Ahmad von Denffer, in der muslimischen Szene Deutschlands wie auch international bekannt geworden als Autor und Übersetzer zahlreicher Schriften zum Thema Islam, berichtet im vorliegenden Buch von einer in der Öffentlichkeit kaum beachteten Seite islamischer Arbeit, in deren Mittelpunkt die Freude des Helfens steht.
Es beginnt mit einer Tomate und einem Becher Wasser, und es endet mit dem Versuch, den „Geist“ einer humanitären Hilfsorganisation zu fassen, dazwischen ein Kaleidoskop von Episoden, die von Begegnungen mit besonderen Menschen erzählen und von Gedanken, die sie ausgelöst haben, Erlebtes und Erinnertes.
Zugleich ergeben sich daraus Einblicke in die Arbeitsweise und die Geschichte der humanitären Organisation „Muslime helfen“, die als Gemeinschaftswerk deutschsprachiger Muslime seit mehr als drei Jahrzehnten weltweit im Einsatz ist, um Bedürftigen beizustehen.
war nach dem Studium von Islam- und Völkerkunde Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Islamic Foundation in Leicester und Herausgeber des Nachrichtendienstes „Focus on Christian-Muslim Relations“, später Deutschsprachiger Referent des Islamischen Zentrums München und Herausgeber der Zeitschrift „Al-Islam“, auch Projektleiter sowie langjähriger Vorsitzender von „Muslime helfen“.
All denen,
die geholfen haben und helfen
zu helfen.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.
© 2020 Ahmad von Denffer
Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt
ISBN: 9783751965163
Als Muslim helfen – oft sind wir, wenn wir Wörter verwenden, uns der Tiefe ihrer Bedeutung nicht bewußt. Zum besseren Verständnis betrachte ich Wörter gern etwas näher.
„Als Muslim“ bedeutet hier, mit Gottesbezug die Motivation für das helfende Tun und die Praxis davon aus dem Islam zu beziehen, dessen Grundbedeutung ich an anderer Stelle gefasst habe als „friedenmachende Ergebung“ in Gott und schlicht als „Friedenmachen.“ (Näheres in: Zu Islam, Frieden und Friedenmachen, München 2007)
Und was meint das deutsche Wort „helfen“? Dem Grimmschen Wörterbuch zufolge „hebt helfen einen bewusten, thätigen beistand, eine unterstûtzung hervor.“
„Beistand“ und „beistehen“ kommen von „bei stehen“, was nichts weiter bedeutet als: Bei jemandem stehen, an jemandes Seite stehen, d.h. neben ihm stehen, an der Stelle, an dem Ort stehen, jedenfalls – in aller Konsequenz – dort sein, wo der Andere ist: „bei bedeutet nähe und anwesenheit…“ (Grimm)
Wer sich an die Stelle des Anderen versetzt, kann dessen Not erkennen, daraus erfahren, was zur Abhilfe notwendig ist und das Erforderliche tun – helfen, Beistand leisten, unterstützen, d.h. das Einstürzen verhindern, dem Zusammenbruch, der Katastrophe, dem Schaden begegnen: „etwas stehendes durch stütze vor dem sinken bewahren.“ (Grimm)
Davon handelt dieses Buch. Es beginnt mit einer Tomate und einem Becher Wasser, und es endet mit dem Versuch, den „Geist“ einer humanitären Hilfsorganisation zu fassen, dazwischen ein Kaleidoskop von Episoden, die von Begegnungen mit besonderen Menschen erzählen und von Gedanken, die sie ausgelöst haben, Erlebtes und Erinnertes.
Zugleich ergeben sich daraus Einblicke in die Arbeitsweise und die Geschichte der humanitären Organisation „Muslime helfen“, die als Gemeinschaftswerk deutschsprachiger Muslime seit mehr als drei Jahrzehnten weltweit im Einsatz ist, um Bedürftigen beizustehen.
Dazu wird von verschiedenen Hilfsprojekten berichtet. Diese sind ja das praktizierte sich an die Stelle Anderer versetzen: Sich im eigentlichen Sinn an die Orte Anderer begeben, an deren Seite, bei ihnen zu stehen, dort, bei ihnen zu sein im Bemühen, ihre Nöte bewußt zu erkennen und tätig Abhilfe und Erleichterung zu schaffen.
Mangelnde Vollständigkeit der Projekte war dabei unvermeidlich. Zahlreiche wertvolle Aktivitäten kommen nicht zur Sprache, wie etwa ein schon zehn Jahre erfolgreiches zinsloses Mikrokreditprogramm in Kambodscha, in Haiti nach dem schweren Erdbeben 2010 bis heute fortgeführte Hilfsmaßnahmen, ein Berufsvorbereitungszentrum in Ruanda, ein weiteres in Indien u.a.m.
Mit der Erinnerung wollte ich nie leichtfertig umgehen, denn ich weiß, daß die Erinnerung das Erlebte nicht adäquat darstellen, nicht einmal fassen kann. Auch mitteilen läßt sich die Gesamtheit von Erlebtem nicht, zudem nur das, was mitgeteilt wird, überhaupt Aussicht hat, in Erinnerung zu bleiben. Wenigstens aber darf ich sagen: Das meiste hier Berichtete wurde sehr bald nach dem Erlebten niedergeschrieben. Dennoch kann es nur fragmentarisch sein.
Ebenso erlauben die Texte keine Bilanz, denn dazu wäre mehr mitzuteilen. Doch hier soll kein Platz sein für Berichte über Schwierigkeiten, die es gab, über Steineleger und die Steine, die in den Weg gelegt wurden. Stattdessen möchte ich aufzeigen, wie der Versuch, als Muslim zu helfen, sich im Laufe der Zeit entwickelte und von statten ging. Zugleich läßt sich daran ablesen, was Muslime in Deutschland als gemeinschaftliches Werk über Jahrzehnte bewirkt haben, al-hamdu li-llah. So sieht man, daß nicht nur Tausenden von hilfsbedürftigen Menschen beigestanden werden konnte, sondern auch, daß es Tausende von hilfsbereiten Menschen waren, die geholfen haben. Dafür, daß ich dabei sein durfte, bin ich ebenso dankbar wie dafür, daß daraus Texte folgten, die hoffentlich zeigen, was Freude macht und Dankbarkeit hervorruft: Hilfsbedürftigen helfen zu können und zu helfen.
Die meisten dieser Texte wurden schon einmal anderweitig veröffentlicht, jedoch jeweils zeitnah, so daß es Jahre, teils Jahrzehnte zurück liegt. Daran, sie gesammelt erscheinen zu lassen, war schon länger gedacht. Doch hat es sich so gefügt, daß die Vorbereitungen zum Druck nun im bislang ungewöhnlichsten Fastenmonat Ramadan abgeschlossen wurden. Die derzeitige Virus-Pandemie wirft Fragen auf, die noch nicht zu beantworten sind. Indes ist schon jetzt deutlich erkennbar: Die Hilfsbedürftigkeit insgesamt nimmt merklich zu.
