Herstellung und Verlag

Books on Demand GmbH Norderstedt

ISBN 9783751939355

© 2020 Michael Weischede

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im

Internet über www.dnb.de abrufbar.

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Senecas Briefe an seinen Freund Lucilius gehören zu den wenigen Texten der lateinischen Literatur, die auch nach dem Zusammenbruch des Römischen Reiches nicht in Vergessenheit gerieten. Während die meisten Publikationen der Antike erst in der Renaissance „wiedergeboren“ wurden, fanden die Epistulae morales ad Lucilium bis in unsere Zeit hinein durchgängig eine interessierte Leserschaft. Aus diesem Grund herrscht auch heute kein Mangel an Übersetzungen der Briefe. Es erschien mir deshalb wenig sinnvoll, eine weitere hinzuzufügen, ohne einen gesonderten Schwerpunkt zu setzen. Ich habe mich deshalb ganz bewusst für ein möglichst text- und wortgetreues Vorgehen entschieden und mich dabei, soweit es ging, an die Wortvorschläge der gängigen Lexika gehalten (Georges, PONS, Stowasser, Langenscheidt usw.). Vor allem Schülern sollte es auf diese Weise leichter fallen, die Übersetzung aus dem Lateinischen nachzuvollziehen und bei Bedarf mit ihren eigenen Bemühungen zu vergleichen.

Der lateinische Textteil stammt aus verschiedenen Internetquellen, wobei das Augenmerk auf der Gemeinfreiheit lag. Er ist also nicht editiert, und ich habe mir zudem erlaubt, ihn hier und da an meine stilistischen Vorlieben anzupassen. Für ein ernsthaftes wissenschaftliches Arbeiten ist er dementsprechend nicht geeignet. Er soll nur aufzeigen, auf welcher Grundlage die Übersetzung erfolgte.

Soweit mir meine Motivation für dieses Projekt nicht abhanden kommt, werde ich nach und nach alle 20 Bücher mit den Briefen an Lucilius übersetzen und veröffentlichen. Bei meiner eher gemächlichen Arbeitsweise kann das allerdings einige Zeit dauern ...

Dortmund im März 2020

Liber I – Epistula I

Seneca Lucilio suo Salutem,

(1) Ita fac, mi Lucili: vindica te tibi, et tempus quod adhuc aut auferebatur aut subripiebatur aut excidebat collige et serva. Persuade tibi hoc sic esse ut scribo: quaedam tempora eripiuntur nobis, quaedam subducuntur, quaedam effluunt. Turpissima tamen est iactura quae per neglegentiam fit. Et si volueris attendere, magna pars vitae elabitur male agentibus, maxima nihil agentibus, tota vita aliud agentibus.

(2) Quem mihi dabis qui aliquod pretium tempori ponat, qui diem aestimet, qui intellegat se cotidie mori? In hoc enim fallimur, quod mortem prospicimus: magna pars eius iam praeterit; quidquid aetatis retro est mors tenet. Fac ergo, mi Lucili, quod facere te scribis, omnes horas complectere; sic fiet ut minus ex crastino pendeas, si hodierno manum inieceris. Dum differtur vita transcurrit.

(3) Omnia, Lucili, aliena sunt, tempus tantum nostrum est; in huius rei unius fugacis ac lubricae possessionem natura nos misit, ex qua expellit quicumque vult. Et tanta stultitia mortalium est ut quae minima et vilissima sunt, certe reparabilia, imputari sibi cum impetravere patiantur, nemo se iudicet quicquam debere qui tempus accepit, cum interim hoc unum est quod ne gratus quidem potest reddere.

(4) Interrogabis fortasse quid ego faciam qui tibi ista praecipio. Fatebor ingenue: quod apud luxuriosum sed diligentem evenit, ratio mihi constat impensae. Non possum dicere nihil perdere, sed quid perdam et quare et quemadmodum dicam; causas paupertatis meae reddam. Sed evenit mihi quod plerisque non suo vitio ad inopiam redactis: omnes ignoscunt, nemo succurrit.

(5) Quid ergo est? Non puto pauperem cui quantulumcumque superest sat est; tu tamen malo serves tua, et bono tempore incipies. Nam ut visum est maioribus nostris, 'sera parsimonia in fundo est'; non enim tantum minimum in imo sed pessimum remanet. Vale.

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Buch 1 – Brief 1

Seneca grüßt seinen Lucilius,

(1) Mache es so, mein Lucilius: schütze dich vor dir selbst und sammle und bewahre daher die Zeit, die bisher entweder in Anspruch genommen wurde, [oder] gestohlen wurde oder verloren ging. Überzeuge dich, dass es so ist, wie ich schreibe: einige Zeiten werden uns geraubt, einige heimlich weggenommen, einige entgleiten den Händen. Der schmählichste Verlust ist jedoch einer, der durch Nachlässigkeit entsteht. Und sofern du es beachten willst: ein großer Teil des Lebens entgleitet denjenigen, die schlecht handeln, ein sehr großer denjenigen, die nichts tun, das gesamte Leben denjenigen, die Nebensächliches betreiben.

(2) Wen wirst du mir benennen, der den ungefähren Preis der Zeit bestimmen kann, der den Tag würdigen kann, der verstehen kann, dass er täglich stirbt. In diesem nämlich werden wir getäuscht, dass wir den Tod in der Ferne erblicken: ein großer Teil von ihm verstreicht eben jetzt; der Tod umfasst alles, was an Lebenszeit zurückliegt. Mache es also, mein Lucilius, wie du schreibst, dass du es machst: alle Stunden zu pflegen. Auf diese Weise wird es geschehen, dass du weniger vom folgenden Tag abhängig bist, wenn du vom heutigen Besitz ergreifst. Während man es aufschiebt, eilt das Leben vorbei.

