wenig Interesse an ihm zeigten.

Der Drang, sich einfach abzuwenden und zu verschwinden, wurde fast übermächtig. Dabei fühlte er sich erbärmlich.

Verdammt! Ich bin ein Geschäftsmann, ein CEO. Leo verbrachte den Großteil seines Lebens damit, Herausforderungen anzunehmen und komplizierte Businessprobleme zu lösen. Dies sollte eine leichte Übung für ihn sein.

Doch jeder Aspekt dieser beklemmenden Angelegenheit war mit Emotionen gespickt, die einfach nicht zu seinem Erfahrungsschatz gehörten und zu denen er keinen Zugang hatte.

Offensichtlich war, dass jeder in Mont Coeur als ausnehmend vermögend eingestuft werden konnte, selbst nach seinen Maßstäben – einschließlich seines Bruders und seiner Schwester. Vielleicht befürchten die beiden ja, dass ich hinter ihrem Geld her bin? Geld, das er weder brauchte noch wollte.

Noemi griff nach seiner Hand. „Komm Leo, komm herein! Ich will alles über dich erfahren. Und ich möchte wissen, wie es dir geht, wie du dich fühlst.“ Sie biss sich auf die Unterlippe, während erneut Tränen über ihre Wangen strömten. Ob seine Schwester ständig so nah am Wasser gebaut war? Selbst in seinen besten Zeiten hätte man ihn nicht als gefühlsbetont bezeichnen können, weshalb Leo sich jetzt bereits überfordert fühlte.

Ihre Hände umschlossen warm seine klammen Finger, während Noemi ihn ins Hausinnere zog. „Gib mir deinen Mantel“, forderte sie und zog ihm den dunklen Kaschmirmantel förmlich von den breiten Schultern.

Sebastian hatte sich immer noch kaum gerührt. Die hervortretenden Muskelstränge am kräftigen Hals verrieten seine innere Anspannung. Er suchte Leos Blick, als seine Schwester den Mantel aufhängte. „Meine Frau, Maria, und mein Sohn, Frankie, hatten gehofft, hier zu sein, aber …“ Seine Stimme brach ab, als könne er sich nicht entschließen, was er sagen wollte.

Leo war sicher, dass es eine Ausflucht, wenn nicht Lüge gewesen wäre, hätte er weitergesprochen. Er war lange genug im Business, um das beurteilen zu können. Entweder wollten Sebastians Frau und sein Sohn den neuen Bruder nicht kennenlernen oder Sebastian verbarg etwas völlig anderes vor ihm.

Noemi setzte sich auf die Couch und klopfte auf den Platz neben sich. „Setz dich zu mir“, forderte sie Leo auf. „Giovanni wird bald hier sein, aber vorher möchte ich noch mit dir reden.“

Giovanni war der Familienanwalt, der ihn zur Testamentseröffnung eingeladen hatte. Im Moment wünschte Leo sich brennend, er hätte diesem Giovanni per E-Mail eine Absage erteilt.

Mit einem unterdrückten Seufzer ließ er sich auf das opulente Sofa fallen und wurde fast von den weichen Polstern verschluckt. Eine Vision, die ihn zum Lachen reizte, fühlte er sich in dieser abstrusen Situation doch tatsächlich genauso.

Sein Blick schweifte zu den Familienbildern an der Wand. Es gab eine ganze Reihe, beginnend mit einem jungen, lächelnden Paar, auf dem Arm der Frau ein Baby, an der Hand des Mannes ein Kleinkind. Die Serie endete mit vier Erwachsenen, die alle ihren Arm um die Schultern des anderen gelegt hatten und in die Kamera lachten. Aus jeder Fotografie leuchtete ihm ihre Liebe zueinander entgegen.

Leos Brust wurde ganz eng. Das war die Familie, nach der er sich so gesehnt hatte. Die Familie, zu der er hätte gehören sollen.

Am liebsten wäre er hinübergegangen, um jedes einzelne Foto genau zu inspizieren. Zu sehen, worauf er achtunddreißig lange Jahre hatte verzichten müssen. Alles, worum er betrogen worden war …

Abrupt stemmte er sich aus dem Sofa hoch und sagte heiser: „Das war ein Fehler.“

„Was? Nein!“, rief Noemi betroffen aus.

Leo wollte nur noch weg. Mit einer Situation wie dieser konnte er nicht umgehen, darauf war er einfach nicht trainiert. Er war ein Leben lang ohne Liebe und enge Bindungen ausgekommen. Beziehungen aufzubauen und zu führen, hatte noch nie zu seinen Stärken gehört. Die letzte Frau, die sich seiner Gunst erfreut hatte, bezeichnete ihn als kalt und hart – zwei Attribute, die er nie leugnen würde.

Der Brief seiner leiblichen Eltern hatte ihn wie ein Blitz aus heiterem Himmel getroffen. Zwei geschlagene Wochen hatte er gebraucht, ehe er sich dazu durchringen konnte, ihnen zu antworten. Was darauf folgte, war ein für ihn unkontrollierbarer Gefühlssturm seiner Mutter, die ihn mit täglichen E-Mails bombardierte, in denen sie immer neue Pläne für ihr erstes Familientreffen entwarf.

Dann kam der Anruf von Noemi, der Schwester, die er nie getroffen hatte. Sie teilte ihm mit, ihre Eltern seien bei einem Hubschrauberabsturz getötet worden, auf dem Weg nach New York, um ihn zu besuchen. Seitdem war er noch weniger er selbst gewesen, als je zuvor.

War es da ein Wunder, wenn er nichts für Emotionen übrighatte, die mit einer Familienzugehörigkeit verbunden waren? So wie Schuld, Erwartung, Verurteilung.

Reine Neugier hatte ihn schließlich doch in die Schweiz fliegen lassen. Er wollte seinen Bruder und seine Schwester wenigstens einmal sehen, mit ihnen in einem Raum sein und mit ihnen reden.