Dieses Buch hat seinen Zweck erfüllt, wenn es einen Eindruck von der Freude vermitteln kann, die das Helfen mit sich bringt, und so zum Helfen motiviert.
Die Freude desjenigen über die Hilfe, der sie bekommt, wird zur Freude desjenigen, der die Hilfe gibt. Helft mit!
Möge Allah uns alle vor Schaden bewahren.
Ahmad v. Denffer
Langsam vergißt du die drückende Hitze des Balkans. Es bleibt das monotone Rattern der Räder, das leise Stampfen, wenn der Zug ein anderes Gleis schneidet, das Quietschen und Zischen, wenn er hält. Du öffnest die Wagentür und setzt dich auf das Trittbrett, atmest. Du riechst trocknenden Tabak und Paprikafelder. Das melodische Zirpen deines Saiteninstrumentes weckt Gedanken an vergangene Gesänge. Jemand bittet dich um dein Messer, gibt dir eine Scheibe Melone. In hohem Bogen spuckst du ihre Kerne, Saft tropft durch deine Mundwinkel. Über deinem Kopf spuckt ein anderer Olivenkerne. Dem Zollbeamten, der dir verbietet, auf dem Trittbrett zu sitzen, bietest du eine Zigarette an. Gurgelndes Geräusch verkündet, daß andere die Wasserflaschen füllen. Du bist zu müde, deine Flasche zu füllen, obwohl du weißt, daß du Durst haben wirst.
Der Zollbeamte bringt dir eine Tomate, einen Becher Wasser. Du trinkst das Wasser. Die Tomate schenkst du einer Mutter, die auf dem Koffer hinter dir sitzt und ihr Kind stillt. Der Zollbeamte geht weiter und verbietet anderen auf dem Trittbrett zu sitzen. Wenn die Mutter die Tomate gegessen hat, gehst du und holst auch ihr einen Becher Wasser. Danach tauchst du deine Hände in den Strahl der Pumpe und trinkst, trinkst, trinkst. Du füllst auch deine Flasche, dann setzt du dich wieder auf das Trittbrett. Das Kind schreit, aber wenn du dich umdrehst, wird es nicht aufhören. Außerdem bist du zu müde, dich umzudrehen. Du rauchst. Eine Ziege klettert mühsam über die Schienen. Du erinnerst dich an den Geschmack von Ziegenkäse und Fladenbrot. Den Kopf an den Speichen des Bremsrades spürst du das Rattern des Zuges, der durch die Dämmerung kriecht. Mit geschlossenen Augen siehst du noch einmal den Tag.
Wir hatten das Taurus-Gebirge und die „Kilikische Pforte“ hinter uns gelassen. Es war Abend geworden. Unser letzter Fahrer hatte uns abgesetzt, fern von jeder Stadt, am Straßenrand, mitten in der Ebene vor Konya. Die Sonne ging unter, und wir wollten mit unserem Gepäck auf dem Rücken noch ein Stück die Straße entlanglaufen, ohne daß wir, wie so oft, eine konkrete Vorstellung davon hatten, wo und wie wir die Nacht verbringen würden. Einige Männer, denen wir begegneten, begrüßten uns und fragten nach dem Woher und Wohin. Einer von ihnen, ein jüngerer, in traditioneller türkischer Hose, gab uns zu verstehen, daß wir ihm folgen sollten, weil er uns einen Platz zum Schlafen verschaffen könne. Wir gingen also mit, liefen ein Stück von der Straße weg ins offene Gelände und kamen schließlich an einem Ort an, wo sich, wie zu hören war, mehrere Menschen aufhielten, die wir aber nicht erkennen konnten, weil es inzwischen dunkel geworden war. Schemenhaft sah man ein paar kleine Hütten. Eine davon betrat der junge Mann, sprach etwas, kam dann nach einer Weile wieder heraus, wies uns zu einem Platz und brachte dann für jeden von uns eine dicke Matratze, die er auf eine Matte über dem Boden legte, dazu eine dicke Steppdecke und ein Kissen. Als alles fertig war, wünschte der junge Mann uns eine gute Nacht und überließ uns unserem Schicksal.
Ich habe an der frischen Luft vorzüglich geschlafen. Dann weckte mich frühmorgens ein ganz nahebei laut krähender Hahn, und bald zeigte sich am Himmel der erste Schimmer des rötlichen Sonnenlichtes. Ich schlief noch weiter, nahm wahr, daß die Menschen aufstanden und erkannte schließlich im hellen Sonnenschein die nähere Umgebung. Der junge Mann von gestern Abend begrüßte uns, reichte uns zur Morgenwäsche eine kleine Schüssel mit Wasser und lud uns dann zum Frühstück ein. Jetzt erst erkannten wir, daß wir die Gäste einer Bauernfamilie geworden waren, die in sehr ärmlichen Verhältnissen lebte. Zwei mannshohe lehmverkleidete kleine Hütten, ein aus dürrem Holz zusammengestellter Pferch für das Kleinvieh, ein paar Hühner, das war wohl alles, was sie besaßen. So hauste der junge Mann mit seiner Familie, die aus zahlreichen Personen bestand, darunter auch mehrere Kinder, die er uns nun vorstellte. Zum Frühstück gab es Fladenbrot, Yoghurt, Gurken und Tomaten. Wir hatten Tee dabei und ein Paket Würfelzucker, stellten beides zur Verfügung, was dankbar angenommen wurde. Nun wurde auch Wasser gekocht und Tee zubereitet, denn der Bauer selbst hatte offenbar keinen Tee.
Nach dem Frühstück bedankten wir uns, übergaben den restlichen Tee und Zucker als Geschenk, packten unsere Sachen zusammen und wollten aufbrechen. Die Kinder wurden gerufen, um uns zu verabschieden, und der Bauer nahm seinen jüngsten Sohn auf, der vielleicht zwei Jahre alt war. Dann gab er mir zu verstehen, daß dieser sein jüngster Sohn für mich bestimmt sei. Ich solle ihn mit nach Deutschland nehmen. Was zuerst wie ein Scherz zum Abschied aussah, erwies sich indes als eine sehr ernste Angelegenheit. Denn als ich dankend ablehnte, wiederholte der Bauer seinen Wunsch und begründete seinen Entschluß, mir seinen jüngsten Sohn zu schenken, mit der Erklärung, daß er schon viele Kinder habe, sehr arm sei und sein jüngster Sohn es doch in Deutschland viel besser haben würde als hier bei ihm. Ich war betroffen. Die Armut und die Not dieser Menschen war so groß, daß mir, einem völlig Fremden, ein Vater eines seiner Kinder auf Gedeih und Verderb und Nimmerwiedersehen anzuvertrauen bereit war, in der Hoffnung, daß er so seinem Sohn eine bessere Zukunft ermöglichen könnte.