(3) Alles sind fremde Güter, Lucilius, nur die Zeit gehört uns. Die Natur hat uns in den Besitz dieser einen vergänglichen und flüchtigen Sache gebracht, aus der [uns] vertreibt, wer immer will. Und eine so große Dummheit besitzen die Sterblichen, dass sie es zulassen, dass ihnen angerechnet wird, was das Geringste und Wertloseste, jedenfalls das Ersetzbare ist, sooft sie es erlangt haben, dass niemand, der die Zeit in Empfang genommen hat, glaubt, das er irgendetwas schuldig ist, während dies doch das Einzige ist, was er gewiss nicht mit Dank zurückgeben kann.

(4) Du wirst dich vielleicht fragen, was ich selbst tue, der ich dich diese [Dinge] lehre. Ich werde es aufrichtig bekennen: [es ist das] was bei einem Ausschweifenden, aber Gewissenhaften sich einstellt – die Summe des Aufwands ist mir bekannt. Ich kann nicht behaupten, nichts [an Zeit] zu verschwenden, aber ich kann benennen, sowohl warum, als auch auf welche Weise ich etwas verschwende; über die Gründe meiner Armut kann ich Rechenschaft ablegen. Aber mir wird das von sehr vielen zuteil, die nicht durch ihre Schuld in Not gebracht wurden: alle verzeihen, aber niemand eilt zur Hilfe.

(5) Wie ist es also? Ich halte den, der hinreichend besitzt, nicht für arm, wie wenig auch immer noch vorhanden ist; du jedoch, ich wünsche es dir, bewahrst hoffentlich die Deine, und tatsächlich wirst du zu einem günstigen Zeitpunkt beginnen. Denn wie unsere Vorfahren wussten: „Am Boden [des Fasses] kommt die Sparsamkeit zu spät“; auf dem Grund verbleibt nämlich nicht nur sehr wenig, sondern auch das Schlechteste. Lebe wohl.

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Liber I – Epistula II

Seneca Lucilio suo Salutem

(1) Ex iis quae mihi scribis et ex iis quae audio bonam spem de te concipio: non discurris nec locorum mutationibus inquietaris. Aegri animi ista iactatio est: primum argumentum compositae mentis existimo posse consistere et secum morari.

(2) Illud autem vide, ne ista lectio auctorum multorum et omnis generis voluminum habeat aliquid vagum et instabile. Certis ingeniis immorari et innutriri oportet, si velis aliquid trahere quod in animo fideliter sedeat. Nusquam est qui ubique est. Vitam in peregrinatione exigentibus hoc evenit, ut multa hospitia habeant, nullas amicitias; idem accidat necesse est iis qui nullius se ingenio familiariter applicant sed omnia cursim et properantes transmittunt.

(3) Non prodest cibus nec corpori accedit qui statim sumptus emittitur; nihil aeque sanitatem impedit quam remediorum crebra mutatio; non venit vulnus ad cicatricem in quo medicamenta temptantur; non convalescit planta quae saepe transfertur; nihil tam utile est ut in transitu prosit. Distringit librorum multitudo; itaque cum legere non possis quantum habueris, satis est habere quantum legas.

(4) 'Sed modo', inquis, 'hunc librum evolvere volo, modo illum.' Fastidientis stomachi est multa degustare; quae ubi varia sunt et diversa, inquinant non alunt. Probatos itaque semper lege, et si quando ad alios deverti libuerit, ad priores redi. Aliquid cotidie ad versus paupertatem, aliquid adversus mortem auxili compara, nec minus adversus ceteras pestes; et cum multa percurreris, unum excerpe quod illo die concoquas.

(5) Hoc ipse quoque facio; ex pluribus quae legi aliquid apprehendo. Hodiernum hoc est quod apud Epicurum nanctus sum – soleo enim et in aliena castra transire, non tamquam transfuga, sed tamquam explorator: 'Honesta', inquit, 'res est laeta paupertas'.

(6) Illa vero non est paupertas, si laeta est; non qui parum habet, sed qui plus cupit, pauper est. Quid enim refert quantum illi in arca, quantum in horreis iaceat, quantum pascat aut feneret, si alieno imminet, si non acquisita sed acquirenda computat? Quis sit divitiarum modus quaeris? Primus habere quod necesse est, proximus quod sat est. Vale.

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Buch 1 – Brief 2

Seneca grüßt seinen Lucilius,

(1) Aus den [Dingen], die du mir schreibst, und aus denen, die ich höre, erkenne ich gute Hoffnung für dich: du schwenkst nicht ab und du wirst auch nicht durch Ortsveränderungen beunruhigt. Ein solcher unsteter Aufenthalt ist typisch für ein krankes Gemüt: ich glaube, der bedeutendste Beweis für einen geordneten Verstand ist es, Halt zu machen und bei sich verweilen zu können.

(2) Beachte aber Folgendes, damit diese Lektüre vieler Autoren oder aller Gattungen von Büchern nicht etwas Unstetes und Unbeständiges aufweist. Es ist notwendig, bei den wahren Talenten zu verweilen und an ihnen zu wachsen, falls du dir etwas aneignen willst, das sicher im Bewusstsein verweilen soll. Nirgends ist, wer überall ist. Dadurch, dass sie das Leben auf Reisen verbringen, geschieht ein solches, dass sie viele Gastfreundschaften, aber wenige Freunde besitzen; dasselbe passiert notwendigerweise denjenigen, die sich niemandes Geiste freundschaftlich annähern, sondern alles hastig und in Eile übergehen.