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Überarbeitete Fassung

Die Erstausgabe erschien als Teil von DER KETZER 2011 als Selfpublishing der Autorin in amazon.de als Kindle-E-Book. Danach 2013 Veröffentlichung über Verlag 3.0 in Linz/Rhein

Lektorat: Hubert Quirbach | http://www.sprache-und-auge.de

Umschlag: Thorsten Piepenbrink http://www.grafips.de

Die Verwendung der Schrift Morris Roman erfolgte mit freundlicher Genehmigung von Dieter Steffmann | http://www.steffmann.de

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

© 2019 Gabrielle C. J. Couillez

Herstellung und Verlag :

BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt

ISBN 978-3-75046-358-5

Für meine Mutter

Wir waren,

wir sind

und wir werden sein!

Inhaltsverzeichnis

Liebe und Macht

Ende Oktober 1230

Im Schritt reiten sie Richtung Osten in den Morgen hinein. Am Horizont sieht Olivier die Sonne das Firmament in sanftes, warmes Gold tauchen.

„Gutes Wetter für den Kampf“, sagt Pons de Villeneuve neben ihm. „Gerade in diesen feuchten Niederungen um Marseille können wir keinen Regen mehr brauchen.“

Olivier setzt seinen Helm auf, um seine Augen hinter dem engen Sehschlitz vor dem blendenden Licht der tiefstehenden Sonne zu schützen und somit die Umgebung besser überwachen zu können.

„Denkst du, der Papst wird sich raushalten?“, fragt er seinen Freund.

Pons grinst ihn an. Seine roten, krausen Locken sind zwar unter einer Kettenhaube versteckt, aber seine Sommersprossen geben ihm noch immer das Aussehen eines vorwitzigen Knaben.

„Hast du deshalb schon deinen Helm übergestülpt, weil du befürchtest, dass sich die Massen gleich auf uns stürzen und dir deine schönen langen Haare kürzen?“

Bernard-Othon de Niort zu seiner anderen Seite beginnt laut zu lachen.

„Schwachsinn!“, entgegnet Olivier, „ich schütze mich nur vor den hier umherfliegenden, blutsaugenden Mückenschwärmen, um mein Antlitz, nicht deinem ähnlich, von vielen roten Flecken verunstalten zu lassen.“

Jetzt hat er die Lacher auf seiner Seite. Sogar Raymond de Toulouse, der vor ihnen reitet, wirft ihm einen amüsierten Blick über die Schulter zu.

„Es ist immer wieder ein Vergnügen, mit Euch zu reiten“, scherzt der Graf, „deshalb ist es mir auch unmöglich, mein Land zu verlassen und gen Jerusalem zu ziehen, wie der Papst von mir fordert. Ich würde dort ohne den unverwüstlichen okzitanischen Humor zugrunde gehen. Mag Gregor denken, dass ich meiner Pflicht im nächsten Jahr nachkomme. Bis dahin wird sich sicherlich wieder eine Ausrede finden lassen.“

„Und wenn es nur unser Unwillen über das Treiben der Inquisition ist, die wir im Zaum halten müssen“, bestätigt Bernard-Othon.

„Nun, die Dominikaner werden sich jetzt vorläufig zurückhalten müssen“, setzt der Graf hinzu. „Selbst Königin Blanche hat kein Interesse daran, dass ihre, wie sie hofft, zukünftigen Untertanen derart geknechtet werden, dass das Land keinen Ertrag mehr bringt. Schließlich kann ich den Klosterbrüdern leicht unterstellen, dass sie von persönlichem Hass gegen mich getrieben sind, und dann sind sie ihre Ämter endgültig los.“

„Aber wenn der Papst erst einmal spitz gekriegt hat, dass Ihr hier Eure Gebiete ausdehnt, zumal Euch Eure sämtlichen Anteile an der Provence vertraglich genommen wurden, wird er Euch sicherlich nicht mehr unterstützen“, gibt Olivier zu bedenken.

„Wer sagt, dass ich meinen Besitz vergrößern will“, erwidert Graf Raymond spitzbübisch. „Ich leiste nur Hilfe, um die mich die Einwohner von der Vorstadt Marseilles gebeten haben. Wenn sie mich dafür entlohnen, soll es mir recht sein.“

In der Ferne tauchen die ersten Häuser von Marseille auf und Raymond de Toulouse treibt die Waffenknechte voran und lässt Aufstellung nehmen, um den katalanischen Vicomte Raymond de Bérenger einzukreisen, der die Vorstadt seit August belagert. Olivier äußert dem Grafen gegenüber seine Skepsis über einen schnellen Sieg. Er hat den Katalanen auf Mallorca streiten sehen und nur dank der Kraft und Zähigkeit seiner Kämpfertruppe aus Marseille konnte ehedem der Belagerungsturm in Position gebracht werden. Er sieht sie noch vor sich, die muskulösen Männer, die für geringen Lohn das Unmögliche taten. Oliviers Warnungen über die verbissene Kriegstaktik Bérengers schlägt sein Lehnsherr indes in den Wind. Ja, der Baron de Termes wird von dem Katalanen einen Tag später sogar noch unerwartet Lügen gestraft. Denn kaum nimmt der eigentliche Herr von Marseille die heranrückende Armee wahr, so flieht dieser und überlässt Raymond de Toulouse kampflos das Feld. Die Okzitanen sind zunächst verunsichert, vermuten eine schlaue Taktik Bérengers, um sie gegebenenfalls doch noch heimtückisch zu überfallen. Als nach ein paar Tagen nichts weiter passiert, wird unter den Beratern im Zelt Raymonds darüber gemutmaßt, dass die Unzufriedenheit der Marseiller über ihren Herrn offenkundig bis in dessen Truppe vorgedrungen sei. Und da ihm viele weggelaufen sind, habe es der Katalane wohl darum vorgezogen, mit dem uneinigen Rest den Rückzug anzutreten.

Später erscheint unter der weißen Parlamentsflagge eine Abordnung von Marseille vor dem Zeltlager der Okzitanen. Siegesbewusst tritt ihnen der Graf, flankiert von seinen Beratern, unter denen auch Olivier ist, entgegen und fordert die Verhandlungswilligen auf, ihr Begehr vorzutragen.

„Wir ergeben uns unserem Retter aus Toulouse und bitten ihn, sich auf dem Friedhof von Sainte-Maried’Accoules zu einem Kongress einzufinden!“

„Ein Friedhof ist ein seltsamer Ort für eine solche Versammlung, meint Ihr nicht?“, zweifelt Bernard-Othon an der lauteren Absicht der Delegation.

„Es ist ein Ort des ewigen Friedens und der einzige, an dem sich die ganze Stadt versammeln kann“, entgegnet ein Botschafter Marseilles hilflos mit den Achseln zuckend.

Graf Raymond bekundet seine Zustimmung. Die Okzitanen lassen daraufhin ihre Pferde satteln und legen ihr Festtagsgewand an. Beim Klang der Glocke ziehen sie auf dem Friedhof ein, auf dem sie von jubelnden Massen, die um und auf den Gräbern stehen, begrüßt werden.

