Über das Buch

Die Wahlbeteiligung geht zurück, das Vertrauen in Politiker schwindet, immer weniger Menschen engagieren sich in Parteien. Zugleich nehmen die Proteste auf den Straßen zu. Migration und Klima politisieren die Menschen, drohen aber auch die Gesellschaft zu spalten.

Was ist zu tun, um die Demokratie zukunftssicher zu machen? Europäische Länder experimentieren längst erfolgreich mit neuen demokratischen Formaten, vor allem mit Bürgerversammlungen. In Irland hat eine solche Gruppe von zufällig ausgesuchten Frauen und Männern das Abtreibungsrecht revolutioniert und landesweiten Zusammenhalt erzeugt.

Verena Friederike Hasel plädiert für mehr demokratischen Mut und zeigt, wie ein Zusammenspiel von Bundestag, Volksentscheiden und Bürgerversammlungen gelingen kann.

 

 

 

 

Für Penelope,
die sich ihre laute Stimme
bewahren soll

PROLOG

Ein Frühlingstag in Berlin. Ich laufe mit meinen drei Töchtern die Straße entlang, auf dem Bürgersteig schimmert ein goldener Stein. Meine jüngste Tochter, die alles liebt, was glänzt, rennt hin. Ihre Schwestern folgen ihr und entziffern den Namen der jüdischen Frau, die hier gelebt hat. »Warum jetzt nicht mehr, Mama?«

Ein wenig später steigen wir in die Straßenbahn. Es rumpelt, und meine Töchter freuen sich, als sie fast von ihren Sitzen fliegen. Nach einer Weile kommen wir an den Überresten der Mauer vorbei. »Mama«, sagt meine Tochter. »Ist hier das Land, das es nicht mehr gibt?«

»Das Vergangene ist nicht tot; es ist nicht einmal vergangen.« So beginnt die ostdeutsche Schriftstellerin Christa Wolf ihren Roman ›Kindheitsmuster‹. Gerade in Deutschland ist die Vergangenheit besonders präsent, und im Jahr 2019 kehrt sie noch einmal mit voller Wucht zurück. 70 Jahre Bundesrepublik Deutschland, 70 Jahre Grundgesetz, 30 Jahre Mauerfall. Durch Berlin führt eine Route der Revolution, deren einzelne Stationen, darunter die Stasi-Zentrale und das Brandenburger Tor, an den 9. November 1989 erinnern. In Hamburg findet eine Lange Nacht des Grundgesetzes statt, in Leipzig, wo die Montagsdemonstrationen ihren Anfang nahmen, leuchtet fünf Wochen lang die Innenstadt. Doch wenn wir dieser Ereignisse gedenken, die unser politisches System geformt haben, ist es auch an der Zeit für eine Bestandsaufnahme: Wie geht es unserer Demokratie heute? Haben wir aus der Vergangenheit gelernt und ist unsere Demokratie wirklich zukunftssicher?

Als ich zwölf Jahre alt war, flog mein Vater mit mir nach Israel. Normalerweise sahen wir uns nicht oft, meine Eltern lebten getrennt, doch wenn mein Vater mir eine Sache nahebringen wollte, dann war es: Nie wieder Faschismus. Als er in den 50er-Jahren sein Studium in Jura und Politikwissenschaften aufnahm, erfuhr er an der Uni die ganze grausame Wahrheit über die Nazizeit. An den Wochenenden fuhr er nach Hause, allerdings nicht zu unbeschwerten Familienzusammenkünften, denn jedes Mal stellte er seinem Vater dieselbe Frage: Was hast du gewusst? Bitte heute keinen Streit, sagte meine Großmutter manchmal, doch mein Vater konnte nicht anders, er wollte eine Antwort haben und hat sie niemals so ganz bekommen.

An einem unserer ersten Tage in Israel besuchen mein Vater und ich Yad Vashem, die Holocaust-Gedenkstätte in Jerusalem. Während der vielen Stunden, die wir dort verbringen, wage ich kaum ein Wort zu sagen. Auf mehreren Bildschirmen sehe ich Hitler, wie er seine Reden bellt, und schäme mich, auch nur ein Wort in derselben Sprache zu sagen wie er. Erst beim Hinausgehen murmele ich meinem Vater etwas zu. Das Paar, das direkt vor uns steht, dreht sich um.