Das hatte er jetzt getan, also konnte er getrost von hier verschwinden. Er musste hier raus, klare, frische Luft in seinen Lungen spüren …

„Geh nicht.“ Eine kräftige Hand legte sich auf seinen Arm. Sebastians Hand. „Noch nicht. Du bist doch gerade erst angekommen.“ Er schaute Leo nicht an, während er sprach. „Lass dir einen Moment Zeit.“

Kann Sebastian etwa Gedanken lesen? Leo schaute zur Seite und sah, wie Noemis Kinn verdächtig zitterte. Verdammt! Sie würde doch wohl nicht schon wieder anfangen zu heulen, das könnte er nicht ertragen.

Sebastian wahrscheinlich ebenso wenig, was sein unerwartetes Einlenken erklären würde.

Leo befreite sich aus seinem Griff und trat einen Schritt zurück. „Ich wurde aufgefordert zu kommen, um der Testamentseröffnung beizuwohnen“, sagte er steif. „Aber jetzt, da ich vor Ort bin, denke ich, dass es weder angebracht noch notwendig ist. Ich will nichts von euch beiden und habe nicht vor, euch etwas zu nehmen, was ihr als euer Eigentum anseht.“

Sebastians Blick verfinsterte sich, doch bevor er reagieren konnte, meldete sich eine andere Stimme zu Wort.

Ah, Leo, wie ich sehe, hast du es tatsächlich geschafft. Gratuliere, perfektes Timing!“

Leo wandte sich um und sah sich einem distinguierten grauhaarigen Mann im eleganten Maßanzug gegenüber.

„Giovanni Paliotta“, stellte sich der Familienanwalt vor. „Es ist mir eine Freude, dich kennenzulernen.“ Er kam näher und neigte den Kopf zur Seite. „Du bist deinem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten.“

Leo hätte nicht sagen können, was ihn mehr schockierte: die vertrauliche Anrede des fremden Anwalts oder sein Hinweis auf eine Familienähnlichkeit zu seinem leiblichen Vater.

Giovanni selbst schien Leos Reaktion auf die lässig hingeworfene Bemerkung gar nicht wahrzunehmen, sondern wies auf einen großen Tisch in der Ecke des Zimmers. „Wollen wir uns setzen?“

Während Leo immer noch um Fassung rang, schaute Noemi sich hilflos im Raum um, als suche sie einen anderen Platz für die Testamentseröffnung. Doch Sebastian legte sanft seinen Arm um ihre Taille und führte sie zu ihrem Platz.

Leos Blick flackerte, als er den massiven Esstisch betrachtete. Zwölf Stühle. Ausreichend für ein großes Familientreffen. War das der Tisch, an dem seine Mutter und sein Vater traditionell zur Weihnachtszeit gegessen hatten? Der Tisch, an dem sie ihn mit seinem Bruder und seiner Schwester hatten bekannt machen wollen?

Der Drang zu fliehen war inzwischen fast übermächtig, doch Giovanni ließ sich bereits auf einem der Stühle nieder und breitete diverse Papiere vor sich aus. Sebastian und Noemi wechselten einen kurzen Blick und setzten sich ebenfalls. Schließlich zog auch Leo einen der schweren Stühle zurück und nahm Platz.

„Wir wissen alle, warum wir hier sind“, eröffnete Giovanni ohne Umschweife die Testamentseröffnung. „Ich war in den letzten dreißig Jahren der Anwalt eurer Eltern. Ich habe sie sehr geschätzt und vermisse sie schmerzlich. Alles, was ich euch gleich eröffne, entspricht absolut ihren Wünschen.“

In der Stimme des Anwalts schwang eine Spur Unbehagen mit, was Leo nicht entging.

Giovanni neigte den grauen Kopf über die Dokumente und begann vorzulesen. „Dies ist der letzte Wille von Salvo und Nicole Cattaneo, den alleinigen Eigentümern von Cattaneo Jewels, einem Unternehmen, das derzeit auf rund 70 Milliarden Euro geschätzt wird.“

Leo blinzelte. Er wusste inzwischen, dass die Firma seiner Eltern weltweit bekannt und erfolgreich war, hätte aber nicht gedacht, dass ihr Vermögen mit seinem eigenen konkurrieren konnte.

„Es war der Wunsch von Salvo und Nicole, dass ihr Geschäft im Falle ihres Todes in Familienhand bleiben soll …“, fuhr der Anwalt fort, presste die Lippen für einen Moment zusammen und wirkte ausgesprochen nervös. „Deshalb geht der Firmenanteil, der prozentual die Kontrolle über Cattaneo Jewels gewährleistet, an Leo Baxter, ihr ältestes biologisches Kind.“

„Was?“ Sebastians Stuhl landete mit lautem Knall auf dem polierten Parkettboden, als er aufsprang und mit der Faust auf die massive Tischplatte hieb.

Noemis Mund öffnete und schloss sich lautlos.

Giovanni räusperte sich umständlich und weigerte sich rundheraus, Sebastians sengendem Blick zu begegnen.

„Nein, danke“, sagte Leo ruhig und schüttelte den Kopf. „Ich habe kein Interesse am Familienunternehmen. Außerdem weiß ich so gut wie nichts über Juwelen.“ Auch er stand auf und wollte nur noch weg.

„Und ich bin mein ganzes Leben lang darauf vorbereitet worden, die Firma zu übernehmen!“, tobte Sebastian. „Wer ist dieser Kerl, dass sie ihn mir vorziehen?“

„Dein Bruder“, erinnerte Giovanni ihn eisig. Im Bruchteil einer Sekunde erkannte Leo, warum dieser Mann seit über dreißig Jahren unter Garantie erfolgreich für Salvo und Nicole Cattaneo tätig gewesen war. „Setzt euch wieder, alle beide.“

Leo begegnete dem wütenden Blick seines Bruders. Er hatte tatsächlich absolut kein Interesse an der Firma, aber Sebastians Reaktion ärgerte ihn, selbst wenn er sie zumindest teilweise verstand. Doch auch in ihm keimte zunehmend Wut auf. Sebastian war bei ihren Eltern aufgewachsen, während er sie nicht einmal hatte kennenlernen dürfen.

