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Inhalt

Von allen guten Geistern verlassen

Eine nächtliche Gurkenlieferung

Krisensitzung

Jetzt schlägt‘s dreizehn!

Recherchen

Ein falscher Verdacht

Willkommen in Scaryland!

Blamiert bis auf die Knochen

Eine böse Überraschung

Geisterjagd in der Schule

Ein Sensenmann in Scaryland

Operation Geisterbefreiung

Die Todes-App

Wo steckt Emily?

Entführt!

Diebstahl von Schuleigentum

Bleus Kontrollraum

Der große Knall

Stans Trauma

Totgesagte leben länger

Ein ungebetener Geist

Archibalds Vermächtnis

Die Geisterbrille

Geisterfolter!

Geheimnisvolle Botschaften

SMS ins Jenseits

Sensenmann mit Sonnenbrand

Spionage

Anti-Ghost

Einbrechen will gelernt sein

Harolds Geistesblitz

Noch mehr Rätsel

Die Jenseits-Sonnencreme

Ein Trip ins Jenseits

Grau so weit das Auge reicht

Das Seelen-Beförderungs-Institut

Flucht durchs Labyrinth

Tot oder lebendig

Onkel Archibald

Ein neuer Nachbar

Meister aller Geister

Ein Torero im Exil

Die Schreckschraube von nebenan

Der Spion mit der Lizenz zum Töten

Nachricht aus dem Jenseits

Ein Blizzard in der Schneekugel

Die Geisterbeschwörung

Ein nächtlicher Zwischenfall

Poltergeist-Invasion

General Dragomir Satanescu

Harolds Geheimnis

Gruseliger Besuch

Jenseits-Telefonie

Der Brutale Baron

Eine gelungene Vorstellung

Die Schatzsuche

In der Falle

Ein Sensenmann, unsterblich verliebt

Darf ich vorstellen? Unsere Hausgeister!

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Titelseite

Eine nächtliche Gurkenlieferung

Alles begann, als Mr Olsen starb.

Dass Mr Olsen das Zeitliche segnete, war für keinen der Bewohner des Radieschenweges eine besonders große Überraschung – immerhin hatte er bereits seinen hundertzweiten Geburtstag gefeiert. Mr Olsen war vergesslich, litt an Blasenschwäche und verpasste keine Gelegenheit, seine Leiden in allen Einzelheiten zu schildern. Auch, wenn man gar nicht danach fragte.

Abgesehen von seinen Krankheiten hatte Mr Olsen noch ein anderes Hobby: seinen Radieschengarten. Als wollte er dem Namen der Straße, in der er wohnte, gerecht werden, ackerte er jeden Tag den Garten um, pflanzte Samen oder erntete reife Radieschen. Nach Sonnenuntergang griff er noch zur Gießkanne und wässerte seine Pflänzchen. Erst dann verriegelte er die Tür, machte das Licht aus und ging zu Bett.

Das war Mr Olsens Ritual. Otto konnte ihn jeden Tag von seiner Fensterbank am Dachgiebel aus dabei beobachten. Abends machte er es sich dort meist mit einem Kissen gemütlich und vertrieb sich die Zeit mit einem dicken Buch.

Während andere Elfjährige fernsahen oder Computer spielten, las Otto am liebsten Gruselgeschichten. Und wenn er danach nicht einschlafen konnte, holte er sein Fernglas und spähte in Mr Olsens Garten.

Die meisten Bewohner des Radieschenwegs hielten Mr Olsen für einen seltsamen Kauz, aber Otto mochte ihn. Der alte Mann und seine Radieschen halfen ihm dabei, richtig müde zu werden.

Doch an diesem Abend fiel Otto auf, dass etwas anders war. Mr Olsens Ritual verlief nicht wie sonst. Nachdem die Pflänzchen gewässert waren, setzte er die Gießkanne ab und richtete den Blick geradewegs in den nächtlichen Himmel. Eine Weile hielt er inne, dann, so schnell, dass Otto es kaum mitbekam, kippte Mr Olsen rücklings ins Radieschenbeet. Dort blieb er reglos liegen, den Blick immer noch gen Himmel gerichtet, während ein schmales Lächeln auf seinen Lippen lag. Beinahe so, als hätte er sich sein Ableben genau so vorgestellt.

Otto hatte noch nie zuvor einen Menschen sterben sehen. Und wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte er liebend gern darauf verzichtet. Er fand sein Leben im Radieschenweg schon schräg genug.

Otto dachte kurz nach. Vielleicht irrte er sich ja und Mr Olsen war gar nicht wirklich tot? Aus Büchern wusste er nur ungefähr, wie Leichen aussahen. Er hatte noch nicht mal eine im Fernsehen gesehen, weil Tante Sharon ihm nicht erlaubte, Krimiserien anzuschauen. Er brauchte also unbedingt eine zweite Meinung.

»Vincent?«, rief Otto, ließ sich vom Fensterbrett gleiten und klopfte an die Tür des Eichenschranks, der in der Ecke seines Zimmers stand. »Komm raus. Das musst du dir ansehen! Ich glaube, mit Mr Olsen stimmt was nicht.«

In Ottos Schrank polterte es. Mit einem Knarren öffnete sich die linke Flügeltür und eine dunkelgraue Fledermaus schlüpfte durch den Spalt.

Selbst im Dämmerlicht konnte Otto sehen, wie ihre Augen golden funkelten. Abgesehen davon sah Vincent eigentlich aus wie jede andere Fledermaus. Gut, er wirkte vielleicht ein wenig mitgenommen. Sein Fell war an ein paar Stellen löchrig und seine zerschlissenen Flügelhäute blähten sich beim Fliegen wie die Segel eines alten Piratenschiffs.

»Mit Mr Olsen stimmt was nicht«, näselte Vincent und klang, als wollte er sich über Otto lustig machen. Schlaftrunken hob sich das Tier in die Luft und landete auf Ottos Bettpfosten. »Als ob das Neuigkeiten wären! Was ist es diesmal? Hat er die Radieschen wieder zu oft gegossen?« Er überlegte. »Oder geht’s um seine Blasenschwäche? Hat er sich angepieselt? Nein, ich hab’s! Er hat in die Radieschen gepieselt.«

Otto schüttelte ernst den Kopf. »Nichts davon.«

»Hmpf«, brummte Vincent enttäuscht. Träge ließ er den pelzigen Kopf hängen. »Und weshalb weckst du mich dann? Ich hatte einen abgefahrenen Traum.«

»Du hast geschlafen?« Otto nahm seinen Blick von dem starren Mr Olsen und studierte sein Haustier. »Sind Fledermäuse nicht nachtaktiv?«

Vincent hob das Kinn. »Die in deiner Welt vielleicht, Klugscheißer.«

Otto seufzte. Manchmal fragte er sich wirklich, warum er Vincent immer noch in seinem Schrank wohnen ließ. Er war die reinste Nervensäge und außerdem keine normale Fledermaus. Vincent war noch nicht mal ein normales Tier. Er stammte nicht aus England, nicht von diesem Kontinent, und auch nicht von diesem Planeten. Vincent kam aus einer Welt, von deren Existenz Otto zwar wusste, die er aber noch nie betreten hatte. Und dort galten für Fledermäuse nun mal andere Gesetze.