„Wir haben selten so leicht einen Sieg errungen“, raunt Pons Olivier zu, als sie gemeinsam mit ihrem Lehnsherrn und den anderen Beratern der Abteilung bis zur Friedhofskapelle folgen. Sie steigen von ihren Rössern und stehen den von der Bevölkerung gewählten Botschaftern der Stadt zu Seiten ihres Grafen gegenüber.

„Wir haben aus eigener Kraft beschlossen“, erhebt der Älteste unter den Stadtvätern seine feste Stimme, „uns einen neuen Herren zu küren. Darum übergeben wir Euch, Graf Raymond de Toulouse, der Ihr uns von der Unterdrückung durch Raymond de Bérenger befreit habt, die Stadt und schwören, Euch die Treue zu halten!“

Gesenkten Hauptes knien die Botschafter nieder. Raymond de Toulouse lässt prüfend seinen Blick über den Friedhof schweifen und gewahrt, wie es die Einwohner von Marseille ihren Konsuln gleich tun und den Eid sprechen. Mit Befriedigung verspricht der Graf von Toulouse, die Gewohnheitsrechte der Stadt zu respektieren und eine Stadtwache zu stationieren. Ein ortsansässiger Notar fertigt daraufhin zur Bestätigung eine Urkunde über die Zusagen an, welche die Parteien besiegeln.

Spätherbst 1230

Müde vom langen Ritt und den Feiern in Marseille kehrt der Baron de Termes von dem Feldzug mit seinen Rittern auf sein Castèl Aguilar, sein Adlernest, zurück. Im gerade fertiggestellten Pferdestall erblickt er voller Überraschung das Ross seines Freundes Chabert und ein weiteres, einen jungen temperamentvollen, schwarzen Hengst. Sofort fällt alle Erschöpfung von ihm ab. Sein Gefährte ist zurück! Er strahlt über das ganze Gesicht, als dieser ihm über den Hof zwischen noch unverbauten Steinblockhaufen und Handwerkern entgegenkommt. Sie fallen sich in die Arme, begrüßen sich vor Oliviers Rittern jedoch nur zurückhaltend mit Bruderkuss.

„Ich habe dir ein Geschenk aus Katalonien mitgebracht. Hast du es schon gesehen?“

„Meinst du den schwarzen Hengst in meinem Stall?“

„Ja, er ist dein!“

Der Castèlan lächelt überglücklich, legt den Arm um die Schultern seines Freundes und steigt mit ihm die gewundene Steintreppe nach oben in sein Turmzimmer, seinem Vasallen Olivier de Treilles die Aufsicht über das Absatteln und alles Weitere überlassend.

„Weitaus mehr als über dein Geschenk, freue ich mich, dich heil wiederzusehen. Die Einsamkeit nach dem Tod meines Bruders war mir unerträglich. Ich hoffe, du bleibst länger?“

„Nun, so gemütlich ist es bei dir noch nicht!“, spottet Chabert verschmitzt und setzt dann erst hinzu: „Außerdem habe ich einiges zu erledigen. Du verstehst schon, das Übliche: Administration und Hofhaltung.“

„Wann gehst du?“ Olivier fleht ihn regelrecht mit seinen graugrünen Augen an, ihm eine tröstliche Antwort zu geben. Doch Chabert lässt sich von seinen Plänen nicht abhalten und bleibt unbeirrbar.

„Schon morgen. Aber ich würde mich freuen, wenn du mich auf dem schwarzen Hengst bis Quéribus begleiten würdest. So könnten wir gleich prüfen, wie gut er sich von dir reiten lässt.“

Olivier antwortet ihm nicht, stattdessen küsst er den Geliebten leidenschaftlich, während er ihn zum Bett schiebt. Chabert beantwortet sein Drängen ungeduldig und sie entkleiden sich hastig, ohne ihre Lippen länger als nötig voneinander zu trennen. Ihre Vereinigung ist heftig, eher ein Kampf als ein Liebesspiel, und dringt bei Olivier bis in die Tiefe seines Bewusstseins, weil seine Angst vor Nacktheit endlich allmählich bröckelt. Denn er lässt sich wohl zum ersten Male wirklich treiben, versinkt in Chabert und taucht in das Erleben seines Körpers mit seiner Seele ein. Das Erreichen ihres gemeinsamen Höhepunktes kommt darum einem Erdbeben gleich, bei dem Olivier all seinen Seelenschmerz der vergangenen Wochen und Monate in einem durchdringenden Schrei entlädt.

Bis zum frühen Morgen liegen sie beisammen, erzählen sich scherzend von ihren Erlebnissen, streicheln sich zärtlich, liebkosen sich mit dem Mund an nur ihnen vertrauten Stellen ihrer nackten Körper, was ihre Lust aufs Neue aufkeimen lässt. Olivier ist glücklich und gelöst, wie schon lange nicht mehr. Er fühlt sich geborgen und wahrhaft geliebt. Sie haben die gleichen Wünsche, dieselben Schwächen und beide suchen sie das Leben zu genießen und dennoch den verbotenen Glauben ihrer Familien zu schützen.

Kurz vor ihrem Abschied führt Olivier seinen Gefährten an die letzte Ruhestätte ihres gemeinsamen Verwandten Benoît de Termes. Still beweint Chabert den Tod des Katharerbischofes, dessen mit dem lateinischen Haussegen „der Sämann hält seine Werke in Bewegung“ getarnte Grabplatte im fast fertiggestellten großen Saal den steinernen Fußboden an der Ostseite des neuen Castels Aguilar ziert. Kniend, in andächtigem Gedenken versunken, blicken die beiden Barone zurück auf ihre Zeit mit dem Bonhomme. Oft genug führten der leichtlebige Baron de Barbaira und der asketische Gottesmann auf Quéribus des Abends feurige Diskussionen über Gott und das Sein in dieser Welt des Satans. Diese waren aber trotz ihrer Heftigkeit von Respekt und Hochachtung füreinander geprägt, auch wenn Benoît die Art der Beziehung des verwegenen Beschützers der Katharer zu seinem Neffen aufs Heftigste verurteilte. Olivier ist diesen mahnenden Gesprächen stets aus dem Weg gegangen. Von frühester Kindheit an stand er unter dem Zwang, stets gottgefällig zu handeln. Nichts war ihm, seit Chabert das Eis seiner Ablehnung gegenüber körperlicher Liebe gebrochen hatte, lästiger als sein Onkel. Jetzt könnte er sich befreit fühlen, das schlechte Gewissen bleibt jedoch, selbst wenn es, durch seine Zweifel an der rechten Interpretation von Gottes Wort durch den Bonhomme, schwächer wird.

Nur wenige Tage nachdem der Baron de Termes wieder in seinen Ländereien ist, bestellt ihn ein Bote von König Jaume an den Hof nach Barcelona.

