#2tagefilmriss
Mit Blut an der Hand wacht die Studentin Carolin in der Psychiatrie auf. Sie weiß weder, was passiert ist, noch, warum sie in der Klinik festgehalten wird – aber sie ahnt, dass es mit dem Verschwinden ihrer Freundin und Mitbewohnerin Odile zu tun hat. Odile, die Carolin auf ihrem Hausboot aufgenommen hat. Odile, die charismatische Kunststudentin, die über mysteriöse Verbindungen zu einem Privatclub namens »Abraxas« verfügte. Doch vor einigen Wochen verschwand Odile spurlos. Während ihrer Gespräche mit dem Psychiater Dr. Davis kommt Carolin eine schockierende Erkenntnis – und sie weiß: Wenn sie ihre Unschuld beweisen will, muss sie irgendwie aus der Psychiatrie raus und Odile finden. Doch die Wahrheit ist ganz anders, als sie zu wissen glaubt …
Frisch geduscht und mit einem seidenen Kimono mit Drachenmotiv am Leib, schaue ich hinab auf die Prinsengracht und trinke dabei japanischen Sencha aus einer hauchdünnen Tasse. Er riecht gut, und ich hoffe, dass er mich belebt und mir hilft, meine Gedanken zu ordnen.
Die Sonne strahlt vom Himmel, Amsterdam zeigt sich von seiner Schokoladenseite.
Das alles wird Maart nie mehr sehen.
Etwas in meinem Innern krampft sich zusammen, es ist ein diffuser Schmerz, aber so heftig, dass ich nach Atem ringe und ein Wimmern von mir gebe. Dabei ist meine Situation auch irgendwie zum Lachen, und vielleicht könnte ich das sogar, wäre Maart noch am Leben. Doch sein Tod überschattet alles, er erstickt jede kleine Freude und lässt jeden anderen Kummer und sogar meine Ängste lächerlich erscheinen.
Es ist absurd, kein Mensch wird mir das jemals glauben: Heute Morgen bewohnte ich noch eine ausbruchssichere Zelle in einer Klapse auf dem Land und seit einer halben Stunde residiere ich an einer der feinsten Adressen der Stadt.
Der Umschlag, der sich im Rucksack befand, enthielt eine Adresse, einen Schlüssel und die Nummer für den Türcode, und dies alles führte mich direkt in eine dieser prächtigen Altbauwohnungen, die ich bisher immer nur von außen bewundert habe.
Mir ist natürlich klar, dass Wilhelmine dahintersteckt. Rijkaard steht an der Wohnungstür. So heißt sie also, und hier hat sie ein paar von ihren ergaunerten Millionen angelegt. Sicher, solide und vor allen Dingen wunderschön. Die Räume sind hoch und großzügig und geschmackvoll möbliert: schöne, glänzende Möbel aus Kirschholz und Mahagoni, kombiniert mit modernen Lampen und Skulpturen. Es gibt eine Art Wohnzimmer, zwei Schlafzimmer, ein Esszimmer, eine gut ausgestattete Küche, zwei Bäder und einen Abstellraum.
An den Wänden hängen Impressionisten und ein bisschen Abstraktes, es würde mich nicht wundern, wenn darunter das eine oder andere Original wäre. Die dunklen Holzdielen sehen aus, als stammten sie aus dem 16. Jahrhundert, sie knirschen an manchen Stellen so vornehm, dass ich kaum wage, fest aufzutreten.
Drei Dinge haben Wilhelmine verraten: der Strauß mit weißen und blauen Lilien, der auf dem runden Tisch im Erker steht, und der Inhalt des Kleiderschranks in ihrem Schlafzimmer. Die Kleider, Röcke, Hosen, Kostüme und Blusen spiegeln Wilhelmines Geschmack wider, der zwischen elegant und retro changiert. Offenbar kann sie es sich leisten, etwa hundertfünfzig Quadratmeter puren Luxus einfach leer stehen zu lassen. Denn es sieht nicht so aus, als würde sonst noch jemand hier wohnen.
Über ihrem Nachttisch hängt – Indiz Nummer drei – ein in Silber gerahmtes Foto. Es zeigt Wilhelmine in jungen Jahren mit einem gut aussehenden Mann, beide sitzen im Heck eines Segelboots. Er hat den Arm um sie gelegt, man sieht ein Stück Segel, windverwehtes Haar, ein Schal flattert Wilhelmine hinterher. Wer der Mann wohl ist? Ein Liebhaber ? Ihr Ehemann? Jedenfalls muss er ihr viel bedeutet haben, wenn sein Foto immer noch da hängt. Im Nachhinein bedaure ich, dass ich nicht genug Zeit hatte, um mich ausführlicher mit ihr zu unterhalten und etwas über ihr wildes Leben zu erfahren.
Noch etwas wüsste ich gerne: Wer hat die Obstschale im Esszimmer mit Weintrauben, Pfirsichen und Äpfeln gefüllt? Beschäftigt Wilhelmine eine Putzfrau für eine leere Wohnung? Jedenfalls ist alles blitzsauber und nirgendwo liegt Staub.
Ist es hier wirklich sicher für mich?
Fragen über Fragen, aber im Augenblick bin ich hauptsächlich froh, dass mir die Flucht aus der Villa Rosengarten gelungen ist und ich hier kurz durchatmen kann.
Wieso muss ich jetzt an Dr. Davis denken und daran, dass er wahrscheinlich jetzt gerade sehr enttäuscht von mir ist? Ich schiebe den Gedanken weg, oder versuche es wenigstens. Bestimmt hat er schon Kommissar van Eyk benachrichtigt. Der wird auch enttäuscht sein von mir. Aber das wird noch eines meiner geringsten Probleme sein, falls er mich in die Finger kriegt. Ich wette, es läuft schon eine öffentliche Fahndung nach mir. Aber wer würde schon eine mutmaßliche Mörderin, wie es immer so schön heißt, in so einem Prachtbau mitten in Amsterdam vermuten?
Ich esse ein bisschen Obst, dann lege ich mich auf die seidige, rosengeblümte Tagesdecke von Wilhelmines Bett. Ich will nicht schlafen, denn wenn ich einschlafe, dann wache ich auf und der Schmerz über Maarts Tod wird mich wieder überrollen, so wie heute schon einmal. Gleichzeitig verspüre ich den Wunsch, mich wie ein verwundetes Tier hier einzuigeln und dieses Bett nie mehr zu verlassen.
Du darfst dich jetzt nicht gehenlassen, Carolin! Es gibt noch ein paar Dinge zu tun.