Natürlich mußte ich ablehnen. Ich war ein gerade siebzehnjähriger Schüler auf einer Ferienreise. Den Jungen mitzunehmen war unmöglich, aber leidgetan hat es mir schon. Auch später habe ich noch oft daran gedacht, wozu die Not einen Menschen bringen kann und gelegentlich davon erzählt, wie mir ein türkischer Bauer seinen Sohn schenken wollte, mit einem Lachen dabei, um die Verlegenheit zu verbergen, daß ich um Hilfe gebeten wurde und nicht geholfen habe.
Es war vor vielen Jahren in Kairo, in der Nähe des Maidan al-Obra, dem Opernplatz. Die Mittagshitze hatte schon nachgelassen, und der Park füllte sich wieder mit Menschen. Händler bauten ihre kleinen Stände an den Wegen auf, manche legten ihre Waren einfach nur vor sich auf den Boden. Ich interessierte mich für Bücher. Dann plötzlich standen mir zwei Menschen gegenüber, ärmlich aber sauber gekleidet, ein alter Mann, auffallend groß, hager, der sich mit der einen Hand auf die Schulter eines kleinen Mädchens stützte, mir mit der anderen Hand etwas entgegenstreckte und mich ansprach: „Streichhölzer! Kaufen Sie doch bitte diese Schachtel Streichhölzer!“
Ich brauchte keine Streichhölzer. Zu rauchen hatte ich aufgehört. Streichhölzer hatte ich nicht nötig, für mich waren sie überflüssig. „Danke, danke“ sagte ich also zu dem alten Mann mit dem kleinen Mädchen, „ich brauche keine Streichhölzer!“ – „Kaufen Sie doch bitte diese Schachtel Streichhölzer! Kaufen Sie doch bitte diese Schachtel Streichhölzer!“ sagte er nochmals, und ich entgegnete wiederum: „Danke sehr, aber ich brauche keine Streichhölzer!“ Dann ging ich weiter.
Doch die Geschichte mit den Streichhölzern war damit nicht zu Ende. Ein paar Fragen begannen, mir durch den Kopf zu gehen. Warum hatte der alte Mann gerade mir die Schachtel Streichhölzer verkaufen wollen? Nun, unsere Wege hatten sich eben gekreuzt. Und warum habe ich die Streichhölzer nicht gekauft? Weil ich sie nicht brauchte. Ich hatte mit dem Rauchen aufgehört und somit Streichhölzer schon gar nicht nötig.
Und der alte Mann mit dem kleinen Mädchen, warum wollte er die Streichhölzer verkaufen? Offensichtlich hatte er es nötig, er war arm. Warum sonst würde sich ein alter Mann mit seinem Enkelkind an den Weg stellen und versuchen, Streichhölzer zu verkaufen? Und warum habe ich dann die Streichhölzer nicht gekauft? Zehn Schachteln hätte ich nehmen können, so gering war doch der Preis, und hätte sie dann verschenken oder sonst etwas damit anfangen können! Nun bemühte ich mich, in dem Gedränge den alten Mann mit dem Mädchen wieder zu finden, aber ich habe sie nicht mehr angetroffen.
Mir waren zwei Menschen aus dem Koran begegnet. Hat der Koran nicht von den „Bedürftigen“ gesagt „der Unwissende hält sie für Reiche wegen ihrer Zurückhaltung, du erkennst sie an ihrem Kennmal: Sie bitten die Menschen nicht zudringlich…“? Ich habe sie nicht erkannt.
Mir waren zwei Menschen aus der Sunnah des Propheten Muhammad (s) begegnet. Hat Allahs Gesandter (s) nicht gesagt: „Daß einer von euch seinen Strick nimmt und ein Bündel Brennholz auf seinem Rücken bringt und es verkauft, ist besser für ihn als daß er die Menschen anbettelt, die ihm etwas geben oder es verweigern…“? Ich habe sie nicht wahrgenommen.
Der alte Mann mit seinem Enkelkind war arm, aber er hatte nicht gebettelt. Nein, er hatte sich auf den Weg gemacht, um Streichhölzer zu verkaufen. Nur ich, ich hatte sie nicht nötig gehabt. Ich hatte aufgehört zu rauchen, ich brauchte keine Streichhölzer, ich, ich, ich…
Als ob es dabei um mich gegangen wäre und darum, ob ich Streichhölzer nötig hatte. Nein, darum ging es offensichtlich gar nicht, sondern darum, ob ich entgegen dem, was ich nötig hatte, die Streichhölzer kaufen würde, weil sie, die Armen, das nötig hatten. Als mir das klar wurde, habe ich nach den beiden gesucht. Doch da war es nicht mehr möglich, das Versäumte nachzuholen. Es ging nur um eine Schachtel Streichhölzer, aber es bleibt eine schmerzliche Erfahrung. Immerhin hat sie mir geholfen, bei der Begegnung mit Menschen manchmal etwas genauer hinzusehen, etwas genauer zuzuhören, etwas mehr nachzudenken...
Ich bin Abu Sulaiman. In diesem Programm sieht man mich nicht, aber ich bin nicht wichtig. Was jedoch seltsam ist – von der Person, um die es geht, wird man in diesem Programm auch nicht viel sehen. Das ist wichtig und auch traurig.
Gut, beginnen wir am Anfang. Neulich besuchte ich Tunesien. Es geht so schnell. Man steigt in das Flugzeug. Und nach drei Stunden ist man da.
Tunesien ist wunderschön. Es gibt dort viele alte Städte, prächtige Strände, Berge, Wüsten und eine Fülle interessanter geschichtlicher Orte.
Die Leute in Tunesien sind Muslime. Der Islam war schon im 8. Jahrhundert hierher gekommen, und der Islam hat eine Zivilisation mit reicher Kultur und Tradition hervorgebracht.
Die Stadt Tunis wird “Die weiße Stadt” genannt. Ich war schon vorher hier gewesen und hatte Freunde. Wir saßen zusammen und unterhielten uns, tranken Tee mit Minze oder schwarzen Kaffee. Einer meiner Freunde heißt Nadschib.
Nadschib wohnt in einem Vorort von Tunis. Also nahm ich ein Taxi. Wir durchquerten die Altstadt und kamen schließlich zu seinem Haus. Doch an der Tür wurde mir gesagt: Nadschib ist nicht hier. Ja, das ist sein Haus, aber er kann hier nicht mehr leben. Wenn Du ihn treffen willst, mußt Du ein Stück Weg zurücklegen. Ich erklärte mich bereit.
