In aller Kürze

Die auf Flanagan (1906 - 1996) zurückgehende Critical Incident Technique (CIT) ist ein vornehmlich in der qualitativen Sozialforschung genutztes Interview-Instrument, mittels dessen situative Bedingungen kritischer Vorkommnisse/Ereignisse (CI) sowie das Handeln der darin involvierten Personen aufgedeckt werden können. Durch die Fokussierung kritischer Ereignisse lassen sich detaillierte Informationen über komplexe Situationen, Prozesse und organisationale Settings zutage fördern, in denen das Bewältigungshandeln der Beteiligten von besonderem Interesse ist. Die CIT eignet sich, um Handlungsversäumnisse, aber auch herausragende Kompetenz, zu identifizieren. Insbesondere für High Reliability Organizations (HRO) wie Intensivstationen in Krankenhäusern, Kernkraftwerke, Tower von Flughäfen und Flugzeugträger, wo kleine Fehler katastrophale Folgen nach sich ziehen können, kann die Nutzung der CIT ein probates Mittel sein. In der Jugendhilfe, im Strafvollzug und bei der Polizei kann die CIT ebenfalls zur Anwendung kommen. Sie ermöglicht, besondere Vorfälle systematisch auszuwerten, Gefahren zu antizipieren und Fehler so zukünftig zu vermeiden/zu verringern. Zu kritisieren ist indes die mangelnde Objektivität der Methode. In der CIT wird allein auf subjektive Darlegungen selektiv beobachtender und sich erinnernder Personen vertraut. Daher kann die alleinige Nutzung dieser Technik zur Datenerhebung/-analyse unzureichend sein. Im Rahmen eines triangulativen Methodenmixes hingegen ist die CIT-Anwendung potenziell erkenntnisreich.

Anmerkung zum Text

Diese 2. Auflage ist gegenüber der 1. Auflage geringfügig verändert. Ergänzt wurden eine Grafik und ein Textabsatz. Auch wurden 4 Quellenangaben im Literaturverzeichnis ergänzt und es wurde das Datum des Erscheinens von 2 Texten korrigiert. Da für die E-Book-Veröffentlichung dieser 2. Auflage das Format geändert wurde, sind die Seitenzahlen gegenüber der 1. Auflage verändert. Im Inhaltsverzeichnis wurde das entsprechend angepasst.

Inhalt

Was ist passiert? Was sollte passieren?

Wenn Soldaten von einer Mission zurückkehren, erfolgt zumeist eine Reflexion der Mission dergestalt, dass die Soldaten einen Soll-Ist-Vergleich vornehmen.1 Sie analysieren, was im Rahmen der Mission geschah, was hätte geschehen sollen, welche besonderen Situationen sie zu meistern hatten, was konkret die Gründe für den Erfolg oder Misserfolg der Mission waren und was in zukünftig ähnlich gelagerten Missionen optimiert werden muss. Diese nachgelagerten Einsatzreflexionen werden After Action Reviews (AAR) genannt. Die US-Armee (2013, S. 3) beschreibt ihren Zweck so: „AARs are a professional discussion of a training event that enables Soldiers/units to discover for themselves what happened and develop a strategy for improving performance. They provid candid insights into strengths and weaknesses from various perspectives […] Because Soldiers and leaders participating in an AAR actively self-discover what happened and why, they learn and remember more than they would from a critique alone. […] AARs foster an environment of trust, collaboration, initiative, and cohesion necessary among Soldiers and leaders in decentralized operations.“

AARs waren ursprünglich nur im Militär verbreitet, findet seit Jahrzehnten aber auch Anwendung bei der Polizei, im technischen Sektor wie auch in Einrichtungen des Gesundheits- und Sozialwesens. Allen voran in High Reliability Organizations (HROs) sind sie ein viel genutztes Instrument, um Fehlentwicklungen zu erkennen, zu antizipieren und durch vorausschauendes Handeln möglichst zu verhindern.2 Kurzum sind AARs ein Instrument, das mit dafür Sorge trägen kann, Unerwartetes gekonnt zu managen. Eine Methode, die in After-Action Reviews zur Anwendung kommen kann, ist die Critical Incident Technique (CIT). Es handelt sich dabei um eine Befragungsmethode, die vornehmlich in der qualitativen Sozialforschung angewandt wird, deren Anwendung aber auch fernab des Wissenschaftsbereiches einen Informationsgewinn bieten kann. Während in AARs der Blick auf eine gesamte Mission gerichtet ist, ist er im Rahmen der CIT fokussierter. Der Blick wird hier verengt auf ganz spezielle Vorkommnisse.

Die CIT ist eine Methodik, mittels derer situative Bedingungen kritischer Ereignisse - sowie das Verhalten der dabei agierenden Personen - aufgedeckt werden können. Wie Reuschenbach (2008, S. 144) schreibt, steht im Fokus des Interesses zumeist die Identifikation effektiven oder ineffektiven Bewältigungsverhaltens in kritischen Situationen. Es geht um die Herausarbeitung von Kompetenzanforderungen, die sich als zweckmäßig oder wenig zweckmäßig für die erfolgreiche Bearbeitung kritischer Ereignisse (CI) erwiesen haben. „Da es sich um herausfordernde Situationen handelt und die Verhaltensweisen der dabei agierenden Personen als herausragend wahrgenommen werden, ist die Methode […] geeignet, die Kennzeichen der Expertise in einem bestimmten Handlungsfeld zu verdeutlichen“ (ebd., S. 144-145). Die CIT geht auf den Psychologen John C. Flanagan (1906 - 1996) zurück, der während des zweiten Weltkrieges das »Aviation Psychology Program« des US Army Air Corps leitete. Basierend auf Interviewbefragungen, Beobachtungen, Protokollen und Zeugenaussagen analysierte Flanagan tatsächliche wie auch Beinahe-Unfälle im Flugtraining sowie bei realen Einsätzen. Daraus leitete er Erkenntnisse hinsichtlich der Frage ab, welche spezifischen Verhaltensweisen von Piloten, Copiloten und Fluglotsen zu negativen oder positiven Ausgängen der Unfälle bzw. Beinahe-Unfälle führten. Flanagan untersuchte das ihm vorliegende Datenmaterial, um Handlungsparameter und fallspezifische Bedingungen herauszuarbeiten, die sich im jeweiligen Kontext als nützlich oder fatal bei der Bearbeitung bzw. Verhinderung des Unfalls erwiesen (vgl. Chell 1998, S. 53-54 sowie Hettlage & Steinlin 2006, S. 4). Als kritisch bezeichnet Flanagan diese (Beinahe-)Unfälle insofern, als sie geeignet sind, als Kristallisationspunkte zu fungieren, anhand derer die Eignung einer Person, mit Unerwartetem umzugehen, sich exemplarisch darstellen lässt. Auch Serrat (2017, S. 1077) verweist darauf: „Evidently, some behaviors contribute to the success or failure of individuals - and organizations - in specific situations. And so, responses to the unforeseen lie in identifying before the fact events or circumstances, or series of them, that are outside the range of ordinary human experiences.“

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