Anstatt zu schlafen oder mich meinem Schmerz zu überlassen, sollte ich vielmehr darüber nachdenken, wie es weitergeht. Aber ich kann kaum einen klaren Gedanken fassen, ich muss immer nur an Maart denken und schließlich werde ich von einem Heulkrampf erfasst. Irgendwann schlafe ich dann doch ein.
Wilhelmines Wecker zeigt fast neunzehn Uhr, als ich wieder wach werde. Da war wieder der Gefängnistraum von heute Morgen. Das lässt mich hoffen. Fragmente meines Back-ups sind demnach schon wiederhergestellt und irgendwann wird sich hoffentlich ein ganzes Bild zusammensetzen, oder wenigstens so viel, dass ich mir den Rest denken kann. Vielleicht ist es wie bei einem Puzzle: Ab einem bestimmten Punkt kann man erkennen, dass es eine Katze wird, auch wenn noch etliche Teile nicht an ihrem Platz sind. Aber wann wird das sein? Wann werde ich klar sehen? Kann ich so lange warten? Kann Odile so lange warten?
Ich muss auf das Boot, denke ich. Saublöde Idee!, sage ich mir sofort. Dort werden sie dich als Erstes suchen. Bestimmt lungern bereits Polizisten in Zivil am Pier herum und warten darauf, dass ich ihnen in die Arme laufe.
Außerdem brauche ich ein Handy, Geld und ich müsste auch dringend mal ins Internet – vielleicht gibt es schon neue Erkenntnisse über Maarts Tod.
Noch immer quälen mich Zweifel. Wilhelmines Menschenkenntnis in allen Ehren, aber wie kann ich mir sicher sein, dass nicht ich …?
Okay, Carolin, halte dich lieber an die Fakten: Fakt ist, dass man mir im Abraxas Roofies oder etwas Ähnliches verabreicht hat. Aber warum? Falls Alexander mich loswerden wollte, weil ich zu viele Fragen nach Odile gestellt habe, hätte es doch gereicht, mich einfach rauszuschmeißen. Wozu die Betäubung?
Da ist wieder dieser erschreckende Gedanke, der mir schon gestern bei der Sitzung mit Dr. Davis gekommen ist: Vielleicht hatte das alles gar nichts mit Odile zu tun. Was, wenn Alexander und seine Mitarbeiterin Ella mich betäubt und zu diesem ominösen Playground geschleppt haben, damit perverse Typen Gott weiß was mit mir anstellen können? Ich habe plötzlich einen säuerlichen Geschmack nach Erbrochenem in der Kehle und muss würgen.
Was ist danach passiert? Irgendwie muss ich vom Abraxas wieder nach Hause gekommen sein. Hat Alexander oder jemand von seinen Leuten mich zurück aufs Boot gebracht, in der Gewissheit, ich würde mich an nichts mehr erinnern?
Und dann? Warum sollten sie Maart getötet haben? Sie hätten mich abliefern und behaupten können, ich hätte mich aus freien Stücken zugedröhnt. Hat Maart das nicht geglaubt, gab es deswegen Streit, war es ein tödlicher Unfall? Nein. Maart wurde erstochen, und wenn ein Messer im Spiel war, war es sicher kein Unfall.
Im Grunde passt Maarts Tod überhaupt nicht ins Bild. Es sei denn … es sei denn, ich hatte im Drogenrausch Streit mit Maart – Gründe dafür gab es ja. Sollte wirklich ich zum Messer gegriffen und Maart erstochen haben, gehöre ich entweder ins Gefängnis oder in die Psychiatrie. Vielleicht wäre ich besser dort geblieben.
Ob man unter dem Einfluss von Roofies zu aggressivem Verhalten neigt? Gehört habe ich davon noch nie. Im Gegenteil, Roofies werden doch gerade deshalb als Vergewaltigungsdroge bezeichnet, weil die Leute davon komplett willenlos werden.
Das alles passt hinten und vorne nicht zusammen.
Ich kann nicht ewig hier herumsitzen und mich meiner Weltuntergangsstimmung hingeben, dafür bin ich nicht aus der Villa Rosengarten abgehauen. Ich muss Odile finden und außerdem habe ich inzwischen einen höllischen Kohldampf. Allerdings gilt es vorher noch, mich zu tarnen. Nur, wie? Dass Wilhelmine Kapuzenpullis und Basecaps in ihrem Kleiderschrank beherbergt, halte ich für ziemlich unwahrscheinlich, obwohl man bei ihr ja nie vor Überraschungen sicher ist.
Oben auf dem Schrank stehen eine Reihe ausgesprochen dekorativer runder Hutschachteln. In einer davon finde ich einen Strohhut, auf dessen breiter Krempe sich ein halber Blumenladen tummelt. Damit könnte man sich getrost in Ascot sehen lassen, aber auf jeden Fall dürfte er eine Hilfe sein gegen diverse in der Stadt verteilte Webcams, die womöglich von der Polizei überwacht werden. Es war ohnehin schon leichtsinnig von mir, ohne entsprechenden Schutz vom Busbahnhof bis hierher zu laufen.
Ich gehe die Treppe runter. Allein das Treppenhaus mit seinem schmiedeeisernen Geländer und den kunstvoll gekachelten Wänden ist eine Wucht. Ich bin schon fast an der Tür, als ich wie vom Blitz getroffen stehen bleibe. Im Vorbeigehen habe ich unbewusst und automatisch die Namen an den Briefkästen gescannt, und an einem steht: van Eyk.
Wie? Was? Wohnt etwa Kommissar van Eyk hier, in diesem Haus? Ganz ruhig, Carolin, keine Panik jetzt ! Van Eyk ist ein Name, der in Holland häufig vorkommt. Jedenfalls ist er nicht gerade selten, und auf gar keinen Fall ist es ein Grund, durchzudrehen. Ein Polizist verdient hierzulande bestimmt nicht genug, um an einer solchen Adresse zu residieren. Es ist ein Zufall, nichts weiter. Oder ein böses Omen. Oder zumindest eine Warnung.
Susanne Mischke wurde in Kempten im Allgäu geboren, lebt in Hannover und ist sowohl im Jugendbuch als auch in der Belletristik eine der bekanntesten deutschsprachigen Thriller-Autorinnen. Ihre Romane wurden in mehrere Sprachen übersetzt, die Erfolgstitel Mordskind und Die Eisheilige wurden vom ZDF verfilmt.
Originalausgabe
2019 bold, ein Imprint der
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eBook-Herstellung: Datagrafix GSP GmbH, Berlin (01)
eBook ISBN 978-3-423-43619-9 (epub)
ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-423-23000-1
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Mir ist kalt. Ich liege auf einem Tisch, Kerzen brennen, über mir sehe ich Gesichter. Sie sind verzerrt, so als hätte man einen Stein in einen spiegelglatten Teich geworfen. Dunkles Wasser schwappt um mich herum. Die Kerzen gehen aus. Das Wasser ist gar kein Wasser, es ist Blut, ich kann es riechen und dann … wache ich auf. Ein paar Bilder huschen noch fledermausartig durch meinen Kopf, ehe auch sie verschwinden.