Wir verließen die Stadt und fuhren durch wunderschönes Land. Nach einer Weile kamen wir in eine mehr bergige Gegend. Oben auf einem Berg, nahe des Meeres, sahen wir ein paar Gebäude. Wir kamen näher. „Dort kannst Du vielleicht Nadschib treffen“, wurde mir gesagt. „Du kannst versuchen, ihn zu treffen. Gehen wir zum Tor, und versuchen wir, ihn zu sehen.“ Wir gingen.
Ich hielt Ausschau nach Nadschib, am Eingangstor. Wartete er nicht dort auf mich? Nein. Ich konnte Nadschib nicht treffen. Ich konnte das Gebäude nicht betreten. Ich mußte bleiben, wo ich war, draußen, und Nadschib durfte nicht herauskommen, um mich zu sehen. Er mußte bleiben, wo er war, drinnen. Er ist im Gefängnis, hinter Gittern und Stacheldraht.
Das ist Nadschib. Ich sagte schon, man wird nicht viel von ihm in diesem Programm sehen. Er ist im Gefängnis. Hören wir seine Geschichte. Was geschah mit Nadschib?
Tunesiens Geschichte war nicht nur islamisch. Tunesien war auch französische Kolonie, und die Freunde Frankreichs regieren das Land noch heute. Sie halten den Islam für altmodisch, zu ersetzen durch die Zivilisation Frankreichs und des Westens. Sie werfen den Islam auf den Müllhaufen, den Islam, die Quelle von Tunesiens Kultur und Erbe, die Quelle von Tunesiens Zivilisation.
Sie mischen ihren Zement und Beton in den Teichen, aus denen die muslimische Zivilisation sich speist. Sie zerstören die Umwelt der Muslime Tunesiens. Junge Leute in Tunesien, wie sonst auf der Welt, schauten sich ihre Gesellschaft an. Sie schauten sich Tunesiens Menschen an und fingen an, zu fragen.
Warum, fragten sie, sollen so viele in Schmutz und Entbehrung leben, wo doch unsere Kultur und Zivilisation Sauberkeit und Gerechtigkeit lehren?
Warum sollen manche Paläste und Villen am Strand errichten, in denen niemand lebt außer ein oder zwei Wochen im Jahr?
Warum soll die Religion, warum soll der Islam eine Sache der Alten sein?
Was ist die Zukunft der jungen Generation Tunesiens?
Was ist die Ursache dieser Probleme? Und was ist die Lösung?
Sie trafen sich in Moscheen und redeten und diskutierten. Sie hörten Vorträge und suchten nach Antworten. Sie begannen, die Bedeutung und die Botschaft des Korans zu verstehen.
Bourghiba, Tunesiens Staatsoberhaupt, nennt sich selbst „Der große Kämpfer“. Er regierte das Land seit der Unabhängigkeit, und er regiert es bis heute. Letztes Jahr waren Wahlen in Tunesien, und Bourghiba fürchtete, der Ruf von den Moscheen an das Volk würde seine Partei in den Schatten stellen, denn die jungen Muslime hatten sich vorbereitet, an den Wahlen teilzunehmen.
Also stellte er sicher, daß sie aus dem Weg geräumt waren, bevor die Wahlen kamen, hinter Gittern und Stacheldraht, 84 von ihnen, und Nadschib gehört dazu.
Nadschib ist 28 Jahre alt. Sie gaben ihm 11 Jahre Gefängnis. Sie sagten: Vier Jahre wegen Beleidigung des Staatsoberhauptes, und vier Jahre wegen Mitgliedschaft in einer nicht angemeldeten Vereinigung, und drei Jahre wegen Verbreitens falscher Nachrichten. Das wahre Verbrechen: Zum Islam einladen!
Nadschib hat eine Frau und zwei Kinder. Das ist Usama, sein Sohn. Er ist vier Jahre alt. Seit September letzten Jahres ist er ohne seinen Vater. Er wird 15 sein, wenn sein Vater frei ist. Und das ist Asma, die Tochter von Nadschib. Jetzt ist sie zwei, und sie wird 13 Jahre alt sein, wenn ihr Vater frei ist.
Das Licht des Islam in Tunesien leuchten zu lassen, mag die Aufgabe von Nadschib und seinen Freunden sein. Aber haben nicht auch wir eine Verantwortung ihnen gegenüber? Ich denke, unsere Aufgabe ist es, zu helfen, denen zu helfen, die hilfsbedürftig sind, den vielen Kindern der Gefangenen. Wirst Du nicht helfen, ein Jahr lang ein Kind in Tunesien zu unterstützen, ein Kind wie Asma oder Usama, die Kinder von Nadschib?
Im Jahr 1984 wurde ich eingeladen, an der Gründungsversammlung für die „International Islamic Charitable Foundation – al-hay’a al-khariyya al-islamiyya al-’alamiyya“ teilzunehmen.
Über die Nützlichkeit meiner Teilnahme war ich mir im Zweifel, ließ mich dann aber doch dazu bringen. Al-hamdu li-llah ergab sich etwas für mich sehr Erfreuliches. Bei der Eröffnung der Tagung wurde auf die Gründe eingegangen, die es notwendig machen, daß sich die Muslime zusammentun, um eine Stiftung zu gründen, die sich vor allem der Nöte der Muslime und der Menschen überhaupt annehmen will und die auf dem sozialen Gebiet tätig werden soll. Dabei kamen zwei Nachrichten zur Sprache, die vor sechs Jahren zum ersten Mal in die muslimische Presse und so in das muslimische Bewußtsein gelangten, weil sie in „Focus on Christian-Muslim Relations“ veröffentlicht worden waren: Daß eine christliche Organisation einen Betrag von 1000 Millionen Dollar für Missionsarbeit aufzubringen plant, und daß die sogenannte Colorado Springs Conference sich zum Ziel gesetzt hat, die Muslime zu christianisieren, d.h. von ihrem Glauben abzubringen. Für die „Internationale Islamische Wohltätigkeitsstiftung“, die nun hier in Kuwait gegründet wurde, hat man ein Budget von 1.000.000.000 Dollar angesetzt, das auf verschiedenen Wegen bereitgestellt werden soll. Möge Allah die Sache Wirklichkeit werden lassen.