„Ich muss Euch die Lehnsgüter im Roussillon wieder nehmen“, empfängt ihn Jaume dort mit ernstem Ton. Mit gebeugtem Haupt sitzt ihm Olivier gegenüber, zwischen ihnen ein Notar, der damit beschäftigt ist, seine Papiere zu ordnen und eine Feder anzuspitzen. Eine Weile herrscht betretene Stille zwischen König und Vasall. Dann bricht die Freundschaft der beiden Männer die abweisende Haltung des Monarchen.

„Warum habt Ihr Euch um die Ländereien, die ich Euch anvertraut habe, nie gekümmert? Sind sie Euch nicht wert genug gewesen?“, will der König wissen. Er bedauert in seinem tiefsten Innern seinen Vertrauten und Ratgeber enteignen zu müssen, aber er darf niemanden huldvoll bevorzugen, noch nachlässig über einen Lapsus seiner Ritter hinwegschauen, wenn er seine Herrschaft unangefochten ausüben und den durch die Eroberung Mallorcas gewonnenen Respekt seiner Vasallen behalten will.

„Sie sind mehr wert, als ich verdient habe“, antwortet Olivier betreten, „aber ich habe sie auf der Überfahrt nach Mallorca meinem Bruder versprochen, damit er ein Auskommen habe und heiraten könne. – Nach dem, was dann geschah, war es mir nicht möglich ...“

„Ich verstehe.“ Jaume fühlt mit seinem Freund. Seine Stimme und seine Gesichtszüge werden weicher und er geht von der förmlichen Anrede zur vertraulichen über, „aber du musst auch einsehen, dass ich dir die Lehen nicht lassen kann, selbst wenn du dich nun vorbildlich um die Verwaltung kümmern wolltest. Gerade bist du von einem Feldzug mit Raymond de Toulouse zurückgekehrt, der indirekt gegen mich gerichtet war. Raymond de Bérenger ist katalanischer Adliger und, desgleichen wie du, mein Vasall, dem ich als sein Schutzherr genauso zur Treue verpflichtet bin, wie du auch dem Grafen von Toulouse.“

„Ich würde an deiner Stelle ebenso handeln“, gibt Olivier zögerlich zu.

„Darum habe ich deine Gebiete dem Baron de Barbaira zugesagt, der mich bei der Befriedung Mallorcas unterstützt hat, bis die letzten aufständischen Muselmanen von der Insel vertrieben waren. Du hast dich sicherlich schon darüber gewundert, dass er der neue Herr von Estagel, Saint-Laurent und Argelès ist. Ich wollte dir versichern, dass das Geschehene nicht unsere Freundschaft trübt. Zumindest gehört das Land jetzt deinem besten Kumpan und du brauchst keinen missgünstigen Nachbarn zu fürchten.“

Jaume versucht, trotz des von seinem Vertrauten bekundeten Verständnisses, sein Handeln zu erklären, da er in Oliviers Gesichtszügen zunehmende Traurigkeit gewahrt. Schließlich, mit bebender Stimme, spricht der Baron de Termes stockend aus, was ihn bedrückt: „Chabert hat mir von all dem kein Sterbenswörtchen gesagt. – Dabei waren wir noch vor ein paar Tagen zusammen und haben – unser Wiedersehen gefeiert...“

„Ich hoffte, dir mit meiner Entscheidung nicht zu schaden. Ich will keinen Keil zwischen euch treiben. Ihr seid mir beide wertvolle Ratgeber.“ Etwas verwirrt spürt der König die wachsende Enttäuschung seines Freundes, je länger dieser über das Geschehene nachdenkt. „Als Ersatz für deinen Verlust und als Anerkennung deiner militärischen Leistung bei der Rückeroberung, überschreibe ich dir stattdessen ein ertragreiches Gebiet auf Mallorca.“ Und zu seiner majestätischen Haltung zurückgekehrt, befiehlt er an den Schreiberling gewandt: „Méstre, lege er meinem Getreuen die entsprechenden Urkunden zur Durchsicht vor.“

Später, als der Notar gegangen ist und Jaume auch den an der Tür stehenden Pagen, unter dem Vorwand, ein paar warme Speisen für sich und seinen Gast zubereiten zu lassen, weggeschickt hat, macht er Olivier ein weiteres Angebot.

„Ich könnte dir jederzeit eine wohlhabende Braut aus einem guten Hause vermitteln, in dem dasselbe Gedankengut gepflegt wird wie in deiner Familie.“

Olivier, in seiner Benommenheit zunächst nicht die Anspielung seines Lehnsherrn bemerkend, lehnt dankend ab. Der Vorschlag, eine Fremde zu ehelichen, macht ihn noch trauriger, als er ohnehin schon ist, da er dabei an die Liebe von Constance denken muss, die er schon abgewiesen hat, obwohl er sie in gewisser Weise erwidert und sich nach ihr sehnt.

„Versteh’ mich richtig“, reißt ihn Jaume, während er ihn freundschaftlich bei den Schultern packt und leise nahe seinem Gesicht flüstert, aus seinen Grübeleien. „Eine Frau, die dir kein Fleisch auftragen lässt, mit der du deine geheimsten Gedanken teilen kannst, ohne zu fürchten, dass sie dich eines Tages denunzieren könnte. – Abgesehen davon, dass du früher oder später einen Erben brauchst, wenn du nach deinem Tod deine Ländereien nicht bedingungslos in der Hand der französischen Krone sehen willst, von wo sie dann womöglich an einen Nachkommen der Kreuzfahrer gegeben werden, die euch entrechtet haben.“ Der König lässt ihn los und lacht bitter auf bei dem Gedanken daran, dass dies auch Folgen für ihn haben könnte. „Womöglich wären dann meine Grenzen ebenso in Gefahr!“

Der Baron verzieht sein Gesicht zu einem schwachen Lächeln. „Es ist nicht der materielle Verlust, der mich heute zu keinem guten Gesellschafter für dich macht. Es sind die Erinnerungen und Enttäuschungen durch andere mir liebe Menschen. Danke für dein Angebot – aber im Moment ...“

Jaume erhebt sich von seinem gepolsterten Stuhl und fordert ihn auf, ihm zu folgen: „Komm mit, ich will dir etwas zeigen.“

Jaume führt ihn den Flur entlang in den großen Saal seines Herrschaftssitzes, in dem einige Maler zugange sind und zeigt ihm ihre Arbeit: „Ich habe beschlossen, unseren Erfolg gegen die Mauren hier im Rittersaal meines Palais darstellen zu lassen, damit es allen stets vor Augen ist. Sieh dich um! – Was hältst du davon?“

Tief berührt blickt Olivier die Wand entlang, auf der die schönen Erinnerungen an Mallorca in Fresken entstehen und für die Ewigkeit festgehalten werden. Mit Tränen in den Augen tritt er näher heran und erkennt sich selbst mit Bernard zu seiner Seite unter dem Banner von Termes zwischen den so geehrten Edelmännern in Jaumes Umgebung wieder. Mit einem Kloß im Hals und von Dankbarkeit erfüllt, nickt er dem König zu, der mit verschränkten Armen an der Wand lehnend, im Hintergrund geblieben ist und die Wirkung auf seinen Freund und Vertrauten lächelnd beobachtet.