Was für ein krasser Scheiß war das denn eben?
Mein Hals fühlt sich an wie Schmirgelpapier. Ich taste nach der Wasserflasche, denn um mich herum herrscht völlige Dunkelheit. Die Schlafzimmer des Hausboots befinden sich unter Deck und das kleine Bullauge liegt nur eine Armlänge von der Kaimauer entfernt, sodass schon tagsüber kaum Licht ins Zimmer dringt und nachts gar keines.
Der Griff zum Nachttisch geht ins Leere. Ich drehe mich zur Seite, mein Arm rudert suchend herum, doch da ist Luft, wo keine sein dürfte. Nicht nur die Flasche, die da immer steht, nein, das ganze Nachttischchen scheint weg zu sein, samt Wecker und Lampe. Wie ist das möglich?
Verwirrt richte ich mich auf und erschrecke mich fast zu Tode, denn es wird schlagartig hell und ich sehe erst einmal nur farbige Lichtkreise. Ein dumpfer Schmerz pocht von innen gegen meine Schädeldecke. Habe ich gestern zu viel getrunken? Keine Ahnung, was gestern war, mein Kopf ist wie leer gefegt. Ich blinzle. Die ersten Konturen treten hervor. Ich sehe eine kleine Kommode, einen Tisch und einen Stuhl, ein Fenster, zwei Türen. Die Wände sind leere weiße Flächen, kein Bild, kein Regal, keine Bücher – nichts. Das hier ist definitiv nicht mein Zimmer ! Noch nie zuvor habe ich diesen seltsamen Raum gesehen.
Das grelle Licht kommt von einem Deckenstrahler. Wieso ist er angegangen? Ein Bewegungsmelder ? Ich springe vom Bett. Der Kopfschmerz bohrt sich wie eine glühende Nadel in mein Hirn, ich höre mich stöhnen. Mit drei, vier torkelnden Schritten bin ich an einer der beiden Türen und … verdammt, wo ist die Klinke? Es gibt keine Klinke an dieser Tür ! Auch keinen Knauf oder Riegel, nur weiter oben ein Fenster aus dickem Glas. Dahinter: Dunkelheit.
Was, zum Teufel …?
Meine Verwirrung schlägt jetzt um in Panik und ich stoße einen kleinen, wimmernden Schrei aus.
Atmen, Carolin! Bleib ruhig! Das alles wird sich gleich irgendwie klären.
Die schmalere Tür hat eine Klinke und führt in einen kleinen, gekachelten Raum mit einer Toilette und einem Waschbecken, beides aus Stahl. Aus der Wand ragt in etwa zwei Metern Höhe ein Duschkopf. Das Deckenlicht ist angegangen, als ich die Tür geöffnet habe, und es dauert ein, zwei Schrecksekunden, ehe ich realisiere, dass das, was mir entgegenblickt, keine eigenwillige Interpretation von Edvard Munchs Schrei ist, sondern es ist mein Mund und es sind meine Augen, die mich groß und voller Angst anstarren.
Ich habe es in meinem dreiundzwanzigjährigen Leben noch zu keiner Haftstrafe gebracht, aber natürlich habe ich trotzdem eine Vorstellung davon, wie eine Gefängniszelle aussieht. Und dies hier sieht verdächtig nach einer aus.
Wie bin ich hierhergekommen? Was ist passiert?
Die Kälte der Bodenfliesen kriecht durch meine nackten Fußsohlen. Ich trete näher an den Spiegel heran. Meine Haut wirkt fahl und wächsern in diesem grässlichen Licht, die Augen sind dunkel umrandet von zerlaufener Wimperntusche, das Haar ist strähnig und wirr. Man könnte den Eindruck gewinnen, ich käme von einer Walking-Dead-Motto-Party. Was habe ich da eigentlich an? Woher kommt dieser graue Trainingsanzug, der an mir herumschlottert? Hastig fahren meine Hände unter das Oberteil. Ein weißes Unterhemd, ebenso unbekannt. Kein BH, aber ich trage mangels Masse eh nur selten BHs.
Ich ziehe die Hose ein Stück herab und registriere erleichtert, dass mir zumindest die Unterhose bekannt vorkommt.
Trotzdem, es ist ein extrem ungutes Gefühl, nicht zu wissen, wer mir diese Sachen angezogen hat. Ich selbst? Das kann man nur hoffen. Aber warum weiß ich dann nichts mehr davon? Warum erinnere ich mich an rein gar nichts?
Der totale Filmriss.
Es gab in meinen Leben bisher erst zwei Filmrisse. Einmal in der elften Klasse, als wir uns mit Wodka-Fanta übelst die Kante gegeben haben, das andere Mal war in meinem ersten Studienjahr in Groningen. Wir waren in einem dieser Clubs, in denen sie mit Pillen rumwerfen, als wären es Tic-Tacs, und ich wollte auch mal was ausprobieren. Das war vielleicht ein Scheißgefühl. Danach habe ich mir geschworen, es nie mehr so weit kommen zu lassen. Aber ich konnte mich beide Male wenigstens noch an den Anfang der Party erinnern und daran, dass ich zu viel getrunken und diese Pillen eigeworfen hatte. Gerade fällt mir ein: Beim letzten Mal bin ich auch nicht in meinem eigenen Zimmer aufgewacht. Aber doch wenigstens in meinen eigenen Klamotten. Na ja, zumindest lagen sie ganz in der Nähe herum.
Das ist drei Jahre her, inzwischen lebe ich in Amsterdam, und das hier ist vollkommen anders. Ich erinnere mich an keine Party, ich weiß nicht einmal, was das Letzte ist, an das ich mich erinnere. Da ist kein harter Schnitt, nur ein paar Bilder blitzen auf und Namen hallen mir durch den Kopf. Maart, Odile, Veronika, Jan … Da ist ein beklemmendes Gefühl im Zusammenhang mit Odile, aber es ist, als würde man mit dem Auto durch Nebel fahren, vorbei an gespenstischen Schatten, die nicht greifbar sind und die verschwinden, ehe man genauer hinsehen kann. Alles verschwimmt und ich kann die Erinnerungsfetzen zeitlich nicht einordnen.
Ich streiche mir das Haar zurück und dabei sehe ich im Spiegel, dass meine Hände ziemlich schmutzig sind. Irgendein bräunlicher Dreck. Reflexartig öffne ich den Hahn. Hellrote Rinnsale auf weißem Porzellan, sie werden dünner, verschwinden.