Über den Entschluß, in muslimischen Kreisen so etwas trotz all der zu erwartenden Schwierigkeiten anzupacken, habe ich mich sehr gefreut. Ich befinde mich gerade in der Zeit der Ablösung von der Islamic Foundation, wo ich die letzten sechs Jahre verbracht habe, und nun geht diese Zeit, in der ich offen gestanden auch manchmal unsicher war, ob meine Arbeit im Projekt „Studies in Christian-Muslim Relations“ wesentlich ist für die islamische Sache, nun geht diese Zeit damit zu Ende, daß ich als Gründungsmitglied teilnehmen kann bei der Errichtung einer islamischen Wohlfahrtsgesellschaft, die sicher nicht allein, aber bestimmt auch deshalb begründet wird, weil die Nachrichten über solche christliche Aktivitäten mittlerweile von Muslimen wirklich wahrgenommen werden. Hieran hat die Islamic Foundation durch ihr Projekt, und habe ich als Leiter dieses Projekts und langjähriger Herausgeber des Nachrichtendienstes „Focus on Christian-Muslim Relations“ durch Gottes Gnade merklichen Anteil gehabt. Diese Arbeit war also doch nicht umsonst, sondern zeigt nun, nach sechs Jahren, auch ganz unerwartete Früchte. Gebe Allah, daß die IICF ihre Aufgaben erfüllen kann, und gebe Allah, daß ich durch meine kommende Tätigkeit in Deutschland der islamischen Sache von noch größerem Nutzen sein kann.
Angefangen hat die Sache mit Ahmed Sarhatlic. Darüber berichtete die Zeitschrift Al-Islam 1982 (Nr. 6/82) wie folgt:
„Hilfe für Muslime in Polen.
Jeder hat wohl in den vergangenen Monaten mit Sorge vernommen, was sich in Polen abgespielt hat. Vielfältig waren auch die Hilfsaktionen, die insbesondere aus kirchlichen Kreisen eingeleitet wurden, um der Bevölkerung zu helfen. Daß es aber in Polen auch etwa dreitausend Muslime gibt, das wissen nur die wenigsten. Diese Muslime aber sind in einer besonders schwierigen Lage. Wer wollte es ihnen verdenken, daß sie nicht gerne zu den kirchlichen Stellen in ihrer Heimat gehen möchten, um ein wenig von den besonders knappen Lebensnotwendigkeiten wie Seife, Waschpulver, Babynahrung und Kakao zu erhalten?
Unser Bruder Haji Ahmed Sarhatlic in München 45, Rockefellerstraße 69, hat Kontakt zu den polnischen Muslimen aufgenommen, von ihnen in Erfahrung gebracht, was sie besonders notwendig brauchen und dann in einer großartigen Hilfsaktion Geld gesammelt, dabei auch tief in die eigene magere Rentnergeldbörse gegriffen und 43 Pakete an die fünf muslimischen Gemeinden in Bialystok, Sokolka, Gdansk, Gorzow Wielkopolski und Warschau auf den Weg gebracht. Und das mit Gottes Hilfe noch dazu gerade im Dezember, wo wie durch ein Wunder die Deutsche Bundespost sämtliche Polenpakete portofrei entgegengenommen hat ...”
Es scheint, daß 43 Pakete für Ahmed Sarhatlic nicht genug waren. Er sammelte weiter, vor allem Kleidungsstücke für die Muslime in Polen, und im Sommer 1984 waren es wiederum ca. 400 kg, die verschickt werden sollten. Aber inzwischen hatte sich die Situation verändert, und die Post war nicht mehr bereit, Hilfssendungen nach Polen portofrei zu befördern. Die große Menge als Pakete mit der Spedition zu schicken, würde nicht ganz billig sein. Also beriet sich Ahmed Sarhatlic mit einigen seiner muslimischen Brüder, und man kam zu dem Schluß, es sei sicher am sinnvollsten, die Hilfssendung selbst nach Polen zu bringen. Auf diese Weise könne man Kosten sparen und außerdem auch die Muslime in Polen direkt kennen lernen und besser feststellen, wie ihnen in Zukunft geholfen werden kann. Das Islamische Zentrum München stellte einen VW-Kleinbus zur Verfügung, und ich entschloß mich, zu fahren. Bei der Visumbeschaffung für Polen gab es einige Verzögerungen, aber dann wurde die ganze Reise von der polnischen Botschaft doch genehmigt und der Fahrer, wohl weil es sich um eine Hilfssendung handelte, sogar von der Umtauschpflicht befreit. Also beluden wir den VW-Kleinbus mit sechs großen Kisten voller Kleidungsstücke, zum Teil auch Seife, Zahnbürsten und ähnlichen Dingen, und an einem Sonntag im September, nach dem Morgengebet, fuhr ich los.
Die Monotonie der langen Fahrt bei regnerischem Wetter wurde nur unterbrochen durch die Kontrollen bei der Ein- und Ausreise in die DDR und aus der DDR nach Polen. Bei der Einreise in die DDR mußte ich mehrere Kisten ausladen und zum Durchleuchten in einen dafür vorgesehenen Raum transportieren. Andere Kisten wurden geöffnet und inspiziert. Aber insgesamt war die Kontrolle freundlich. Einer der Beamten erkundigte sich sogar nach dem Islam. Zuerst fragte er nach dem Islamischen Zentrum, das auf dem VW-Bus abgebildet war. Meine Einladung, uns einmal zu besuchen, um noch mehr zu erfahren, rief ein Lächeln bei ihm hervor. Dann wollte er wissen, was die „Islamiten” denn glauben. Ich erklärte es knapp und hoffe, daß es Stoff zum Nachdenken wird. Selber lachen mußte ich, als es darum ging, die Zollpapiere auszufüllen. Ich fragte, was ich in die Rubrik „Herkunftsland der Ware” zu schreiben hätte: Deutschland oder BRD? Daraufhin wurde ich belehrt, daß es Deutschland nicht gibt, nur eben die DDR und die BRD, und folglich sollte ich besser BRD hinschreiben!
Die Reise führte dann auf der Transitstrecke vorbei an Leipzig und Berlin nach Frankfurt an der Oder. Dort reiste ich aus der DDR aus und am Grenzübergang Swiecko nach Polen ein. Mittlerweile war es Spätnachmittag geworden. Die Abfertigung an der polnischen Grenze war langwieriger, aber ebenfalls im Grunde genommen freundlich. Die Kisten wurden sorgfältig inspiziert, die Ladeliste kontrolliert, dann waren noch Benzingutscheine zu kaufen, ohne die es in Polen schwierig sein würde, Benzin zu bekommen. Schließlich mußte ich noch unterschreiben, daß die Kontrollen des polnischen Zolls keinen Anlaß zu Beschwerden gegeben haben und dann durfte ich passieren.
An diesem Tag fuhr ich nicht mehr weit. Immerhin hatte ich ca. 800 km zurückgelegt. Also suchte ich einen Platz zum Übernachten und fand schließlich in der Nähe einen zwar schon geschlossenen Campingplatz (die Saison war gerade vorbei), dessen Tor aber offen stand. Ich zögerte nicht lange. Ein kleines Zelt hatte ich für alle Fälle mitgenommen. Dort also verbrachte ich die erste Nacht. Sie war stürmisch und regnerisch, aber ich habe sie überlebt, al-hamdu li-llah.