Olivier übernachtet in den Mannschaftsunterkünften neben den Pferdeställen bei seinem Halbbruder Guilhem-Hugues, der nun seit zwei Jahren seine Ausbildung am Königshof absolviert. In den ersten Stunden seines Schlafes schüttelt ihn der dunkelhaarige junge Mann bei den Schultern und erlöst ihn von schweren Traumbildern. Von draußen scheint indes nur das fahle Mondlicht in den engen Raum.

„Du hast geschrien und geweint!“, erklärt der Junker sein Handeln. Das Schreckensbild seines Traumes steht Olivier noch vor Augen. Er ist schweißgebadet und fühlt sich, als wäre alles Wirklichkeit gewesen: Bernard, totenbleich im Graben vor Mallorca. Und er, der ihm Vaters Schwert in die Brust rammt, wie vor Jahren, als er das erste Mal tötete. – Jetzt starrt er Guilhem-Hugues im Halbdunkel an, als wäre er ein Geist. Die Silhouette, die Stimme – der älteste Sohn seines Stiefvaters und seiner Mutter ähnelt Bernard in diesem Augenblick so sehr... Es dünkt Olivier, dass sich die Geschichte wiederholen könnte.

„Versprich mir, dass du niemals versuchen wirst, auf dem Schlachtfeld den Helden zu mimen“, stammelt der Baron noch benommen vom Schlaf und packt den Heranwachsenden hart beim Arm. Verdutzt und stumm nickt Guilhem-Hugues und wünscht seinem großen Bruder wieder eine gute Nacht.

Wie gerädert wacht Olivier schließlich am Morgen auf. Dabei hat er am Vorabend in der geselligen Runde mit den Edelmännern und Troubadouren kaum einen Tropfen Wein getrunken. Sein Halbbruder schläft noch tief und fest. Seine schwarzen, großen Locken hängen ihm tief in die Stirn. Die dunkelbraunen Augen ruhen hinter den geschlossenen, langwimprigen Lidern. Sein Bartwuchs ist nicht so stark wie bei anderen Junkern seines Alters, weshalb sein Gesicht trotz seiner Männlichkeit eine sanfte Ausstrahlung hat. Olivier wünschte, der dritte Sohn seiner Mutter würde nie erwachsen werden und weder die Gefahren des Krieges noch das Leid kennenlernen. Leise rollt er seine Schlafdecke zusammen und kleidet sich an. Indes räkelt sich Guilhem-Hugues und gähnt.

„Gehst du schon?“, raunt er und blinzelt in das schwache Licht der entzündeten Öllampe.

„Die Tage sind kurz. Es wird Zeit, wenn ich morgen auf Serrallonga sein will.“

„Mit deinem jungen Hengst dürfte das doch keine Schwierigkeit sein. Der Schwarze ist derart temperamentvoll, der lässt sich kaum zurückhalten, wenn er ein paar Tage im Stall gestanden hat“, lacht sein Halbbruder nicht ohne Neid.

„Artaban gefällt dir wohl“, neckt Olivier.

„Nun, es ist unverkennbar, dass er Araberblut hat – und was ist besser als so ein wendiges, schnelles Pferd!“

„Warte den Buhurt an deiner Ritterweihe ab. Da kannst du dir vielleicht auch ein Ross wie dieses ergattern.

„Das dauert ja noch mehr als zwei Jahre!“, beschwert sich daraufhin der Junker.

„Zeit genug, dich vorzubereiten“, grinst der Baron de Termes.

Die Wolken hängen tief und verhüllen den Berggipfel, als wollten sie die darauf gebaute Festung vor bösen Blicken bewahren. Olivier erklimmt mit seinem Ross das letzte Stück des regennassen und darum gefährlich rutschigen Pfades hinauf nach Quéribus. Er will Chabert zur Rede stellen, warum er erst aus dem Munde des Königs erfahren musste, dass ihm seine Lehen übertragen wurden. Hatte er ein schlechtes Gewissen, weil er möglicherweise sein Scherflein dazu beitragen hat? Chabert ist wortgewandt genug, Jaume derart zu beeinflussen, dass der seinem Rat folgt. Musste es nach dem Fenouillèdes nun auch noch sein Land im Roussillon sein? – Gut, gegen das Erschleichen von Avas Erbe ist er nicht eingeschritten. Er gönnte es dem damals mittellosen Faidit. Aber bei aller Liebe, seine Lehen von Jaume – das ist zuviel! Hier ist ihm Chabert heimtückisch in den Rücken gefallen! – Olivier dampft vor Wut. Die Regenschauer, die ihm oben auf dem ungeschützten Felsgrat ins Gesicht peitschen, kühlen die Hitze seines Zornes kein bisschen. Nichtsdestoweniger kann er ihm vorläufig nicht Luft machen. Die Wachen teilen ihm mit, dass Chabert fern von Quéribus weilt und er wird auch die nächsten Tage von seinem Kämmerer nicht zurückerwartet. Olivier zieht darum mit der Last seines ungeklärten Argwohns weiter in seine Ländereien im Lauragais.

Mit einer warmherzigen Umarmung empfängt ihn Raymonde auf Saint-Félix. Nach den langwierigen und trostlosen Gesprächen mit seinen Bayles der vom zwanzigjährigen Krieg stark gebeutelten Gebiete im Lauragais, ist ihm der Besuch bei seiner großen Schwester eine ersehnte Abwechslung. Vielleicht erhofft er sich auch Trost für sein einsames und enttäuschtes Herz, bevor er nach Toulouse an den Hof Graf Raymonds weiterzieht, um dort seinen mageren Zehnt abzugeben.

Stolz trägt seine Schwester ihre bald zu erwartende, zweite Mutterschaft in ihrem füllig gewordenen Leib; wenngleich dem Baron de Termes nicht der Sinn danach steht, dem die erwünschte Aufmerksamkeit zu widmen. Stattdessen liegt ihm seinerseits eine drängende Frage auf der Zunge. Jedoch – er wagt es nicht diese auszusprechen, zumal sein Schwager Guilhem-Jourdain wie ein Wachhund herumschleicht und jedes seiner Worte belauert. Olivier will die unterkühlte Distanz zwischen dem Gemahl seiner Schwester und ihm nicht noch verstärken und direkt nach Constance fragen. Er hofft, etwas über ihren Verbleib und ihr Befinden aus den belanglosen Gesprächen an der abendlichen Tafel aufzuschnappen. Aber es scheint, als wäre alles, was die Schwägerin seiner Schwester betrifft, ein tiefes Geheimnis oder als hätte es sie nie gegeben. Ein Traumbild, süß und schmerzhaft bitter zugleich, das ihm noch immer erscheint, besonders seit er sich seiner Verlassenheit bewusst ist und er nicht mehr den Sinn in seinem Leben sehen kann. Dies ist wohl seine verdiente Strafe, denkt er sich.

