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© 2019 Helmut Borth
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Titelgestaltung, Satz und Layout:
Felizita Rinck (www.werbe-rinck.de)
Herstellung und Verlag:
BoD Books on Demand GmbH, Norderstedt
ISBN 9783750475212
Eine unvollständige literarische Spurensuche
Neubrandenburg ist bekannt für Reuter und Reimann, hat literarisch aber viel mehr zu bieten. Erasmus Alberus, einen Dichter von Kirchenliedern, der Mitte des 16. Jahrhunderts an der Marienkirche Seelenhirte war und im Schatten ihrer Mauern auf deren Kirchhof beigesetzt wurde, oder Ernst Theodor Johann Heinrich Brückner, einen seiner Amtsnachfolger.
Als in Frankreich 1789 die Nationalversammlung die Erklärung Menschen- und Bürgerrechte verkündete, wurde das einzige auswärtige Mitglied des damals prominenten Göttinger Hainbundes Pastor an der heutigen Konzertkirche. Über seine Tochter Margarethe, eine Schwägerin von Caspar David Friedrich, dem wohl bekanntesten Maler der Romantik, entfernt verwandt, war Brückner auch zeitlebens mit dem in Sommertorf bei Waren geborenen Dichter und Übersetzer Johann Heinrich Voß befreundet. Der uneheliche Sohn eines Kammerdieners und Enkel eines mecklenburgischen Leibeigenen besuchte von 1766 an für drei Jahre die Neubrandenburger Gelehrtenschule.
Als Voß, der nicht nur die Ilias und Odyssee aus dem Griechischen, sondern auch die Erzählungen aus Tausendundeiner Nacht aus dem Französischen übersetzt hat und wohl auch den Trinkspruch vom Wein, Weib und Gesang erfunden haben soll, erstmals auf einer Schulbank in der Vier-Tore-Stadt Platz nahm, besuchte mit Thomas Nugent ein Gelehrter, Historiker und Reiseschriftsteller aus Großbritannien Neubrandenburg. Fünf Jahre nach der Hochzeit seines Königs Georg III. mit der Mecklenburg-Strelitzer Prinzessin Sophie Charlotte wollte der in London gebürtige Ire den Untertanen seiner Majestät die mecklenburgische Heimat seiner jungen Königin vorstellen. Bei seinen Streifzügen durch die Straßen der Stadt, zum Tollensesee und bei Spaziergängen über den Wall wurde er vom Rat und Landsyndikus des Stargarder Kreises, Johann Gottlieb Pistorius, begleitet.
Der Rechtsgelehrte war nicht nur ein allseits anerkannter Altertumsforscher. Er bereitete auch eine umfassende Geschichte aller mecklenburgischen Adelsfamilien vor, konnte aber nur einen ersten Band veröffentlichen, über die Familie von Warburg. Bei anderen Herren aus den Reihen derer von und zu stieß er auf wenig Gegenliebe und Unterstützung.
Auf Unverständnis stieß der Aufklärer auch bei seinen Mitbürgern mit seinem Einsatz für einen Friedhof außerhalb der Stadtmauern. Die Kirchhöfe der Innenstadt waren überbelegt und boten frei herumlaufenden Schweinen ein Futterparadies. Die hygienischen Zustände lassen sich nicht beschreiben. Es gab sie einfach nicht. Das war der Grund, warum Pistorius sich nach seinem Tod 1780 außerhalb der Stadtmauern auf dem Wall beisetzen ließ, wo auf seine Anregung hin von ihm und seinen Freunden vier Jahre zuvor das erste Gellert-Denkmal in deutschen Landen aufgestellt wurde.
Christian Fürchtegott – was für ein Name für einen Pastorensohn! – Gellert war zwar nie in Neubrandenburg, doch seine Erzählungen, Fabeln und viele Lieder waren weithin beliebt und bekannt. Seine Choräle wurden in den evangelischen Gemeinden gern gesungen. Auch in Neubrandenburg. Die krönende Urne auf der verputzten Stele seines Denkmals ist eine Kopie. Das Original, gestiftet vom Bruder von Queen Charlotte, Herzog Adolph Friedrich IV. aus Neustrelitz, fand seinen Weg ins Regionalmuseum, wo auch die Grabplatte der letzten Ruhestätte von Pistorius aufbewahrt wird, dem der Schriftsteller Prof. Dr. Marx Müller 1916 ein Denkmal in Versform setzte.
