Dieses Buch ist ein Roman. Die Handlung ist frei erfunden. Ähnlichkeiten mit realen Situationen, lebenden oder toten Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.
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© Carmen Mayer, überarbeitete Neuauflage 2020
Satz/Layout: Carmen Mayer
https://www.autorin-carmen-mayer.com
Covergestaltung und Foto: Carmen Mayer
Autorenportrait: Christine Olma
Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt
ISBN: 978-3751941-71-6
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind unter www.dnb.de abrufbar.
Lieben Dank an E.M. Jungmann,
H. Rindlbacher und R. Mayer für ihre Hilfe.
Zuerst ist da das anschwellende Dröhnen der Kampfflugzeuge, dann das Rumpeln und Krachen, das die Erde erzittern lässt. In den Kellern hört man nur den Einschlag, spürt das Beben, und die Kinder weinen stumm in den Armen ihrer Mütter.
Er hatte es nicht mehr bis zum Luftschutzkeller geschafft. Er war eine Treppe hinab gerannt, hinein in den dunklen Flur bis kurz vor die rettende Tür. Das Heulen der Sirenen gellte ihm in den Ohren, dann folgte das Donnern und das Beben, Staub, der ihm in die Lungen drang, Geröll, das auf ihn herunter prasselte, Mauerteile, die ihn unter sich begruben. Er hatte zuerst die Hände vors Gesicht geschlagen, dann den Kopf mit den Armen zu schützen versucht. Aber was nutzt das, wenn einen ein Haus erschlägt?
Das Letzte, woran er sich erinnerte, waren die Schmerzen, die sich über seinen ganzen Körper ausbreiteten. Sie waren auch das Erste, was jetzt wieder in sein Bewusstsein drang.
Blinzelnd öffnete er die Augen, versuchte vergeblich, sich umzudrehen. Es war stockdunkel. Er konnte sich nicht bewegen. Sein Körper war nur Schmerz, aber sein rechter Arm war frei. Als er nach unten tastete, fühlte er die raue Oberfläche zertrümmerter Mauerstücke neben sich und auf seinen Beinen.
Etwas Glattes presste sich gegen seine linke Schulter und den Arm. Er griff danach. Es war eine Tür. Der Teufel hatte eine scheiß Tür über ihn gelegt, um ihn nun langsam und hilflos unter einem Berg aus Schutt verrecken zu lassen. Irgendwann würden sie ihn ausgraben und auf dem Westfriedhof zusammen mit den anderen Opfern dieses Angriffs beisetzen.
‚Johann Sebastian Sailer’ würde auf einem Holzkreuz stehen. Falls jemand es überhaupt für notwendig halten sollte, eines auf sein Grab zu stellen.
Er lachte heiser, bekam einen Hustenanfall, schlug dabei mit Stirn und Nase gegen den Boden. Seine Bronchien rebellierten, die Rippen schmerzten, Blut rann an seiner rechten Schläfe herunter, tropfte ins Irgendwas unter seinem Gesicht.
Johann Sebastian Sailer.
Wie oft war gerade dieser Name der Schlüssel zu den Türen gewesen, die die meisten seiner Schüler vor ihm und den anderen Lehrern und Erziehern im Heim verschlossen hielten. Außerhalb des Lehrplans hatte er die Neuen kurz nach den ersten, offiziellen Unterrichtsstunden mit seinem Namensvetter bekannt gemacht, ihnen die Schwäbischen Heiligen Drei Könige vorgestellt und die Komödie zu Weihnachten aufführen lassen. Da waren sie aufgetaut, die kleinen Kerle, die anfangs verschüchtert und heimwehgeplagt in den beiden kalten Klassenräumen saßen und hofften, dass sie das Leben in diesen Mauern einigermaßen heil überstehen und als ganze Männer verlassen würden. Es wurde viel gemunkelt über Prügelstrafen und tagelanges Eingesperrtsein in den fensterlosen Karzern, die sich unter dem alten Gebäude befanden.
Johann kannte diese Verliese, wusste, dass die Gerüchte um sie einen wahren, bitteren Kern hatten.
Aber er hatte das alles nicht gewollt. Hatte niemals in ein angsterfülltes kleines Gesicht schauen, niemals vor den weit aufgerissenen Augen eines seiner Zöglinge kapitulieren wollen, wenn das gnadenlose Urteil des Heimleiters eine Strafe vorsah, die selbst einen Erwachsenen hätte erbleichen lassen.