„Was sagst du zu dem kleinen Sohn deines Schwagers Guilhem de Minerve?“ Raymondes Stimme klingt vorsichtig, fast schon beschwichtigend, ob ihrer Neugier betreffend seiner Gedanken zu den Angelegenheiten ihrer gemeinsamen jüngeren Schwester Blanche. Sie sitzt ihm gegenüber an der Tafel und erwartet seine Reaktion.

Olivier ist erstaunt. „Mein Ritter Aimeric hat mir gar nichts von Blanches Schwangerschaft oder der Geburt berichtet!“

„Wie sollte er auch. Blanche war nie schwanger“, antwortet Raymonde immer noch verhalten. „Du hast nichts davon gewusst?“

Wütend springt Olivier nach einem langen Augenblick des Begreifens auf. Der Stuhl, auf dem er saß, kippt dabei nach hinten weg und fällt zu Boden. „Habe ich es nicht gleich gesagt!“, platzt es aus ihm heraus. Er hat den Mund noch so voll von den süßen Honigkuchen, die ihm seine Schwester aufgetischt hat, dass er nicht laut schreien kann. Stattdessen verschluckt er sich an den Krümeln, dass er fast keine Luft mehr bekommt und ihm die Adern am rot angelaufenen Hals und Kopf anschwellen. Er hustet und Raymonde eilt, ihrem Bruder den Rücken zu klopfen. Kaum, dass er wieder zu Atem kommt, stößt er die übelsten Verwünschungen gegen seinen Schwager und Freund Guilhem de Minerve aus, und dass er ihm die Hammelbeine lang ziehen werde, wenn er ihn erwische.

„Ich möchte den Vicomte nicht verteidigen“, mischt sich Guilhem-Jourdain an den Baron de Termes gerichtet ein, „aber glaubst du, dein Lebenswandel wäre um so vieles besser und vorbildlicher? Dir steht es noch am wenigsten zu, Satisfaktion zu fordern!“

Olivier wird augenblicklich still und kneift seine Lippen zusammen, wobei er schuldbewusst seinen Blick senkt. Bekümmert über die durch den Streit um Constance verlorene Freundschaft zwischen ihrem Bruder und ihrem Gemahl, sucht Raymonde die Rede ihres Mannes zu entschärfen und fordert zur Ablenkung ihren fünfjährigen Sohn Bernard am Tisch neben seinem Vater auf, gerade gelernte lateinische Verse aus ihrem Buch des Poeten Ovid vorzutragen. Tatsächlich vermeiden es Guillem-Jourdain für diesen Abend auch, Olivier weiter wegen seines versäumten Heiratsantrages und unmoralischem Liebeslebens zu reizen.

Frühjahr 1231

Olivier sitzt nahe dem Fenster in seinem Turmzimmer und liest in den geheimen Handschriften, die ihm sein Onkel Benoît zur Verwahrung hinterlassen hat. Ein mildes Lüftchen trägt ihm den Duft des ersten sprießenden Grüns zu. Die Erde hat geatmet. Der Abendhimmel leuchtet noch dunkeltürkis am westlichen Horizont, wo vor einer Stunde die Sonne ihr Licht mit sich genommen hat. Plötzliches Klopfen an seiner Tür lässt ihn erschrocken zusammenfahren.

„Monsénher“, flüstert sein Diener hinter dem vorgeschobenen Riegel, „eine Botschaft für Euch – von Burg Quéribus.“

Olivier stöhnt unwillig. Sicherlich von Chabert, dessen Drängen er seit Wochen unbeantwortet ließ. Die Sache mit dem Lehen im Roussillon hat er ihm noch nicht verziehen. Mag er ihm noch so schöne Geschenke schicken! – Er schließt das Buch, das er vor aller Augen verbirgt und von dem selbst seine Familie und seine engsten Freunde nicht wissen, dass es sich zusammen mit anderen vom Papst verbotenen Schriften in seinen Händen befindet. Er schlägt den Folianten wieder in das schützende Leder ein, legt ihn zu den anderen auf den Grund einer schön geschnitzten und mit Intarsien versehenen Truhe, die er bei einem maurischen Handwerker auf Mallorca erstanden hatte und passt das Verdeck des Faches ein. Ein paar Beutel mit Silberstücken darauf sollen einen etwaigen Dieb oder Schnüffler vom wahren Schatz zwischen dem doppelten Boden ablenken. Das Schloss am Deckel rastet mit einem Klicken ein und lässt sich nur durch eine einzig ihm bekannte Kombination von arabischen Zahlen am Drehwerk aus Messing wieder öffnen.

Dann entriegelt der Baron de Termes die Tür und nimmt aus den Händen seines Dieners ein versiegeltes Pergament entgegen.„Bring mir noch etwas Würzwein“, befiehlt er ihm und bricht Chaberts Siegel. Dessen akkurat gleichmäßige und doch leicht geschwungene Schrift füllt in kleinen Lettern das Blatt. Olivier liest zuerst ablehnend hastig, dann doch ergriffen vertieft die Zeilen, in denen sein bisher Vertrauter ihn um Gehör anfleht, um Verzeihung bittet, weil er ihn doch liebe und ohne seine Zuneigung nicht weiterleben könne. Er wolle sich in einen neuen Kreuzzug nach Menorca stürzen und in vorderster Front kämpfen, wenn Olivier nicht mehr seine Gefühle erwidere.

Bilder von Mallorca tauchen aus seiner Tiefe auf und erinnern Olivier an die schönen Stunden mit Chabert, als der König zum Aufbruch in die Schlacht rief, während sie sich insgeheim im Zelt ihrer Lust hingaben. – Dann drängt sich ihm wieder die Erinnerung an Bernards toten Körper im Graben auf. Nein, er darf Chabert nicht auch noch verlieren! Gleich morgen wird er nach Quéribus aufbrechen. Die für die nächsten Tage geplante Beratschlagung mit seinem Förster und seinem Minenverwalter über die angeblich ausufernden Baumfällungen in seinen Wäldern, um den wachsenden Holzbedarf zur Verhüttung der Erze zu decken, kann noch warten.

Mit einem verschämten Lächeln begegnen sich ihre Blicke, als Chabert seinem Freund Olivier auf der Treppe zu seinem Wohngebäude entgegenkommt, um ihn zu begrüssen. Der Burgherr von Quéribus wartet auf kein weiteres Zeichen des Verzeihens von seinem Geliebten mehr und schließt ihn sofort in die Arme.

„Ich liebe dich“, haucht er ihm dabei flehentlich ins Ohr, „du hast mir unendlich gefehlt!“

Der versteinerte Wall um Oliviers Herz ist unverzüglich geborsten und wandert als Kloß in seinen Hals. Unter Tränen gesteht er: „Du mir ebenso.“

Fester drückt ihn Chabert an seine Brust und bedeckt sein vom, nicht nur wegen der hereinbrechenden Nacht, eiligen Aufstieg, schweißnasses Antlitz mit fordernden Küssen, ohne Rücksicht darauf zu nehmen, dass sie trotz der Dunkelheit nicht ungesehen bleiben könnten. Es bedarf keiner großen Worte mehr. Die beiden Barone ziehen sich in die Kemenate des Castèlans „Fenouillet de Barbaira“ im Wohngebäude zurück. Vor dem Kamin döst der Jagdhund, den Olivier seinem Freund als Welpe geschenkt hatte, als sie noch alle gemeinsam mit Bernard auf Termes weilten. Bei ihrem Eintreten in die Schlafkammer springt der Hund auf und begrüßt den lange nicht gesehenen Ritter übermütig mit lautem Bellen und fröhlichem Schwanzwedeln.