Giovanni schüttelte den Kopf und wartete. Leo kehrte auf seinen Platz zurück und starrte Sebastian so lange scharf an, bis er dasselbe tat.

„Es gibt Bedingungen“, fuhr der Anwalt schließlich fort. „Leo muss mindestens sechs Monate lang die Kontrolle über das Unternehmen behalten. Die Aktien dürfen in der Zeitspanne weder verkauft noch an eine andere kontrollierende Gesellschaft oder ein Familienmitglied übertragen werden.“

„Was passiert, wenn er es trotzdem tut?“, fragte Noemi mit dünner Stimme.

Giovanni fixierte alle drei mit scharfem Blick. „Jeder Versuch, die Bedingungen des Testaments zu verletzen oder zu umgehen, hätte zur Folge, dass die Firma liquidiert und das Firmenvermögen unter den anderen vierhundert Aktionären verteilt würde.“

„Was?“ Sebastians Stimme überschlug sich vor Schock.

Leo saß da wie erstarrt. Als hartem Businessman war ihm augenblicklich klar, worauf das hinauslief. „Das ist Erpressung“, sagte er kalt.

„Nein“, widersprach Noemi leise.

„Dann eben Manipulation“, schwächte er ab.

Sie suchte seinen Blick und nickte gedankenvoll. „Ich denke, damit könntest du recht haben.“

„Aber warum?“ Leo war schon wieder auf den Füßen und stemmte sich mit beiden Händen auf den Tisch. „Warum, um alles in der Welt, haben unsere …“ Er brachte das Wort Eltern nicht über die Lippen. „Warum tun uns Salvo und Nicole das an?“

Giovanni seufzte und lehnte sich in seinem Stuhl zurück.

„Haben sie ihr Testament etwa kürzlich geändert?“, brauste Sebastian plötzlich auf. „Nur weil sie ihren Erstgeborenen gefunden haben?“

Leo schob die Brauen zusammen und trommelte mit den Fingern auf den Tisch. „Waren sie vielleicht krank?“

Giovanni seufzte, und Leos Blick wurde schärfer.

„Waren sie krank?“, wiederholte er seine Frage, schüttelte dann aber den Kopf. Das alles ergab keinen Sinn. „Den Helikopterabsturz konnten sie ja wohl kaum vorausahnen, also gehe ich davon aus, dass sie versucht haben, einen Weg zu finden, damit wir als Geschwister …“ Er hielt inne und zuckte mit den Schultern.

Sebastian sah schrecklich blass und angestrengt aus. Er suchte den Blick seiner Schwester. „Sie hätten es uns doch gesagt, oder?“

Sie zuckte nur unsicher mit den Schultern. „Von Leo wissen wir doch auch erst seit einem Monat. Und nur, weil ich seinen Brief gefunden habe.“

Giovanni räusperte sich. „Ihr Testament lautete schon immer so. Am Inhalt hat sich nie etwas geändert.“

„Was?“, ertönte es zeitgleich aus drei verschiedenen Mündern.

„Eure Eltern glaubten immer fest daran, Leo irgendwann zu finden. Selbst, wenn sie vorher verstorben wären, wollten sie ihrem ältesten biologischen Kind, wie sie es nannten, seinen Anspruch als vollwertiges Familienmitglied erhalten.“ Giovanni seufzte und fuhr sich mit der Hand über die Augen. „Ihr wisst selbst am besten, dass sie die Familie immer als ihr kostbarstes Gut und ihren größten Reichtum betrachtet haben.“

Noemi blinzelte heftig und schaute zwischen Leo und Sebastian hin und her. „Hier geht es nicht ums Geschäft“, sagte sie gepresst. „Stimmt ihr mir zu?“

Leo wusste, dass Sebastian immer noch wütend war. Der zuckende Muskel auf der harten Wange verriet ihn. Aber er hielt dem Blick seiner Schwester stand und nickte schließlich: „Ja.“

Es war das Versöhnlichste, was er bisher von sich gegeben hatte.

Leo fühlte sich überrumpelt, ein Zustand, den er hasste wie die Pest. Jedes geschäftliche Meeting, jeden bevorstehenden Vertragsabschluss bereitete er stets akribisch vor, um genau das zu vermeiden. Bevor er auch nur einen Fuß in einen Konferenzraum setzte, informierte er sich über jeden Punkt des anstehenden Deals sowie eventuelle Macken der Geschäftspartner und ihren finanziellen Hintergrund.

Und jetzt das hier!

Zum ersten Mal seit Kindertagen fühlte er sich absolut überfordert. Die Wände, bestückt mit Familienbildern voller Liebe, schienen auf ihn zuzukommen und drohten ihn zu ersticken, während das Gefühl schrecklicher Leere in seinem Inneren sich ausweitete.

„Mama und Papa verbrachten ihr Leben damit, dieses Familienunternehmen aufzubauen“, erklärte Sebastian rau. „Sie starteten mit ein paar kleinen Läden in Italien und machten daraus ein Milliardenunternehmen mit Dependancen rund um den Globus. Du magst ein erfolgreicher Geschäftsmann sein, Leo, aber nicht in diesem Metier. Und ich will verdammt sein, ihren Stolz und ihre Leidenschaft in den nächsten sechs Monaten ruiniert zu sehen, nur weil du nicht weißt, was zu tun ist.“

Das reichte. Leos Schmerzgrenze war endgültig überschritten.

