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© 2019 Matthias Freytag
Korrektorat, Satz, Umschlaggestaltung, Herstellung und Verlag:
BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt
ISBN: 978-3-7504-7611-0
Alles wirkte so schön sauber, wie stets frisch gefegt und auf Hochglanz poliert. Alle trugen sie buntscheckige fließende Gewänder, zeigten ein glückliches, zuwendungsvolles Lächeln im Gesicht und grüßten freundlich, wenn sie einander begegneten. Ja, das Lächeln und Begrüßen nahm an der bevölkerten Seepromenade, die ich entlangging, kein Ende. Konnte man hier sich niederlassen? Ich war vorläufig auf Besuch hier, um genau das festzustellen.
Ich wollte mich verändern. Zu diesem Zweck hatte ich auch das modernste Instrument der Zielfindung genutzt und im Internet auf gut Glück und hoffnungsvoll den Suchbegriff »Livestyle« eingegeben. Bei den weiteren Wahlmöglichkeiten, die mir hierauf angeboten worden, war ich über die für mich ernsthafteste, nämlich »Lebensgestaltung«, auf diese Organisation gestoßen: »Insel des neuen Paradieses«. Das hatte mir zwar so hochtrabend wie banal geklungen. Indes, aus Neugierde hatte ich doch die Homepage aufgerufen und, um zu erfahren, wie der Himmel auf Erden, der dort versprochen wurde, konkreter aussehe, das Feld »weiter« angeklickt (ich wollte ja weiterkommen). Plötzlich war auf dem Schirm folgende Meldung zu lesen gewesen:
»Recht freundlichen Gruß, daß Sie einen Probeaufenthalt gebucht haben. Seien Sie ohne Sorge, er kostet Sie nichts weiter als Sie selbst. Wie Sie zu unserer Insel kommen? Kein Problem: Sie werden von uns persönlich abgeholt. Ihre Adresse wurde bereits elektronisch abgerufen. Ist Sie richtig gespeichert? Wir sind sicher, daß sie stimmt. Bitte vergewissern Sie sich trotzdem auf der Maske rechts unten; etwaige Unstimmigkeiten werden wir natürlich sofort überprüfen. Und geben Sie dort freundlicherweise auch einen Wunschtermin ein – innerhalb der nächsten vier Wochen. Andernfalls erlauben wir uns, am siebten Tage bei Ihnen anzuklopfen. Denn wer uns sucht, will uns auch finden. Ihr Probeaufenthalt dauert drei Tage. Und wir versichern Ihnen, Sie erhalten keine Gelegenheit, Ihre Zeit bei uns zu bereuen. Eher bleiben Sie, wie neu geboren, gleich für immer bei uns. Wir jedenfalls werden alles daransetzen, Ihnen zur richtigen Orientierung zu verhelfen.«
Zuerst, da mir das als Überrumpelungsmethode erschien, hatte ich versucht, meine Anschrift (sie war vollständig und richtig) zu löschen – vergeblich. Ebensowenig vermochte ich Sie mit einer falschen zu überschreiben; Korrekturen waren nur in den Leerfeldern jeweils unter Name, Straße und Ort möglich. Gäbe ich dort andere Daten ein, überlegte ich, stünde freilich, wie angedeutet, wer auch immer zuletzt doch vor meiner Tür, um den Grund für die Diskrepanz der Eingaben herauszufinden. Also ließ ich die Sache laufen. Ich konnte dann, so hoffte ich, wer mich abholen kam, immer noch wegschicken oder das Angebot annehmen, je nachdem.
Der Abholdienst entpuppte sich als freundliche junge Dame, nach Art einer Stewardess gekleidet, und das Transportgefährt war eine schwere silbermetallic lackierte Limousine. Also ließ man mir tatsächlich einen persönlichen Extradienst angedeihen. Das schmeichelte meiner Eitelkeit schon ein wenig, wenngleich ich mir sagte, daß dieses Neue Paradies für bestimmte Leute offenbar schlicht ein Geldparadies sein mußte. Aber für mich ging es zunächst einmal ja bloß um einen Probeaufenthalt, der mich nichts weiter kosten würde als etwas von meiner Zeit, Ich ließ mir die freundliche Überredung durch die freundliche junge Dame gefallen und fuhr mit.
Und nun war ich hier, um mich zu informieren, ob ein längerer oder dauerhafter Aufenthalt lohnend wäre, und wußte über die örtlichen Gepflogenheiten noch kaum Bescheid. Daher vergaß ich anfangs sehr oft, denn mich umgaben lauter fremde Gesichter, zu lächeln und zu grüßen, obwohl man für die grundlegenden Verhaltensweisen mir natürlich eine kurze Einführung gegeben hatte. Aber es wurde mir nicht übelgenommen, schließlich war ich als Besucher gekennzeichnet, indem man meine Nase leuchtend rot angemalt hatte – was symbolisch aufzufassen war, wie ich nach wenigen Schritten schon erfahren durfte.
Denn vergaß ich nun das eine oder das andere oder meistens beides zusammen, trat mein Gegenüber (oder auch gleich deren mehrere) lächelnd auf mich zu, nahm meine Nasenspitze zwischen den gekrümmten Zeige- und Mittelfinger und drückte und zog – nicht allzu stark, doch spürbar – und sagte lustig zu mir: »Immer fröhlich, immer lächeln, immer mit der Hand fein fächeln« – man grüßte nämlich, indem man die halberhobene offene Hand im Gelenk locker hin- und herschwenkte. Eine oder beide Hände, je nachdem, wie viele Personen gerade auf einen zukamen. Das heißt, es konnte nie schaden, mit beiden Händen gleichzeitig zu schwenken, zu fächeln, was ich auch so gut wie alle immerzu tun sah. Ja, ich sah dies überdeutlich und vergaß anfangs doch immer wieder, es selbst zu tun. Bald indes war es mir in Fleisch und Blut übergegangen (vor allem in ersteres), meine Nase tat weh und wäre jetzt ganz ohne Bemalung wahrlich rot genug gewesen. Im übrigen war ich nicht allein unterwegs. Aber mein Begleiter sagte bis auf weiteres kein Wort, so daß er einstweilen mir ebenfalls aus dem Sinn kam. Vermutlich war er allzu sehr von dem Lächeln und Begrüßungsfächeln ringsum in Anspruch genommen. Wie gesagt, wir befanden uns auf der Seepromenade, ein blauer Sonnenhimmel lachte, bei einer leichten lauen Brise, freundlich herab, und alles, was lächeln und grüßen konnte, schien unterwegs zu sein.