„Er hat dich noch nicht vergessen – so wenig wie ich“, raunt Chabert, der die Tür verriegelt und sich dem sehnlichst erwarteten Geliebten von hinten nähert, während dieser noch mit dem Hund spielt. Zärtlich berühren Chaberts Fingerkuppen Oliviers Rücken, der sich aufrichtet und das Streicheln durch seinen Freund mit geschlossenen Augen genießt.

Noch immer sind die Veilchen und Schlüsselblumen nicht erblüht und Olivier bleibt auf Quéribus, da ihm die Verwaltung seiner Güter keine Anwesenheit abverlangt. Denn ein neuer Kälteeinbruch, der dem Baron ausnahmsweise sehr willkommen war, zwang Mensch und Tier zum Müßiggang. Die meisten Felder liegen noch jetzt brach und Schnee und Eis überziehen die Wege über Pässe und Felsgrate. Friedlich ruhen die Steineichen-, Buchen-, und Kastanienwälder der Corbièren unter einer zarten, weißen Decke. Nur die Tafel im Rittersaal des Lion de Combat, wie die Waffenbrüder aus den Zeiten der Rebellion ehrerbietig den Baron de Barbaira nennen, an der sich regelmäßig Entrechtete und Faidits zusammenfinden, verlangt nach immer neuem Nachschub an Wildbret, weshalb sich die Barone zur Jagd mit ihren Falken, Hunden und Armbrüsten auf den Weg in die umliegenden Täler des Fenouillèdes machen.

Versonnen reitet Olivier neben Chabert her. Die Jagdhunde springen kläffend vor den Hufen seines tänzelnden Araberhengstes herum und lassen sich in ihrer Ungeduld kaum zügeln. Dem Baron de Termes ist nicht nach Jagen. Er träumt von der letzten Nacht und bewundert verstohlen jede selbstsichere Geste der Anweisung an die begleitenden Ritter, jeden Niederschlag der dicht umwimperten, feurigen Augen, jedes bedeutungsvolle Lächeln um die Mundwinkel, jedes Muskelspiel unter den ledernen Beinlingen seines Geliebten, wenn dieser sein Pferd mit dem Druck seiner Schenkel lenkt. Stolz senkt sich in Oliviers Brust, einem solch achtbaren Ritter seine Liebe schenken zu dürfen, sich sein Gefährte nennen zu dürfen, von ihm begehrt zu werden.

Chabert spürt seine Blicke, fühlt sich geschmeichelt und lächelt seinen Freund an. Er lässt den Falken aufsteigen und ihre Augen folgen seinem Flug, während sie gemächlich weiterreiten. Am Rande des Pfades schlägt eine Kohlmeise im blattlosen Geäst Alarm. Sie kommt ganz nah heran und scheint mit ihrem Gezeter die Jäger beschimpfen und vertreiben zu wollen.

Olivier lacht über den forschen kleinen Vogel und ruft ihm zu: „Sei still, sonst schießt Chabert nach dir und brät dich am Spieß!“

Der Baron de Barbaira schmunzelt, dass seine weißen Zähne blitzen und erwidert scherzend mit übertriebener Geringschätzung: „Nein, das lohnt der Mühe nicht. Da ist doch nichts dran.“

Dann nach einer kurzen Pause, in der er nachdenklich wird, fügt er an: „Lass uns das Wild aufscheuchen und erlegen, dass wir ein rauschendes Fest zu unserem Abschied feiern können.“

„Welchen Abschied?“, will Olivier, hellhörig geworden, wissen. Er blickt zu Chabert hinüber, der den Kopf gesenkt hat, um seine trübsinnig gewordene Miene zu verstecken. Mit der Rechten streicht sein Nebenmann sich über seine schwarzblau schimmernden Locken und durch den kurzen Kinnbart, als wolle er die Gedanken an die Trennung abstreifen, um dann, mit Überwindung der Furcht seinen Geliebten erneut zu betrüben, auszusprechen, was früher oder später sein musste: „Ich bin an den Hof von Barcelona beordert. Jaume bricht gen Menorca auf.“

Mit großem Appetit tut sich sein Freund an einem gebratenen Fasan gütlich, wischt sich die fettigen Finger am Leder seiner Beinkleider ab, bevor er den Pokal mit dem roten Wein ergreift und zur Ermunterung des Sängers erhebt. Der Lautenspieler stimmt seine Saiten, gibt seinem Begleiter auf der Flöte ein Zeichen und lässt seine Stimme zu einem schwungvollen Lied in dem überwiegend mit Rittern angefüllten Saal unter dem Kreuzgewölbe erschallen. Olivier weiß, dass die gemeinsamen schönen Tage nicht ewig währen konnten. Die Pflicht ruft und verlangt die Einlösung der geschworenen Treue gegenüber dem Lehnsherrn. Auch er muss wieder seinen Aufgaben als Baron des Grafen von Toulouse nachkommen. Doch diese Nacht gehört noch allein Chabert und ihm.

Sie grölen mit den Faidits die derben Lieder oder schlagen zum Takt der anheizenden Musik mit den flachen Händen auf die Tische, dass das darauf stehende Geschirr mit den Speiseresten und abgenagten Knochen hüpft und der Wein aus den Bechern schwappt. Doch alle Fröhlichkeit vertreibt die heimliche Furcht nicht davor, was im nahenden Krieg passieren könnte.

Als Chabert später im Schlafgemach in seinem Weinrausch unter Tränen seine Angst vor der Fahrt über das Meer gesteht, zwingt es Olivier ein Lächeln ab, denn dies ist in seinen Augen noch das kleinste Übel. Er küsst seinem Geliebten die von den schön geschwungenen Augenbrauen schräg nach oben laufende Stirn und streicht ihm die von der Anstrengung ihrer Vereinigung schweißnassen Locken zurück, zwischen denen sich erste vereinzelte Silberfäden zeigen. Beginnendes Vogelgezwitscher kündigt draußen hinter dem geschlossenen Fensterladen den anbrechenden Tag an. Olivier lauscht in die Morgenstimmung hinein, berührt unter der Felldecke langsam mit der Hand streichelnd die nackte Haut über dem straffen Körper seines Freundes bis zur Scham.

„Du hast vergessen, dein Schwert abzulegen“, bemerkt Olivier scherzhaft und lächelt Chabert aufreizend an. Auf eine Erwiderung, wenn auch ohne Worte, braucht der jüngere der Liebenden nicht lange zu warten, denn schon nimmt der Lion de Combat ihn fest in die Arme und rollt sich über ihn, um das Liebesspiel noch die restliche Nacht währen zu lassen.