Am nächsten Morgen fuhr ich weiter nach Warschau, noch einmal ca. 500 km, und dort sollte ich meine erste Begegnung mit polnischen Muslimen haben. In Warschau stellte sich auch eine Besonderheit der Muslime in Polen heraus. Das Zentrum ihres Gemeindelebens, so seltsam das klingen mag, ist nicht etwa die Moschee, sondern der Friedhof. Dies ist auch der Fall in allen anderen Gegenden Polens, wo Muslime leben, und besonders im Osten Polens, dem eigentlichen Ziel meiner Reise. Zunächst aber ein paar Worte über die Muslime in Warschau: In der polnischen Hauptstadt leben ca. 300 polnische Muslime, dazu kommen ein paar Diplomaten aus muslimischen Ländern. Eine Moschee gibt es in Warschau nicht, obwohl schon seit den dreißiger Jahren ein Plan zum Bau einer Moschee besteht. Gemeinschaftliche Gebete finden kaum statt. Lediglich zu den beiden Festen werden entsprechende Räumlichkeiten angemietet. Die Stadt Warschau hat inzwischen aber die Genehmigung zum Moscheebau erteilt, und ein Grundstück ist auch vorhanden. Im Augenblick fehlt das Geld für den Architekten, und dann natürlich für den Bau selbst. Aber es gibt einen großen (und dazu noch einen kleinen, heute ungenutzten) Friedhof der Muslime in Warschau. Er heißt „Muzulmanski Cmentarz Tatarski”, also Muslimisch-Tatarischer Friedhof, und er liegt an einer Straße, die auch „Tatarenstraße” (ul. Tatarsko) heißt. Spätestens hier wird man an den Ursprung und die über 500 jährige Geschichte der Muslime in Polen erinnert. Die heute noch ca. 3000 Angehörige zählende muslimische Minderheit Polens stammt nämlich ursprünglich von muslimischen Tataren ab, die im 14. Jahrhundert dem polnischen König gegen seine Feinde beistanden. Zum Dank für ihre Dienste wies ihnen die polnische Krone bestimmte Siedlungsgebiete zu und gewährte ihnen die freie Ausübung ihres Glaubens im polnischen Staat. In der Gegend von Biyalstok, im Osten Polens, leben noch heute Muslime in den von ihren Vorvätern begründeten Dörfern. Andere sind in verschiedene polnische Städte gezogen, viele auch während des 2. Weltkriegs durch Deutsche und Russen umgekommen, wurden zu Zwangsarbeit in die Sowjetunion verschickt, andere durch die Verschiebung des polnischen Staatsgebietes nach Westen umgesiedelt. Größere Gruppen von Muslimen gibt es deshalb heute in folgenden polnischen Städten: In Gorzow Wielkopolski (ehemals Landsberg in Pommern) nur wenige Familien, in Warschau wie gesagt ca. 300 Personen, in Gdansk (Danzig) ebenfalls ca. 300, während der Rest in der Gegend von Biyalstok lebt, etwa 1000 Muslime in dieser ostpolnischen Stadt, die übrigen in der Nähe, vor allem in Sokolka und einige Familien auch noch in den ursprünglichen muslimischen Dörfern Bohoniki und Kruszyniany, nur wenige Kilometer von der sowjetischen Grenze.
Doch zurück nach Warschau und dem tatarischen muslimischen Friedhof. Während des 2. Weltkriegs wurde er zerstört, als deutsche Truppen das Gelände als Bereitschaftsraum während der Kämpfe um die Warschauer Innenstadt benutzten. Aber die polnischen Muslime haben den Friedhof mit viel Liebe wieder hergerichtet. Gäbe es auf den Grabsteinen nicht arabische Inschriften und manchen Halbmond, könnte man meinen, es sei ein einfacher polnischer Friedhof. Nur an einigen Namen kann man auch erkennen, daß der Verstorbene Muslim war, doch viele trugen rein polnische Namen. Noch immer bezeichnen sich die Muslime Polens bei Gesprächen untereinander als „Tataren”, aber was ihre Sprache und auch ihre Kultur betrifft, sind sie im Laufe der Jahrhunderte wirklich zu Polen geworden.
Muslime aus anderen Ländern heißen in ihrem Sprachgebrauch ebenfalls Tataren, Tataren aus Arabien, Tataren aus Indonesien, und hier war ich, es scheint zum ersten Mal, ein Tatare aus Deutschland. Und meine Frage, wodurch der Muslim in Polen sich eigentlich von den nichtmuslimischen Polen unterscheidet, wurde dementsprechend zur Frage: Was ist der Unterschied zwischen einem Tataren und einem Polen? Antwort: Nur die Religion. Zusatzfrage: Und sonst nichts? Antwort: Nein, sonst nichts.
Der Warschauer muslimische Friedhof und die übrigen Friedhöfe der Muslime Polens sind ein sichtbarer Ausdruck dieses Unterschieds. Zugleich sind sie auch Zeugen für die lange und mit großen Leiden verbundene Geschichte der Muslime Polens und der Polen überhaupt. Zahlreiche Grabsteine aus dem vorigen Jahrhundert tragen arabische und russische (kyrillische) Inschriften und erinnern an die Zeit vor der Entstehung der polnischen Republik nach dem Ersten Weltkrieg. Während der sogenannten Polnischen Teilung gehörte Warschau zum russischen Kaiserreich, und es war bei Strafe verboten, polnische Inschriften anzufertigen. Ein anderes sichtbares Mahnmal auf dem Friedhof in Warschau ist schließlich ein symbolisches Grab. Man errichtete es für Ali Woronowicz (1902-1941), der im Zweiten Weltkrieg im Osten verschwand. Dieser Mann hatte in Kairo an der Al-Azhar Universität studiert, war der Imam von Warschau gewesen und diente zugleich als Geistlicher für die während der polnischen Republik bestehende einzige rein muslimische (sprich tatarische) Militäreinheit, eine Kavallerietruppe. Was mit ihm geschehen ist, blieb unbekannt. Inna li-llahi wa inna ilaihi radschi’un.
Ich blieb, nachdem ich die erste Kiste der Hilfssendung übergeben hatte, einen Tag in Warschau, beriet mich mit einem Bruder dort über die weitere Reise und brach dann auf nach Biyalstok, ca. 190 km östlich von Warschau, dem eigentlichen Zentrum der muslimischen Gemeinschaft in Polen.