»Wenn du schon mal wach bist, kannst du mir genauso gut sagen, was mit Mr Olsen los ist«, konterte Otto und deutete zum Fenster. »Ich glaube nämlich, er hat …«

Noch bevor er den Satz ganz ausgesprochen hatte, spannte Vincent die Flügel und glitt ans Fensterbrett. »… das Zeitliche gesegnet«, beendete er Ottos Satz. »Der alte Rübezahl ist tot. Mausetot. Scheint, als würde er sich sein Gemüse in Zukunft von unten ansehen.«

Otto schluckte. Also hatte er mit seiner ersten Vermutung doch recht gehabt. Tot. Mausetot, hallte es in Ottos Kopf und er spürte, wie ihm die Farbe aus dem Gesicht wich. Heute Nacht würde er garantiert kein Auge zutun. Schlaflos, ausgerechnet am Abend vor dem Biologietest. Mr Walker würde kein gutes Haar an ihm lassen, wenn er während der Prüfung einschlief. Von der Note ganz zu schweigen. Und dabei war Biologie sein Lieblingsfach.

»Jetzt guck doch nicht so, Otto. Du hast einen Teint wie Tante Sharons gepelltes Frühstücksei.« Vincent schüttelte den Kopf. »Mann, Mann, du solltest schon etwas härter im Nehmen sein. Ich dachte, du hast dich inzwischen an das Haus und die Bewohner gewöhnt.«

Otto antwortete nicht. Er wusste, dass er mit dem Jenseits und allem, was damit zu tun hatte, vertraut sein sollte. Kurz nachdem er in Tante Sharons Villa gezogen war, hatte er Bekanntschaft mit den drei Hausgeistern gemacht, und mittlerweile konnte er sie sogar richtig gut leiden. Tante Sharon ahnte allerdings nichts von ihrer Existenz. Niemand wusste von ihnen. Abgesehen von Ottos bester Freundin Emily. Die sah Tante Sharons Geister zwar nicht, aber übernatürliche Phänomene zählten zu ihren Hobbys, und deshalb glaubte sie Otto jedes Wort.

»Geister hin oder her. Das hier ist etwas anderes. Mr Olsen ist tot«, wisperte Otto beunruhigt. »Oder er wird es bald sein, wenn ihm niemand hilft.« Er rieb sich die Stirn und versuchte sich daran zu erinnern, was sie in der Schule über das Verhalten in Notsituationen gelernt hatten.

»Wo willst du hin?«, krächzte Vincent ihm hinterher, aber Otto hastete bereits aus dem Zimmer. Er lief durch den stockdunklen Flur und die Treppe hinunter in den ersten Stock, wo sich Tante Sharons altmodisches Telefon befand. Wie so oft hatte sich das Kabel verwickelt und Otto musste ein paarmal kräftig daran ziehen, bis er den Hörer an sein Ohr heben konnte. Eilig wählte er die Notrufnummer und wartete atemlos, bis sich am anderen Ende der Leitung jemand meldete.

»Wir haben einen Notfall.« Otto sprach so schnell, dass er sich beinahe verhaspelte. »Radieschenweg Nummer zehn. Unser Nachbar Mr Olsen liegt im Gemüsebeet. Und er hat sich nicht bewegt seit –« Otto spähte zu der Wanduhr am Ende des Flurs. »Seit ungefähr fünf Minuten.«

Er wartete die Antwort ab. Die Frau am Telefon versprach, sofort einen Rettungswagen in den Radieschenweg zu schicken. Otto warf den Hörer auf die Gabel, rannte die Treppe hinauf und bezog wieder seinen Posten am Fenster.

Es verging keine Minute, bis ein stotterndes Brummen und Quietschen bis hinauf in Ottos Zimmer zu hören war. Ein Auto näherte sich mit enormer Geschwindigkeit.

»Der Rettungsdienst«, vermutete Otto und war ein wenig stolz darauf, dass er so geistesgegenwärtig gehandelt hatte. Das knatternde Röhren kam näher und um die Ecke bog ein klappriger weißer Transporter. Als er mit quietschenden Reifen vor Mr Olsens Gartenzaun hielt, stob eine dreckige Abgaswolke aus dem Auspuff. Es sah aus, als schaffte dieses Gefährt keinen weiteren Meter und sehnte sich nach der ewigen Ruhe auf dem Schrottplatz.

Vincent drückte seine Nase an der Fensterscheibe platt. »Spinne ich oder fahren diese Typen nicht normalerweise Wagen mit Blaulicht? Und mit vier Rädern?«

Otto sah genauer hin. Vincent hatte recht. Das schrottreife Auto vor Mr Olsens Haus fuhr auf nur drei Rädern, außerdem war die Fahrerkabine so winzig, dass kaum ein erwachsener Mensch darin Platz fand. Dafür besaß das Gefährt eine große Ladefläche, über die eine Abdeckplane gespannt war.

»Und guck dir mal den schrägen Typen an, der die Kiste fährt. Ich dachte immer, Ärzte in eurer Welt tragen weiße Kittel«, fuhr Vincent fort und deutete auf den Fahrer, der sich mühevoll aus dem Auto schälte. Er trug einen schwarzen Umhang mit Kapuze und wirkte im spärlichen Licht beinahe wie ein Schatten. »Vielleicht ist das Darth Vader? Oder ein Einbrecher?«, überlegte Vincent, als die Gestalt mit großen Schritten Mr Olsens Rasen überquerte. »War ja klar! Jetzt, wo der alte Kauz den Löffel abgegeben hat, wird er ausgeraubt. Hat sicher massig Kohle gebunkert. Das ist doch bei alten schrulligen Leuten immer so. Die haben Geldscheine unter der Matratze, Goldbarren im Kleiderschrank, …«

Otto hörte Vincents Geplapper nicht. Über Mr Olsens leblosem Körper war ihm etwas aufgefallen, das er noch nie zuvor gesehen hatte. Ein roter Ball aus gleißendem Licht schwebte über dem Kopf des Alten und erinnerte Otto an die Lebensanzeige in den Computerspielen, von denen seine Klassenkameraden ständig redeten.

»… Antiquitäten aus dem Krieg in der Vitrine, chinesisches Porzellan im Schrank …«

»Schhh«, machte Otto und versetzte seinem Haustier einen Stups mit dem Ellenbogen. »Guck doch, was da über Mr Olsens Kopf schwebt. Dieses kleine leuchtende Etwas. Ich finde, es sieht aus wie …«

»Ein Feuerball? Ein Ufo? Ein Zwergkomet?«, riet Vincent.

»Möglich«, murmelte Otto nachdenklich und bemerkte, dass auch der dunkle Gast von der gleißenden Lichtkugel angezogen zu sein schien. In Zeitlupe schlich er durchs taunasse Gras und näherte sich Mr Olsens Körper und dem Feuerball. Dabei griff er unter seinen Umhang, als wollte er eine Waffe ziehen.

Otto schluckte. Was ging hier vor sich? Inzwischen war er ziemlich sicher, dass es sich nicht um den städtischen Rettungsdienst handelte. Sanitäter liefen bestimmt nicht in altmodischen Kutten herum. Und schon gar nicht trugen sie unter ihrer Kleidung …

»Ein Schmetterlingsnetz?«, rief Otto.

»Hä?« Vincent hatte offenbar nicht aufgepasst.

»Dieser Kerl hat ein Schmetterlingsnetz dabei«, staunte Otto.

»Du hast recht«, stimmte Vincent verwundert zu. »Und sieh nur – unser Kleingartenganove hat es auf den glühenden Tennisball abgesehen.«

Der gruselige Typ im Umhang hatte keine Waffe gezückt, sondern tatsächlich nach einem gewöhnlichen Schmetterlingsnetz gegriffen. Damit fuchtelte er nun durch Mr Olsens Vorgarten, auf der Jagd nach dem leuchtenden Feuerball, der plötzlich wild zu zucken begonnen hatte. Immer wieder entglitt dem Fremden das rote Etwas, indem es sich in die Lüfte hob und wieder nach unten sank, als wollte es den unheimlichen Besucher ärgern.