Bis in den Mittag hinein liegt die ermattete Stille, die unweigerlich auf eine berauschte Nacht folgt, über Quéribus. Irgendwann schält sich Olivier aus den Bettlaken und öffnet den Fensterladen, um Licht und frische Luft in die von ihren Körperdünsten erfüllte Kammer strömen zu lassen. Er lässt seine Augen über die schneebedeckten Gipfelkämme der Pyrenäen auf der gegenüberliegenden Seite des Tales schweifen. Schon jetzt quält ihn die Sehnsucht nach ihrem Wiedersehen. Er blickt hinüber zum Bett, in dem Chabert noch gleichmäßig atmend zwischen den Kissen liegt. Olivier zwingt sich, sich von dem sinnlichen Anblick des Geliebten abzuwenden und schlüpft leise in seine Kleider. Wenn er noch länger bleibt, wird ihm die Trennung weitaus schwerer fallen, als sie ohnehin schon ist. Er muss jetzt gehen – ohne langen Abschied. Chabert wird es verstehen, wenn er erwacht und ihn nicht mehr vorfindet. Der Baron de Termes streicht dem Jagdhund, der die Tür bewacht, beruhigend über das Haupt und verlässt geräuschlos die Kemenate.

Kaum, dass der Alltag wieder Einzug auf Aguilar gehalten hätte, überbringt ein Bote aus Toulouse Olivier ein amtliches Schreiben von der Kanzlei des Grafen Raymond mit einer unangenehmen Abmahnung. Er solle unverzüglich eine Unbill bereinigen, die durch den Einfall der Ritter von Termes in die Ländereien seines Nachbarn Raymond de Niort zustande gekommen wäre – liest Olivier darin mit zunehmender Verärgerung – und sich in Zukunft dem Ehrencodex gemäß verhalten! Die Barone von Niort hätten sich auf das Peinlichste über das gleichgültige Verhalten des Herren von Termes beschwert und verlangten mit Recht Satisfaktion.

Aufgebracht darüber, bei seinem Waffenbruder und seinem Lehnsherrn in Misskredit geraten zu sein, lässt Olivier alle seine Ritter, die gerade ihren Dienst auf Aguilar tun, zusammenrufen und im großen Saal antreten. Noch immer wutschnaubend schreitet er mit auf dem Rücken verschränkten Armen die Reihe ab und blickt in ihre Gesichter, dass ihnen das Herz in die Hose rutscht. Dann bleibt er von ihnen stehen, reißt das Pergament vom Tisch und verliest mit barschem Ton das Schriftstück aus Toulouse.

„Nun – wer, außer mir, ist dafür verantwortlich?“, poltert Olivier dann los und taxiert in der folgenden betretenen Stille wieder die Mienen seiner adligen Kämpfertruppe.

„Olivier de Treilles hat den Raubzug ausgeheckt“, verrät Guillem de Roquefort kleinlaut.

„Es ist leicht, jemanden zu beschuldigen, der nicht anwesend ist“, brüllt der Baron seine Männer an, „schließlich wird er es nicht alleine gewesen sein! Ihr seid alle ein Haufen von unzivilisierten Barbaren, die nicht wissen, was sich gehört!“

Beim Anblick der sonst stolzen Ritter, die unter seinem energischen Appell wie schuldbewusste Klosternovizen furchtsam ihren Blick senken, wird der Baron wieder milde. „Ihr hättet mich wenigstens warnen können, dass Ihr erwischt worden seid. Zudem ist die Entdeckung Eurer Tat mindestens ebenso schändlich für Euch, da dies beweist, wie stümperhaft Ihr vorgegangen seid!“

Olivier kann sich trotz der Ehrlosigkeit seiner Männer ein schelmisches Grinsen nicht verkneifen und setzt hinzu: „In Zukunft solltet Ihr darauf achten, dass es niemand erfährt, wenn Ihr zum Wildern die Grenzen von benachbarten Herren überschreitet. Überdies sind die Ländereien von Termes wirklich reich und groß genug, um uns zu ernähren. Ihr müsst eben dafür Sorge tragen, dass Ihr auch von den Bauern erhaltet, was Euch gemäß dem Gastrecht zusteht. Mir bleibt jetzt nichts anderes übrig, als zu Raymond de Niort zu reiten, Abbitte zu leisten und ihm den Schaden für das von Euch genommene und verspeiste Vieh zu ersetzen!“

Auf dem Rückweg von der Burg der Barone von Niort beschließt Olivier seine lange nicht gesehene Schwester Blanche in Minerve zu besuchen und, wenn es sich ergibt, ein paar Takte mit seinem Schwager Guilhem wegen des Bastards zu reden. Beim Gedanken an Guilhems Wortbrüchigkeit stößt der Baron de Termes einen leisen Fluch aus. Warum nur haben alle seine Warnungen in den Wind geschlagen? Jetzt ist offensichtlich, was er immer befürchtet hatte! „Malnada - Bastard“, schimpft Olivier laut vor sich hin. Sein neben ihm reitender Ritter Aimeric de Clermontsur-Lauquet kommt mit seinem Pferd besorgt näher heran, um nachzufragen, ob denn alles in Ordnung sei oder den Baron etwas bedrücke.

„Bist du noch immer wütend auf Olivier de Treilles?“ flüstert Aimeric, damit der Besagte, der ihnen mit Guillem de Roquefort folgt, nicht hören kann, dass über ihn gesprochen wird.

„Nein, es ist wegen meinem Schwager Guilhem“, brummt Olivier missmutig, „wir werden nach unserem Marktbesuch in Carcassonne einen Umweg über Minerve reiten und ein paar Tage bei meiner Schwester, der Vicomtesse, verweilen. Sie wird meinen Beistand dringend nötig haben.“

Die Nacht verbringen die Edelleute auf dem Gut von Clermont-sur-Lauquet, wo sie sich, dank der Gastfreundschaft Aimerics, auch die leeren Bäuche füllen können. Gut gelaunt zeigt der Vasall von Termes seinem Lehnsherrn die frisch bestellten Felder und den Bestand der Wälder, als sie am nächsten Morgen gemeinsam weiterziehen.

Im Laufe ihres Tagesrittes sitzt jeder der Männer in sich gekehrt im Sattel und folgt stumm den staubigen Wegen durch Wiesen und Weinberge, welche die steile, waldige Landschaft der Corbièren ab Carcassonne ablösen. Olivier wäre gerne bei Chabert, der jetzt gegen die Mauren auf Menorca kämpft, während er sich hier mit Familienzwist und den Sorgen um den Unterhalt seiner Männer herumschlägt. Wenn der Baron zu seinem Ritter Aimeric hinüberblickt, wirkt dieser im Unterschied zu ihm versonnen, als würde er ein süßes Geheimnis verbergen.