Ist das … war das etwa … Blut?
Ich bekomme Herzrasen. Hektisch untersuche ich meinen Körper nach Verletzungen, aber ich finde keine. Wessen Blut war das? War es überhaupt Blut oder habe ich mir etwas eingebildet? Ist das alles nur eine Wahnvorstellung, ein Höllentrip, der sich echt gewaschen hat? Habe ich doch irgendwo irgendwas eingeworfen oder wurde mir was echt Fieses untergeschoben, etwas, das mein Hirn praktisch in seine Einzelteile zerlegt?
Mein Hals ist immer noch trocken. Ich trinke ein paar Schlucke aus dem Hahn und mache mich dann auf die Suche nach meinen Sachen. Es gibt nicht viele Möglichkeiten, wo sie sein könnten, eigentlich nur in der Kommode. Ich finde Handtücher in der obersten Schublade, außerdem ein Hygiene-Equipment, wie man es aus Hotels kennt: Zahnputzzeug, Seife, Duschgel, Shampoo, Körperlotion und ein in Folie eingeschweißter Kamm. Es gibt sogar ein Paar weiße Stoffschlappen, nur ohne Hotelaufdruck. Ich ziehe sie an, weil mir die Kälte die Waden hinaufkriecht. Sie sind zu groß. Ich öffne die anderen zwei Schubladen. Eine ist leer, in der unteren liegt eine braune Wolldecke, ordentlich zusammengefaltet. Das war’s. Wo sind meine Klamotten? Wo ist meine Tasche, meine Geldbörse, die Brieftasche mit meinen Papieren und vor allen Dingen: Wo ist mein Handy?
Ich schlappe rüber zum Fenster und presse mein Gesicht an die Scheibe, wobei ich die Augen mit den Händen abschirme. Da draußen ist – nichts. Nur Dunkelheit. Ich merke, wie mir der Schweiß ausbricht. Ist das Fenster nur eine Attrappe? Bin ich einem Perversen in die Hände gefallen, der mich betäubt und in sein Kellerverlies verschleppt hat? Die Schreckensbilder sämtlicher Filme, Serien und Crime-Dokus, die ich jemals gesehen habe, brechen über mich herein. Doch bevor ich vollkommen überschnappen kann, haben sich meine Pupillen an die Dunkelheit gewöhnt, und jetzt erkenne ich die Umrisse von Bäumen und am Himmel ein paar Sterne. Noch nie war ich so froh über ein paar lausige Sterne.
Nirgendwo brennt ein Licht, da ist keine Spur von Zivilisation. Ich muss irgendwo oben sein. Drei, vier Stockwerke vielleicht, denn sonst könnte ich nicht über die Bäume hinwegsehen.
Aber wo bin ich? Jedenfalls nicht in Amsterdam, so viel steht fest. Diese Erkenntnis ist wie Spiritus für das Feuer meiner Panik.
Luft, ich brauche Luft.
Das Fenster hat einen Griff und es lässt sich auch öffnen, jedoch verhindert ein Eisengitter das Hinauslehnen. Es riecht nach gemähtem Gras, nach Erde und Blättern. Ein Hauch von Herbst. Stimmt, wir haben Ende August. Datum? Bin nicht sicher.
Kühle Nachtluft lässt mich ein wenig frösteln. Der Sommer war sehr groß, um es mit Rilke auszudrücken, aber jetzt werden die Nächte langsam frisch. Zumindest an diesem Nicht-in-der-Stadt-Ort.
Also ein Knast auf dem platten Land. Wie bin ich da hingekommen? Ich versuche mich an einem Szenario: Jemand, an den ich mich nicht erinnere, hat mir an einem Ort, an den ich mich auch nicht erinnere, irgendwas untergejubelt, das fürchterlich reinhaut. Ich taumle orientierungslos auf der Straße herum, vielleicht breche ich bewusstlos zusammen, jemand ruft den Notarzt … Nein, Quatsch, dann wäre ich ja in einem Krankenhaus. Ebenso, wenn ich einen Unfall gehabt hätte. Okay, ich bin also orientierungslos, vielleicht bewusstlos, jemand ruft, warum auch immer, die Polizei, und die steckt mich in eine Ausnüchterungszelle. Meine Klamotten sind vielleicht dreckig oder vollgekotzt, deshalb dieser Trainingsanzug. Aber warum liegt diese Polizeiwache nicht in der Stadt, sondern irgendwo im Nichts? Häftlings-Outsourcing?
Das alles ist absolut nicht zu erklären, und eigentlich kann man nur hoffen, dass ich gerade einer fetten Halluzination auf den Leim gehe. Leider fühlt es sich verdammt real an. Aber tun Halluzinationen das nicht immer ? Seit wann leide ich an Halluzinationen? Das wäre ja ganz was Neues.
Ich stelle mich an das Fenstergitter und rufe: »Hallo! Ist hier jemand?«
Nichts.
»Hilfe! Ich will hier raus, ich will verdammt noch mal hier raus! Hiiilfeee!«
Ich schreie zuerst, ganz automatisch, auf Deutsch, dann auf Holländisch und schließlich auf Englisch. Leider bringen mich meine Sprachkenntnisse kein bisschen weiter, im Gegenteil, die Schreierei lässt meinen Kopf beinahe platzen. Der Schmerz, den Schreck und Panik für kurze Zeit verdrängt haben, kommt mit Vehemenz zurück, aber auf meine Malaisen kann ich jetzt keine Rücksicht nehmen. Ich habe eine Wahnsinnsangst und ich will, dass irgendjemand Notiz von mir nimmt, egal wer, Hauptsache, ein menschliches Wesen. Ich muss jetzt sofort wissen, was los ist, wo ich bin und warum. Irgendwo in diesem Gebäude muss doch jemand sein, der mich hört, den ich fragen kann. Man kann mich doch nicht einfach mutterseelenallein einsperren und mich mir selbst überlassen.
Ich schreie erneut, so laut ich kann, um Hilfe, dann fällt mir etwas ein. Ich habe gehört oder gelesen, mal solle im Notfall statt Hilfe lieber Feuer rufen. Das würde die lieben Mitmenschen eher beunruhigen und zum Handeln bewegen als Hilfeschreie.
»Fire! Vuur ! Feuer !«
Ich lausche meinen Schreien nach, die von der Nacht verschluckt worden sind. Was folgt, ist – Stille.
Eine hämische Stille, die mich rasend macht.
Gewaltausbrüche sind sonst wirklich nicht meine Art. Unter meinen Freunden und Kommilitonen gelte ich als ruhig und beherrscht und ich weiß, dass manche mich vielleicht sogar als ein bisschen brav und langweilig beschreiben würden.