Mit dem Schiff war ich auf diese Insel gekommen, wo das Neue Paradies liegen sollte, im Besucherbüro bei der Anlegestelle hatte ich die allgemeinverständliche Kurz-Einführung erhalten, und anschließend waren wir zum ersten Orientierungsrundgang aufgebrochen, der eben auf der Seepromenade, medias in res, seinen Anfang nahm – wir, mein Begleiter und Beistand, der in seiner Uniform einem Liftboy ähnelte, und ich, der unbedarfte Proband.
Als mir nach etwa dreihundert (oder, wie es mir vorkam, dreitausend) Metern (eines Spießrutenlaufs, so dachte ich ungebührlicherweise) meine Lektion durch learning by doing (nämlich durch das Tun der andern, die aufs freundlichste mir in die Nase kniffen) erteilt worden war und als ich auf weiteren fünfzig Metern das Lächeln und Grüßen endlich keinmal mehr versäumt, also es ohne Unterlaß (mit Schweiß auf der Stirn) praktiziert hatte, gab sich mein Begleiter endlich auch als der versprochene Beistand zu erkennen. Zuerst optisch, es begann nämlich die runde rote Mütze seiner fröhlichen roten Uniform zu blinken.
»So«, sagte er dann, »Sie können aufhören, solang es blinkert, sind wir amtlich entpflichtet. Da seine Pflicht zu tun freilich Freude macht, ist ein ernsteres Gesicht jetzt, solange wir der Pflicht enthoben sind, nicht nur möglich, sondern durchaus angebracht. Halten Sie sich aber eng an mich, damit man Sie als Entpflichteten erkennt und anerkennt. Und keine Sorge um Ihre Nase« – er kniff sie mir spielerisch –, »amtlich heißt amtlich, es wird auch alles protokolliert, mein Blinkerlicht ist direkt mit der Zentrale verbunden. Ist auch gut so, weil ich doch für einen derartigen Entzug meine Rationen an Sonderverpflichtungen für Lächeln und Grüßen bekommen muß. Ihnen übrigens, da Sie noch in der Karenzzeit sind, Ihnen wird dieser Entpflichtungs-Ausfall noch nicht automatisch ersetzt. Sie dürfen allerdings später, wenn sie einmal aufgenommen sind, ein Begehren einreichen für die entsprechenden Rationen an Wunsch-Extraverpflichtung für diesen wie für alle anderen Fälle von Entpflichtung, die im Lauf Ihrer Eingewöhnungs- und Einübungszeit leider mit Sicherheit noch auftreten werden. Es macht übrigens allgemein einen immer sehr erfreulichen Eindruck, wenn man diese Extra-Wunschbegehren schließlich einreicht, deshalb sind sie auch zu einer sozusagen Gewohnheitspflicht geworden, die man mit Freude erfüllt. Keine Sorge, das ist alles, wenn Sie es erst einmal verinnerlicht haben, ganz einfach, und Sie werden bald heimisch werden und gar nicht mehr davon loskommen. Natürlich lassen wir Ihnen noch eine ausführliche Einführung in alle Belange unseres Lebens zuteil werden. Und falls Sie trotzdem hier und da einen falschen Schritt tun sollten, seien Sie ohne Sorge, denn wirklich falsch machen, Sie haben ja bereits einen Vorgeschmack davon erhalten, kann man bei uns eigentlich nichts. Wem ein Fehler unterläuft, dem helfen wir, damit das unerfreuliche Falsche sich nicht festsetzen kann, sofort mit freundlichen, gleichwohl effektivsten Korrekturmaßnahmen auf die Sprünge, kurz: das Glück, das Sie bei uns suchen, wird Ihnen auf Schritt und Tritt zur Seite stehen, um Sie auf den rechten Weg zu leiten. Und wie bei dieser einfachen Sozialregel, die Sie eben – sagen wir ruhig: zu spüren bekommen haben, so erfolgen die Korrekturen entsprechend in allen übrigen Angelegenheiten – das heißt, die Maßnahmen sind stets angemessen dem Grad der Wichtigkeit der jeweiligen Verpflichtungen, diesen Garanten für unser aller und damit für jedes Einzelnen Lebenssinn in der allumfassenden Lebensfreude. Stockwerk um Stockwerk werden Sie im Hause unserer und Ihrer Erkenntnis höhersteigen, von mir und anderen als Beistand stets begleitet. Und seien Sie ohne Sorge, es gibt für alles Nachschulungen und periodische Auffrischungs- und permanente Progressionsschulungen – die selbst wieder freudigst angenommene Verpflichtungen sind, die niemand je versäumen möchte. Außerdem wird, um nochmals auf die Anfangsphase zu rekurrieren, Ihre umfassende Einführung ergänzt durch eine umfassende Untersuchung, genetisch, physiologisch, individual- und sozialisationspsychologisch, um grundsätzliche Schwachstellen und Fehlerpotentiale von Anfang an zu erkennen. So mancher Mangel und Defekt läßt sich dann schon im Vorfeld auf medizinischem und psychologischem Wege beheben, was Ihre Einpflichtung – das heißt das Stadium Ihrer Heimischwerdung – zu Ihrem und aller Wohl gleich wesentlich leichter und freundlicher gestaltet. In der Folge haben Sie darüber hinaus ein ums andere Mal Gelegenheit, sich derartigen Untersuchungen erneut zu unterziehen. Und wer bei uns einmal heimisch geworden ist, pflichtet auch diesen Folgeuntersuchungen freudigst bei. Ja, die meisten warten gar nicht, bis wieder offiziell welche angeboten werden, sondern melden sich aus innerem Antrieb immer wieder, um hierdurch wie durch die Schulungen darin bestätigt zu werden, daß man sich jederzeit ganz auf der Höhe des Lebenssinns in der allumfassenden Lebensfreude befindet, oder um möglich scheinende Abweichungen noch im Ansatz konsensgemäß angleichen zu lassen – hilft dies alles doch, das erfreulich Erreichte für sich und alle zu festigen und auf Dauer zu erhalten. Und wer wollte das nicht? Also seien Sie ohne Sorge, Sie sind bei uns in den allerbesten Händen.«