Wider Willen musste Otto kichern. Es sah einfach zu komisch aus, wie dieser Spinner durch Mr Olsens Vorgarten hüpfte. Dabei landeten seine großen Füße einige Male im Radieschenbeet. Hätte Mr Olsen noch gelebt, hätte ihn der Anblick der zertrampelten Radieschen sicher umgebracht.

»Jetzt ist das Ding im Netz«, jubelte Vincent und klang wie Ottos Klassenkamerad Stan, wenn sein Fußballclub ein Tor geschossen hatte. »Er hat es geschafft! Der Irre hat den Feuerball gefangen!«

Otto stutzte. »Und was hat er jetzt damit vor?«

»Er bringt das Ding zu seinem Auto«, antwortete Vincent. Otto griff wieder nach dem Fernglas und beobachtete, wie der Fremde zu seinem Wagen schritt, seinen Ärmel über dem Netz, um den Feuerball nicht entkommen zu lassen. Im nächsten Moment zog er ruckartig die schwarze Abdeckung von der Ladefläche und bot Otto und Vincent freie Sicht auf sein Ladegut.

Otto stellte das Fernglas schärfer. Für einen kurzen Augenblick glaubte er, sein Verstand spiele ihm einen Streich. In seiner Fantasie hatte er eine ganze Menge gruseliges Zeug unter dieser Plane vermutet. Ein geheimes Waffenlager. Vielleicht eine Leiche. Aber doch nicht …

»Gurkengläser?« Otto blinzelte verdutzt. »Warum in aller Welt transportiert dieser Typ Gurkengläser?«

»Vielleicht ist er Gurkenverkäufer«, blaffte Vincent, als wäre das die einzig logische Antwort.

»Ohne Gurken?«, meinte Otto stirnrunzelnd. »Die Gläser sind leer.« Er sah genauer hin. »Obwohl … nicht ganz. Darin sind noch mehr dieser Feuerbälle.«

Otto und Vincent sahen zu, wie der nächtliche Besucher sein Schmetterlingsnetz über ein leeres Gurkenglas stülpte und Mr Olsens rot glühenden Feuerball hineinbeförderte. Anschließend schraubte er einen Deckel darauf.

»Abgefahren«, murmelte Otto. Er hörte gar nicht, dass das Geräusch eines Martinshorns näher kam. Sekunden später hielt ein Rettungswagen in Mr Olsens Auffahrt. Mehrere Sanitäter hüpften aus dem Wagen, schoben eine Trage aus dem Laderaum und rannten damit auf den leblosen Mr Olsen zu.

Der falsche Gurkenverkäufer ließ sich davon nicht stören. Als hätte er alle Zeit der Welt, stellte er den soeben gefangenen Feuerball ganz oben auf einen wackeligen Turm von Gurkengläsern und spannte die Plane darüber.

In der Zwischenzeit beugte sich ein Notarzt über Mr Olsens Körper. Ein paar Sekunden vergingen, dann wandte sich der Arzt betreten zu seinem Team um und schüttelte den Kopf.

»Tot«, bestätigte Vincent.

»Hm«, machte Otto geistesabwesend. Ihm war plötzlich ein neuer Gedanke gekommen, der ihn schaudern ließ. »Vincent?«, flüsterte er, ohne dabei den Blick von dem Transporter und der merkwürdigen, schwarz gekleideten Gestalt zu nehmen. »Der Gurkenglaswagen steht immer noch da.«

»Na und?«

»Sieh mal genau hin. Der Kerl mit der Kutte hat gerade sein Handy in eine Pfütze fallen lassen. Und jetzt regt er sich auf und versucht, das Wasser an seinem Umhang abzuwischen. Aber das Komische ist, dass niemand ihn beachtet. Beinahe so, als wäre er gar nicht da!«

Vincent überlegte eine Weile, bevor er sprach. »Denkst du, nur wir können ihn sehen? Bedeutet das, der Typ ist ein Geist?«

Otto schüttelte den Kopf. »Geister sehen anders aus. Sie schweben. Und latschen nicht in Mr Olsens Radieschenbeet. Er muss irgendetwas anderes sein. Irgendetwas dazwischen.«

Otto hatte ganze zwei Jahre gebraucht, um sich mit der Tatsache abzufinden, dass es Geister gab. Und nun tauchte plötzlich etwas Neues auf – weder Geist noch Mensch. Jemand, der womöglich gefährlich war. Jemand, der vielleicht sogar Mr Olsen auf dem Gewissen hatte.

Otto lief es kalt den Rücken hinunter. Das Blut pochte in seinen Ohren, während er zusah, wie der Fremde in sein Auto stieg und davonfuhr.

Selbst eine Stunde später, als auch der Rettungswagen verschwunden und wieder Ruhe eingekehrt war, kreisten Ottos Gedanken noch immer um den nächtlichen Besucher. Mit klopfendem Herzen lag er im Bett, während aus dem Schrank Vincents gleichmäßiges Schnarchen drang.

Eines war zumindest sicher: Tante Sharon würde über Ottos Biologienote morgen alles andere als begeistert sein.

Krisensitzung

Jetzt lass dir doch nicht alles aus der Nase ziehen«, beschwerte sich Emily und schulterte ihren Rucksack. »Erzähl mir mehr über diesen Gurkenglastypen, der gestern Nacht bei Mr Olsen war!«

»Ich sagte doch schon: Ich habe keine Ahnung, wer das war. Und außerdem keine Lust, darüber zu reden«, brummte Otto und kickte einen Stein vor sich her, der dieselbe grässlich graue Farbe hatte wie das Schulgebäude hinter ihnen. Ottos Laune war im Keller. Der Tag war eine einzige Katastrophe gewesen. In Bio hatte er nicht mal die Hälfte der Fragen beantworten können, außerdem hatte er letzte Nacht kaum ein Auge zugetan. Immer wieder war die Szene mit dem dunklen Besucher in Mr Olsens Garten vor seinem inneren Auge abgelaufen. Als Otto in den Morgenstunden eingeschlafen war, hatte ihn auch noch ein wilder Albtraum von glühenden Gurkengläsern geplagt.

»Aber mir kannst du es doch erzählen«, forderte Emily ihn auf. »Immerhin bin ich deine beste Freundin!« Ein wenig beleidigt fegte sie sich eine braune Haarsträhne aus dem Gesicht.

Otto seufzte. Er wollte nicht, dass sie sauer auf ihn war. Mit ihren verfilzten, ungleich langen Haaren und den altmodischen Klamotten, die sie ständig aus dem Fundus ihrer Großmutter ausgrub, hatte er Emily vom ersten Schultag an ins Herz geschlossen. Was man von den anderen Mitschülern nicht gerade behaupten konnte.

»Ach, ich weiß es nicht, Em. Allerdings hatte ich das Gefühl, dass dieses Wesen weder lebendig noch tot war. Es war irgendetwas, das ich noch nie gesehen habe.«

Emily blieb stehen. »Weder Mensch noch Geist«, flüsterte sie ehrfürchtig und ihre verschiedenfarbigen Augen funkelten. Die rechte Iris war blau, die linke braun. »Ich habe mir schon gedacht, dass es diesmal keine gewöhnliche Geistererscheinung war. So durcheinander hab ich dich noch nie erlebt! Nicht mal, als du hierhergezogen und Sir Tony zum ersten Mal begegnet bist. Weißt du noch, als er dir im Kleiderschrank aufgelauert hat, weil er dich für einen heimlichen Hausbesetzer hielt?«

Otto nickte ernst. Er wusste, wie sehr das Übernatürliche Emily faszinierte. Schon oft hatte sie versucht, mit wissenschaftlichen Mitteln die Existenz von Geistern zu beweisen. Bisher ohne Erfolg.