Der Syndikus Pistorius
War einer von den Hellen;
und wußte zu des Rats Verdruß
Manch Übel abzustellen;
Er hat nicht alles, nur weils alt,
Als edel preisen wollen
Dann hat es stets ihm zugeschallt:
„I wat, bliwwt Allen’s bi’n Ollen!“
Er schrieb sich fast die Finger wund:
„Der Kirchhof, den wir haben,
Ist ungesund! Ist ungesund!
Man soll da nicht begraben!
Noch mehr Zeilen sind in seinen Betrachtungen „Aus dem Lande Dörchläuchtings“ in Velhagens & Klasings Monatsheften, Jahrgang 30, März 1916, Seite 408–413, zu finden.
„Dörchläuchting“ Adolph Friedrich IV., der regierende Herzog von Mecklenburg-Strelitz, Ritter des Hosenbandordens und mit 14 bereits Rektor der Greifswalder Universität, hatte zu dieser Zeit seine Sommerresidenz in einem Palais seiner Vorderstadt aufgeschlagen. Es lag gegenüber der Bäckerei Schulz. Beide Quartiere waren nur durch das Rathaus getrennt, das zwischen ihnen auf dem Markt stand. Den beiden Häuptern der Häuser, dem anspruchsvollen Fürsten mit leerem Geldbeutel und der resoluten Bürgerfrau, setzte Fritz Reuter mit der Veröffentlichung seiner Humoreske „Dörchläuchting“ 1866 bei Hinstorff in Rostock ein literarisches Denkmal. Anlässlich des 100-jährigen Firmenjubiläums des Modehauses Nahmacher ließ dessen Inhaber Hermann Carstens 1923 vom Bildhauer Wilhelm Jaeger einen Reuterbrunnen schaffen, der seinen Platz vor dem Rathaus fand und im Zuge des HKBBaus Mitte der 19060er-Jahre als Mudder-Schulten-Brunnen seinen jetzigen Standplatz am Wall fand. An einem Eingang zur Innenstadt, gegenüber dem Bahnhof und gegenüber von Fritz Reuter. Der hatte übrigens sieben Jahre in verschiedenen Neubrandenburger Wohnungen verbracht, im Ratskeller und im Fürstenhof Stammtisch gehalten und sich 1863 als erfolgreicher Autor, nicht ohne Wehmut, gen Eisenach verabschiedet.
„Diese sieben Jahre, ich kann es ganz aufrichtig sagen, sind die glücklichsten meines Lebens gewesen. Ich werde nie die freundliche Vorderstadt Neubrandenburg vergessen mit ihren reinlichen Straßen, mit ihrer schönen Kirche, wie ihrem grünen Eichenkranz, den hellblauen Spiegel ihres Sees, ihrem Buchenwald – niemals werde ich sie vergessen.“ Hier hatte er seine produktivste Zeit, hier schuf er fast alle seine großen Werke: „Kein Hüsung“, „Ut de Franzosentid“, „Hanne Nüte“ und „Ut mine Stromtid“. Mit seinen Werken erlangte Reuter, der 2015 übrigens als Ermittler im Regionalkrimi „Doppelmord“ von Frank Goyke nach Neubrandenburg zurückkehrte, nicht nur nationalen Ruhm und Anerkennung. Sein Platt wurde in fast alle europäischen Sprachen und nach dem Zweiten Weltkrieg sogar ins Japanische übersetzt.
In der Zeit, in der „Dörchläuchting“ in Neubrandenburg Hof hielt, wurde hier auch der durch eine der größten Privatbibliotheken seiner Zeit bekannte Bibliophile Karl Hartwig Gregor von Meusebach (Pseudonyme: Alban; Markus Hüpfinsholz) geboren. Wikipedia nannte unter seine Namen lange Voigtstedt im Kyffhäuserkreis als seinen Geburtsort, änderte das aber jetzt, während Neubrandenburg in seinem Internetlexikoneintrag im Menüpunkt „Persönlichkeiten“ seine Geburt weiter hartnäckig verschweigt. Doch der Freiherr hat schon 1830 den Brüdern Grimm geschrieben: „Geboren bin ich zu Neu-Brandenburg …“
Wie so oft in solchen Fällen spielte der Zufall eine gewichtige Rolle. Ohne den wäre die Mutter des Juristen, Sammlers, Literaturwissenschaftlers und Märchenfreundes sicher im heimatlichen Thüringen niedergekommen.