Ja, wer wollte das nicht …? Konnte das ich sein? Die Hände, die da nach mir griffen, wollten mir, obgleich alles ringsherum so freundlich und sauber aussah, auf einmal denen Freddy Krügers ähneln und das ganze Gelächle seinem Gesicht. Meine Nase schmerzte noch immer, und ich hatte so eine Ahnung, als könnte einem hier bald noch weit mehr weh tun. Und wenn man einmal keinen Schmerz mehr verspüren sollte – um so unerfreulicher. Als mein Begleiter meinte, er wolle nun sein Blinkerlicht wieder abschalten, um mit mir den Rundgang fortzusetzen, entgegnete ich, daß ich bereits einen charakteristischen Eindruck gewonnen hätte, nicht zuletzt durch den überaus hilfreichen Beistand seiner Ausführungen – woraufhin mein Begleiter sämtliche Zähne entblößte, mir überschwenglich dankte, dabei sich mehrfach verbeugte und mit beiden Händen, die Finger weit auseinanderspreizend, wedelte. Dieser Eindruck, fuhr ich indessen fort, genüge mir vollauf, er möge mich jetzt bitte zur Anlegestelle zurückbringen, ich wolle heute noch abreisen und mir zuhause die Sache noch einmal durch den Kopf gehen lassen (und meinte für mich: sie mir ganz schnell aus dem Kopf schlagen). Da erstarrte er in der Bewegung, das Lächeln gefror, und er wurde blaß im Gesicht, erschreckend blaß zwischen dem roten blinkernden Licht und dem fröhlichen roten Anzug.
»Das … ist … aber gar nicht freundlich«, sagte er stimmlos.– »Ich bin nur zur Probe hier«, warf ich ein. – »Aber eine Probe kann doch nicht einfach abgebrochen werden«, sagte er schon wieder etwas lauter. »Und wenn, dann nur von dem, der sie angesetzt hat. Wir haben die Probe angesetzt, Sie haben zugestimmt, haben sich damit zu ihr verpflichtet und dadurch mich in die Pflicht genommen, Ihren Aufenthalt zu gestalten, welchen Dienst ich Ihnen mit Freude leisten will und muß. Sie sind nicht berechtigt, jetzt schon abzureisen. Erst müssen Sie die Probe absolvieren, und dann muß vom Obersten Gremium der Freudvollen Verpflichtung entschieden werden, ob Sie bestanden haben. Und falls Sie nicht bestanden haben sollten, muß analysiert werden, warum nicht und wie Ihre Mängel und Defekte, die dazu führten, behoben werden könnten. Und dann erhalten Sie Gelegenheit für einen weiteren Probedurchgang und irgendwie bekommen wir sie irgendwann so weit, daß Sie bestehen werden, wir geben keinen verloren, seien Sie ohne Sorge, geben Sie nicht jetzt schon auf, vertrauen Sie sich uns an und seien Sie nochmals versichert, Sie befinden sich bei uns in den allerbesten Händen, wir wollen nichts als Ihr Bestes …«
Laut war er geworden und holte jetzt Atem. Ringsumher die buntwallenden Leute lächelten und grüßten einander, uns aber beachteten sie nicht oder ließen uns eben gewähren, das Blinkerlicht erlaubte diese unerfreulichen Kapriolen, sie geschahen ja zu meiner Unterweisung und Bekehrung und wollten mein Bestes. Ich allerdings war mehr denn je entschlossen, jegliche weiteren Bitten und Forderungen zurückzuweisen, mich von dem ganzen Possenspiel und Mummenschanz abzukehren. Das sagte ich meinem Begleiter, ziemlich grob. Was in diesem Moment ein Fehler war. Abrupt schaltete er sein Licht ab, setzte ein übertriebenes Lächeln auf, ging widele wedele davon und ließ mich inmitten der Menge der Promenadengänger allein. Ich war erregt, schaute zweifellos grimmig in die Welt und fand diese Wedelei bloß noch debil. Kurz, ich hatte weder meine Gedanken noch Mimik oder Gestik im Griff. Und schon kamen die ersten Finger, kniffen mir in die Nase, zogen daran, und das Sprüchlein erklang: »Immer fröhlich, immer lächeln, immer mit der Hand fein fächeln« – und die nächsten Finger schnappten zu, indessen erneut das Sprüchlein mahnte, und wieder und weiter und immer kräftiger, heftiger kniff und zog es, fremde Finger kamen sich gegenseitig ins Gehege, immer lärmender, immer kakophonischer und schriller tönte der Merk- und Mahnspruch, während ich immer wütender wurde, vehement nach all den Fingern schlug und Beschimpfungen ausstieß, was die anderen um so stärker reizte, daß sie selbst mehr und mehr zu lächeln und zu grüßen vergaßen – und erst hier und da, auf einmal aber explosionsartig fast allesamt sich gegenseitig in die Nasen kniffen, vielmehr sie quetschten und schraubten, und nun wild aufeinander eindroschen und die Maxime vom Lächeln und Fächeln brüllend, kreischend, wie Steinwürfe aus Worten, einander ins wutverzerrte Gesicht schleuderten.