»Sagtest du nicht, Vincent hätte diesen Besucher auch gesehen?«, bohrte sie weiter. »Hatte er denn keine Vermutung, was das für ein Wesen gewesen sein könnte?« Sie beschirmte die Augen und sah sich suchend nach Ottos Haustier um. Als die beiden die Schule verlassen hatten, war Vincent aus Ottos Schultasche geschlüpft und flatterte nun von einem Sendemast zum nächsten. Krähen erhoben sich schimpfend von ihren Pfeilern, wenn Vincent im Sturzflug auf sie zuraste.

Otto machte eine wegwerfende Handbewegung. »Vincent hat doch keine Ahnung von Geistern«, erklärte er. »Zum einen ist er nur zur Hälfte eine Geisterfledermaus, darum können gewöhnliche Menschen ihn wahrnehmen. Obwohl es manchmal besser wäre, sie könnten es nicht.« Otto brummte. »Und zum anderen hat man Vincent schon vor dreihundert Jahren aus dem Jenseits verbannt, deshalb hab ich ihn jetzt an der Backe kleben.«

»Vincent wurde verbannt?«

Otto musste ein wenig grinsen. »Vermutlich gingen den Toten Vincents schlechte Manieren auf den Geist.«

Richtig mieses Verhalten legte Ottos Haustier auch in dieser Welt an den Tag. Erst neulich war er aus Ottos Schulranzen ausgebüxt, weil er am Fenster des Physiksaals seine Leibspeise entdeckt hatte: eine dicke, fette Fleischfliege.

Die Mädchen der 6a gerieten in Panik und Otto mächtig in Erklärungsnot. Dass er für ein Bioprojekt eine Fledermaus in seinem Ranzen hielt, würde der Physiklehrer bestimmt kein zweites Mal schlucken.

Sie waren inzwischen vor dem Radieschenweg Nummer acht angekommen. Otto blieb vor dem spitzen Eisenzaun stehen und starrte auf die Veranda. Die alte Hollywoodschaukel quietschte unter schwerem Gewicht. Und das, obwohl es für jedermann so aussehen musste, als sei sie leer. Für jedermann außer Otto.

»Sir Tony!« Otto öffnete das rostige Gartentor und bahnte sich seinen Weg durch das raschelnde Laub in Richtung Veranda. Das Quietschen ebbte ab und schließlich kam die Schaukel zum Stillstand. »Hast du etwa auf uns gewartet?«

Wenn Otto es nicht besser gewusst hätte, hätte er Tante Sharons Hausgeist für einen normalen, fülligen Herrn mittleren Alters gehalten. Tonys Gesicht war weder blass noch trug er rasselnde Ketten oder ein Loch im Bauch mit sich herum. Das Einzige, was Sir Tony von anderen Menschen unterschied, war die Tatsache, dass ihn außer Otto niemand sehen konnte. Was daran lag, dass er tot war.

»Nicht ganz.« Sir Tony hustete. »Ich musste flüchten. Der Putzfimmel deiner Tante wird von Tag zu Tag schlimmer. Der Lärm ist unerträglich!« Er stöhnte und wischte sich über die Stirn. »Dieser Putzteufel saugt schon zum dritten Mal diese Woche. Ständig wirbelt mir Staub in die Na…ha…hatschi

Otto ging der Sauberkeitswahn seiner Tante auch gehörig auf die Nerven, aber Tony bekam ihn regelmäßig am eigenen Leib zu spüren – denn er wohnte in Tante Sharons Staubsauger.

Sir Tony raufte sich die paar Haare, die seitlich von seiner Glatze wuchsen. »Jetzt weiß ich, wie es sich anfühlen muss, neben einer Autobahn zu wohnen«, jammerte er weiter.

Tante Sharons ältester Hausgeist neigte zu Übertreibungen. Schon zu Lebzeiten war Sir Tony äußerst anspruchsvoll gewesen. Er empfand es als sein gutes Recht, ständig zu meckern. Dass er nach seinem Tod versehentlich in einen Staubsauger eingesaugt worden war, hatte die Sache zuerst nicht unbedingt leichter gemacht.

Doch nach einer Weile hatte Sir Tony begonnen, die Vorzüge eines Staubsaugerbeutels zu schätzen. Der Platz war zwar begrenzt, doch man hatte seine Ruhe und selbst im Winter war es wohlig warm. Leider hatte er zu diesem Zeitpunkt aufgrund des vielen Staubs schon hartnäckiges Asthma entwickelt. Offenbar bekam man Krankheiten auch nach dem Tod.

»Was ist denn mit Tony los?«, unterbrach Emily das Gejammer des Hausgeistes und stupste Otto in die Seite. Oft vergaß Otto, dass Emily Sir Tony weder sehen noch hören konnte und er deshalb Übersetzungsarbeit leisten musste.

»Ich bekomme mehr und mehr das Gefühl, dass mir niemand hier Beachtung schenkt«, beschwerte sich Tony pikiert. »Und das auf meinem eigenen Grund und Boden!«

Als Sir Tony noch am Leben gewesen war, hatte die Villa ihm gehört. Tony hatte das alte Gemäuer geliebt – das steinerne Mauerwerk, die geheimnisvollen Erker, die Efeuranken und die spitzen Türmchen. Nach seinem Tod war das Haus unter den Hammer gefallen und von Tante Sharon und Ottos verstorbenem Onkel Archibald ersteigert worden. Dass Tante Sharon daraufhin das Porträt über dem Kamin, auf dem Tony genüsslich in eine Fleischkeule biss, einfach abgenommen hatte, hatte er bis heute nicht verkraftet.

»Ich wünschte, deine Tante könnte mich sehen. Dann würde ich mich nachts an ihr Bett schleichen und ganz laut Wuuuaaah schreien«, drohte Tony und schnitt eine Grimasse. Dabei sah er allerdings ganz und gar nicht gruselig aus, sondern eher so, als müsste er dringend auf die Toilette. Als Schreckgespenst war Sir Tony eine absolute Lachnummer.

»Vergiss meine Tante mal für einen Moment«, ermahnte Otto den Hausgeist. »Wir brauchen deine Hilfe. Gestern hat sich ein seltsames Wesen in Mr Olsens Garten rumgetrieben. Ich glaube, es war weder tot noch lebendig.«

»Weder tot noch lebendig?«, echote Sir Tony und seine Nasenflügel blähten sich vor Aufregung. Der Spukanschlag auf Tante Sharon war mit einem Mal vergessen.

»Dieser … Mann stand neben Mr Olsens Leiche und hat versucht, ein glühendes Ding einzufangen. Mit einem Schmetterlingsnetz«, sagte Emily an das gehäkelte Kätzchenkissen gerichtet. Sie hatte noch immer nicht begriffen, wo genau Sir Tony eigentlich saß.

Tonys Kinnlade klappte herunter. »Ein … ein … Schme…Schmetterlingsnetz?«, stotterte er.

Otto nickte ernst.

»Krisensitzung. Sofort.« Mit einem fast lautlosen Puff löste sich Sir Tonys Geisterkörper in Luft auf und materialisierte sich plötzlich neben der Haustürklingel.