Die müssten mich jetzt mal sehen!
Ich ergreife den Stuhl und schlage damit auf die klinkenlose Tür ein. Diesen Höllenlärm muss doch jemand mitkriegen! Wieder und wieder pfeffere ich den hölzernen Stuhl gegen die Tür. Ich bin verzweifelt und bis unter die Schädeldecke vollgepumpt mit Adrenalin. Das große Schweigen um mich herum lässt mich immer panischer und wütender werden. Das kann doch nicht sein, dass niemand mich hört ! Gibt es in diesem Knast denn keine Nachtschicht?
Ich bin gerade dabei, dem Stuhl, der schon ziemlich gelitten hat, den Rest zu geben, als die Tür geöffnet wird.
Also, geht doch.
Eine Frau sieht mich aus wässrig blauen Augen streng an. Kurze mausbraune Haare, tiefe Tränensäcke, hängende Mundwinkel. Ihr Gesicht sieht haargenaus so aus, wie ich mir eine Gefängniswärterin vorstellen würde, nur passen der weiße Kittel und die Gesundheitsschuhe nicht ganz ins Klischee.
»Leg das weg«, faucht sie mich auf Holländisch an.
Erst jetzt wird mir bewusst, dass ich eines der Stuhlbeine in den Händen halte wie einen Baseballschläger.
»Ich will doch nur …«
Ehe ich den Satz beenden kann, erscheinen zwei Typen auf der Bildfläche: ein Dunkelhäutiger mit einer Kleiderschrankstatur und ein fettes, weißes Riesenbaby mit einem Mondgesicht. Beide tragen helle Overalls. Der Schrank schlägt mir mit einem gezielten Hieb das Stuhlbein aus der Hand, Mondgesicht packt mich von hinten an den Armen und hält mich fest.
»Hey! Was soll das? Loslassen, verdammt noch …« Mein Protest bleibt mir im Hals stecken, als ich sehe, wie die Frau eine Spritze aufzieht. Weiß der Geier, wo sie die so plötzlich herhat. Sie kommt auf mich zu, während sie mich auffordert, mich zu beruhigen.
Das ist doch ein Albtraum!, schießt es mir durch den Kopf.
»Nein, bitte! Warten Sie! Ich will doch nur wissen, wo ich bin und warum!«
»Und wir wollen keinen Radau mitten in der Nacht !«, antwortet die Frau, deren Gesicht mich an einen mürrischen Truthahn erinnert. »Aber keine Sorge, Fräulein, gleich ist Ruhe.«
Das Wort Fräulein hat sie auf Deutsch ausgesprochen. Anscheinend weiß man hier, dass ich Deutsche bin, sie müssen demnach meine Papiere in die Finger bekommen haben. Mein Vater stammt aus Bremen und ich bin in einem Dorf in Nordfriesland groß geworden. Meine Mutter ist Holländerin, daher bin ich zweisprachig aufgewachsen.
»Nein, bitte! Keine Spritze, nicht, ich hasse Spritzen, ich werde auch ganz still sein!«
Niemand reagiert auf meine Worte. Ich wehre mich mit aller Kraft, aber der Fettkloß hinter mir hat Hände wie ein Schraubstock. Ich trete mit den Füßen nach dem Truthahn, die Schlappen segeln durch die Luft, ich keile nach hinten aus und trete Mondgesicht vors Schienbein.
»Leo, fass mal mit an!«, sagt Mondgesicht zu Kleiderschrank. Leo bekommt meine Beine zu fassen. Sie zerren mich auf die Pritsche, ein zappelndes, zeterndes Wutpaket. Dann kann ich nur noch zusehen, wie sich die Nadel ins Fleisch meines Oberarms bohrt.
Ich beschimpfe die ganze Bande in meinen beiden Muttersprachen, doch mitten im schönen deutschen Wort Arschl… versagt mir die Zunge und ich gleite hinüber ins Nirwana.
»Schon erste Eroberungen gemacht?«, erkundigt sich Tom das Pferd in plump vertraulichem Ton.
»Stimmt es, dass er seine Mutter mit einem Beil erschlagen hat?«
»Tut mir leid, ich darf über andere Patienten nicht sprechen.«
»Verstehe.«
»Ach, pfeif drauf. Es weiß hier sowieso jeder, er geht ja regelrecht hausieren damit. Es ist wahr. Aber nach dem, was man so hört, hat sie es auch verdient.«
Beklommen frage ich mich, was man in Toms Augen wohl getan haben muss, dass man es verdient, mit einem Beil erschlagen zu werden.
»Keine Sorge, wir achten streng darauf, dass er seine Medikamente nimmt.«
Die Tatsache, dass mir schon wieder einer sagt, dass ich mir keine Sorgen machen muss, bewirkt genau das Gegenteil. Nicht nur wegen Ben. Wegen allem hier.
»Dann ist ja alles in Butter«, sage ich.
Manchmal hilft Sarkasmus. Aber heute nicht.
Wir betreten wieder den Aufzug, fahren aber nur ein Stockwerk höher. Ich hätte lieber die Treppe genommen, aber vielleicht ist das eine Vorschrift, dass die Irren immer in Aufzügen transportiert werden müssen, so wie in den amerikanischen Filmen die Klinikpatienten immer in Rollstühlen herumgeschoben werden, selbst dann, wenn die schon wieder mopsfidel sind.
Tom öffnet eine Glastür, die in ein Foyer führt. Hinter einem Tresen, halb verdeckt von einem Bildschirm, sitzt die Vorzimmerdame: klein, zierlich, blauäugig, blonde Haare bis zum Hintern. Mit einer piepsigen Kleinmädchenstimme teilt sie uns mit, dass der Doktor uns bereits erwartet.
Links vom Tresen gehen drei Türen ab. Tom klopft an der mittleren kurz an, wartet auf das Herein von drinnen, ehe er sie öffnet und mich auffordert, reinzugehen.
Widerstrebend gehorche ich. Was erwartet mich wohl da drin? Was werde ich zu hören kriegen? Bestimmt nichts Gutes. Man wird nicht einfach so in ein Zimmer ohne Klinken gesperrt.
»Danke, Tom«, höre ich eine wohltemperierte Männerstimme sagen.
Der Psychiater steht auf, während Tom die Tür von außen schließt. Er dürfte Mitte vierzig sein und er ist kaum größer als ich, und ich bin eins siebzig. Hält er sich deshalb diese Bonsai-Vorzimmerdame, damit er neben ihr größer rauskommt? Unwillkürlich muss ich an meine große, korpulente Tante Elsbeth denken, die sich einen SUV angeschafft hat, weil sie daneben kleiner und zierlicher zu wirken glaubt. Ich halte mich praktisch in Gedanken an Tante Elsbeth fest, denn manchmal hilft es gegen Beklemmungen, wenn man an etwas Harmloses denkt. Oder einfach nur an etwas anderes als das, was einem gerade Furcht einflößt.