Durch den Tumult entkam ich, sie hatten jetzt miteinander genug zu tun. Daß ich meinen Begleiter brüskiert und verscheucht hatte, war am Ende doch kein Fehler gewesen. Ich rannte los, kam allerdings von der Anlegestelle ab, da die Schlägerei, mit wüstesten Ausschreitungen, inzwischen auf der gesamten Länge der Seepromenade tobte, sie drohte sich sogar noch weiter auszubreiten. Ich floh ins Inselinnere, hoffte auf der anderen Seite ein Boot zu finden, um übersetzen zu können. Die Insel konnte nicht groß sein, wie ich auf der Herfahrt bemerkt zu haben glaubte. Und ich lief und lief, die anfängliche Parkgegend mit fein gekiesten Wegen wandelte sich rasch in ein dicht überwuchertes, ja, mit Strauchwerk und Gestrüpp verwildertes Terrain ohne jeden Pfad, weshalb mir nichts übrigblieb, als mich querfeldein durchzuschlagen. Öfters vermeinte ich raschelnde Schritte zu vernehmen und Schatten vorbeihuschen zu sehen. Aber es waren vermutlich bloß Sinnestäuschungen meiner Aufregung, indem das Geschrei, das aus der Ferne noch an mein Ohr wehte, mich lebhaft an den ausgebrochenen Tumult erinnerte.
Endlich und unbehelligt kam ich an ein Wasser. Nicht weit vor mir sah ich Land und blinzelte wie in einen Scheinwerfer in die Sonne, die mir auf der Flucht indes bis vor kurzem noch mehr oder weniger im Rücken gestanden hatte. Es dauerte einen Augenblick, dann begriff ich, daß ich zuletzt wohl einen größeren Haken geschlagen hatte und mich bereits jenseits dieses vermeintlichen Paradieses befand, das überhaupt keine richtige Insel war, sondern eine Halbinsel, sondern Teil des Festlandes selbst.
Faschingsball, Kehraus. Sie tanzten zusammen und waren glücklich und hatten sich, noch ohne es voneinander zu wissen, verliebt. Dabei hatten beide zuerst keine große Lust verspürt, auf den Ball zu gehen.
Sie war mit ihrer Mutter und deren Freund erschienen. Der besonders hatte sie gedrängt, doch mitzukommen. In ein paar Tagen wurde sie sechzehn Jahre alt, und wie sie nun so tanzte, dachte sie zum ersten Mal wirklich nicht mehr an das andere, das sie bisher durch alle Stunden ihrer Tage begleitet hatte.
Sechzehn wurde sie; fünf war sie gewesen, als ihr Vater starb. Ihr jüngerer Bruder hatte dagegen erst ein knappes Jahr gezählt, und er erinnerte sich überhaupt nicht mehr an ihn. Ihre Erinnerungen an den Vater waren zwar auch nur sehr schemenhaft, aber vielleicht gerade aus diesem Grund hatten sie sich als ein verdunkelnder Schatten über die folgenden Jahre gelegt. Denn durch diese halben Erinnerungen wußte sie nicht allein durch Erzählungen, wie ihr Bruder, von ihm. Sie wußte es aus sich selber, daß er einmal für sie dagewesen war. Doch jetzt, in einer formlosen Ferne entschwunden, war einzig noch ein Sehnen nach ihm übriggeblieben, das nicht einmal an einem Bild, an einem lebendigen Bild in ihr, sich trösten konnte. Trotzdem war er da, tief in ihr drin, so nah und zugleich für immer so unwiederbringlich fern.
Hatte ihr Vater sie – die richtig Annegret hieß – noch Aurora genannt, weil sie, außer daß der Name zu ihren roten Haaren paßte, immer solch ein fröhliches Kind gewesen war, daß in ihrer Nähe jede düstere Betrübnis, jeder finstere Ärger sich aufhellte, so war sie nach seinem Tod zusehends ein stilles und scheues Wesen geworden, aus dessen Augen Schwermut blickte.
Auf der Beerdigung war sie mit dabei. Sie stand neben ihrer Mutter, deren Hand sie fest umklammert hielt, und der, während der Pfarrer am Grab vor dem aufgebockten Sarg die Grabrede hielt, die Tränen über das Gesicht liefen, ohne daß ihr Weinen zu hören gewesen wäre. Annegret weinte nicht einmal lautlos. Sie schaute nur immer wieder mit großen, ängstlich fragenden Augen zum Gesicht der Mutter hinauf und dann zurück zu dem Mann in dem langen schwarzen Gewand, der vor diesem seltsamen braunen Kasten mit den weißen Blumen darauf so ernst und traurig sprach. Nachdem der Sarg ins Grab gesenkt worden war, traten einer nach dem andern viele Leute vor ihre Mutter, reichten ihr mit ernsten, traurigen Mienen die Hand, und die meisten tätschelten dann dem Kind den Kopf oder die Backe. »Armes Kind; du arme Kleine«, murmelten viele von ihnen. Annegret weinte noch immer nicht, nur hielt sie weiter die Hand ihrer Mutter fest umklammert.
