© 2019 by Norbert Burghardt

Herstellung und Verlag:

BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt

ISBN 9 783750 445161

Inhaltsverzeichnis
VORWORT

Wort und Schrift sind die wichtigsten uns zur Verfügung stehenden Mittel, um uns zu verständigen und mitzuteilen. Dabei sind die Möglichkeiten von Missverständnissen und Irritationen zahlreich und allgegenwärtig. Worte sind im besten Falle Annäherungen an die Realität, im schlechtesten Falle Lügen, Verschleierungen und Täuschungen. Eingedenk dieser grundsätzlichen Problematik möchte ich trotzdem versuchen, auf diesem Wege einige prägende Ereignisse und Erlebnisse meiner Kindheit und Jugend unter dem symbolträchtigen Titel „Westwind und Stacheldraht“ darzustellen.

Darüber hinaus befasse ich mich unter der Rubrik „Gedankenspiele“ mit einigen grundsätzlichen und aktuellen Fragen, die die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der menschlichen Gesellschaft betreffen.

Westwind und Stacheldraht
Kindheits- und Jugenderinnerungen

FRÜHE KINDHEIT

Am 17. Februar 1945 stieß ich im Kreiskrankenhaus Waldbröl im Bergischen Land meine ersten Laute aus. War es Ausdruck von Freude, Schmerz, Angst, Lebenswille? Das bleibt ebenso unklar wie die Gemütslage der anwesenden Personen. Neben berechtigter Freude war sicherlich manch sorgenvoller Gedanke im Spiel. Schließlich war Krieg und die Amerikaner standen am Rhein. Wie meine Mutter mir erzählte, mussten wir die zweite Nacht schon im Luftschutzkeller verbringen. Auch nach der Einnahme des Bröltals wurde die Lage nicht unbedingt besser. Nach den Bedrohungen des Krieges folgte eine Zeit des Mangels an Nahrung, Kleidung und den Dingen des täglichen Bedarfs. Die schlimmste Phase bis 1948 ist zwar der kindlichen Amnesie verfallen, aber ich mutmaße, aus dieser Grunderfahrung des Mangels rührt z.B. die Gewohnheit, den Teller bis auf den letzten Krümel zu leeren. Es blieb auch keine andere Wahl, wollte man „groß und stark“ werden, wie sich die Älteren auszudrücken pflegten. Glücklicherweise lebten wir auf dem Land und konnten so einen Teil der Grundversorgung selbst decken. Meine Eltern hielten einen kleinen Nutzgarten und Kleinvieh wie Kaninchen und Hühner, die mein Vater selbst schlachtete. Dabei konnte es passieren, dass ein Huhn ohne Kopf noch quer durch den Garten flog. Zeitweise hatten wir sogar ein Schaf im Keller, das uns mit frischer Milch versorgte. Bei Hausschlachtungen im Ort erlebte ich, wie in Fleischbergen gewühlt, gemetzelt und gemengt wurde, in Wannen und Töpfen blutige Brühen brodelten und üble Gerüche verbreiteten. Aber ich lernte früh, dass hier etwas entstand, das gut schmeckte und in der Lage war, Leib und Seele für eine Weile beieinander zu halten. Eine gewisse Mangelernährung scheint jedoch vorgelegen zu haben, weil bei meiner Einschulung Hängeschultern festgestellt wurden und ich dauernd aufgefordert wurde, gerade zu gehen und die Brust heraus zu strecken.

Mein jüngerer Bruder Leo kam unverhofft in den Genuss, von der amerikanischen Unterstützung in Form von Care-Paketen zu profitieren. Er wurde mit knallroten Plastikstiefelchen beglückt, die er mit Stolz trug. Wir sagten : “Leo hat Stiefel vom Marshallplan!“

Ein unvergessliches Ereignis war für mich Anfang der Fünfziger ein Besuch im „Café Brandenburg“ in Waldbröl , wo meine Mutter und ich je ein Stück Erdbeertorte mit Schlagsahne genossen. Ein mir bislang unbekanntes, exotisches Erlebnis!