Dr. Davis lächelt mir höflich zu. Sein dunkles Haar ist ohne eine Spur von Grau, sein Teint erinnert an poliertes Holz, mit tiefen Furchen von der Nase bis zu den Mundwinkeln. Bens despektierlicher Spruch von den indischen Kuhaugen fällt mir wieder ein. Tatsächlich, die Augen von Dr. Davis sind rund und dunkel, mit langen Wimpern und schweren Lidern. Es sind schöne Augen und sie blicken einem so sanft entgegen, dass man unweigerlich versucht ist, ihm zu vertrauen. Gefährlich, diese Augen. Für diese Erkenntnis hätte es Bens Warnung gar nicht gebraucht.
»Carolin, ich grüße Sie. Darf ich Sie Carolin nennen? Ich bin Dr. Tarek Davis. Ich bin Psychiater und spezialisiert auf Traumatherapie und die Behandlung von Amnesien.«
Ich erwidere seinen kurzen Händedruck und erschnuppere dabei ein sehr dezentes, sehr edles Rasierwasser. Sein Anzug ist maßgeschneidert, so etwas erkenne ich inzwischen auf einen Blick. Der Stoff ist vom Feinsten, er schillert in verschiedenen Nuancen von Anthrazit und besitzt ein filigranes, eingewebtes Fischgrätmuster. Unter dem Sakko trägt er ein eierschalenfarbenes Hemd, dessen oberster Knopf offen steht, ein Anflug von Lässigkeit, der seine Eleganz nur noch unterstreicht. Ich dagegen fühle mich in meinem grauen Anstaltsanzug jetzt erst so richtig schmuddelig.
Ist das der Grund, warum er sich so rausgeputzt hat? Um seinen Patienten vom ersten Augenblick an ein Gefühl der Unterlegenheit zu vermitteln? Oder ist er einfach nur eitel?
»Setzen Sie sich, wo es Ihnen gefällt.« Er deutet auf eine Sitzgruppe aus Rattan, bestehend aus einem Zweiersofa, zwei Sesseln und einem quadratischen Tischchen mit einer Glasplatte. Darauf stehen zwei Gläser und eine Karaffe mit stillem Wasser, in dem zwei Limettenscheiben schwimmen.
Ich frage mich, ob die Wahl des Sitzplatzes bereits ein Test ist. Wird er mir ein aufgeblasenes Ego unterstellen, wenn ich mich mitten auf das Sofa setze? Schüchternheit, wenn ich mich in die Ecke quetsche? Weil ein zu langes Zögern meine Unsicherheit verraten könnte, wähle ich den Sessel, der es mir ermöglicht, auf den Park zu blicken. Das ist allemal interessanter, als das nichtssagende abstrakte Gemälde links von mir ansehen zu müssen oder vom Sofa aus die drei goldgerahmten Urkunden hinter seinem Schreibtisch. Die mittlere ist eine Promotionsurkunde von der University of Oxford, das kann ich sogar auf die Distanz erkennen. Beim Hinsetzen wische ich mir klammheimlich meine schweißfeuchten Hände an der Hose ab. Wenn er ein Hund wäre, könnte er meine Angst auf hundert Meter riechen. Aber er weiß es sicherlich auch so. Das ist ja schließlich sein Job.
Dr. Davis nimmt den anderen Sessel.
»Warum bin ich hier ?«, platzt es aus mir heraus, kaum dass mein Hintern den roten Kissenbezug berührt hat.
»Das ist eine gute Frage. Genau das gilt es, im Laufe Ihres Aufenthaltes hier in der Villa Rosengarten zu klären«, antwortet er.
Wie bitte? Im Laufe Ihres Aufenthalts? Ich will gerade den Mund öffnen, um zu protestieren, als Dr. Davis sagt: »Zunächst einmal möchte ich mich für die Behandlung entschuldigen, die Ihnen während der vergangenen Nacht zuteil geworden ist. Das Personal der Nachtwache ist manchmal etwas vorschnell damit, desorientierte Patienten ruhigzustellen. Es tut mir leid, ich bitte um Verzeihung dafür.«
Ich finde, es sollten sich lieber der Truthahn und seine Gefolgschaft bei mir entschuldigen, aber das ist jetzt nicht wichtig. Dennoch muss ich eingestehen, dass dieser Auftakt ganz schön raffiniert war. Damit hat er mir den Wind aus den Segeln genommen, denn eben jene Beschwerde wollte ich gerade vorbringen.
»Entschuldigung angenommen«, sage ich, ohne den Blick von ihm zu wenden. »Und jetzt würde ich wirklich gerne wissen, wie ich hierhergekommen bin, und warum ich hier bin.«
»Sie sind gestern Abend in einem Polizeifahrzeug hergebracht worden.«
»Ein Polizeifahrzeug?«, wiederhole ich entsetzt. Ich sehe mich selbst, wie ich in Handschellen abgeführt und in einen Streifenwagen gesetzt werde. Es ist aber keine Erinnerung, nur ein Schreckensszenario.
»Sie erinnern sich nicht daran?«
»Nein! Aber warum denn?«, rufe ich verzweifelt.
»Sehen Sie, Carolin, deshalb sitzen wir hier. Sie scheinen an einer Amnesie zu leiden, möglicherweise ausgelöst durch Drogen oder durch ein Trauma …«
»Ich nehme keine Drogen«, schnaube ich.
»Sie müssen sie ja nicht selbst eingenommen haben.«
Damit könnte er recht haben. Vor allen Dingen, wenn man bedenkt, in welch zwielichtigen Kreisen ich mich zuletzt bewegt habe. Ich spüre, wie ein Anflug von Panik mich überkommt, wehre das aber ab, indem ich mich bewusst forsch gebe.
»Wo sind meine Sachen?«, frage ich.
»Ihre Kleidung wurde von der Polizei beschlagnahmt, zur Sicherung forensischer Spuren, nehme ich an.«
»Forensische Spuren?« Irgendetwas passiert mit meinem Atem, ich bekomme kaum noch Luft. Automatisch wandert mein Blick zu meinen Händen. Das Blut … Als ich hastig wieder aufsehe, merke ich, wie dumm das war. Denn natürlich achtet Dr. Davis nicht nur auf das, was ich sage, sondern wahrscheinlich noch viel genauer auf meine Körpersprache. Dieser Blick eben hat mich bestimmt verraten.