»Sind Sie Deutsche?«, fragt die Frau.

Sie ist die einzige Überlebende in ihrer Familie, alle anderen sind im Konzentrationslager umgekommen. Einen Moment lang taxiert ihr Ehemann meinen Vater schweigend, dann erkundigt er sich nach seinem Jahrgang. Als mein Vater sagt, er sei 1936 geboren, entspannt sich die Miene des Mannes. Zu Hitlers Zeiten war mein Vater noch ein Kind, damit ist er unverdächtig, und ich bin erleichtert.

Als der Krieg endet, ist mein Vater gerade neun geworden. Drei Jahre später, im August 1948, treffen sich auf der Insel Herrenchiemsee elf Delegierte der westlichen Besatzungszonen. Sie sollen im Namen der Alliierten eine neue Verfassung vorbereiten, und das unter Bedingungen, die für die damalige Zeit überaus luxuriös sind: Pro Tag darf jeder von ihnen drei Zigarren oder zwölf Zigaretten rauchen und eine halbe Flasche Wein und einen Liter Bier trinken. Nach 13 Tagen liegt ein erster Entwurf auf dem Tisch. Aus ihm spricht ein starkes Misstrauen gegenüber dem Volk, das einem Verbrecher wie Hitler zugejubelt hat. Volksentscheide und die Direktwahl des Präsidenten werden abgeschafft, in Zukunft soll die Macht bei den Parteien liegen. Mit dem Verfassungsgericht und der Möglichkeit von Parteiverboten spannt man zusätzliche Sicherheitsnetze auf.

Doch auf eines bestehen die westdeutschen Politiker mit erstaunlicher Sturheit. Was sie entwickelt haben, soll keine Verfassung sein, auch wenn die Alliierten dies wünschen. Auch eine landesweite Abstimmung über die Inhalte, so wie die Alliierten sich das vorgestellt haben, um den Deutschen die demokratischen Spielregeln beizubringen, lehnen sie ab. Das, sagen die Politiker, müsse warten, bis das Land wiedervereinigt sei. Sie hätten sich, so drückt es der SPD-Politiker Carlo Schmid aus, nur ein provisorisches Grundgesetz für ein »Staatsfragment« ausgedacht. Auf keinen Fall will man die Teilung Deutschlands zementieren.

An einem der letzten Julitage im Jahr 1961 steigt eine 19-jährige Frau am Leipziger Bahnhof in den Zug nach Ostberlin. Gelöst hat sie eine einfache Fahrkarte. Sie hat nicht vor zurückzukehren. Der Zug, in dem sie sitzt, wird mehrmals von Volkspolizisten gestoppt, die jeden einzelnen Fahrgast kontrollieren. Diejenigen mit Koffern oder großen Taschen werden besonders kritisch befragt. Kurz vor Berlin hält der Zug auf freier Strecke. Etliche Menschen müssen aussteigen. Die junge Frau darf drin bleiben, sie hat nur einen kleinen Beutel dabei. In Ostberlin wechselt sie in die Ringbahn, auch hier holen die Polizisten noch einmal Leute raus, wie die Familie, die Bettdecken unterm Arm trägt. Die junge Frau fährt ungehindert weiter in den Westteil der Stadt. Dort macht sie sich auf den Weg zum Notaufnahmelager Marienfelde.

Rund zwei Wochen später, am Sonntag, den 13. August 1961, reißen Grenzpolizisten früh am Morgen Pflastersteine aus den Straßen und errichten Barrikaden. Der Ringbahnverkehr wird unterbrochen, der Mauerbau beginnt.

Die Frau, die kurz zuvor in ein neues Leben fuhr, ist meine Mutter. Von ihrer Absicht hatte sie nicht einmal ihren Eltern erzählt. Sie wird die beiden, die in Schwerin leben, erst Jahre später wiedersehen.