Sie hatte auch nicht geweint, als die Mutter ihr beizubringen versucht hatte, daß ihr Vater gestorben war. »Annegretelein«, sagte sie eines Abends, mit tränenverquollenen Augen, »Annegretelein, ich muß dir etwas ganz Trauriges sagen. Dein Papi, er … er wird nie wiederkommen.« – »Papi? Warum?« fragte Annegret mit ihrer hohen klaren Stimme. »Mag er uns nicht mehr?« – »Natürlich mag er uns. Er, weißt du, er kann nicht mehr zu uns kommen.« – »Aber er war doch immer da.« – »Tja, weißt du, er ist sehr weit verreist. Wo er jetzt ist, muß jeder Mensch einmal hinreisen, von dort kann er nicht mehr zurück. Wenn einer dort ist, hat er aufgehört zu leben. Leben … das ist, wenn wir morgens aufstehen, wenn wir abends ins Bett gehen und schlafen, träumen und wenn wir am nächsten Morgen wieder aufstehen, wenn du in den Kindergarten gehst, wenn ich zu Hause auf dein Brüderlein aufpasse und später dich wieder abhole, wenn Papi ins Geschäft geht und am Abend wieder nach Hause kommt, wenn wir zusammen spazieren gehen – ach, und all das. Dein Papi … er kann nicht mehr morgens aufstehen oder abends sich schlafen legen, er kommt auch nicht mehr von der Arbeit heim, er kann nicht mehr mit uns spazieren gehen …« – »Auch nicht mehr in den Zoo mit mir?« unterbrach Annegret erstaunt und zweifelnd. – »Nein, mein Schatz«, die Mutter unterdrückte mit Mühe ein Weinen. »Auch in den Zoo kann er nicht mehr mit dir.« – »Nein?« unterbrach sie nochmals und fragte leise: »Mag er mich denn nicht mehr?« – »Freilich mag er dich. Glaub mir, er mag uns alle beide. Er kann nicht mehr das tun, verstehst du? Hast du gehört, was ich gesagt habe, was Leben ist? … Dein Papi hat aufgehört zu leben. Alle Menschen müssen einmal aufhören zu leben – und er hat es, hat es eben jetzt schon müssen …« – »Warum?« fragte Annegret, und ihre Stimme war noch zweifelnder geworden. – »Ach du«, rief die Mutter aus, zog das Kind heftig an sich und begann haltlos zu weinen. – »Wein doch nicht, Mama«, sagte Annegret und streichelte schüchtern mit ihrer kleinen Hand das Gesicht der Mutter. »Papi kommt bestimmt bald wieder. Er tut nur so. Papi war doch immer da.«
In den paar Tagen bis zur Beerdigung dann hatte sie immer wieder, mal altklug ernst, wenn sie neben ihrer Mutter saß und die weinte, mal kindlich fröhlich, etwa wenn sie schlafen ging – immer wieder hatte sie gesagt: »Morgen kommt Papi zurück. Ganz bestimmt.« – Aber er kam nicht. Am Morgen des Tags der Beerdigung versuchte die Mutter noch einmal zu erklären, warum er nicht mehr kam, warum er es nicht mehr konnte, und daß heute ihr Papi begraben würde. Umständlich und unsicher unternahm sie es, dem Kind begreifbar zu machen, daß der Körper, wenn der Mensch gestorben war, zurückblieb, und daß der Körper in einen großen Kasten getan wurde, den man in der Erde vergrub – und brach erneut in Tränen aus.
»In einen Kasten?« fragte Annegret, zum ersten Mal nun mit einem bangen Zittern in der dünnen Stimme. »Und aus ihm darf er nicht mehr heraus …?«
So stand sie schließlich neben ihrer Mutter auf dem Friedhof und sah den großen Kasten dort. Sie weinte nicht, aber die ganze Zeit gingen ihre Blicke ängstlich hin und her zwischen der Mutter, die neben ihr weinte, und dem Kasten, vor dem der unheimliche Mann stand. »Ist da Papi drin?« fragte sie einmal flüsternd. Und am Abend, als alle Trauergäste fort waren und die Mutter sie zu Bett brachte, fragte sie aufschluchzend: »Papi? Wo – ist – Papi?« – Und dann weinte sie plötzlich, ihr ganzer Körper zuckte, sie warf sich auf den Bauch, preßte das Gesicht ins Kissen, und eine Stunde saß die Mutter bei ihr, streichelte ihr beruhigend, in langen Kreisbewegungen, den Rücken. Endlich schien Annegret eingeschlafen zu sein, und sie ging vorsichtig zur Tür. Doch wie sie das Licht löschte, fuhr das Kind auf und schrie: »Nicht das Licht ausmachen, nicht das Licht …«
Verschwunden war die Fröhlichkeit. Eine Zeitlang fragte Annegret jeden Morgen, jeden Abend, flehentlich beinah: »Wo ist Papi?« – Das hörte nach einigen Tagen allmählich auf, aber sie blieb scheu in sich gekehrt, wollte nicht mehr in den Kindergarten, wollte mit keinem ihrer vielen früheren Spielkameraden mehr spielen. Alles Zureden, alles Schimpfen auch half nichts, und die Mutter ließ sie schließlich gewähren, in der Hoffnung, es würde sich einmal doch wieder legen, und weil sie selbst erst einmal mit dem Tod ihres Mannes fertigwerden mußte und noch einen Sohn zu versorgen hatte, der kaum ein Jahr alt war.