Auch in Biyalstok gibt es noch keine Moschee, und auch hier wird geplant, eine Moschee zu errichten. Dafür haben die Muslime in Biyalstok eine Art Gemeindehaus, einen Tagungsort in einem Holzhaus, wie es überhaupt im waldreichen Osten Polens sehr viele Holzhäuser gibt. Hier in Biyalstok hatte im März 1984 der 8. Delegiertentag der muslimischen Gemeinschaft Polens stattgefunden, an dem ca. 100 Vertreter der polnischen Muslime teilnahmen, und hier lernte ich den Vorsitzenden der muslimischen Gemeinschaft Polens kennen. Unsere Hilfssendung wurde auch hier mit Freude angenommen, Freude vor allem darüber, daß man im Ausland an die Brüder und Schwestern in Polen denkt. Die materielle Not ist heute nicht mehr so groß. Zwar sind Lebensmittel und viele Gebrauchsgüter rationiert, aber niemand hat zu wenig zum Anziehen. Hilfe allerdings brauchen die Muslime Polens, und zwar Hilfe von besonderer Art. Einmal wollen sie in verschiedenen Städten Moscheen errichten, und dazu werden Mittel gebraucht. Zum anderen fehlt es an gut ausgebildeten muslimischen Lehrern und vor allem an Literatur. Nicht einmal eine Koranübersetzung in polnischer Sprache ist im Buchhandel erhältlich.
In Biyalstok habe ich die typische „Hausbibliothek” eines polnischen Muslims gesehen. Sie besteht aus vier oder fünf Schriften: Einem vor über hundert Jahren vom Urgroßvater handgeschriebenen Koran (natürlich arabisch), einem Ende der zwanziger Jahre gedruckten Heft zum Erlernen des arabischen Alphabets, ein oder zwei handgeschriebenen „Gebetsbüchern”, ebenfalls vom Urgroßvater oder vom Großvater und schließlich einem neuen „Gebetsbuch”, in Biyalstok 1983 photomechanisch vervielfältigt und schön eingebunden. Es sind diese Gebetsbücher (polnisch: Modlitewnik Muzulmanski, arabisch: hama’il), die neben den Friedhöfen zu den Besonderheiten des muslimischen Lebens in Polen gehören. Sie sind in arabischer Schrift geschrieben und enthalten eine Anzahl von Bittgebeten in arabischer Sprache, dazu die Texte für die täglichen Gebete und anderes. Ebenfalls in arabischer Schrift, aber in polnischer Sprache (die tatarische Sprache ist seit Generationen völlig vergessen) steht dann bei jedem Bittgebet, wozu es anzuwenden ist – aber keine Übersetzung. Es wird nicht überraschen, daß das erste Bittgebet den Besuch auf dem Friedhof betrifft.
Da heute niemand mehr versteht, was da geschrieben steht und auch das vielfältige voneinander Abschreiben zu manchen Irrtümern geführt hat, enthalten diese Gebetsbücher, auch das neue von 1983, einige zum Teil schwerwiegende Fehler, die aber den polnischen Muslimen verborgen geblieben sind. Sie hängen an ihrem Glauben und den von den Großvätern und Urgroßvätern überlieferten religiösen Praktiken, und es ist überhaupt verwunderlich, daß es ihnen gelungen ist, trotz der relativen Isolation von der übrigen muslimischen Welt über ein halbes Jahrtausend zumindest die Erinnerung an den Islam zu bewahren. In das Besucherbuch der Moschee von Kruszyniany habe ich darum geschrieben: „O Allah, nimm von uns an und von ihnen (den Muslimen in Polen, das was richtig ist) und verzeih’ uns und ihnen (was wir und was sie falsch machen), Du bist verzeihend und barmherzig.”
Es wiegt sicher schwer, was sie richtig machen und über Generationen gemacht haben: Festhalten am Glauben an Allah und daran, daß Muhammad Sein Gesandter ist. Und es gibt sicher viel, was sie falsch machen, sei es aufgrund der Umstände, in denen sie leben, sei es aufgrund der wirklich großen Unkenntnis selbst über die grundlegenden islamischen Verhaltensweisen, die unter ihnen herrscht. Hier scheint mir, ist es unsere Aufgabe zu helfen.
Meine Reise führte dann weiter nach Sokolka, einer kleinen Stadt östlich von Biyalstok und schließlich in die zwei ursprünglich muslimischen Dörfer Bohoniki und Kruszyniany. Heute gibt es dort natürlich auch viele nichtmuslimische Familien, aber das Bild jedes der beiden Dörfer wird bestimmt durch die dort befindlichen Moscheen. Es handelt sich hierbei um die ältesten heute auf polnischem Boden befindlichen Moscheen, und zur Zeit um die einzigen. Lediglich in Gdansk (Danzig), das ich später noch besucht habe, wird nun eine neue Moschee errichtet. Der Grundstein wurde offiziell am 29. September 1984 gelegt, und es hängt von den Finanzen ab, wie lange die Bauzeit dauern wird. Auch hier wäre Hilfe sicher angebracht.
Die beiden alten Moscheen sind aus Holz gebaut und stammen in ihrer jetzigen Form zumindest aus dem vorigen Jahrhundert, wenn sie nicht noch älter sind. Die eine Moschee, in Bohoniki, wird zur Zeit restauriert, während die in Kruszyniany jeden Freitag zum Freitagsgebet geöffnet wird. Dazu reist ein Bruder, der Imam von Kruszyniany, jeden Freitag aus dem ca. 80 km entfernten Biyalstok mit dem Bus an. Und natürlich gibt es sowohl in Bohoniki als auch in Kruszyniany einen muslimischen Friedhof, sowie in Kruszyniany ein Holzhaus als Gemeindezentrum, ähnlich wie in der Stadt Biyalstok. Überhaupt empfinden die Muslime Polens diese beiden Dörfer, diese beiden Moscheen und diese beiden Friedhöfe als das eigentliche Zentrum ihres tatarisch-muslimischen Erbes und ihres Gemeindelebens, auch wenn sie hunderte von Kilometern entfernt wohnen. Kein Zweifel, daß ihr Blick oft auf die Vergangenheit gerichtet ist, kein Zweifel, daß sie ihre Identität aufgrund ihrer Vergangenheit bestimmen, kein Zweifel, daß heute noch der Friedhof den Mittelpunkt für sie darstellt. Und auch kein Zweifel, daß manches sich verändert. Zum ersten Mal in diesem Jahrhundert wird nun in Polen (in Gdansk) eine neue Moschee gebaut, und der Wunsch besteht, auch in anderen Städten muslimische Gebetshäuser zu errichten. Es gibt also Hoffnung, daß die Moscheen, die Häuser des Gebets, für die Muslime Polens wieder zu Zentren ihrer Gemeinden werden.
Wer den Muslimen in Polen Hilfe leisten möchte – gleich welcher Art – wende sich bitte an die Redaktion von Al-Islam.