Das änderte sich bei verbesserter Versorgungslage in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre, wo bei Familienfeiern regelrechte Kuchenorgien zelebriert wurden. Favoriten waren Buttercremetorte mit Marzipanröschen, Schwarzwälder Kirschtorte und „Kalter Hund“, eine Kalorienbombe aus Keksen und verflüssigter Schokolade. Wir Kinder veranstalteten Wettessen, wobei man sich an die 15 Stück Kuchen heranarbeiten musste, um sich Hoffnungen auf den 1. Platz machen zu können. Ob diese astronomischen Zahlen tatsächlichem Heißhunger, Schummelei oder späterer Legendenbildung geschuldet sind, ist heute nicht mehr zu ergründen. Die meisten „Kuchenschlachten“ fanden in Solingen im mütterlichen Elternhaus statt und … meistens gewann mein Vetter Rainer. In diesem Haus lebten zeitweise 6 Parteien mit ca. 20 Personen, alle mehr oder weniger eng verwandtschaftlich verbunden. Man musste damals eben zusammenrücken.

FRÜHESTE ERINNERUNG

Doch kehren wir zurück in die Zeit des Mangels und der allgemeinen Knappheit. Es muss kurz nach der Währungsreform gewesen sein. An einem schönen Sommertag ergab es sich, dass Onkel Adolf, ein Vetter meiner Mutter, mich und Joachim Duhme beauftragte, im Wirtshaus „Zur Fischerin“ Zigarillos zu besorgen. Nach prompter Ablieferung der gewünschten Ware gab er uns einen Geldschein zur Belohnung. Wahrscheinlich war es die relativ wertlose Reichsmark. Wir standen also unter den drei großen Eichen und beratschlagten, was zu tun sei. Uns war zu Ohren gekommen, dass es in Waldbröl Bonbons - wir nannten sie „Klümmchen“ - geben sollte. Wir entschieden, dass das eine gute „Geldanlage“ sei. Allerdings war der Weg weit und beschwerlich. Wir rissen den Schein säuberlich in der Mitte durch. Falls wir unterwegs getrennt würden oder nur einer das Ziel erreichte, so hätte doch jeder Geld bei sich. Wir steckten unsere Scheine in die abgewetzten Lederhosen und machten uns auf den Weg. Wir wussten, dass das „Brölbähnchen“ nach Waldbröl fuhr. Wir stellten uns also zwischen die Schienen, drehten uns nach links und stapften los. Nebenan verlief die alte Brölstraße, aber die war uns zu unsicher. Wer weiß, wo die hinführte. So kletterten wir über jede Schwelle und stolperten durch den Schotter, was ein kräftezehrendes Unterfangen war. Wir erreichten unbehelligt Beuinghausen, als hinter uns eine krächzende Stimme ertönte: „Joooochiiiim!“. Es war Mittagszeit und Joachims Oma hatte ihren Enkel am Mittagstisch vermisst. Da sie zu Fuß war, legten wir einen Zahn zu und erreichten den „Ruher Weg“, als eine tiefere Stimme uns einholte: „Norrbääärt!“. Es war mein 11 Jahre älterer Bruder Franz-Adolf auf seinem Fahrrad. Das war‘s! So zerplatzte 2 Kilometer vor dem Ziel der Traum von „Klümmchen“. Es ist meine früheste Erinnerung an ein zusammenhängendes Ereignis und meine erste Erfahrung mit der beginnenden Marktwirtschaft. Mag sein, dass dieses Erlebnis meine Einstellung zu Geld und zur Warenwelt geprägt hat.