Der Vater, Christian Karl von Meusebach, war ein anerkannter Jurist und hatte zwischen 1780 und 85 Erbschaftsangelegenheiten bezüglich der mecklenburgischen Güter Dahlen, Beseritz, Treppesdorf (Disley) sowie der Herrschaft Seeburg im Mansfeld zu regeln gehabt. Angehörige der Familie von Hahn waren in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts – man könnte sagen – wie die Fliegen gestorben. Und am 6. September 1779 ereilte dieses Schicksal auch den letzten männlichen Spross der Rempliner Linie, den unter Vormundschaft stehenden geisteskranken Erblandmarschall Claus Ludwig von Hahn.
Der berühmte Astronom Friedrich II. von Hahn aus Neuhaus in Schleswig-Holstein und dessen ebenfalls wegen Geistesschwäche unter Vormundschaft stehender Bruder Detlev gehörten wie die Thüringer Adelsfamilien von Meusebach, von Witzleben und von Geusau zu den Erbberechtigten. Die Erbauseinandersetzung war kompliziert, zumal am 30. April 1780 auch Anna Hedwig von Geusau starb, eine geborene von Hahn, eine Schwester des toten Erblandmarschalls Claus Ludwig. Da sich der Prozess über Jahre hinzog, mietete sich Karl Hartwig Gregor von Meusebachs Vater samt schwangerer Frau und zwei kleinen Kindern in Neubrandenburg ein, wo am 6. Juni 1781 der spätere Bücherfreund und Helfer der Brüder Grimm das Licht der Welt erblickte. Kaum aber, dass das Nesthäkchen das vierte Lebensjahr vollendet hatte, starb die Mutter. Der Vater heiratete daraufhin Christine Tugendreich – wieder so ein pietätvoller Name – Viedmar, die Kammerfrau seiner ersten Gemahlin.
1804 ehelichte Karl Gregor Hartwig Freiherr von Meusebach Ernestine von Witzleben, Tochter des kurfürstlich hessischen Staatsministers. Meusebach wurde aus Interesse und Vergnügen ein Kenner der deutschen Literatur und Sammler wertvoller Drucke. Seine Bibliothek wurde 1849 von der preußischen Regierung angekauft und in der Königlichen Bibliothek zu Berlin aufgestellt.
Die Märchen „Der Großvater und der Enkel“, 1812 in die Grimmsche Sammlung aufgenommen, und „Der gläserne Sarg“, 1837 erstmals in einem Grimm-Märchenbuch erschienen, stammen aus der Meusebachschen Bibliothek, die 36.000 Bände umfasste. Zudem machte der Freund die Märchenbrüder darauf aufmerksam, dass der von ihnen 1837 aufgenommene Schwank „Der kluge Knecht“ auf die Auslegung eines Psalms von Martin Luther zurückgeht.
Als Meusebach in Neubrandenburg das Laufen lernte, versuchte in einem anderen Haus ein weiterer Thüringer Edelmann weiter an seinem literarischen Ruhm zu schreiben. Nachdem Gottlob – noch einmal die damalige Namensmode – Freiherr von Hacke auf Bilzingsleben, königlich-preußischer Kommissionsrat zu Neubrandenstein, als solcher ist er im „Pantheon deutscher jetzt lebender Dichter und in die Belletristik eingreifender Schriftsteller“ aus dem Jahr 1823 verzeichnet, 1781 bereits in Hamburg „Das Schnupftuch“, ein Trauerspiel in drei Aufzügen, herausgeben hatte, schloss der Ritter des Weißen Adlerordens und vormalige polnische Geheimrat als Mitglied der in Neubrandenburg gastierenden Schauspieltruppe des Prinzipals Johann Carl Tilly Bekanntschaft mit dem kriminellen Goldschmied, Kunst- und Kuriositätensammler Gideon Sponholz, der nach dem Tod von Pistorius wohl einen großen Teil von dessen Nachlass in seinen Besitz gebracht hat.