In einem hadith qudsi (sog. „heiliger hadith”, in dem Allah selbst spricht) über Allahs Bereitschaft zur Vergebung der Sünden sagt Allah der Erhabene: „Wer sich Mir eine Handspanne nähert, dem komme Ich eine Elle entgegen, und wer sich Mir eine Elle nähert, dem komme ich einen Klafter entgegen, und wer zur Mir gegangen kommt, zu dem komme Ich gelaufen ...” (Abu Dharr; Muslim, Tirmidhi).
Allah hat die Wahrheit gesprochen. Auch wir vom Komitee Hungerhilfe Eritrea haben gerade wieder so eine Erfahrung gemacht. Nur kurze Zeit, nachdem wir uns zur Bildung dieses Komitees entschlossen hatten und darüber nachdachten, auf welche Weise wir wohl am besten helfen können, wurden wir – völlig ohne eigenes Zutun – zu einer Stelle geführt, an der wir über vier Tonnen (!) trockene, unverderbliche Lebensmittel (Hülsenfrüchte) zu einem Bruchteil des üblichen Preises erwerben konnten. Wir hatten dafür nicht genug Geld. Unsere Sammelaktion war ja nicht einmal angelaufen. Aber es war eine einmalige Gelegenheit. Wenn wir nicht sofort zugegriffen hätten, wäre sie uns entgangen. Spontan haben wir zuerst mit den eigenen Taschen angefangen und dann mit Hilfe anderer Muslime, die wir an diesem Tag getroffen haben, die Sammlung begonnen. So gab uns Allah der Barmherzige, noch bevor uns die Rechnung für die Lebensmittel ausgestellt wurde, ausreichend Geld in die Hand, um zu bezahlen. Alhamdu li-llah.
Da sage noch einmal jemand, es gäbe keine Wunder. Wunder bezeichnet ein Geschehnis, das aus dem Rahmen des üblichen herausfällt, das so nicht erwartet werden kann. Es war und ist nicht zu erwarten, daß einem eine solche Menge Lebensmittel zu einem derart geringen Preis genau zu der Zeit angeboten wird, in der man (nicht einmal mit der eigentlich erforderlichen Intensität) Vorbereitungen für eine Hilfsaktion treffen will und schon gar nicht, wenn man zum Lebensmittelhandel überhaupt keine Beziehungen hat. Und dazu, daß genau an dem Tag, wo es erforderlich ist, man innerhalb sechs Stunden von DM Null auf die benötigte Summe kommt. Al-hamdu lillah. Wer auf Allah zugeht, nur Schritte tut, Ihm wohlgefällig zu sein, zu dem kommt Allah gelaufen und hilft ihm, wie es im Heiligen Koran heißt, von wo er es nicht vermutet (65:3).
Nun kommt es darauf an, diese Lebensmittel (dazu kommen außerdem Medikamente, inschallah, die nun auch in Aussicht sind) auf dem billigsten und besten Weg direkt zu den Betroffenen zu transportieren. Das wird wieder etwas kosten. Wir vertrauen auf Allah und bitten jeden von Euch um seine Hilfe. Vergeßt nicht Eure verhungernden Brüder und Schwestern. Spendet, soviel Ihr könnt. Allah vergilt es vielfach.
Wir haben ein Spendenkonto eingerichtet unter dem Stichwort „Hungerhilfe Eritrea”. Von den Spenden soll ausschließlich Sachhilfe geleistet werden. Wir versuchen durch persönliche Kontakte sicherzustellen, daß die Hilfsgüter direkt an die Bedürftigen weitergeleitet werden. Neben Spenden sind uns auch Vorschläge für Sammelaktionen und sonstiger guter Rat willkommen.
Lützelbach, den 6.4.85
Lieber Bruder, liebe Schwester im Islam, as-salamu alaikum.
Al-hamdu li-llah ist es gelungen, gestern hier, wie bereits vorgeschlagen, den Verein „Muslime helfen” e.V. offiziell zu begründen. Dabei waren einige der Brüder und Schwestern der Arbeitsgruppe anwesend, andere haben sich entschuldigt und noch andere konnten von dem vereinbarten Termin nicht mehr rechtzeitig informiert werden.
Die Brüder vom Haus des Islam haben uns auch geholfen, die notwendige Zahl von mindestens 7 Anwesenden zu erreichen.
Es wurden gewählt: Als Vorsitzender Br. Abdulqadir Schabel, als Kassenwart Br. Shakil Ahmad, beide haben diese Ämter unter der Voraussetzung angenommen, dass die nächste Mitgliederversammlung des Vereins am Samstag den 18. Mai 1985 in Hamburg stattfindet (Ali Moschee, Schöne Aussicht 36, 20.00 Uhr abends), wozu hiermit auch alle Vereinsmitglieder und Interessenten eingeladen werden.
Auf dieser Mitgliederversammlung gilt als Tagesordnung: 1. Bericht über die Lage des Vereins, 2. Wahl der Vorstandsmitglieder, 3. Festsetzung des Mitgliedsbeitrags, 4. Festsetzung des nächsten Hilfsprojekts.
Br. Abdulqadir und Shakil, die beide hier in der Nähe wohnen, haben sich freundlicherweise bereit erklärt, die Ämter zu übernehmen, damit der Verein in der kommenden Woche beim Vereinsgericht eingetragen werden kann. In Hamburg soll aber während des Treffens deutschsprachiger Muslime allen Mitgliedern der Arbeitsgruppe (und auch anderen Interessenten, die Vereinsmitglieder werden möchten) die Möglichkeit gegeben werden, den Vorstand zu wählen, was hier in Lützelbach nicht möglich war.
Ich bin froh, dass es uns so gelungen ist, diese wichtige Hürde zu nehmen und hoffe, dass Ihr auch weiterhin mit viel gutem Willen diesen Verein unterstützt. Meine Aufgabe als Koordinator der Arbeitsgruppe dürfte damit beendet sein. Alle zukünftigen Anregungen, Korrespondenz usw. bis zum Hamburger Treffen an den Vorsitzenden des Vereins, Abdulqadir Schabel, Haus des Islam, Schillerstr. 40, 6129 Lützelbach, Tel. 06165 1348.
Eine Kopie der Vereinssatzung lege ich zur Information bei, ich glaube sie findet Eure Zustimmung. Die Frage Inland/Ausland ist offen gelassen. Aber die hier Anwe-senden waren der Meinung, Hilfe im Ausland sei wesentlicher für diesen Verein.
Allah segne Euch, wassalam
Ahmad von Denffer
Al-hamdu li-llah konnte ich Polen im September 1986 für fünf Tage erneut besuchen. Dies erfolgte in Fortsetzung eines inoffiziellen Programms, unterstützt vom Islamischen Zentrum München und dem Haus des Islam. Beide Einrichtungen hatten im Sommer 1985 eine Gruppe muslimischer Jugendlicher aus Polen für ca. 3 Wochen zu Gast.