„Ich mag vielleicht nichts über das Juwelengeschäft wissen, Sebastian, aber gewisse Regularien gelten für jedes Business. Aber wenn du denkst, dass ich mich darum reiße, mir zusätzliche Arbeit und Verantwortung aufzuhalsen, täuschst du dich gewaltig. Ich bin weder scharf auf die Firma unserer Eltern noch auf ihr Geld und würde liebend gern einfach hier rausspazieren und all das abhaken. Aber was würde das für dich bedeuten?“

Er ließ die Frage im Raum stehen und runzelte die Stirn, als Noemi mit einem erstickten Laut aufstand, Leos Hand ergriff und plötzlich taumelte. Instinktiv umfasste er mit der anderen ihren Ellenbogen, um sie zu stützen, doch da war auch schon Sebastian an ihrer Seite.

„Geht es dir gut?“, fragte er besorgt und legte seinen Arm um Noemis Taille. So war sie zwischen ihren beiden Brüdern gefangen.

Sie schüttelte den Kopf und atmete ein paar Mal tief durch, dabei umklammerte sie immer noch Leos Finger. „Nur ein wenig schwindelig …“, murmelte sie und presste die andere Hand auf ihren Magen. Dann suchte sie Leos Blick, während ihre Augen sich mit Tränen füllten. „Bitte, tut das nicht … seid nicht so zueinander.“

Sie schaute von einem Bruder zum anderen. „Ich hasse diese Situation mindestens so wie ihr, aber Mama und Papa wollten offensichtlich, dass wir alle drei zusammenhalten und zusammenarbeiten.“ Sie wandte sich zu Giovanni um. „Wir kennen jetzt ihren letzten Willen, aber ich denke, wir müssen jeder für sich etwas Zeit bekommen, um darüber nachzudenken, was das bedeutet und was alles daran hängt.“

Ihr Blick flog zurück zu Leo. „Ich möchte dich … ich möchte meinen Bruder kennenlernen. Ich habe schon so viel von deinem Leben verpasst, das will ich nicht länger hinnehmen. Dass wir beste Freunde werden, verlange ich ja gar nicht, aber Familie ist mir sehr wichtig. Jetzt mehr denn je …“ Sie drückte seine Finger. „Warum nehmen wir uns nicht eine kleine Auszeit? Ich weiß, das ist viel verlangt, aber es gilt für uns alle. Vielleicht müssen wir auch nur mal richtig durchatmen … und ein wenig abkühlen.“

Flehend wanderte ihr Blick von einem zum anderen.

„Wie wäre es, wenn wir uns später noch einmal zusammensetzen?“

Giovanni nickte energisch. „Das klingt vernünftig. Nichts muss übers Knie gebrochen werden. Es dauert ohnehin etwa sechs bis acht Wochen, bis die Formalitäten in Italien unter Dach und Fach sind. Die Spanne kann noch gestreckt werden, um allen die erforderliche Zeit zu gewähren.“

„Gut“, lautete Sebastians knappe Antwort.

„Könnten wir uns nicht Weihnachten wieder treffen?“, schlug Noemi hoffnungsvoll vor. „Hier, so, wie Mama und Papa es sich gewünscht haben?“

Der Anflug von Trauer und Verzweiflung in ihrer bebenden Stimme griff Leo unvermutet ans Herz. Noemi hatte gerade erst ihre geliebten Eltern verloren. Das war etwas, was sie alle drei betraf …

Leo löste sich von ihr und griff nach seinem Mantel. Die angestauten Emotionen in diesem Raum waren einfach zu viel für ihn. Er nickte kurz. „Ich melde mich bei euch beiden“, sagte er, wandte sich um, steuerte auf die gläserne Eingangstür zu und flüchtete sich hinaus in die dunkle Nacht.

Leo hatte sich nicht einmal die Mühe gemacht, seinen Mantel als Schutz gegen die eisige Schweizer Alpenluft anzuziehen, da in ihm ein Feuer loderte, das ihn zu versengen drohte.

New York. Dahin wollte er schnellstmöglich zurück. Dort war sein Zuhause. Indiana und seine Adoptiveltern hatte er lange hinter sich gelassen.

Während Leo blind den schneebedeckten Weg entlangstapfte, wurde ihm plötzlich klar, dass er keine Ahnung hatte, wohin er führte. Das Flughafen-Taxi hatte sein Gepäck in das von seiner PA gebuchte Luxusdomizil gebracht, doch leider hatte er selbst nicht die geringste Ahnung, wo es lag. Er zog sein Handy heraus, um sich zu orientieren. Um ihn herum strömten Menschen jeder Nationalität aus umliegenden Bars und Hotels. Keine Frage, das Skigebiet um Mont Coeur war offenkundig ein bevorzugter Tummelplatz der Schönen und Reichen. Der sehr, sehr Reichen …

Er wusste, dass ihm Ironie in diesem Punkt kaum zustand, da er selbst zu dieser Kategorie zählte, ebenso wie seine neu gefundene Familie. Doch normalerweise mied er diese Kreise. Schon immer hatte er sich ausgesprochen wählerisch gezeigt, wenn es um die Menschen ging, mit denen er bevorzugt seine Zeit verbrachte oder denen er sein Vertrauen schenkte. Leo zog Menschen vor, die mit beiden Beinen fest auf dem Boden standen, anstatt ständig darüber nachzudenken, wie sie noch höher und höher auf der sozialen Leiter noch oben gelangten.

Vielleicht sollte er eine der zahlreichen Bars entern, um selbst wieder Bodenhaftung zu bekommen. Nach einem Drink stand ihm allerdings nicht der Sinn, eher nach etwas Ablenkung.

Ein Blick auf die Karte in seinem Handy führte ihn weg von der Hauptstraße auf einen weniger belebten Weg, der kontinuierlich bergauf führte. Sollte er doch lieber ein Taxi nehmen? Aber gegen Luft und mehr Zeit zum Nachdenken war auch nichts einzuwenden, also ging er weiter.

