Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek:

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1. Auflage, 2020

© Reiner Bonack

Titelbild: Acrylmalerei: Angelika Bonack

Herstellung und Verlag: Books on Demand GmbH, Norderstedt

ISBN 978-3-7504-5930-4

FÜR ANGELIKA

Wart auf mich –

irgendwo

Ich finde Dich

WAS SICH MIR EINSCHRIEB

Am Abraum

(Rückblende)

Efeu wuchert über

das alte Holz des Schuppens

Der Kirschbaum bildet

ein Weltall aus

Laubwerk und kleinen Sonnen

Jemand,

vor seinem Tod,

mit der Wucht des Wagens wird

die verbliebene Kastanie

am Straßenrand fällen

Im Handschuhfach

wird man ein Hufeisen finden,

verlässliche Nachricht aus

dem verlassenen Ort

Sommerlang noch

wächst Efeu über

das alte Holz,

fressen Stare

das Weltall leer

Rückkehr

(Meiner Mutter gewidmet)

Weißt du noch, die Luft

ist wie die Atmosphäre der Venus,

hast du damals gesagt,

sagte sie – wir

waren vor ihrem Tod

noch einmal,

nach vielen Jahren,

in S.

Weißt du noch

Weltall Erde Mensch

lag vor dir

auf dem Küchentisch,

im Radio, viel zu laut

für die Ohren hinter den Wänden,

kreischten diese

langhaarigen Gammler, stand

der Wind schlecht, zog

Rauch und Gestank wie von faulen Eiern,

Brikettfabrik, Kokerei, Synthesewerk, Qualm

der Töfftöffs – diesen Hühnerschrecks,

von den Kippern, LKW, Wartburgs, Trabants ...

Wie in der Atmosphäre der Venus,

hast du gesagt, obwohl

über die Venus damals

noch wenig bekannt war, und wir

selten Sterne sahen, nachts,

nur von fern, manchmal

das blaue Blitzen der Grubenbahnen,

und, jetzt, nicht zu glauben, liegt

die Stadt an einem See,

und wir

haben kein Badezeug mit –

ich hatte das alles

fast vergessen,

und du –

du weißt das noch?

Rücksicht

Diese verlorenen Sonntage,

die nichts forderten als

nur da zu sein, mit frisiertem Lächeln,

bitte gibst du mir freundlicherweise

die Milch, Tante Paula

hat dich sogar schon, danke,

verteidigt als Kind, obwohl du es uns

nicht leicht gemacht hast, allein

der Ritt auf dem Giebel des Daches,

die dreisten Antworten, weißt du noch,

deine Schuhe hielten

nur einen einzigen Sommer,

bis du dich, eines Tages, geschämt hast,

wenigstens vor

den Mädchen der Klasse, nimm

noch ein Stück, ich backe ja längst

nicht mehr selbst, obwohl

Paula sagte, das wäre doch

ein Fest, wenn du kommst, greif zu,

es ist, du weißt es,

genug davon da

Diese verlassenen Sonntage,

sage ich leise,

wer bringt auch nur einen

davon zurück

Was ich wusste

Ich hatte noch keine Ahnung

von den versteckten Düften der Mädchen

Unergründlich war mir, warum

die bucklige Martha von Mieths

an jedem Sonntagmorgen

mit ihrem Fahrrad den Umweg

durch die Scheunenstraße nahm,

um zu Tischler Kurt zu gelangen,

der im Anbau hinter der Werkstatt wohnte

Geheimnisvoll erschien mir, warum

die Nacht den am Vortag

frisch gefallenen weißen Schnee

dauerhaft dunkel färbte wie

die Gesichter der Kohlenträger

Ein Rätsel auch, warum

meine erste Lehrerin, Frau Z.,

bei Nacht und Nebel

westwärts in Richtung

der goldenen Berge verschwand,

obwohl die Nächte

in jenem Mai wie selten

sternklar gewesen waren

Unverständlich blieb,

von welchen lichten Zeiten

die lauten Sprecher im Radio

vor dem Wetterbericht sprachen

Nicht deuten konnte ich

den wehmütigen und gleichzeitig

entschlossenen Ton in Großvaters Stimme:

Du sollst es

einmal besser haben

Ich sah noch nicht

den Dampf der Lokomotive,

die mich wegziehen würde

in die weitere Welt

und bis in die Welt

der Bücher

Unbekannt war mir

die Tatsache, dass

das Ungesagte in Gedichten,

bei Hilde Domin beispielsweise,

mehr mitteilen kann

als das deutlich Gesagte

Nichts wusste ich

von einem Klavierkonzert,

das lange nach seiner Entstehung

geschmückt wurde mit

dem Namen Elvira Madigan

Was ich wusste aber:

Dass nach einem Krieg

schwarze, freudlose Frauen zurückbleiben,

und ihre lautlosen Seufzer

am Tisch der Volkssolidarität

jeder hört

Traum, gestern

Ich floh, riss mich los

von der Leine der Stimme,

die mich hielt

seit langem in diesem

von Wänden begrenzten Hof,