Otto fuhr erschrocken zusammen. Dieses ständige Herumgehüpfe ließ sein Herz mehrmals am Tag in die Hose rutschen. Sir Tony und die anderen Geister hatten die Angewohnheit, aus heiterem Himmel vor seiner Nase aufzutauchen. Vorzugsweise, wenn Otto aus der Dusche stieg. Oder nachts aufs Klo schlich.

»Eine Krisensitzung?« Otto legte die Stirn in Falten. War die Sache wirklich so ernst? Bei allem, was nicht ihn selbst oder seinen Staubsauger betraf, verhielt sich Sir Tony normalerweise wie die Ruhe in Person.

Emily war sofort Feuer und Flamme. »Krisensitzung? Ab in die geheime Bücherkammer!«, befahl sie, packte Otto an der Hand und zog ihn zur Türmatte. Gerade als Otto nach dem Türknauf greifen wollte, verstummte das Brummen des Staubsaugers und die Haustür wurde geöffnet. Tante Sharon trat über die Schwelle und lief dabei prompt durch Sir Tonys Körper.

»Hallo, Otto, hallo, Emily«, begrüßte sie die beiden und strich Otto über seinen dunklen fransigen Haarschopf. »Dachte ich doch, dass ich euch gehört habe.«

In der einen Hand hielt sie den Saugergriff, mit der anderen Hand bändigte sie die grauen Haare, die ihr in die Stirn fielen. Die wenigsten Menschen schätzten Sharon auf fünfundsechzig. Mit ihrer frechen Kurzhaarfrisur, den karierten Hemden und dem drahtigen Körper wirkte sie überhaupt nicht alt. Otto fand seine Tante ziemlich cool – abgesehen von der Tatsache, dass sie ständig putzte. Und das war noch nicht mal ihr merkwürdigstes Hobby.

»Hallo, Tante Sharon«, sagte Otto und küsste sie auf die Wange. Obwohl Sharon gar nicht seine richtige Tante war, gehörte sie zur Familie, seit Otto denken konnte. Sie war früher oft zu Besuch gekommen und er hatte sie schon immer sehr gern gehabt.

Und dann, vor fast zwei Jahren, war Tante Sharon mit einem Schlag zu Ottos einziger Familie geworden.

Ottos Eltern hatten als Archäologen gearbeitet. Vorletzten Winter waren sie mit einem Forschungsteam nach Mexiko gereist, um nach Relikten alter Kulturen zu suchen. Was dann passiert war, wusste Otto nicht genau. Die Medien hatten von einem gigantischen Wirbelsturm berichtet, der das Team überrascht hatte. Danach hatten Ottos Eltern als vermisst gegolten. Nach einigen Wochen erfolgloser Suche hatte man sie schließlich für tot erklärt. Tante Sharon, die zu der Zeit auf Otto aufgepasst hatte, hatte ihn kurzerhand bei sich aufgenommen.

»Wollt ihr eine heiße Schokolade?«, fragte sie jetzt, während sie den Staubwedel ausschüttelte.

»Nein danke, wir müssen ganz dringend was besprechen«, antwortete Otto. »Für ein Referat«, fügte er hinzu, als er Tante Sharons fragenden Blick sah. Schnell zog er Emily ins Haus, knallte seinen Schulranzen in die Ecke und hastete voran ins Dachgeschoss. Sir Tony folgte ihnen.

Oben in Ottos Zimmer schlossen sie die Tür ab und schoben den Bettvorleger zur Seite. Vorsichtig tastete Otto die Holzdielen ab, bis er eine kleine Einkerbung fand. Emily reichte ihm einen Schuhlöffel, mit dessen Hilfe er die Bodenklappe aufhebelte.

Darunter kam eine eiserne Klapptreppe zum Vorschein. Sie führte in einen kleinen fensterlosen Raum, der vor lauter Büchern aus allen Nähten platzte.

Otto hatte diese geheime Kammer bereits in der ersten Woche bei Tante Sharon entdeckt. Ihm war aufgefallen, dass seine Schritte an manchen Stellen seltsam nachhallten, und bei genauerem Hinsehen hatte er die Einkerbungen der Klappe bemerkt. Seitdem kam er regelmäßig hier herunter, wenn er seine Ruhe haben wollte – oder um sich ungestört mit den Geistern unterhalten zu können. Anscheinend funktionierten Bücher ausgezeichnet als Dämmmaterial, denn die Kammer war nach außen vollkommen schalldicht.

Otto fand das äußerst praktisch. Hätte Tante Sharon ihn jemals bei den Gesprächen mit Sir Tony und den anderen Hausgeistern belauscht, hätte sie ihn wohl schnurstracks zum Psychiater geschickt. Mit elf war man nun mal zu alt für imaginäre Freunde.

Als Otto sich daranmachte, die Stufen hinabzusteigen, ertönte von draußen ein lautes »Stoooopp!«, gefolgt von einem Platsch, als wäre ein riesiger Klecks Soße auf der Fensterscheibe gelandet.

»Vincent?«, staunte Otto und lief zum Fenster, auf dem ein Büschel Fell klebte. Er hatte sein Haustier gar nicht vermisst, obwohl es in den letzten Minuten verdächtig ruhig gewesen war. Niemand hatte auf seiner Schulter gesessen und dämliche Kommentare in sein Ohr gekräht, wie ein außer Kontrolle geratener Papagei.

»Entschuldigt die Verspätung«, schnaufte Vincent, als Otto das Fenster öffnete und ihn hereinflattern ließ. »Ich hatte eine fette Fliege im Visier. Ich war dicht an ihr dran, aber als sie einen Misthaufen angesteuert hat, bin ich dann doch abgehauen.«

Sir Tony rollte mit den Augen. »Sind wir komplett?«

Otto nickte, dann kletterte er als Erster hinab in den dunklen Raum. Emily folgte ihm und Vincent flog dicht an Ottos Ohr vorbei.

Als alle unten waren, schloss Otto die Klappe und knipste die alte Stehlampe in der Ecke an, die einen dämmrigen Lichtkegel an die Decke warf. Hohe Bücherregale, ein zerschlissenes Sofa, ein Globus und ein Schreibtisch tauchten im Halbdunkel auf. Otto vermutete, dass die geheime Kammer seinem verstorbenen Onkel Archibald gehört hatte, aber genau wusste er es nicht.

»Ich hole Molly und Bert. Bin sofort zurück«, erklärte Sir Tony, der auf der obersten Sprosse der Bücherleiter hockte. Im nächsten Moment löste er sich in Luft auf, um nur wenige Sekunden später wieder an derselben Stelle zu erscheinen.

Sir Tony war nicht mehr allein. Im linken Eck verdichtete sich die Luft zu Nebel, aus dem sich eine große, hagere Gestalt löste. In der einen Hand hielt sie Käsespießchen mit Oliven, in der anderen eine Packung Milch.

»Hi, Bert«, begrüßten Otto und Vincent den neuen Gast.

»Hallöchen«, brummte Bert und biss genüsslich in den Käse. Die gekauten Stücke wanderten geradewegs durch seinen Körper hindurch und landeten auf dem Parkettboden. »Hättet ihr mit eurer kleinen Teeparty nicht warten können, bis ich mit dem Lunch fertig bin? Sharon hat heute frischen Edamer gekauft. Das Aroma ist vorzüglich.«

Bert lebte in Tante Sharons Kühlschrank. Anfangs hatte es ihm einen Heidenspaß gemacht, das Licht auszuknipsen, wenn Otto und Tante Sharon die Tür öffneten. Inzwischen bereitete es ihm jedoch viel mehr Freude, die Vorräte zu verputzen. Lange war das ständige Fehlen von Käse, Wurst und Schokoladenpudding nicht unbemerkt geblieben, darum hatte Otto es irgendwann auf seine Kappe nehmen müssen. Und weil Otto im Wachstum war, stellte Tante Sharon zum Glück keine dummen Fragen.