ZIEGENHARDT

„Schauplatz“ und Mittelpunkt meiner Kindheit und Jugend war Ziegenhardt, ein Kirch- und Schuldorf mit ca. 80 Einwohnern, fast ausschließlich Katholiken. Dieser Mikrokosmos, mit Ziegenhardt als „Fixstern“, wurde umkreist von den „Trabanten“ Rossenbach, Niederhausen, Bladersbach, Geilenkausen, Rottland und Berkenroth, wo überwiegend Protestanten lebten. Die Katholiken aus diesen Orten kamen nach Ziegenhardt zur Kirche und zur Schule, was seine Bedeutung hervorhob. Zudem hatte Ziegenhardt eine Kneipe, das beliebte Wirtshaus „Zur Fischerin“. Hinter der Theke hing ein Stück Birkenholz mit dem Schriftzug : “Hier herrscht Ordnung, Zucht und Sitte, das beweist der Knüppel in der Mitte!“. Direkt vor der Terrasse verlief bis 1953 das Gleis des Brölbähnchens, der ältesten Schmalspurbahn Deutschlands. Mit mehr als der Hälfte der Ziegenhardter waren wir verwandt oder verschwägert, und der Rest wurde auch mit Onkel und Tante angeredet. Mit Ausnahme von „Schmidts Jüppchen“ und seinen zwei Geschwistern, allesamt kinder- und ehelos. Die nannten wir beim Vornamen. „Jüppchen“ galt als äußerst „kniepig“. Er bearbeitete sein Land mit einem Ochsen. Der entschied, wann es vorwärts ging und wann Pause gemacht wurde.

Der Ziegenbusch, der Rottländer Bach und der ganze Ort mit seinen Heuspeichern, Obstwiesen, Kletterbäumen und Viehweiden war unser Spielplatz. Die Weidezäune waren dabei ein prägendes Element der Landschaft. Sie gliederten, ordneten, trennten, zerschnitten und strukturierten unsere heimatliche Umgebung und dadurch auch unsere Aktivitäten. Aber vom Stacheldraht ließen wir uns nicht aufhalten, außer ...wenn Bullen auf der Weide waren. Ansonsten huschten wir hindurch wie der Westwind, der meist vom Rhein her unser Tal durchwehte. Die Brölstraße nutzten wir als Malfläche und verzierten sie mittels creme- bis ockerfarbener Sandsteinbrocken, die wir in den Straßenböschungen fanden. Hier sammelten wir auch versteinerte Muscheln und anderes urzeitliches Meeresgetier. Durch den Ausbau der Brölstraße vergrößerte sich zwar unser „Malgrund“, aber der „Schaffensprozess“ wurde immer häufiger durch den zunehmenden Autoverkehr unterbrochen. Den Brölbach mieden wir. Er war bis weit in die Sechziger eine verseuchte, stinkende Kloake.

So blieb uns für „Wasserspiele“ nur der Rottländer Bach und der Dorfweiher mit angeschlossenem „Milchkannen - Kühlbecken“, wo es von Kaulquappen und Molchen wimmelte. Die Bröl war für uns nur bei Hochwasser interessant, wenn sie die sumpfigen Wiesen bis zur Straße überschwemmt hatte. Ich stellte mich dann mit Gummistiefeln auf die Brücke hinter der Schmiede und starrte auf das durchschießende Wasser, bis ich den Eindruck hatte, ich brauste mit einem Schiff durch die Fluten.

„BRÖLBÄHNCHEN“

1953 wurden die Gleise des Brölbähnchens abgerissen. Wir saßen zu dritt auf der Böschung in „Schmidts Kurve“ und beobachteten die Abbrucharbeiten. Dem Lokführer waren wohl die Zigaretten ausgegangen und er schickte uns zur „Fischerin“, um Neue zu holen. Als wir dies wunschgemäß erledigt hatten, kletterten wir wieder flugs die Böschung hoch. Er fragte: „Und wo ist das Wechselgeld?“. „Davon haben wir Lakritz gekauft!“. Während er in seinem Führerstand einen Veitstanz aufführte, genossen wir unsere unverhoffte Zwischenmahlzeit. Er konnte seine Lok nicht verlassen, aber es war offensichtlich und unüberhörbar, dass er unsere Auffassung von Trinkgeld und angemessener Bezahlung von Dienstleistungen nicht teilte. Hinter ihm wurden die Schienen entfernt und aufgeladen. So entschwand er langsam aus unserem Blickfeld.