Meine Mutter war kein sonderlich politischer Mensch. Als sie sich zur Flucht entschloss, ging es ihr nicht um demokratische Schlüsselbegriffe wie Gewaltenteilung oder Rechtsstaatlichkeit. Sie liebte Literatur und wollte all die Romane lesen, die in der DDR verboten waren, zum Beispiel die Bücher von Franz Kafka. Im Westen angekommen, kaufte sie sich zuerst eine Tafel Schokolade und eine Nylonstrumpfhose ohne Naht. Später machte sie noch einmal Abitur, weil ihr ostdeutsches in der Bundesrepublik nichts wert war.

17 Jahre später werde ich geboren. Der kleine Beutel, den meine Mutter 1961 dabeihatte, hängt in unserer Abstellkammer; wir bewahren darin unser Schuhputzzeug auf. Wenn wir nach Schwerin fahren, um meinen Großvater zu besuchen, mache ich ein Spiel, das ich Russenzählen nenne: Wie viele Soldaten werde ich entlang der Transitstrecke entdecken? Bei meiner Mutter spüre ich auf diesen Reisen eine Unruhe. Oft erzählt sie mir, wie sie ihrer Lieblingslehrerin nach langer Zeit in Schwerin auf der Straße wiederbegegnet sei und diese sich geweigert habe, mit ihr zu sprechen, da sie die DDR verlassen hatte. Und bei den Geburtstagsfeiern meines Großvaters, die er jedes Jahr in derselben Gaststätte feiert, sitzt manchmal ein Mann dabei, den niemand eingeladen hat und der kaum etwas sagt, aber dafür alles umso genauer beobachtet.

Den Abend des 9. November 1989 verbringe ich bei einer Freundin, die in Kreuzberg wohnt, ganz nah bei der Mauer. Ihre Mutter ist ausgegangen, und wir zappen durchs Fernsehen. Als in den Nachrichten verkündet wird, dass die Mauer offen sei, verstehen wir nicht, wie das gemeint sein könnte. Die Mauer ist genauso ein fester Bestandteil meiner Westberliner Kindheit wie das Schwimmbad hinterm Park. Ein paar Tage später steht dieses Schwimmbad noch, aber die Mauer ist so weit zerstört, dass ich mein Bein nur ein wenig anheben muss und mit einem Fuß im Osten und dem anderen im Westen stehe.

Alles wird gut – dieses Gefühl breitet sich damals in mir aus. Ich höre auf, Russen zu zählen, wenn wir meinen Großvater besuchen, ich stehe am 10. November 1989 vor dem Rathaus Schöneberg, als Willy Brandt spricht, ich sehe meine Mutter weinen. Mit ihren Montagsdemonstrationen und »Wir sind das Volk«-Rufen ist den Ostdeutschen etwas gelungen, das wie ein Widerspruch in sich klingt. Eine friedliche Revolution.

Der Kalte Krieg ist vorbei, die EU wächst zusammen, immer mehr Länder demokratisieren sich. In seinem Buch ›Das Ende der Geschichte‹ schreibt der amerikanische Politikwissenschaftler Francis Fukuyama, die demokratische Staatsform habe sich durchgesetzt und alle großen Fragen seien geklärt.

Wie naiv das heute erscheint, da wir jeden Tag mit autokratischen Herrschern konfrontiert sind, die uns nicht den Gefallen tun, Fukuyamas optimistischer These zu entsprechen. Und wir Deutschen können uns auch nicht wie demokratische Musterschüler fühlen. Seit 2014 gehen in der ehemaligen DDR wieder Menschen mit »Wir sind das Volk«-Schildern auf die Straße. Allerdings demonstrieren sie dieses Mal nicht für die Öffnung der Grenzen, sondern für Abschottung. Sie glauben, dass sie das Abendland gegen muslimische Flüchtlinge verteidigen müssen und rufen zum Widerstand auf.

In der Schweriner Gaststätte, in der mein Großvater immer Geburtstag gefeiert hat, trifft sich heute die AfD, und in Berlin ziehen eines Abends Menschen durch unsere Straße und über den Stolperstein für die ermordete Jüdin hinweg, die Deutschlandfahnen schwenken und mich mit ihrem Gebrüll an das erinnern, was ich in Yad Vashem auf den Bildschirmen gesehen habe.