Glücklicherweise hatte er eines Tages herausgefunden, dass Lebensmittel, die in Alufolie gewickelt waren, unangetastet blieben. Aus irgendeinem Grund trieb das metallische Blitzen der Folie Geister in den Wahnsinn. Seitdem packte Otto die wirklich leckeren Speisen vorsorglich darin ein. Bei Käse war Bert allerdings schneller.

»Das hier ist keine Teeparty! Es ist dringend, Bert«, stellte Sir Tony klar und ließ seine dicken Beine von der Bücherleiter baumeln. »Der alte Olsen hatte gestern Besuch. Von einem Kerl mit Schmetterlingsnetz.«

»Ein Schmetterlingsnetz? Wie niedlich«, lachte eine hohe Stimme aus der anderen Ecke. Sie gehörte Molly, dem dritten von Tante Sharons Hausgeistern. In einem altmodischen Nachthemd hockte sie auf dem Globus und drehte sich wie auf einer Diskokugel. Dabei gluckste sie vor Lachen und warf vergnügt die Arme in die Luft.

Auch Molly beanspruchte einen eigenen Bereich des Hauses für sich: die Waschküche. Weil sie von allem, was sich drehte, fasziniert war, liebte sie Tante Sharons Waschmaschine. Nichts machte ihr mehr Spaß, als bei eintausendsechshundert Umdrehungen in der Wäschetrommel umherzuwirbeln. Außerdem versteckte sie gern Wäschestücke und freute sich diebisch, wenn Otto wieder eine seiner Socken nicht finden konnte.

»Hat denn keines von euch törichten Individuen die leiseste Ahnung, was das bedeutet?«, rief Sir Tony verärgert, schoss durch den Raum und hielt ruckartig den Globus an. Molly verlor das Gleichgewicht und purzelte zu Boden. »Wisst ihr nicht, mit wem wir es hier zu tun haben?«

Molly, Bert, Vincent und Otto schüttelten ratlos den Kopf. Etwas zeitversetzt verneinte auch Emily, für die Otto erst übersetzen musste.

Sir Tony fiel es sichtlich schwer, die Fassung zu bewahren. »Habt ihr denn nicht aufgepasst, als ihr gestorben seid?«, schimpfte er und seine Wangen leuchteten dunkelrot. »Habt ihr alle geschlafen?«

Molly und Bert warfen einander vielsagende Blicke zu. Sir Tonys rüpelhaften Umgangston waren die beiden gewöhnt, immerhin hatten sie zu Lebzeiten als Küchenpersonal für ihn gearbeitet. Manche Dinge änderten sich eben nie.

»Dieses Schmetterlingsnetz«, fuhr Sir Tony fort und malte dabei Anführungszeichen in die Luft, »ist kein einfaches Netz.«

»Sah aber aus wie eins«, widersprach Vincent, der auf Ottos Schulter hockte, und verschränkte die Flügel.

»Mag sein«, zischte Sir Tony. Aufgeregt schwebte er die Breitseite des Raumes auf und ab. »Es sieht vielleicht aus wie ein Netz, aber das täuscht. In Wahrheit handelt es sich um einen hoch technisierten Seelenfänger. Damit sammelt man die Seelen Verstorbener ein und liefert sie ins Jenseits. Der Kerl, der Mr Olsens Seele mitgenommen hat …«, Sir Tony machte eine bedeutsame Pause und holte tief Luft, »… war der Tod!«

Der Tod. Der leibhaftige Tod. Otto spürte, wie das Blut aus seinem Gesicht wich. Kam der Tod nicht nur in Gruselgeschichten vor? Ein skelettartiges Wesen mit glühend roten Augen? Das konnte unmöglich wahr sein.

Reflexartig huschte Ottos Blick zu Molly und Bert. Sir Tonys Worte schienen die beiden anderen Geister genauso überrollt zu haben. Molly hüpfte vor Schreck ein Lockenwickler aus dem Haar und Bert hustete sich die Seele aus dem Leib. Er hatte sich an der Milch verschluckt und nun bildete sich zu seinen Füßen eine weiße Pfütze, die sich mit dem zerkauten Käse vermengte.

Otto seufzte. Er durfte nicht vergessen, die Sauerei nachher aufzuwischen. Wenn das Zeug durch die Dielen sickerte und anfing zu schimmeln, würde Tante Sharon womöglich den geheimen Raum entdecken. Sie hatte eine erstaunlich feine Nase.

»Was ist los? Was hat er gesagt?«, drängte Emily.

»Der Typ gestern … hat Mr Olsen ins Jenseits geholt, Emily«, hauchte Otto und konnte fühlen, wie sich die Härchen an seinen Armen aufrichteten.

Emily schnappte nach Luft. Sie war verdächtig bleich um die Nasenspitze geworden. »Also war er … der Tod?«

»Genau genommen nur einer davon«, mischte sich Sir Tony ein und setzte ein schiefes Grinsen auf, auch wenn Emily ihn nicht sehen konnte. »Früher gab es tatsächlich nur einen einzigen Sensenmann. Doch wisst ihr, die Sache verhält sich ähnlich wie mit dem Weihnachtsmann. Angesichts der steigenden Weltbevölkerung reicht ein einziger nicht mehr aus. Denkt doch mal an China. Oder Indien.«

Otto schnaubte. Tony war schon ein seltsamer Kauz. Den Weihnachtsmann und den Sensenmann miteinander zu vergleichen, war ziemlich geschmacklos. Kein Wunder, dass Molly und Bert Sir Tony meist aus dem Weg gingen.

»Jedenfalls kann ein einziger Sensenmann heutzutage nicht mehr alle Seelen alleine einsammeln«, kam Tony zum Punkt. »Darum gibt es eine ganze Armee von Sensenmännern.«

»Eine Armee?« Der Gedanke an unzählige Skelette in Kutten ließ Otto erschaudern. Das klang wie aus einem Horrorfilm.

Sir Tony nickte. »Trotzdem sind es immer noch nicht genug. Denn wenn einer der Sensenmänner einen Sterbetermin verpasst, schwirrt die vergessene Seele einfach umher. Es entstehen Geister, Wesen wie wir.« Das Grinsen verschwand und Tonys Miene wurde steinhart. »Verdammt zu einem Leben im finsteren Diesseits.«

Bert verdrehte die Augen. »Du machst immer aus allem so ein Drama, Tony! So schlimm ist es hier doch auch wieder nicht«, widersprach er und zog mit den Zähnen eine Olive vom Spieß. »Es hat auch seine Vorzüge.«

»Und seit dieses Wunderkind hier wohnt«, ergänzte Molly und deutete auf Otto, »muss ich mich auch nicht bis in alle Ewigkeit mit euch beiden Dumpfbacken unterhalten.«

Sir Tony überhörte die Beleidigung. »Trotzdem. Das Auftauchen eines Sensenmannes bedeutet nichts Gutes. Sondern Unheil.« Er hielt inne. »Nur gut, dass Otto und Vincent ihn gleich entdeckt haben. Wir sollten die Sensenmänner weiter im Auge behalten.«

Otto nickte und bemühte sich, seine Gedanken zu ordnen. So gruselig das alles auch klang, langsam fügte sich alles zusammen. Bei Molly, Bert und Sir Tony handelte es sich also um vergessene Seelen, entstanden aus der Panne eines Sensenmannes.