Annegret ging wieder in den Kindergarten, aber von nun an hielt sie, die früher meist allen voran gewesen war, sich im Hintergrund. Das änderte sich auch nicht, als sie in die Schule kam, nicht in der Grundschule und nicht auf dem Gymnasium. Sie hatte nie mehr richtige Freunde, nie eine beste Freundin. Nach Schulschluß kehrte sie, ohne noch, wie es die anderen oft taten, ein wenig herumzutrödeln, nach Hause. Womit sie sich daheim beschäftigte, außer den Hausaufgaben, die sie von Beginn an ohne Mühe und im Laufe der Zeit immer mehr wie mechanisch, ohne Freude, ohne Verdruß, erledigte – womit sie sich sonst beschäftigte, waren einige Jahre lang einzig ihre Puppen. Mit ihnen spielte sie stundenlang Familie. Sie bekam bald von ihrer Mutter, die sah, wie wichtig Annegret dies Spiel war, eine Puppenstube mit passenden Figuren geschenkt, und in das Spiel mit ihr versenkte sie sich noch mehr, bastelte kleine Einrichtungsstücke, nähte Kleider für die Puppen, die eine ganze große Familie mit Großeltern, Vater und Mutter, Tochter, Sohn und Baby darstellten, und dachte sich richtige Geschichten aus, die sich schließlich mit all ihren Begebenheiten von einem Tag zum andern fortsetzten.
Die Mutter wußte nicht recht, wie sie das Kind behandeln sollte, sie empfand eine merkwürdige Scheu vor ihm. Vielleicht erinnerte es sie, in seiner Verwandlung von einem lebenslustigen Springinsfeld in ein völlig in sich verschlossenes, oft seltsam abwesend scheinendes Wesen, zu sehr an den Tod ihres Mannes. Außerdem war immer noch der Kleine da, den durfte sie nicht vernachlässigen. Sie ging vormittags wieder arbeiten, und so hatte sie mit ihm und mit dem Haushalt die übrige Zeit, wie sie sich sagte, genug zu tun. Da war sie nur froh, wenn ihre Tochter daheim beschäftigt war, im Spiel sich nicht stören ließ und auch sie nicht störte. Den Sohn brachte sie anfangs am Vormittag bei einer Nachbarin im Nebenhaus unter, die selber ein etwa zweijähriges Kind hatte. Dort konnte er auch bleiben, wenn die Mutter einmal nachmittags zu einem Einkaufsbummel oder um sonst irgend etwas zu erledigen in die Stadt wollte. Annegret ging nie zu der Nachbarin, sie wollte auf keinen Fall dorthin, wollte überhaupt so wenig wie möglich aus dem Haus. Und inzwischen konnte sie sich auch, wenn die Mutter abwesend war, schon gut selbst versorgen, konnte sogar schon ein einfaches warmes Essen für sich zubereiten.
Die Eltern des Verstorbenen, die hin und wieder natürlich ihr Enkelkind besuchten, und ihre eigenen Eltern hatten der Mutter wiederholt geraten, sie solle Annegret zur Kur in ein Kinderheim schicken. Dort würde sie, in einer anderen Umgebung, unter vielen Kindern die ganze Zeit, entweder von selber aus sich herauskriechen oder aus ihrem Schnekkenhaus herausgezogen werden und zu ihrer früheren Lebensart zurückfinden. Als jedoch ihre Mutter Annegret einmal fragte, ob sie nicht Lust hätte zu verreisen, mit vielen anderen Kindern, und mit ihnen ein paar Wochen Ferien zu machen – da wurde sie plötzlich stocksteif, starrte ihre Mutter mit aufgerissenen Augen an, und dann schrie sie schrill und um sich schlagend: »Nein. Ich will nicht fort, will nicht verreisen, ich will nicht verreisen, ich will dableiben, will nicht fort, neinneinnein …« – So war sie dageblieben.
Als sie ungefähr neun war, fing sie an, sich von den Puppen und der Puppenstube ab- und sich mehr ihrem Bruder zuzuwenden. Mit der Zeit bemutterte sie ihn richtig, und nicht selten drängte sie geradezu die Mutter selbst zur Seite, wenn es etwas um ihn zu tun gab. Was dieser sehr recht war, denn dadurch konnte sie jetzt völlig ungehindert an Nachmittagen Besorgungen außer Haus erledigen. Daß Annegret sich so gern um ihren Bruder kümmerte, war der Mutter aber auch nicht zuletzt deswegen äußerst willkommen, weil es ihr die Freiheit verschaffte, abends auszugehen. Das hatte sie die letzten Jahre sehr eingeschränkt gehabt, doch dann war ihr bewußt geworden, noch jung zu sein – und sie wollte nicht auf ewig versauern. Äußerst unwillkommen war dabei jedoch, daß Annegret jedem Mann, den ihre Mutter kennenlernte und mit dem sie sich anfreundete – worum sie sich zu jener Zeit wieder zu bemühen begann –, entschieden abweisend gegenübertrat. Jeden dieser Männer, sobald seine Besuche Gewohnheit zu werden drohten, versuchte Annegret sofort hinauszuekeln. War sie sonst schüchtern und verschlossen, in solchen Fällen machte sie nicht Halt davor, dem neuen Freund, wenn sich eine Gelegenheit bot, abschreckende Lügen über ihre Mutter zu erzählen. Oder sie störte, wenn Mutter und Freund in der Wohnung beieinander saßen, die beiden in jedem Augenblick, und oft endete der Abend in Streit zwischen Mutter und Tochter, wodurch natürlich die ganze Atmosphäre meistens zuschanden war, und manchmal dann auch zwischen der Mutter und ihrem Bekannten. Um nur das Verhältnis zu zerstören, scheute sie sich sogar nicht, in das Schlafzimmer zu ihnen hineinzuplatzen oder, wenn es verschlossen war, laut an die Tür zu schlagen, unter irgendeinem Vorwand, wie durchsichtig er sein mochte, etwa, weil sie schlecht geträumt und Angst habe; weil ihr Bruder nicht schlafe und dauernd weine; weil er plötzlich angefangen habe zu husten oder sich zu erbrechen; weil er so schlimmes Bauchweh habe … und was noch. Soviel die Mutter auch mit ihr schimpfte, sie kam nicht dagegen an. Annegret brach dann jedesmal in Weinen aus, und wenn ihre Mutter sie darauf versöhnlich in den Arm nehmen wollte und ihr im Guten zuzureden versuchte, fing sie regelrecht zu toben an und schlug und kratzte. Wenn sie sich aber wieder beruhigt hatte und endlich erschöpft doch in den Armen ihrer Mutter lag, erklang es unter ihren Schluchzern undeutlich: »Papi … ich will zu Papi, will zu Papi …«
Vier, fünf Bekanntschaften waren auf diese Weise in die Brüche gegangen, und zuletzt resignierte die Mutter. Erst ein paar Jahre später kam der nächste Freund, als Annegret fünfzehn war. Ihre Versponnenheit in sich selbst schien sich um einiges gelöst zu haben, sie wirkte nicht mehr gegen ihre Umwelt so sehr verschlossen und verkrampft. Ein stilles, scheues Mädchen war sie zwar geblieben, doch die kindlich ungelenke und mißtrauische Ausstrahlung war einer Art schicksalsergebenen Demut gewichen, die ihr nun, auf der Schwelle des Übergangs zur Frau, eine eigenartige Anmut verlieh, eine Mischung aus Sprödigkeit und Weichheit, aus Sinnlichkeit und Kühle, wodurch sie auf viele, die sie sahen, besonders anziehend wirkte. Überdies hatte sie inzwischen, mit den Mädchen ihrer Klasse, die Tanzstunde gemacht; eine richtige Freundin aber, geschweige denn einen Freund, hatte sie auch jetzt noch nicht.