War das, was ich für eine fortschreitende und fast unumkehrbare Entwicklung hielt, nur eine gute Phase?

Eins ist sicher: Unser politisches System steht unter massivem Druck, von außen wie von innen. Nur noch 24 Prozent der Menschen vertrauen der Bundesregierung,1 selbst Versicherungsvertreter genießen inzwischen mehr Ansehen als Politiker,2 und ein Drittel der Deutschen ist der Meinung, dass wir auf eine große Krise zusteuern, die mit den derzeitigen politischen Möglichkeiten nicht zu lösen ist.3 Was ich besonders traurig finde: Gerade mal 42 Prozent der Ostdeutschen halten die Demokratie hierzulande für die beste Staatsform.4 Auch sonst ist die Stimmung in Deutschland besorgniserregend. Diskussionen gleichen immer mehr einem Schlagabtausch, und Politiker werden bedroht, angegriffen und sogar ermordet.

Sollen wir uns damit abfinden? Reicht es, auf Pegida-Demonstrationen mit Gegendemonstrationen zu reagieren und auf »Wir sind das Volk«-Plakate mit »Ihr seid nicht das Volk«-Plakaten? Demokratie ist dem Wortsinn nach die Herrschaft des Volkes, aber wie soll das gehen, wenn es derart gespalten ist? Und auf welche Weise kann man das gesellschaftliche Klima entgiften und Politiker und Bürger wieder zusammenbringen?

Die Antwort darauf gibt vielleicht ein weiteres Jubiläum. »Wir wollen mehr Demokratie wagen«, sagte Bundeskanzler Willy Brandt am 28. Oktober 1969 in seiner Regierungserklärung. Diesen Satz sollten wir uns heute, ein halbes Jahrhundert später, zu Herzen nehmen. Die Geschichte ist nicht zu Ende und die Demokratie niemals fertig. Also sollten wir herausfinden, wie wir unser politisches System so verändern können, dass es alle Menschen mitnimmt. Diese Notwendigkeit schienen zuletzt auch die Politiker begriffen zu haben. In dem Koalitionsvertrag, den CDU, CSU und SPD im März 2018 unterzeichneten, hieß es, eine Expertenkommission solle Vorschläge erarbeiten, durch welche Elemente der Bürgerbeteiligung und direkten Demokratie unsere parlamentarisch-repräsentative Demokratie ergänzt werden könne. Das klang vielversprechend, aber als sich die Grünen im Februar 2019 erkundigten, was aus diesem schönen Plan geworden sei, hörten sie, dass man bisher noch nicht einmal sicher sei, nach welchen Kriterien die Experten ausgewählt werden sollten.

Mit anderen Worten: In Deutschland ist nichts geschehen.

Dafür haben Menschen in anderen Ländern umso mehr Visionen und probieren diese auch aus.

EINE VISION:
Die Dritte Kammer

Für dieses Buch bin ich an Orte gereist, wo Menschen schon jetzt mehr können als nur wählen. In der Schweiz hat man plebiszitäre Elemente längst erfolgreich in das repräsentative System integriert. In Belgien und Spanien experimentiert man mit Zusammenkünften von zufällig ausgewählten Bürgern, die über konkrete Sachfragen diskutieren. Und in Irland wurde auf diese Weise sogar eine Einigung über ein neues Abtreibungsgesetz erzielt – ein Thema, das in dem katholischen Land jahrzehntelang zu großen Spannungen geführt hatte.

Genauso eine Bürgerversammlung stelle ich mir auch für Deutschland vor. Ein neues politisches Gremium, eine Dritte Kammer, ebenso wichtig wie Bundestag und Bundesrat, in der jedoch keine Berufspolitiker sitzen, sondern zufällig ausgewählte Menschen, die in ihrer Gesamtheit die Vielfalt und Heterogenität unseres Landes abbilden, aktuelle politische Fragen diskutieren und Empfehlungen abgeben. Die Zufallsauswahl ist aber nur die halbe Lösung. Damit Bürgerversammlungen gelingen, ist auch eine bestimmte Haltung vonnöten, die man deliberativ nennt.