»Was für Spuren?«, quetsche ich hervor.
»Über Einzelheiten bin ich nicht informiert.«
»Die Polizei … die müssen Ihnen doch gesagt haben, was passiert ist, warum sie mich hergebracht haben? Man kann mich doch nicht ohne Grund hier festhalten.« Ohne es zu wollen, bin ich laut geworden. Sein Herumeiern macht mich rasend. Gleichzeitig fürchte ich mich vor dem, was er wissen könnte und ich nicht weiß.
»Niemand hält Sie hier fest«, höre ich ihn sagen.
»Wirklich?« Ein trügerischer Funken Hoffnung glimmt auf. Ist meine Furcht also unbegründet? Alles nur ein Missverständnis? Die blutigen Hände, das Zimmer in Block C? Die simple Logik sagt mir, dass es nicht so ist. Dieser Psychiater versucht wahrscheinlich nur, mich einzuseifen. Unwillkürlich muss ich an Bens Warnung denken und merke gleichzeitig, wie kurios es ist, mich auf die Worte eines Mörders zu verlassen. Aber es stimmt schon: Warum sollte ich Dr. Davis vertrauen? Ich weiß ja nicht einmal, für wen er arbeitet. Für mich oder für die Polizei.
»Carolin, ich wünschte mir, dass Sie Ihren Aufenthalt hier als ein Angebot betrachten.«
»Ein Angebot?«
»Ja, ein Angebot. Sie können es annehmen oder ablehnen. Ich weiß, Sie kennen mich und meine Methoden nicht, aber ich darf Ihnen versichern, dass ich gut bin in dem, was ich tue. Ihr Fall interessiert mich. Ich möchte mit Ihnen daran arbeiten, Ihre Erinnerung wiederzuerlangen. Denn wie Sie schon sagten, die Polizei hat Sie nicht grundlos hierhergebracht. Es ist etwas geschehen.«
Da ist es wieder, dieses Gefühl, als hätte ich einen viel zu engen Rollkragenpullover an. »Und was?«, presse ich hervor.
Dr. Davis sieht mich an und sagt ernst: »Sie wissen es, Carolin. Die Erinnerung daran ist nur verschüttet. Das ist nicht ungewöhnlich. Unfallopfer zum Beispiel erinnern sich häufig nicht an den Hergang des Unfalls. Es ist ein Schutzmechanismus. Ich bin gewissermaßen ein Archäologe, ich bringe Verschüttetes wieder zum Vorschein.«
»Sie meinen, es gibt irgendwo in meinem Gehirn ein Back-up, aber mir fehlen momentan die Zugangsdaten.«
»Genau das wollte ich sagen«, meint er und lächelt.
»Warum sagen Sie mir nicht einfach, was passiert ist? Vielleicht fällt es mir dann auch wieder ein.«
»Nun, das wird ein wenig schwierig …«, beginnt Dr. Davis und reibt sich sein glattes Kinn.
Hat dieser Oxford-Doktorand in seinem Maßanzug eigentlich eine Vorstellung davon, wie es mir geht? Wie das ist, wenn man in einer Anstalt aufwacht und nichts mehr weiß von den letzten paar Stunden oder gar Tagen? Anscheinend nicht, denn sonst würde er mich erlösen und die Fakten auf den Tisch legen. Aber der scheint mir einer zu sein, der gern rumschwadroniert und sich selbst beweisen muss, was für ein toller, kompetenter Typ er ist. Notfalls auch, indem man die Dinge unnötig verkompliziert.
»Was soll daran schwierig sein?«, entgegne ich.
»Ich kenne die Wahrheit auch nicht.«
Ich merke, wie meine Angst in Wut umschlägt. »Das glaube ich Ihnen nicht. Die Polizei hat mich ja wohl nicht in einem Körbchen vor der Tür abgestellt, irgendwas müssen die Ihnen doch gesagt haben.« Mir kommt plötzlich ein Gedanke: »War es Kommissar van Eyk? Hat er das veranlasst?«
»Sie erinnern sich also an Kommissar van Eyk?«
»Ja, ich erinnere mich an van Eyk. Hat er meine Einweisung hierher veranlasst?«
»Lassen Sie uns zu einem späteren Zeitpunkt darüber reden, einverstanden?«
Van Eyk also. Kommissar van Eyk. Es fühlt sich an wie ein Boxhieb in die Magengrube. Ich habe ihm vertraut. Wie konnte ich einem Polizisten vertrauen? Aber er wirkte nett und kompetent … Wie konnte ich so dämlich sein?
»Was habe ich getan, das ihn veranlasst hat, mich in die Klapse zu stecken?«, rufe ich aufgebracht und setze ein wenig milder hinzu. »Ein paar Stichpunkte wären wirklich ganz hilfreich. Bitte.«
Dr. Davis seufzt wie jemand, der ein hartes Stück Arbeit vor sich hat.
»Carolin, denken Sie nicht, es wäre in Ihrem Sinn, wenn Sie selbst sich wieder erinnern würden? Sich selbst vertrauen Sie doch von allen Menschen am meisten, oder ?«
Ich merke, wie ich erröte. Er weiß also, dass ich ihm nicht traue. Aber er hat recht. Ich traue ihm nicht, und nicht nur ihm – ab sofort traue ich keinem mehr.
»Ich möchte Ihnen helfen, aber ich möchte Sie dabei so wenig wie möglich beeinflussen. Lassen Sie mich noch hinzufügen, dass alles, was hier gesprochen wird, streng vertraulich ist. Ich unterliege der Schweigepflicht, es wird auch keine Aufzeichnungen geben, es sei denn, Sie möchten das.«
»Was? Nein!«
Ich bin verwirrt, nein, regelrecht verstört. Und wütend und enttäuscht und voller Angst. Ich habe mir von dem Gespräch mit dem Psychiater Klarheit erhofft, aber das Gegenteil ist der Fall. Und van Eyk – den soll der Teufel holen! Sie scheinen alle unter einer Decke zu stecken.
Ich versuche, einigermaßen klar zu denken. Wenn ich die Worte des Psychiaters richtig deute, dann muss also etwas geschehen sein, das ausreicht, um einen Schock auszulösen, der wiederum eine Amnesie zur Folge hat. Und dieser Mistkerl von einem Shrink weiß oder ahnt, was es ist, will es mir aber aus taktischen Gründen nicht sagen.
»Sie sprachen von einem Angebot«, erinnere ich ihn an seine Worte. »Also könnte ich jetzt auch aufstehen und rausspazieren?«
»Nicht ganz«, erwidert er.
War ja klar.