Was den neuen Freund ihrer Mutter betraf, ihn versuchte sie nicht mehr fortzugraulen; sie hatte sich mit ihm abgefunden. Was keineswegs bedeutete, daß sie ihn leiden konnte; sie begegnete ihm mit Gleichgültigkeit. Er hingegen bemühte sich sehr um ein gutes, um ein herzliches Verhältnis zwischen ihr und ihm. Er war es auch gewesen, der nicht lockergelassen, der alle guten Gründe, alle Überredungs- und Schmeichelkünste aufgewandt hatte, so daß sie endlich doch, damit er sie in Ruhe ließ, auf jenen Faschingsball mitgegangen war.
Er, der Junge, kam mit Freunden, das heißt richtiger: mit ein paar Klassenkameraden auf den Ball. Sie befanden sich gerade im Abitur, die schriftlichen Prüfungen hatten sie vor kurzem hinter sich gebracht, die mündlichen standen noch aus; gute zwei Monate dauerte es noch bis dahin. Im Moment nahmen sie das ganz von der leichten Seite, glaubten, das schwerste überstanden zu haben; nach den schriftlichen Arbeiten hatten sie alle ein insgesamt gutes Gefühl gehabt.
Auch Markus. Trotzdem hatte er zunächst abgelehnt, den Ball zu besuchen. Das lag in keiner Weise am Abitur, daran etwa, daß doch heimliche Befürchtungen, die er nach außen kaschierte, ihn nicht die nötige Unbeschwertheit hätten finden lassen. Nein, es lag an dem, daß er sich allgemein aus solchen Dingen, solchen – nach einem Wort von ihm – Albernheiten, wie Fasching eine war, nichts machte. Markus war ein etwas müder Geselle.
Zu guter Letzt hatte er nachgegeben, aus einer Wurstigkeit heraus, und sie hatten ihn mitgeschleift. So waren sie zu sechst, drei Mädchen, drei Jungs. Ihn weiter versucht umzustimmen, nachdem er die ersten paar Male nein gesagt, hatte vor allem dann ein Mädchen aus der Gruppe. Sie war nämlich ein wenig verliebt in ihn, er konnte auch auf seine Weise durchaus ganz charmant sein, wenn man ihm genügend Zeit zum Warmlaufen gab. Außerdem fühlte sie sich durch eine gewisse Wesensähnlichkeit zu ihm hingezogen, denn sie besaß genauso eine etwas schleppende Art. Ob er ihr Verliebtsein bemerkte, ist zweifelhaft; möglicherweise aber tat er es und ließ sich nur nichts anmerken. Mädchen gegenüber war er sehr befangen, er wußte um seine Schwerfälligkeit und temperamentmäßige Blässe Bescheid. Daher rechnete er sich von vornherein keine großen Chancen aus, obwohl ihm in Wahrheit oft beim Anblick einer Schönen das Herz mächtig klopfte. Indes konnte er nicht aus seiner Haut heraus, versuchte es erst gar nicht. So bin ich eben, da hat es keinen Zweck, sagte er sich.
Markus war gut versorgt, zu gut vielleicht. Er war ein Einzelkind; die Aufmerksamkeit seiner Eltern wurde nie von einem Bruder oder einer Schwester von ihm abgelenkt. Ging es um das Kind, ging es unausweichlich immer um ihn. Und sie bemühten sich sehr um ihr Kind. Er sollte wissen, daß er seinen Eltern viel bedeutete; daß er – besonders weil er das einzige Kind war, das sie je haben konnten (Adoption war für sie aus Prinzip nie in Frage gekommen) – absolut ihr ein und alles war. Alle elterliche Sorge, die sie am Anfang ihrer Ehe noch für zwei oder mehr Kinder bereitgehalten hatten, wandten sie dann für ihn auf; alles Glück und Wohlergehen, das sie ihren Kindern zugedacht hatten, wollten sie ihm dann erwirken; alle Sicherheit, die schützend ihnen zusammen hätte zuteil werden sollen, versuchten sie ihm allein dann zu bieten – alles und noch mehr, denn wenn ihm, ihrem Einzigen, etwas zustieße … es war nicht auszudenken.
Als Markus älter wurde, brach er nicht aus dieser sumpfigen Atmosphäre aus, er zog sich nur in sich zurück, verbarg sich hinter einer indifferenten Haltung gegenüber dem Außen, die mehr und mehr ihn umschloß, ihn einschloß – selbst in seinen Träumen kannte er sich mit der Zeit kaum mehr anders. Ohne wirklichen Versuch, zu widerstehen, hatte er sich gehenlassen.