EINSCHULUNG

Die katholische Volksschule in Ziegenhardt war eine Zwergschule, d.h. erstes bis achtes Schuljahr wurde in einem Klassenraum unterrichtet. Meine Einschulung war für mich ein freudiges Ereignis, an das ich noch eine lebhafte Erinnerung habe. Auf alle Fragen von Lehrer Küpper hatte ich prompt präzise Antworten parat. „Was macht man mit der rechten Hand?“. „Butterbrote schmieren und Wasser scheppen!“. Unser Haus war 1951 noch nicht an das Niederhausener Wasserleitungsnetz angeschlossen. Wir mussten Trink- und Brauchwasser aus einem 100 m entfernten Brunnen holen. „Wer kann etwas an die Tafel malen?“. Das war etwas für mich. Ich füllte die Schultafel mit einem ausladenden „Gemälde“. „Das ist der Steckelbachs Werner mit seinem Max (Pferd) und seinem Senta (Hund)!“. Meine Mutter erzählte später, es sei ihr peinlich gewesen, weil ich so vorlaut war und die anderen „I-Dötzchen“ nicht zu Wort kommen ließ. Meine Begeisterung für die Schule hat sich leider im Laufe der Zeit - wie wir später sehen werden - abgekühlt und ins Gegenteil verkehrt.

UNSER HAUS

1947 errichtete mein Vater in Ziegenhardt auf einem ererbten Grundstück ein Wohnhaus. Das Grundelement bestand aus einer NS-Arbeitsdienstbaracke, die nach dem Krieg im Lager „Segenborn“ abgerissen worden war. Er setzte die Holzkonstruktion auf ein massives Kellergeschoss aus Bruchstein. Die Kellerdecke wurde getragen durch ausrangierte Schienen des Brölbähnchens. Das Haus hatte ein Asphaltpappendach mit geringer Neigung und erinnerte äußerlich an Baracken, die man von Konzentrationslagern her kennt. Diesen Eindruck milderte Wilder Wein, Clematis und Selbstklimmer, der das Haus im Laufe der Jahre an zwei Seiten bis zum Dach bedeckte. Der Innenraum war gegliedert in Küche/Esszimmer, Wohnzimmer, Schlafzimmer, Kinderzimmer. Im Küchenspind befand sich eine Falltür, wo man über eine steile Holztreppe den Keller erreichte. Hier waren Vorrats-/Kartoffelkeller, Kohlenkeller und Waschküche untergebracht, wo auch in einer ovalen Zinkwanne „gebadet“ wurde. Zur Toilette ging‘s über die kleine Terrasse. Der angebaute Holzschuppen mit Hühnerstall war für uns Kinder Rückzugsraum und Spielplatz bei schlechtem Wetter. Hier war auch meine „Schnitzwerkstatt“, wo ich u. a. Krippenfiguren und Kasperlepuppen schnitzte.

Nachbarn witzelten manchmal, wir wohnten nicht in einem Haus, sondern in einer „Zigarrenkiste“. Das konnte mich wenig beeindrucken. Für mich wurde es zum Inbegriff für Wohnen mit menschlichem Maß, was natürlich auch an meinen Eltern und meinen drei Geschwistern lag. Außerdem wurden wir allgemein um die sonnige Südlage und den liebevoll gepflegten Garten beneidet. 1961 folgte dann ein Anbau mit Badezimmer/WC, Wintergarten und einem steileren Dach mit Eternitplatten. Hierbei hat vor allem mein zweitältester Bruder Franz-Adolf seine beruflichen Fähigkeiten eingebracht. Für mich war diese „Zigarrenkiste“ der in sich ruhende Mittelpunkt der mir bekannten Welt.

MEINE ELTERN

Viele Worte über meine Eltern zu verlieren, würde für mich bedeuten, subjektiv Superlative aneinander zu reihen. Im Verwandten- und Bekanntenkreis galten sie in