In seinem Kopf herrschte immer noch ein ziemliches Chaos.

Giovanni hatte gesagt, das Testament habe ihn schon immer eingeschlossen. Welch überraschende Eröffnung, die für ihn nur schwer zu verdauen war. Seine Adoptiveltern hatten immer behauptet, seine wahren Eltern hätten es nicht abwarten können, ihn loszuwerden. Harte Worte, die sich in seine Seele eingebrannt und ihn zutiefst verletzt hatten. Wie viele Jahre hatte er damit verbracht, seine Erzeuger zu hassen und seine Adoptiveltern zu provozieren, da er sich nirgends wirklich gewollt und angenommen fühlte.

Plötzlich herauszufinden, dass das nicht stimmte, war beunruhigender, als er es sich jemals hätte vorstellen können.

Leo stieß einen langen Atemzug aus. Am Ende der Straße schaute er von der Karte in seinem Handy auf und versuchte, sich zu orientieren. Seine Berghütte sollte rechts liegen, zu seiner Linken sah er die Abfahrtspisten von Mont Coeur. Obwohl es bereits neun Uhr abends war, gab es immer noch ein paar Skiläufer, die sich eine letzte Abfahrt gönnten.

Leo blieb stehen, nahm das reizvolle Bild in sich auf und lehnte sich gedankenverloren gegen einen Zaun, während er eine ganz in Schwarz gekleidete Gestalt betrachtete, die genau in seine Richtung steuerte. Und das in einer alarmierenden Geschwindigkeit.

Früher, als er noch mehr Zeit gehabt hatte, hatte er sich selbst gern auf sämtlichen Pisten rund um den Globus getummelt. Leo runzelte die Stirn, da der Läufer immer schneller wurde, und fuhr abrupt herum, als es zu seiner Rechten fürchterlich knallte und er einen dunklen Wagen sah, unter dessen Motorhaube schwarzer Rauch hervorquoll.

Sein Blick schoss zurück zu dem rasanten Abfahrtsläufer, der sich bei dem Knall offenbar ebenfalls umgewandt hatte und exakt in dieser Sekunde in die Reifenbarriere krachte, die am unteren Ende der Piste als Schutzwall installiert war.

Ohne nachzudenken flankte Leo über einen Zaun und kletterte über die dicken Reifen. Der verunglückte Läufer lag am Boden, die Skier in der Luft, wobei ein Bein unnatürlich abgewinkelt war. Auf den letzten Metern rutschte Leo aus und wäre fast noch in den Unglücksraben hineingeschliddert.

„Hallo, sind Sie in Ordnung?“, fragte er.

Als er auf Knien näherrutschte, sah er, dass es sich bei dem verunfallten Skiläufer um eine Frau handelte. Selbst die dicke Skihose und die voluminöse Daunenjacke konnten die zierliche Figur darunter nicht verbergen. Aber eine Antwort hatte er immer noch nicht bekommen. Vorsichtig berührte er sie am Arm.

„Mein Name ist Leo. Kann ich Ihnen helfen?“

„Foitrottl!“

Leo schmunzelte. Er mochte die Sprache nicht verstehen, möglicherweise Schweizer Deutsch, aber die Bedeutung war klar und weniger damenhaft als erwartet. „Wenigstens weiß ich jetzt, dass Sie bei Bewusstsein sind.“

Ihre Arme schossen nach oben, ungeduldig zerrte sie an Skibrille und Helm, was eine eisblonde Haarflut befreite, die in ein schmales Gesicht fiel. „Was um alles in der Welt war das für ein infernalischer Knall?“, fragte sie grimmig, diesmal auf Englisch.

Leos Lächeln weitete sich, als er unter der blonden Haarlawine in die klarsten blauen Augen starrte, die ihm je untergekommen waren. Die verunfallte Fremde erinnerte ihn an die Eisprinzessin aus dem Märchen, aber er konnte sich lebhaft vorstellen, wie sie reagieren würde, sollte er diesen Vergleich laut äußern.

„Es klang nach einer Fehlzündung oder wie ein explodierter Motor. Laut war es in jedem Fall.“

Die Skiläuferin stützte sich auf den Ellenbogen ab und versuchte aufzustehen.

„Darf ich Ihnen meine Hand anbieten?“

Einen Moment dachte er, sie würde sein Hilfsangebot ablehnen, doch dann zog sie mit den Zähnen einen dicken Handschuh aus und umklammerte seine Finger mit festem Griff. Leo half ihr hoch, vielleicht eine Spur zu vehement, weshalb er den anderen Arm um ihre Taille legen musste, da sie sonst gestrauchelt wäre. Als sie ihr Gewicht auf die Füße verlagerte, entrang sich ihr ein Schmerzenslaut, und sie knickte gleich wieder ein.

Leo verstärkte den Griff um ihre Mitte. „Soll ich einen Krankenwagen rufen? Vielleicht ist etwas gebrochen.“

Sie atmete hart und schnell, schüttelte aber den Kopf. „Geben Sie mir nur ein paar Sekunden Zeit …“, keuchte sie.

Er gehorchte und biss die Zähne zusammen angesichts der sengenden Hitze, die trotz Minusgraden von ihrem zarten Körper ausging. Sie war größer als die meisten Frauen, aber immer noch mindestens fünf Zentimeter kleiner als er. Schweigend wartete er, bis sich die blassen Wangen langsam wieder rosa färbten und ihr Atem gleichmäßiger ging. Versuchsweise setzte sie noch einmal den linken Fuß auf den Boden und zuckte sofort zusammen.