Wie verbrachte er seine Tage? Natürlich nahm die Schule, wie das so ist, einen guten Teil der Zeit in Anspruch. Ansonsten ging er häufig, oft auch sofort, wenn der Unterricht vorüber war, in die Stadt. Alleine meist, und dort ließ er sich ziellos durch die Straßen treiben. Nicht auf einem genießerischen Bummelgang, auf dem ein jedes, was einem begegnen will, willkommen und bedeutend ist; sondern immer hoffte er, wartete er auf etwas Besonderes, das sich ereignen möge, etwas Aufregendes, das die alltägliche Leier mit Neuem, Unerhörtem übertöne. Was es sein sollte, davon hatte er selber nur ziemlich vage Vorstellungen. Im Grunde glaubte er gar nicht richtig daran, daß etwas passieren könnte. Seine Gedanken folgten immerzu dem gleichen trägen Kreislauf: O wenn doch … o was denn nur? … ach was, was soll denn … – Und so paßte er auch nicht auf, und daher passierte natürlich auch nichts.
Zu Hause beschäftigte er sich gerne mit seiner Modelleisenbahn, die im Keller stand. Er hatte sie in den letzten Jahren technisch aufwendig ausgestattet, mit vielen Weichen, die die Züge durch ein kompliziertes System aus Schienenkreisen führten. Um die große Zahl der Weichen, wozu auch die eines Rangierbereichs mit Drehbühne gehörten, richtig bedienen zu können, benötigte er einen ganzen Stellplan. Auch eine Menge Signale waren vorhanden, für sie besaß er ebenso einen Plan, um immer rechtzeitig den entsprechenden Schalter zu drücken, damit die Züge, wenn sie durch die ineinander- und auseinander- und wieder zusammenstrebenden Kreise fuhren, nicht aufeinander krachten. Manchmal empfand er es wie einen Rausch, wenn er alle Züge auf einmal – acht waren es bei voller Anzahl – fahren ließ, die Trafos auf die höchstmögliche Geschwindigkeit stellte, so daß die Wagen in den Kurven gerade noch nicht aus den Schienen flogen, und er am Schaltpult saß, das Herz dieser tollen Fahrt. Von ihm hing es ab, daß sie weiterlief und nicht in einem Chaos zusammenbrach, überall zur gleichen Zeit mußten seine Augen sein auf den Schienen, die vielen Züge verfolgend, auf dem Plan für die Weichen, für die Signale, bei den Schaltern, ohne Zögern mußte er die Position der Züge und den Stellplan vergleichen, mußte die entsprechenden Schalter drücken, mußte hier ein Signal auf Rot schalten, da die Fahrt freigeben, mußte eine Weiche auf geradeaus, eine andere auf Abbiegen stellen und dieselbe Weiche unter Umständen sofort wieder auf Geradeausfahrt, um all die Züge sicher über die Schienen zu leiten. Alles hing von ihm ab. Öfters schaltete er, um den Reiz, um die Spannung, die Erregung, um die Schwierigkeit zu erhöhen, das Deckenlicht ab, nur noch die Lichter auf der Anlage brannten, und er saß am Schaltpult, das von einem separaten Klemmlämpchen erhellt wurde, sah vor sich die kleinen Lichter der Züge dahinhuschen, von helleren Bereichen der Anlage zu dunklen, aus Tunnels plötzlich heraus, in Tunnels plötzlich hinein, rot und grün blinkten die Signale zu ihm her, die Weichen klackten und immerzu summten heiser die Motoren der Zugmaschinen, ratterten, rauschten und klapperten die Wagen, die sie zogen – bis es doch irgendwann krachte und zwei Züge mit Getöse aus den Gleisen sprangen. Dann wurde Markus jedesmal zornig, stampfte mit dem Fuß und hatte genug – und verließ sein Kellerreich.
Auch las er viel. Las wie andere Leute fernsehen, ließ sich von den Wörtern überschwemmen wie sie sich von den Flimmerbildern, damit er sich und dem, was auf seine Unzufriedenheit ihn hinwies, was beunruhigend auf ihn zielte, entkam, las und vergaß das meiste bald wieder. Er hockte in seinem Zimmer und las zuweilen Stunde um Stunde, doch nach außen trug er davon kaum etwas. Bücherlesen, natürlich nur die Lektüre guter, anspruchsvoller Literatur, galt seinen Eltern an sich als ein Zeichen höherer Geistesart, und Viellesen (als ein sogenanntes Erweitern des Horizonts, indem man von allem möglichen irgendwo irgend etwas aufschnappt) bedeutete wiederum ein entsprechendes Mehr an Geist: Auf eine Merkformel gebracht, war die Menge an Büchern, die jemand las, proportional zu der Menge an Geist, die diese Person besaß. Und wer solcherart viel Geist hatte, war zugleich ein besserer Mensch. Die Eltern begrüßten seinen Leseseifer sehr, selber taten sie es ja ebenfalls, saßen oft abends im Wohnzimmer nebeneinander, jedes in sein Buch vertieft. »Ein gutes Buch?« konnte zwischendurch die Frage geschehen. – »Wie? Hast du was gesagt?« war die Reaktion. »… Ach so. Ja, doch, sehr interessant«, lautete schließlich die Antwort. – Dann herrschte wieder Schweigen. Fernzusehen dagegen, außer den Nachrichten und spezielle Kultursendungen, zeugte für sie von allgemeiner Beschränktheit. Also las er, und heimlich las er oftmals Kriminalromane, die er sich von seinem Taschengeld kaufte und im Keller versteckte. Seine Eltern hätten es nie geduldet.