„Aimeric – du bist hier?“ Der Baron de Termes ist mehr als verwundert, als er nach einem ernsten Gespräch mit seinem Schwager die Kemenate seiner Schwester betritt. Er spürt, dass er ungelegen kommt, ertappt seinen Ritter und seine Schwester bei verliebten Blicken. Die beiden schweigen urplötzlich und er bemerkt sofort am gesenkten Blick Aimerics und am erschreckten Lächeln Blanches, was hier im Gange ist. Zunächst ist es Olivier peinlich, dass er nach flüchtigem Anklopfen sofort den Türriegel zurückgerissen hat und so Zeuge dieses verbotenen Rendezvous werden musste. Dann wird er wütend und schimpft: „Was ist hier los? Aimeric, was soll das? Wieso machst du meiner Schwester den Hof? Sie ist verheiratet!“

„Ich liebe sie“, antwortet der Ritter kleinlaut.

„Aimeric, dies kann nicht Liebe sein. – Blanche, du liebst doch Guilhem?“

„Nicht mehr, mein Bruder, seit ich weiß, dass er einen Sohn hat, den nicht ich geboren habe“, entgegnet die Vicomtesse selbstbewusst mit unverhohlener Auflehnung gegen die anmaßende Haltung Oliviers, mit der er ihr entgegentritt.

„Schwester, dein Verhalten ist ebenso wie das deines Gatten eine Sünde gegen Gott!“

„Sünde? Ich?“ Blanche ist entrüstet über die Schmähung ihrer Gefühle. „Der Segen der katholischen Kirche war Guilhem als Anhänger der katharischen Lehre nie wichtig. Wenn er sich nicht durch das katholische Sakrament an die Ehe mit mir gebunden fühlt, dann muss ich es auch nicht! Es ist einzig eine notarielle Urkunde, die uns noch zu Mann und Frau macht!“

„Gerade als gläubige Katharer solltet Ihr nicht den fleischlichen Genüssen hinterher rennen. Wie lange geht das schon so mit Euch beiden? Dein Gemahl hat immerhin nur einmal gefehlt!“

„Pah! Das glaubst du doch wohl selbst nicht!“, schnaubt seine Schwester.

„Was ist das für eine Einstellung Gott gegenüber, wenn Ihr denkt, Ihr könntet tun und lassen was Ihr wollt, und später auf dem Sterbebett, so glaubt Ihr, erlangt Ihr dann sowieso den Sündenerlass, um ins Reich Gottes einziehen zu können! Wo ist Mesura in deinem Leben geblieben, Blanche? – Aimeric?“ Olivier wird sich beim Blick in Blanches aufsässige Augen seiner Überheblichkeit bewusst und sieht nun verunsichert von einem zum anderen. Im Grunde versteht er das Handeln seiner Schwester und Guilhem hat sich das Ganze selbst zuzuschreiben. Wenn er an sich und Chabert denkt, weiß er, wie wenig er sich selbst an seine eigenen Worte und Moralvorstellungen hält.

„Monsénher, wir lieben uns. Wir wollen nicht gegen den Codex verstoßen, aber wir können nicht anders“, verteidigt der Ritter ihre Liebe und ergreift, wie zum Gelöbnis, zärtlich Blanches Hand.

Ruhig und nachdenklich geworden, versucht Olivier weiter auf seinen Vasallen einzuwirken, da er in seiner Stellung das Tun der beiden nicht tolerieren darf: „Aimeric, du bringst mich in eine fatale Situation. Dein Verhalten ist ein Treuebruch mir gegenüber und meiner Familie, weshalb ich dich als Vasall unehrenhaft entlassen und dir dein Lehen nehmen muss. Überdies – Guilhem – er wird Satisfaktion verlangen – von dir und von mir!“

„Nein!“, ruft Blanche entsetzt dazwischen. Sie ist bleich geworden und flüstert flehentlich hinter vorgehaltener Hand: „Bitte sage meinem Gemahl nichts, mein Bruder! Er darf es nie erfahren. Wir werden die nötige Vorsicht walten lassen.“

Olivier ist erneut beunruhigt. „So wie hier und jetzt? – Weiß niemand von Eurem süßen Geheimnis, außer mir? – Ihr müsst Euch augenblicklich trennen und nie mehr wiedersehen, wenn nicht Schlimmeres geschehen soll!“ Er sieht die Verzweiflung in ihren Gesichtern und weiß, sie werden sich an kein Zugeständnis halten, das er ihnen abringen müsste. In ihrem romantischen Gefühl füreinander wird sie nichts schrecken. Ist dies Fin Amour – von Gott gewollte, reine Liebe? Hin und her gerissen erwidert er an Blanche gewendet: „Was tut Ihr mir an? Guilhem ist nicht nur mein Schwager, sondern auch einer meiner besten Freunde. Wie soll ich stillschweigen können!“

„Es ist einzig und allein meine Angelegenheit“, bestimmt Blanche jetzt brüsk gegenüber den beiden Männern in der Kemenate.

Herbst 1231

Tatsächlich hält sich Olivier gegenüber seinem Schwager bedeckt, zumal er trotz aller kameradschaftlichen Verbundenheit dessen Leichtfertigkeit in der Liebe mehr als die seiner Schwester, die nur die Folge von dessen Treulosigkeit ist, verurteilt. Er belässt Aimeric in seinen Diensten. Auf unerklärliche Weise wird sein Verhältnis zu dem Ritter von Clermont-sur-Lauquet hingegen vertrauter, auch wenn sich der Herr von Termes dagegen sträubt, dessen verbotene Liebe zu Blanche anzuerkennen und offen mit seinem Vasallen darüber zu sprechen. Nachrichten aus Aragon über die Eroberung Menorcas nehmen indes die Aufmerksamkeit des Barons indessen gefangen. Auch diese Insel ist nun Eigentum von Jaume d’Aragon, der damit seinen Seehandel weiter ausbauen kann.

Gegen Ende des Jahres kehrt Chabert von seinem Kampf gegen die maurischen Piraten der Insel zurück und legt auf seinem Heimweg in seine Ländereien eine ausgedehnte Rast auf Aguilar ein, wo Olivier seine Ankunft schon sehnlichst erwartet. Über die folgenden Monate sieht man die beiden Barone des Öfteren in vertrauter Zweisamkeit durch ihre Ländereien ziehen und jagen, am abendlichen Kaminfeuer bei einer Karaffe Wein – bisweilen auch zweien – über politische, religiöse sowie banal weltliche Themen debattieren. Kleine Zwistigkeiten, die zwischen den beiden heißblütigen Edelmännern immer wieder auftreten, werden bei ausschweifenden Gelagen auf der Nachbarburg Quéribus beigelegt.

Mehr als ein ganzes Jahr lang scheint die Welt des Barons de Termes vollkommen. Der Bau seines Castèls Aguilar neigt sich dem Ende zu und findet in der Errichtung einer unvermeidlichen katholischen Kapelle seinen Abschluss. Olivier holt wieder häufiger seine Laute hervor, versucht sich als Troubadour, doch trotz seines zunehmenden Wohlstandes stimmen seine Lieder seine Ritter wehmütig.