„Soll ich Sie tragen?“

Ihr Stirnrunzeln wirkte bedrohlich, doch den Kopf schien sie ihm nicht gleich abreißen zu wollen. „Danke, nein, definitiv nicht. Tut mir leid, Sie überhaupt belästigen zu müssen, aber es handelt sich um eine alte Verletzung. Würde es Ihnen etwas ausmachen, mir zu helfen, bis zur Skihütte zu humpeln? Da steht ein Wagen, mit dem ich dann weiterkomme.“

„Können Sie kurz allein stehen?“ Sie nickte, und er bückte sich, um ihre Skier und Stöcke an sich zu nehmen, bevor er seinen Arm erneut um ihre Taille legte, um sie beim Laufen zu stützen. „Alles klar. Was hatten Sie überhaupt so spät noch auf der Piste zu suchen?“

Darauf antwortete sie nicht, sondern klammerte sich an seinen Arm und versuchte, so wenig Gewicht wie möglich auf den verletzten Fuß zu legen.

Leo konnte nicht anders, als noch einmal nachzufragen. „Sicher, dass nichts gebrochen ist?“

„Ganz sicher, das können Sie mir glauben. Mit gebrochenen Knochen kenne ich mich besser aus, als mir lieb ist.“

„Mit Ihren eigenen oder denen anderer Leute?“

Sie warf den Kopf zurück und lachte, dann schrie sie leise auf. „Autsch!“

Jetzt reichte es Leo. Er ließ die Skier fallen und hob sie hoch.

„Was machen Sie da?“ Ihre gletscherblauen Augen waren dicht vor seinen. Sie schaute um sich, doch es war niemand da, der sie sehen konnte.

„Ich trage Sie.“ Leo marschierte los, in Richtung Skihütte. „Es ist sinnlos, sich zu quälen und alles noch schlimmer zu machen, wenn es nicht notwendig ist. Die hole ich später“, versprach er, als sie den Kopf reckte, um nach ihren Skiern Ausschau zu halten. „Also, wie viele Knochen haben Sie sich denn schon gebrochen?“, hakte er nach, um sie abzulenken. „Sind Sie vielleicht Skilehrerin?“

Da in diesem Moment die Skihütte in Sicht kam, hellte sich ihre Miene auf. Sie seufzte. „Ja, ich denke, das bin ich.“

An einer Seite der Hütte stand ein großer SUV mit Winterreifen. „Ich kann Sie fahren“, bot Leo an, nachdem er sie sanft auf die Füße gestellt hatte.

„Und wenn ich Nein sage, tragen Sie mich dann noch bis zu meiner Hütte?“, neckte sie ihn überraschend.

Leo schmunzelte. „Ihr Wunsch ist mir in jedem Fall Befehl, Eisprinzessin.“

Eisprinzessin? Hat er mich wirklich gerade so genannt?

Wäre sie in diesem Moment sie selbst gewesen, hätte sie den Kopf in den Nacken geworfen und mit dem Fuß aufgestampft. Das Problem war nur, sie fühlte sich kein bisschen wie ihr normales Ich, sondern hundeelend.

Als ihr Retter verschwand, um Skier und Stöcke zu holen, fragte sie sich, ob es wirklich an dem Motorenlärm des Wagens oder an ihrer momentanen Verfassung gelegen hatte, dass sie sich derart hatte irritieren lassen. Oder an der Fülle von Erinnerungen, die sie überrollt hatten, während sie den Hang hinuntergeschossen war … viel zu schnell und völlig außer Kontrolle.

Seufzend zog sie den Wagenschlüssel aus der Tasche ihrer Skijacke und stählte sich, um zu fragen, was sie normalerweise nie über die Lippen gebracht hätte.

„Würde es Ihnen etwas ausmachen? Ich wohne nur etwa fünf Minuten von hier.“

„Überhaupt nicht“, behauptete er.

Er benahm sich wie ein Gentleman, obwohl er sicher auch anders konnte. Doch heute war sie auf einen edlen Ritter angewiesen, um so schnell wie möglich nach Hause zu kommen. Sie rutschte auf ihren Platz und gab sich einen Ruck, in dem Bewusstsein, dass sie sich bisher ziemlich kratzbürstig gezeigt hatte.

„Statt Eisprinzessin können Sie mich auch Anissa nennen“, bot sie etwas steif an.

„Scheint mir ein absolut passender Name für eine Eisprinzessin zu sein.“

„Kennen Sie eigentlich viele Eisprinzessinnen, Leo?“

Er lachte und streckte die Hand aus. „Leo Baxter aus New York, ich bin nur für ein paar Tage hier.“ Er schnitt eine kleine Grimasse. „In Familienangelegenheiten und … Business.“

Sie griff nach seiner Hand und schüttelte sie. „Anissa Lang, Teilzeit-Skilehrerin und Teilzeit-Gästebetreuerin.“

Er lächelte. Er hatte ein nettes Lächeln, dunkles, lockiges Haar, etwas länger als der Durchschnitt, und strahlend blaue Augen, die ein Mädchen schon nervös machen konnten. Und so hielt sie seinem Blick ein paar Sekunden länger stand, als sie es eigentlich wollte. Sein Lächeln wurde breiter, und Anissa spürte, wie heiße Röte in ihre Wangen stieg.

Lieber Himmel! Was ist nur mit mir los?

Sie holte tief Luft und heftete den Blick fest auf die Windschutzscheibe. Das war eindeutig sicherer.

Leo lenkte den SUV vom Parkplatz und hielt an der Kreuzung.

„Rechts“, dirigierte sie ihn.

„Haben Sie so spät noch eine Skistunde gegeben?“, fragte Leo, während er weiterfuhr. „Ich habe allerdings niemand sonst am Hang gesehen.“

Sie schüttelte den Kopf. „Zu spät für den Unterricht. Außerdem ist diese Piste für Anfänger gesperrt. Zu gefährlich.“

„Was Sie nicht sagen …“ Als er neben sich einen erstickten Laut hörte, wandte er alarmiert den Kopf. „Was ist los?“

„Mir ist ein wenig mulmig. Vielleicht habe ich mir auch den Kopf gestoßen“, murmelte sie schwach und wies mit dem Finger auf die Straße. „Die nächste links … bitte. Und dann bis zum Ende durchfahren.“

Leo sagte nichts, bis sie vor einer Art Holzblockhaus hielten, doch sein Blick war voller Sorge. Er stellte den Motor aus, sprang aus dem Wagen und beeilte sich, auf die Beifahrerseite zu kommen, um Anissa beim Aussteigen zu helfen.