Wie viele vergessene Seelen es wohl auf der Welt gab? Und wie viele Geheimnisse das Jenseits wohl noch bereithielt, von denen Otto nichts ahnte? Vielleicht lieferte ihm die Welt der Toten eines Tages die Antwort auf die Frage, wo sich seine Eltern befanden.

Er atmete tief durch. Zwei Dinge standen fest. Erstens: Otto war fest entschlossen, alle Geheimnisse zu lüften, auch wenn ihm schon beim Gedanken daran die Knie schlotterten. Und zweitens: So wie es aussah, würde das Leben im Radieschenweg in nächster Zeit bestimmt nicht langweilig werden.

Jetzt schlägt's dreizehn!

Was ist denn los mit dir, Otto? So schweigsam kenne ich dich gar nicht«, murmelte Tante Sharon und drehte die Schraube tiefer ins Uhrwerk. Mit einem Boing sprang eine hölzerne Klappe auf und ein klägliches Kuckuck drang aus dem Inneren des Uhrenkastens. Tante Sharons Lippen verzogen sich zu einem zufriedenen Grinsen. Die alte Uhr lief wieder, auch wenn es so klang, als hätte der hölzerne Vogel seine besten Zeiten schon lange hinter sich.

»Nichts ist los. Überhaupt gar nichts«, brummte Otto und rutschte auf dem Fensterbrett hin und her. Die Pendeluhr im Salon hatte eben zehn Uhr geschlagen und Tante Sharon frönte seit dem Abendessen wieder ihrer Lieblingsbeschäftigung gleich nach dem Putzen: alte Uhren reparieren.

Früher hatte Ottos Tante ihren Lebensunterhalt als Uhrmacherin verdient. Als ihr Mann gestorben war und ihr eine beträchtliche Geldsumme hinterlassen hatte, hatte sie ihren Laden verkauft und das Inventar mitgenommen. Seitdem explodierte Ottos Zuhause vor Uhren: Pendeluhren, Taschenuhren, Armbanduhren. Sogar eine Uhr, die aussah wie eine Katze und bei jedem Ticken die Augen verdrehte, befand sich in Tante Sharons Besitz. In manchen Räumen fand man kein freies Stück Wand mehr vor lauter Uhren.

Ganz zu schweigen vom ständigen Ticken. In Geschichte hatte Otto gelernt, dass böse Herrscher ihre Gefangenen einst mit immerwährenden, monotonen Geräuschen gefoltert hatten, bis diese schließlich am Rande des Wahnsinns ihre Taten gestanden hatten. So schlimm empfand Otto es zwar nicht – trotzdem hatte er an seinem ersten Abend im Dachzimmer sämtliche Batterien aus den Uhren entfernt. Sicherheitshalber.

Tante Sharon schien die ewige Tickerei nicht zu stören. Im Gegenteil. Ständig schaffte sie sich neue Uhren an und suchte für jede einen geeigneten Platz. Einige davon gehörten allerdings nicht ihr, sondern Bekannten oder Nachbarn, die sie zur Reparatur gegeben hatten. Leider war das bei der Kuckucksuhr nicht der Fall. Die blieb hier, im Wohnzimmer. Otto hasste das Ding.

»Und in der Schule? Was macht ihr gerade? Algebra?«, bohrte Tante Sharon nach und legte den Kreuzschraubenzieher zur Seite.

Unter normalen Umständen hätte ihr Otto die Freude gemacht, noch ein wenig mit ihr zu plaudern. Aber seit Sir Tony ihm und Emily vom Sensenmann erzählt hatte, ging ihm der nächtliche Besucher nicht mehr aus dem Kopf. Abend für Abend hatte Otto nach ihm Ausschau gehalten, ängstlich und neugierig zugleich. Leider war das seltsame Auto auf drei Rädern seit Mr Olsens Tod nicht mehr aufgetaucht.

»Ach, nichts Besonderes«, antwortete Otto halbherzig. »Wir machen am Donnerstag einen Ausflug nach Scaryland.« Er reckte den Hals, um über die Hecken vor dem Fenster spähen zu können. Ein weißer Wagen schob sich soeben in den Radieschenweg und kam vor dem Nachbargarten zum Stehen. Ottos Herz klopfte schneller. Er kniff die Augen zusammen, um die Beschriftung des Transporters zu entziffern. War das wieder das Auto des Sensenmannes?

»Scaryland? Das ist doch dieser neue Vergnügungspark mit den vielen Geisterbahnen und Gruselattraktionen.« Tante Sharon legte die Stirn in Falten. »Bist du dafür nicht noch etwas zu jung? Was, wenn du danach nicht schlafen kannst?«

»Tante Sharon, der Park ist ab acht Jahren«, erwiderte Otto und kniete sich aufrecht hin, um das Auto besser sehen zu können. Ein paar lächerliche Geister aus Pappe und Drähten würden ihm und Emily nicht mal ein müdes Gähnen entlocken. Das war nichts im Vergleich zu einem leibhaftigen Sensenmann.

Der offensichtlich nicht der Fahrer des Lieferwagens da draußen war. E.T. Donahue, Staupsauger An- und Verkauf stand in dicken Lettern auf dem Transporter. Auch wenn Otto gar nicht danach zumute war, er musste grinsen. Wie lustig! Ein Rechtschreibfehler in der Aufschrift des Transporters. In diesem Moment schwang die Fahrertür auf und heraus kletterte ein kahlköpfiger untersetzter Kerl, der mit dem Sensenmann von neulich absolut gar nichts gemeinsam hatte.

Otto runzelte die Stirn. Der Typ war zwar kein Sensenmann, aber was machte ein Staubsaugervertreter um diese Uhrzeit hier im Radieschenweg?

Er musste gähnen. Wie auch immer. Vielleicht war es einfach Zeit, die Geisterwelt für heute ruhen zu lassen.

»Ich gehe ins Bett«, sagte er zu seiner Tante und kletterte von der Fensterbank.

Tante Sharon musterte Otto kurz, dann drückte sie ihm einen Kuss auf die Wange und murmelte »Gute Nacht«. Anschließend erhob sie sich und ging in die Küche – vermutlich, um sich ein Stück von dem Käse zu holen, den Bert verputzt hatte. Auf dem Weg zur Treppe konnte Otto hören, wie seine Tante die Kühlschranktür öffnete. »Dieser Junge lebt in seiner eigenen Welt«, hörte er sie zu sich selbst sagen. »Wenn er nicht so einen gesunden Appetit hätte, würde ich mir Sorgen um ihn machen.«

* * *

Die Nacht war ungewöhnlich ruhig in Anbetracht der Tatsache, dass Ottos Zuhause im ganzen Städtchen als verwunschenes Spukhaus galt. Tante Sharon war gleich im Anschluss zu Bett gegangen. Vincent, der den ganzen Abend auf der Suche nach Insekten durch die Gärten geschwirrt war, schnarchte erschöpft und vollgefressen im Eichenschrank. Selbst Tony, Bert und Molly gaben heute Nacht nicht den geringsten Mucks von sich. Vermutlich hockten Bert und Molly wie so oft auf dem Dach und plauderten über die Zeiten, als noch Blut in ihren Adern geflossen war. Und Sir Tony versuchte wohl verzweifelt, Tante Sharon das Fürchten zu lehren. Aber dafür hatte er einfach zu wenig Talent – und Sharon einen viel zu festen Schlaf.