Debatten kennen wir alle. Im Debattenmodus hören wir unserem Gegenüber oftmals gar nicht richtig zu, lauern stattdessen auf unseren Einsatz, versuchen, einen Stich zu machen und unsere Argumente bestmöglich unterzubringen, denn wir haben ein Ziel. Wir wollen gewinnen. Genau nach diesem Prinzip funktionieren auch politische Talkshows. Auf keinen Fall nachgeben, unbedingt recht behalten. Deliberation ist etwas anderes. Deliberare kommt von dem lateinischen Wort libra, die Waage. Wenn Menschen deliberieren, wägen sie ab, und dazu braucht es mehrere Positionen und verschiedene Personen, die etwas in die Waagschale werfen, und dann schwankt die Waage meist, geht erst auf einer Seite hoch und wieder runter, ist also bis zum Schluss beweglich.

Die Dritte Kammer schafft den notwendigen Rahmen für Deliberation. Weil sie das Gegenteil einer Filterblase ist, hilft sie dabei, das Lagerdenken zu überwinden. Zunächst hören die Zufallsbürger Experten an, die alle Aspekte eines Themas beleuchten, dann suchen sie gemeinsam nach Antworten. Nehmen wir als Beispiel die CO2-Steuer. Über sie liest man so viel, aber wer, der nicht politisch tätig ist, hat in seinem Alltag schon die Zeit, sich in aller Ausführlichkeit mit den Argumenten von Befürwortern und Gegnern auseinanderzusetzen und sich auf diese Weise eine fundierte Meinung zu bilden?

Während es in Meinungsumfragen bloß darum geht, was die Leute so denken, will man in Bürgerversammlungen wissen, was sie denken würden, falls sie optimale Bedingungen hätten – also die Chance, sich umfassend zu informieren, mit anderen zu diskutieren und selbst wirklich gehört zu werden. Jürgen Habermas, einer der profiliertesten Verfechter der deliberativen Demokratie, der vor Kurzem 90 Jahre alt geworden ist, nannte das »die ideale Sprechsituation«.

Ein weiterer Aspekt ist aber auch sehr wichtig – und der findet in Habermas’ hyperrationalem Modell gar keine Erwähnung. Gut gemeinte Appelle wie »Jetzt lass uns mal vernünftig reden« bringen keine echte Deliberation hervor, denn wer sich Mühe gibt, rational zu erscheinen, hält Dinge zurück, die eigentlich dringend auf den Tisch müssten. In einer Deliberation muss deshalb Raum für Unvernunft und Emotion sein. Deliberation bedeutet, schonungslos ehrlich zu sein, Tiefenbohrungen vorzunehmen im eigenen Inneren, aber auch genauso offen und empfänglich für das Gegenüber zu sein und Empathie zu entwickeln – selbst wenn es sich dabei um einen Menschen handelt, den man aufgrund seiner Ansichten eigentlich ablehnt. Deliberation heißt, seine eigenen Vorstellungen auszusprechen und danach dem Tischnachbarn zuzuhören, der völlig gegensätzliche Ideen hat. Da erfährt der Umweltschützer, was die Frau bewegt, die in der Automobilindustrie arbeitet, der Gegner der Widerspruchslösung bei Organspenden lässt sich erzählen, wie es ist, auf eine Niere zu warten, der Arbeiter hört die Argumente einer Mittelständlerin gegen die Vermögenssteuer, und die Frau, die strikt gegen die Ehe für alle ist, sitzt einem Homosexuellen gegenüber.

Kofi Annan, der ehemalige und inzwischen verstorbene Generalsekretär der Vereinten Nationen, war ein Fan solcher Bürgerversammlungen. »Wir müssen unsere Demokratien inklusiver machen«, forderte er in einer Rede im Jahr 2017. »Das bedeutet mutige und innovative Reformen, um die jungen und die armen Menschen und die Minderheiten in das politische System zu integrieren. Eine interessante Idee (…) ist es, die Praxis des antiken Griechenlands wiedereinzuführen, wo man die Mitglieder des Parlaments per Los und nicht durch Wahlen aussuchte. (…) Auf diese Weise verhindert man, dass eine politische Klasse entsteht, die von ihren Wählern abgekoppelt ist.«