„Ich begleite Sie hinein, dann setzen Sie sich hin, und ich besorge Ihnen einen Schluck zu trinken. Wenn Sie sich anschließend noch nicht besser fühlen, treiben wir einen Arzt auf, der Sie untersucht.“

Es passte ihr gar nicht, derart herumkommandiert zu werden, doch tatsächlich fühlte sie sich zu elend, um jetzt einen Aufstand zu proben. Also ließ sie sich von ihm helfen und erhob nicht einmal Einwände, als er den Schlüssel aus ihren bebenden Fingern nahm und die Tür für sie öffnete.

Leo knipste das Licht an, hob seine totenbleiche Passagierin kurz entschlossen auf die Arme, setzte sie nach einem Rundumblick sanft auf einem Sofa wieder ab und half ihr aus der Skijacke.

Zu schwach, um sich gegen seine Hilfe zu wehren, senkte Anissa die Lider und atmete ein paar Mal tief durch. Als sie ein paar Sekunden später die Augen öffnete, hatte Leo bereits ein Feuer angezündet.

Sie lachte leise. „Also, wenn ich die Eisprinzessin bin, müssen Sie Prinz Charming sein.“ Erstaunlich, dass sie sich kein bisschen bedroht fühlte von diesem Fremden, der sich wie selbstverständlich in ihrer Wohnung bewegte.

„Oh, ich …“, stammelte sie überrascht, als er sich ohne Umstände auf den Couchtisch vor sie setzte und ihren Fuß auf sein Knie hob.

Leos blaue Augen glitzerten. „Prinz Charming? Ist das nicht der Typ, der von Schuhen besessen ist? Wollen wir doch mal vorsichtig nachschauen, was für einen Schaden Ihr Sturz angerichtet hat.“ Er löste die Schnallen und zog den Skistiefel sehr behutsam von ihrem Fuß.

Anissa biss die Zähne zusammen und wartete auf den Schmerz, der unvermeidlich war, wenn tatsächlich etwas Schlimmes passiert sein sollte. Es fühlte sich mehr als unangenehm an, doch das war auch schon alles.

Ihr Samariter befreite sie auch noch von dem anderen Stiefel und hielt ihren Fuß ein wenig länger als nötig fest.

„Alles okay?“, fragte er mit forschendem Blick. Anissa nickte hastig, worauf er ihre Füße behutsam auf den flachen Tisch bettete und geschickt eines der Sofakissen unterschob. „Sie sind immer noch schrecklich blass, wahrscheinlich ein Schockzustand. Gibt es hier Brandy oder etwas Ähnliches?“

Ihr Gehirn schien eingefroren zu sein, weil sie ihm nur schwer folgen konnte. Brandy? Irgendwo hatte sie doch …

„Im Schrank hinter Ihnen.“

Kurz darauf hörte Anissa das Klirren von Gläsern, beugte sich vor und zog die Socken aus. Keine offensichtliche Schwellung. Gott sei Dank. Vorsichtig bewegte sie erst den einen, dann den anderen Fuß. Angenehm war es keinesfalls, aber längst nicht so übel wie erwartet.

Dann kehrte ihr Retter zurück, drückte ihr ein Glas in die Hand und ließ sich mit dem zweiten neben ihr auf die Couch sinken.

Anissa trank einen Schluck und schnitt eine Grimasse. „Ich bin mir nicht sicher, ob es förderlich ist, jemandem Alkohol gegen einen Schockzustand zu verordnen.“ Sie schüttelte den Kopf und hob das Glas erneut an die Lippen. „Wussten Sie, dass die Bernhardiner gar keinen Schnaps in dem Fässchen an ihrem Hals haben?“

Lächelnd hob Leo ihr sein Glas entgegen. „Was soll ich darauf sagen? Ich habe von jeher ein Faible für Ammenmärchen gehabt, also …“

Aufmerksam und voller Neugier musterte sie sein markantes Gesicht. Es wirkte ein wenig gerötet vom Feuermachen, außerdem war es eines der attraktivsten, die je ihren Weg gekreuzt hatten. Und von dieser Spezies gab es wahrhaft mehr als genug an einem Ort wie Mont Coeur, wo es von Playboy-Millionären nur so wimmelte. Doch irgendwie passte er nicht in diese Liga.

Versonnen gönnte sich Anissa noch einen Schluck Brandy und genoss inzwischen außerordentlich das wärmende Gefühl, das sich langsam in ihrem verkrampften Körper ausbreitete.

„Komisch, Sie scheinen mir gar kein Typ für Ammenmärchen zu sein“, sinnierte sie. „Andererseits gehöre ich üblicherweise auch nicht zu den Mädchen, die sich von einem völlig Fremden durch die dunkle Nacht kutschieren lassen. Und ihn dann auch noch mit zu sich nach Hause …“ Sie schüttelte den Kopf. „Offenbar ist es eine Nacht der Premieren.“

Sie begegnete seinem funkelnden, amüsierten Blick und knuffte Leo spontan in die Seite. „Sie machen sich doch wohl nicht über mich lustig?“

„Niemals!“, behauptete er.

Anissa spürte ihr Blut seltsam heiß durch die Adern rinnen. „Wollen Sie nicht Ihren Mantel ausziehen, bevor Sie noch vor Hitze umkommen?“, fragte sie mit viel zu hoher Stimme und hätte sich dafür am liebsten geohrfeigt.

Das habe ich nicht wirklich laut gesagt, oder? Damit lud sie ihn ja mehr oder weniger ein, noch länger zu bleiben!