Nachdem Otto in seinen Pyjama geschlüpft war, hockte er sich aufs Fensterbrett und ließ seinen Blick über den Radieschenweg schweifen, der im dichten Herbstnebel vor sich hin schlief. Keine Menschenseele war unterwegs. Auch der Staubsaugerverkäufer musste sich wieder aus dem Staub gemacht haben.

Otto seufzte und legte sich ins Bett. Er lag noch eine geraume Weile wach und dachte nach, aber irgendwann war er so müde, dass ihm die Augen zufielen. Im Halbschlaf lauschte er der Standuhr im Salon. Um einzuschlafen, zählte er oft die Schläge des metallenen Pendels, wie andere Kinder die Schafe.

Zehn, elf … Seinem Gefühl nach zu urteilen musste es inzwischen Mitternacht sein. Doch als die Standuhr schließlich bei der Zwölf angekommen war, setzte das Pendel einen weiteren Schlag nach. Klar, deutlich und unüberhörbar. Der Nachhall des dreizehnten Schlags dröhnte durch die alten Wände, viel zu kräftig, um Ottos Fantasie entstiegen zu sein.

Otto schlug die Augen auf. Dreizehn Schläge? Das konnte doch gar nicht sein! Immerhin sorgte Tante Sharon dafür, dass jede ihrer Uhren minutiös und fehlerlos lief. Selbst Big Ben konnte sich von der Genauigkeit ihrer Uhren noch etwas abschauen.

Schlaftrunken rieb sich Otto die Augen und setzte sich auf. Aus einem Reflex heraus trat er noch einmal ans Fenster und blickte hinunter. Was er dort entdeckte, vertrieb in Windeseile das letzte Fünkchen Müdigkeit: Da stand der Lieferwagen des Sensenmannes! Der seltsame Transporter mit den drei Rädern parkte im Lichtkegel einer Straßenlaterne, genau vor Tante Sharons Gartentor. Auf der Ladefläche stapelten sich Gurkengläser, deren rote Inhalte glühten wie Kürbisse an Halloween. Nur handelte es sich diesmal um viel, viel mehr Ladegut. Eine ganze Wagenladung toter Seelen. Du liebes bisschen!

Otto schluckte. Seit er bei Tante Sharon eingezogen war, hatte er niemals richtige Angst vor Geistern verspürt. Für ihn waren Sir Tony, Molly und Bert einfach ein Haufen durchgeknallter Pappnasen, die nicht mal einem Kleinkind Angst einjagen konnten. Aber alles, was dieses neue Wesen, diesen Sensenmann, betraf, ließ Otto frösteln.

Im selben Moment hörte er ein Rumsen aus dem Wohnzimmer. Es klang fast so, als würden Gläser klirren. Hatte sich der Sensenmann womöglich Zutritt zu Tante Sharons Villa verschafft?

Er beschloss, Vincent aufzuwecken. Hastig riss er die Schranktür auf und rüttelte an der silbernen Kleiderstange, an der Vincent üblicherweise baumelte und schnarchte. »Vincent? Komm schon, wo steckst du?«, rief Otto in den dunklen Schrank hinein.

Diesmal hing Vincent nicht an seinem Stammplatz. Er schlief in der Tasche von Tante Sharons mottenzerfressenem Wintermantel. Vermutlich hatte er sich vorhin wieder dermaßen den Bauch vollgeschlagen, dass er schlicht und einfach zu dick wurde, um kopfüber zu schlafen.

»Was ist denn schon wieder los? Warum weckst du mich ständig mitten in der Nacht?«, knurrte er verärgert. Er steckte seinen pelzigen Kopf aus dem Innenfutter und blinzelte Otto aus goldenen Augen an. »Schläfst du jetzt gar nicht mehr? Bist du neuerdings ein Vampir, oder was?«

Otto ignorierte Vincents garstigen Kommentar. »Der Sensenmann ist wieder da, Vince.«

Vincent ließ sich nicht beeindrucken. Entnervt rollte er mit den Augen. »Na und? Dann hat eben wieder jemand das Zeitliche gesegnet«, schnarrte er. »Falls es dir noch nicht aufgefallen ist, Schlaumeier: Das Durchschnittsalter der Bewohner des Radieschenweges liegt bei weit über achtzig. Und da habe ich mich nicht mitgerechnet, klar?«

»Ich rede doch nicht von den Nachbarn. Der Sensenmann ist hier! Womöglich hat er es auf einen von uns abgesehen«, zischte Otto aufgeregt. »Und ich glaube, er hat irgendwas mit Tante Sharons Pendeluhr angestellt.«

»Du meinst, er ist hier? Bei uns unten im Salon?« Endlich schlüpfte Vincent aus seinem plüschigen Schlafsack, flatterte auf Ottos Schulter und ließ sich dann in die Brusttasche seines Pyjamas plumpsen. Eine Weile schien er zu überlegen, dann nickte er entschlossen. »Was stehst du noch hier rum? Gehen wir nach unten und sehen nach«, forderte er Otto auf.

Otto zögerte. Ob es so eine gute Idee war, einem Sensenmann gegenüberzutreten? Immerhin nahm der Typ für gewöhnlich Leuten das Leben. Was war, wenn er sich tatsächlich hier herumtrieb, um Otto oder Tante Sharon den Garaus zu machen? Sollte Otto nicht lieber Tante Sharon wecken und dann schleunigst die Beine in die Hand nehmen? Bestimmt konnte man an der Regenrinne abwärtsrutschen.

»Nun mach schon, du Feigling!« Vincent zappelte ungeduldig in Ottos Brusttasche. »Wenn dir dieses Klappergerippe etwas anhaben will, breche ich ihm alle Knochen«, versprach er.

»Na fein, wir sehen nach.« Otto gab sich geschlagen und schlurfte in Socken zur Tür.

Im Flur war es stockdunkel und Otto traute sich nicht, das Licht anzuknipsen. Was, wenn er dadurch den Sensenmann auf sich aufmerksam machte? Stattdessen tastete er sich an den Wänden entlang zur Treppe. Zum Glück kannte er jeden Winkel und jede Windung, er musste bloß achtgeben, dass die alten Holzstufen beim Gehen nicht knarzten.

Auf der letzten Stufe hielt Otto inne und lugte in den Salon. Das Licht der Straßenlaternen fiel durch die Fenster und tauchte die wuchtigen Vitrinen in ein fahles Blau.

Nichts. Niemand zu sehen. Der Sensenmann musste abgerauscht sein. Vielleicht hatte er sich in der Adresse geirrt.

Als Otto schon kehrtmachen wollte, schnellte plötzlich eine dunkle Silhouette durch einen der Lichtstrahlen. Sie blieb vor der Pendeluhr stehen und begann, an den Zeigern herumzudrehen, als entriegelte sie einen Safe. Ottos Nackenhaare stellten sich auf.

»Ach du sumpfiger Schrumpfknödel! Hier treibt sich tatsächlich jemand rum«, krächzte Vincent. Wenn er aufgeregt war, schimpfte er, was das Zeug hielt. »Warum zum Teufel hast du mich überredet, hier runter zu latschen?«

»Aber du warst es doch, der –« Otto unterbrach sich, denn etwas vibrierte an seiner Brust. Es bestand kein Zweifel, Vincent bibberte am ganzen Körper. Obwohl auch Ottos Knie zitterten, bemühte er sich, die Fassung zu bewahren. »Bleib cool, Vince. Ich will mir diesen Kerl aus der Nähe ansehen.«