Mit Urkunden und Unterlagen zur Geschichte Neubrandenburgs schrieb der das Theater liebende und durch Norddeutschland vagabundierende abenteuerlustige Baron die „Geschichte der Vorderstadt Neubrandenburg“, die 1783 als erste Chronik der Vier-Tore-Stadt veröffentlicht wurde. Hackes Sponsor Sponholz befand sich zu dem Zeitpunkt gerade auf dem Höhepunkt seines antiquarischen Ruhms. Nachdem 1782 seine Mutter verstorben war, ließ er ein Jahr später die Auffahrt des Hauses überbauen, so dass oberhalb des Torweges Räumlichkeiten gewonnen wurden, in denen er ein „Antiken- und Naturalien-Kabinett“ einrichtete. In dessen Mitte stand ein Tisch mit dem Modell eines kleinen Tempels, der den des sagenhaften Rethras darstellen sollte. Davor waren Götzenbilder aus Ton platziert. In einem Schrank verwahrte er Amulette und Idole aus Metall, die er im Pfarrgarten von Prillwitz gefunden haben wollte. Die kunstvollen Arbeiten aus der eigenen Fälscherwerkstatt narrten Jahrzehnte Gelehrte in ganz Europa. Den Herzoglich Mecklenburg-Strelitzschen Hofprediger Andreas Gottlieb Maasch und den Herzoglich Mecklenburg-Strelitzschen Hofmaler Daniel Woge hatten sie bereits 1771 zur Herausgabe des Buches „Die gottesdienstlichen Alterthümer der Obotriten aus dem Tempel zu Rethra am Tollenzer-See“ veranlasst. 2011 inspirierten sie den FAZ-Redakteur Frank Pergande zum Krimi „Der Fluch der Ente“.
Ob Sponholz und der bedeutendste Kunstfälscherskandal des ausgehenden 18. Jahrhunderts jemals eine Rolle in einem der 290 (!) Romane spielten, die die erfolgreichste Unterhaltungsschriftstellerin ihrer Zeit, Luise Mühlbach (Pseudonym von Clara Mundt) in nur 36 Jahren geschrieben hat, ist noch nicht untersucht. Mit der Baronin Friederike von Kimsky, der Tochter des Neubrandenburger Uhrmachers Johann Wilhelm Hähnel, die als Geliebte des preußischen Staatskanzlers Karl Wilhelm Fürst von Hardenberg und „Beraterin“ von Papst Gregor XXII. in die Geschichte einging, hat sie sich schließlich beschäftigt und der „Erfinder“ der Prillwitz-Idole war seinerzeit nicht weniger bekannt. Luise Mühlbach, die Tochter des Neubrandenburger Bürgermeisters Müller, wurde am 2. Januar 1814 in Neubrandenburg geboren. Sie war damit eine Zeitgenossin der späteren Erfolgsautorin Ida Gräfin Hahn-Hahn, die nach 1810 im Kindesalter bei ihrer Mutter in der Kleinen Wollweberstraße lebte.
Das Palais Hahn, in der Stadtgeschichte auch als Bürgermeister-Brückner-Haus bekannt, gehörte sicher zu den Sehenswürdigkeiten, die Theodor Fontane entdeckte, der Mecklenburg und seinen Fritz Reuter liebte und dessen Rotspon und Onkel Bräsig, eine Gestalt aus der „Stromtid“, höher stellte „als den ganzen Borussismus, diese niedrigste Kulturform, die je war“. 1897 verbrachte der märkische Wanderer im Juni und Juli vier Wochen im 2006 abgerissenen Kurhaus „Augustabad“. Gerade einmal zwei Jahre alt war zu dieser Zeit das nach der Mecklenburg-Strelitzer Großherzogin Augusta Caroline, einer geborenen Prinzessin von Großbritannien, Irland und Hannover benannte Heim, das sozusagen den Grundstein für den Beginn des Tourismus in Neubrandenburg bildete. Fontane suchte hier Erholung von seinen Altersgebrechen und las am Ufer des Tollensesees die Korrekturen zu „Der Stechlin“.
Beim Spaziergang durch die die Straßen und Gassen der Stadt und über ihren Wall traf er auch auf das am 29. Mai 1893 feierlich enthüllte Denkmal seines Idols. Die überlebensgroße Bronzestatue des sitzenden Dichters war das erste Reuterdenkmal auf mecklenburgischem Boden.
Nur ein Jahr nach der Neubrandenburger Denkmalweihe wurde hier am 14. Dezember 1894 der von seiner Vaterstadt längst vergessene Autor Alexander Persyn geboren. Bevor er als Freiwilliger von 1914 bis 916 in den Ersten Weltkrieg besuchte er in Worm uns Gießen die Oberrealschule. 1917 gab er mit Alfred Ihne „50 Fahrten mit dem Lazarettzug nach der Westfront“ heraus, 1918 im Selbstverlag „Deutscher Advent“ und 1954, ebenfalls im Selbstverlag, „Es sei Frieden“. Der Prosaautor, über den im weltweiten Netz eigentlich nichts Biografisches zu finden ist, außer, dass er in Kempten im Allgäu und in Hildesheim gewirkt hat, war unter anderem Druckereidirektor und Präsident des Landesverbandes Rheinland-Pfalz in Deutschen Aero Club. Er starb 1982 im baden-württembergischen Bad Schusselried.