Unter normalen Umständen hätte sie ihren Retter längst vor die Tür gesetzt, aber Leo war irgendwie … anders.

In seinem Blick lag etwas, das sie nicht deuten konnte. Es machte sie neugierig und seltsam unruhig. Dazu kam natürlich noch die immense Portion Sexappeal, die nicht zu leugnen war. Eine tödliche Kombination.

Inzwischen hatte sich Leo bereitwillig von seinem Mantel befreit und hielt ihr erneut sein Glas entgegen. „Auf eine Nacht voller Premieren“, wiederholte er lächelnd, doch dann veränderte sich sein Gesichtsausdruck. „Das passt perfekt …“

Anissa runzelte die Stirn. „Wie meinen Sie das?“

Er schüttelte den Kopf. „Sagen wir einfach, ich bin froh über die Ablenkung.“

Damit war ihre Neugier definitiv geweckt. „Meiner Erfahrung nach kommen die meisten Gäste her, um Ski zu laufen oder …“ Sie hob die Brauen. „Oder um ihren Reichtum zu demonstrieren. In welche Kategorie gehören Sie?“

Sekundenlang blieb es still, dann gönnte sich Leo einen langen, bedachten Schluck aus dem Brandyglas. „Ich kann mich durchaus auf einer Skipiste behaupten, habe die in Mont Coeur aber noch nie ausprobiert. Ich bin kurzfristig hergekommen und habe deshalb gar keine Ausrüstung mitgebracht.“

„Also sind Sie nicht zum Skilaufen hier?“ Viel gab er nicht preis. „Trotzdem haben wir uns heute Abend an der Skipiste getroffen.“

Er nickte. „Ich bin erst vor ein paar Stunden hier angekommen und …“ Abwesend fuhr er sich mit der freien Hand durchs Haar. „Bisher weiß ich nicht mal, wo die Luxusherberge liegt, die meine PA für mich gebucht hat.“

Anissa spürte, wie sich ihr Magen hob. Bitte lass es nicht eines der Domizile sein, in denen ich putze, flehte sie innerlich.

„Also eher Geschäft als Vergnügen?“, murmelte sie mit belegter Stimme und fuhr sich nervös mit der Zungenspitze über die Lippen. Womöglich war er sogar mit einer Frau oder einer Verlobten angereist und wirklich nur ein Gentleman, der Jungfrauen in Nöten aus der Patsche half? Während sie auf eine Antwort wartete, hielt sie unwillkürlich den Atem an.

Leo lächelte angespannt. „Einige Leute erwarten wohl, dass es ein wenig von beidem für mich sein sollte …“ Er seufzte. „Ehrlich gesagt, wünschte ich inzwischen, ich wäre nie hergekommen. Und es gibt nichts, was ich lieber täte, als den nächstmöglichen Flug zurück nach New York zu nehmen.“

Anissa spürte einen seltsamen Stich im Herzen. Es war mehr der Ton, wie er es gesagt hatte, als das, was er gesagt hatte.

Das war doch wieder mal typisch! Der erste interessante Mann seit Ewigkeiten, der ihren Weg kreuzte, konnte es kaum erwarten, von hier wegzukommen …

Als sie zur Seite schaute, begegnete sie seinem brennenden Blick und spürte, wie ihr Atem stockte. „Warum fliegen Sie dann nicht zurück?“, fragte sie gepresst.

„Weil es nicht um mich allein geht. Was ich als Nächstes tue, hat enorme Auswirkungen. Und die betreffen mehrere Menschen … ob es mir gefällt oder nicht.“

Statt sich von seinen kryptischen Erklärungen verwirrt zu fühlen, weckten sie Anissas Empathie. Was er gesagt hatte, erschien ihr seltsam vertraut, auch wenn ihre Entscheidungen nur sie selbst betreffen würden. Aber es war dieser Schwebezustand, den er andeutete und den sie selbst gerade schmerzhaft durchlebte.

Leo wandte den Kopf und beugte sich dabei leicht vor, sodass ihr zum ersten Mal der dunkle Bartschatten und die feinen Linien um die strahlend blauen Augen auffielen. Gleichzeitig streifte sie der herbwürzige Duft eines sehr maskulinen Aftershaves.

„Und was hat so ein wundervolles Geschöpf wie dich hier nach Mont Coeur verschlagen?“, fragte er lächelnd und mit einem herausfordernden Zwinkern. „Oder hast du schon immer hier gelebt?“

Hat er mich gerade wundervoll genannt? Das und die vertrauliche Anrede trieben heiße Röte in ihre Wangen und taten Anissa gleichzeitig unendlich gut. Sie hörte förmlich das aufgeregte Kichern ihrer Zimmermädchen-Kolleginnen, die ihr seit Monaten damit in den Ohren lagen, dass sie der Männerwelt um sich herum mehr Aufmerksamkeit schenken sollte. Ebenso lange hatte sie ihnen ein ums andere Mal erklärt, dass sie andere Prioritäten in ihrem Leben verfolge. Bis jetzt …

Anissa schüttelte den Kopf und versuchte, cool zu erscheinen. „Ich verbringe den Großteil meines Lebens auf Skiern, egal, wo ich lebe. Das letzte Jahr zählt allerdings nicht zu meinen besten“, gab sie dann mit schiefem Lächeln zu. „Es als eine Art Schwebezustand zu bezeichnen, trifft es ziemlich gut.“

Und es tat weh, jede einzelne Erinnerung an die letzten Monate. Neben dem physischen Schmerz, den harte Stürze auf der Piste nun einmal mit sich brachten, die innere Qual und Frustration, weil sie die Hoffnung auf Olympisches Gold wohl endgültig aufgeben musste. Dazu das emotionale Trauma, für das ihr Verlobter und Trainer Alain verantwortlich war. Ex-Verlobter und Ex-Trainer, um genau zu sein …