Die Sanftheit seines Blicks ist einer gewissen Entschlossenheit gewichen, als er erklärt: »Die Alternative zu Ihrem Aufenthalt in der Villa Rosengarten wäre entweder die staatliche forensische Psychiatrie – was ich Ihnen wirklich nicht empfehlen würde – oder die Untersuchungshaft.«
Untersuchungshaft? Es ist ein Gefühl, als würde ich irgendwo runterstürzen. Mein Puls rast, ich bekomme Atemnot.
»Trinken Sie einen Schluck.« Er gießt Wasser aus der Karaffe in die zwei Gläser und schiebt eines davon zu mir hin. Den Schluck kann ich wirklich vertragen, mein Hals ist schon wieder ganz trocken.
Ein aufmunterndes Lächeln weht über sein Gesicht. »Ich kann gut nachfühlen, dass Sie zutiefst verunsichert sind, Carolin …«
Der Kerl hat wirklich einen sonnigen Humor. Zutiefst verunsichert war ich früher, wenn ich vor der Klasse ein Referat halten sollte. Meine jetzige Situation ist damit nicht vergleichbar. Ich bin nicht verunsichert, ich habe eine Scheißangst. Schiere, nackte Angst. Ich habe jeden Halt verloren, mir ist, als taumelte ich durch luftleeren Raum, ohne Koordinaten … Wenn es das ist, was er unter verunsichert versteht, dann bin ich das wohl.
»… aber seien Sie nicht gar so misstrauisch. Ich will Ihnen nichts Böses, niemand hier will das.«
Was den Truthahn von heute Nacht angeht, bin ich mir da nicht so sicher. Und für Dr. Oxford-Diplom hier bin ich vermutlich nichts weiter als eine Laborratte, auch darüber muss ich mir keine Illusionen machen.
»Dass man Sie in Polizeigewahrsam genommen hat, muss noch lange nicht heißen, dass Sie etwas getan haben«, fährt er fort. »Aber möglicherweise verfügen Sie über wichtige Informationen. Zumindest glaubt das die Polizei. Sie könnten eine Zeugin sein. Haben Sie daran schon mal gedacht?«
Nein, habe ich nicht. Ich weiß schließlich erst seit ein paar Sekunden, dass ich eigentlich in den Knast gehöre. Ich klammere mich an seine Worte wie eine Ertrinkende an einen Rettungsring. Zeugin. Wichtige Informationen. Vielleicht habe ich tatsächlich gar nichts getan.
»Angesichts der Alternative haben Sie im Moment nichts zu verlieren«, gibt Dr. Davis zu bedenken.
Während ich mir Wasser nachgieße – es geht etwas daneben, weil ich dabei so sehr zittere –, erwäge ich die Alternative. Eine Zelle in der U-Haft. Allerdings ist die nicht von Dauer. Ein, zwei Tage, dann muss Anklage erhoben werden. Spätestens dann würde ich erfahren, was man mir vorwirft. Oder es gibt nichts, dann könnte ich gehen. Aber was, wenn es doch etwas gibt, was immer dieses Etwas auch sein mag? Ich gebe Dr. Davis nur ungern recht, aber es wäre vielleicht wirklich nützlich, meine eigenen Erinnerungen wiederzuerlangen und mich nicht auf das zu verlassen, was andere mir erzählen. Selbst ein böses Erwachen wird besser sein als diese Ungewissheit.
»Ihre Methode, von der Sie vorhin gesprochen haben«, beginne ich zögernd. »Wie muss ich mir die vorstellen?«
Er zieht seine rechte Augenbraue in die Höhe, was ihn auf eine etwas arrogante Art amüsiert aussehen lässt.
»Nichts, wovor Sie sich fürchten müssen.«
Ob es wohl möglich ist, von diesem Menschen einmal eine klare Antwort zu bekommen?
»Also gut«, sage ich und füge vorsichtshalber hinzu: »Aber ich lasse mich nicht hypnotisieren.«
Er scheint amüsiert zu sein. »Daran habe ich auch gar nicht gedacht.«
Ermutigt fahre ich fort: »Und ich mache keine dämlichen Spielchen mit, ich nehme nicht an Stuhlkreisen teil und ich schlucke keine Pillen. Und vor allen Dingen: keine Spritzen mehr !«
»In Ordnung. Ich bevorzuge ohnehin die gute, alte Elektroschocktherapie. Da weiß man, was man hat.«
Ich glotze ihn an wie ein Karpfen, ehe ich den Witz kapiere und antworte: »Werden Sie mir den Kopf rasieren oder macht das der mürrische Truthahn von heute Nacht?«
Er legt den Kopf in den Nacken und lacht ungehemmt los. »Mürrischer Truthahn«, wiederholt er nach Luft japsend. »Das ist gut.« Noch immer mit einem Lachen in den Augenwinkeln versichert er: »Abgemacht. Und Sie lassen dafür freundlicherweise unser Mobiliar ganz.«
Etwas verlegen verspreche ich ihm, Personal und Inneneinrichtung künftig friedfertiger zu begegnen. Meine Angst hat ein bisschen nachgelassen und zu meiner Überraschung merke ich, dass ich anfange, ihn zu mögen.
Vorsicht, Carolin! Nur, weil er Zugeständnisse macht, die im Grunde gar keine sind, und über deine Witze lacht, musst du ihm nicht gleich verfallen. Bleib wachsam. Das gehört alles zu seiner Strategie, dich einzuwickeln und weichzukochen.
»Ich möchte ein anderes Zimmer. Eins mit einer Türklinke und einem Schlüssel auf meiner Seite.«
»Das dürfte schwierig werden, denn es ist das einzige, das noch frei ist.«
»Sorry, Dr. Davis, aber Sie lügen ziemlich schlecht.«
»Dafür kann ich Lügen ganz gut erkennen«, kontert er.
War das eine Warnung?
Er lehnt sich zurück und betrachtet mich. Ich versuche, seinem Röntgenblick standzuhalten, aber irgendwann wird es mir zu blöde und ich lasse ihm den kleinen Sieg.
»Welchen Tag haben wir heute?«, fragt er.
Darüber habe ich mir auch schon den Kopf zerbrochen. »Ich glaube, Freitag. Oder nein, Samstag. Samstag, der 25. August?«
»Knapp daneben. Es ist Sonntag, der 26.«
Wo zum Teufel sind die zwei Tage hin?
»Was ist das Letzte, woran Sie sich erinnern können?«
»Das ist es ja: Ich weiß es nicht. Ich glaube, ich bin in meinem Zimmer auf dem Boot. Oder in diesem Club … Aber ich weiß nicht genau, was die letzte Erinnerung ist. Da sind verschiedene Bilder, aber ich kann sie nicht chronologisch einordnen.«