Wie viele von ihnen mit gesenktem Kopf an ihm vorbeigeschlichen waren, ihm einen anklagenden Seitenblick zugeworfen und dann den Gang nach unten angetreten hatten, wusste er nicht mehr zu sagen. Gerade jetzt, da die Luft immer staubiger wurde, das Dunkel immer unerträglicher, der Schmerz immer heftiger, spürte er am eigenen Leib, was in diesen kleinen Seelen vor sich gegangen sein musste.
Er fühlte sich schuldig an dem, was so vielen Kindern angetan worden war und noch wurde. Was sie zerstörte, anstatt sie zu aufrechten, gefestigten Menschen werden zu lassen.
Dass ihm das alles seit jeher körperliche und seelische Schmerzen bereitete, war einer der Gründe dafür gewesen, weshalb er an diesem Tag hierhergekommen war.
Zu spät.
Er hätte sich viel früher auflehnen müssen gegen das Brechen der kleinen Seelen, das gnadenlose Umformen ihrer Persönlichkeiten, die ungerechten Strafen.
Aber er war feige gewesen. Hatte zu oft die Augen vor dem verschlossen, was seine Kollegen und Mitbrüder für selbstverständlich hielten, hatte sich zu wenig für die Kinder eingesetzt.
Das war jedoch nicht alles, was ihm ausgerechnet jetzt durch den Kopf ging.
Denn da war diese Tür, die auf seine Schulter drückte, seinen Arm einquetschte, verhindert hatte, dass er längst tot war. Sie war unter einem eingestürzten Haus und inmitten eines gnadenlosen Bombenhagels ein lächerliches Symbol für eine andere Tür geworden. Eine, die seine Seele gefangen gehalten, sein Denken und Fühlen vor anderen verschlossen und ihm so viele Schmerzen zugefügt hatte, dass er es manchmal kaum noch aushalten hatte können.
Johann Sebastian Sailer war das, was man hinter vorgehaltener Hand ‚andersrum’ nannte.
Er war schwul.
Dieses Anderssein war der eigentliche Grund dafür gewesen, warum er damals in diesen gottverdammten Orden eingetreten war. Er hatte geglaubt, durch die strengen Ordensregeln, durch den geordneten Ablauf innerhalb der Klostermauern, durch Gebete und die wohlwollenden Absichten seiner Mitbrüder eine Art Läuterung zu erfahren. Dass er schließlich als Lehrer an diesem Heim und der angeschlossenen Schule gelandet war, kam nicht von ungefähr. Er hatte mit allen Mitteln vermeiden wollen, dass jemand seine dunkle Seite entdecken und ihn hart dafür bestrafen würde. Lehrer in dieser Einrichtung zu sein würde ihn über alle Zweifel erhaben machen, der Zölibat vor unangenehmen Fragen schützen, hatte er gedacht.
Wie schwer das alles sein würde, wie absurd es war, und wie sehr er sich geirrt hatte, wurde ihm viel zu spät bewusst.
Der erste Pater, der ihm begegnete, machte ihm unmissverständlich klar, was er von Homosexuellen hielt. Er würde deren weibisches Verhalten mit eiserner Hand bestrafen und diese fehlgeleiteten Männer gnadenlos denunzieren.
Denunzieren.
1934 hatten Hitler und die NSDAP deutlich gemacht, dass Homosexualität wider die Natur und somit der Regierung ein Dorn im Auge sei. In einschlägigen Kreisen jedoch war klar, was hinter den Anschlägen auf Leib und Leben dieser Menschen in Wahrheit steckte: Weil Lesben und Schwule keine Kinder zeugten, die für den Weiterbestand des arischen Herrenmenschen wichtig waren, galten sie und ihre Beziehungen als unerwünscht. Dies mit der Folge, dass nach Verschärfung des §175 viele von der Gestapo verhaftet und in Konzentrationslager verschleppt wurden, wo sie mit einem aus Stoff geschnittenen ‚rosa Winkel’ als Homosexuelle gekennzeichnet und übel misshandelt, wenn nicht gar umgebracht wurden.
Johann Sebastian Sailer hatte sich vorbildlich verhalten, eine undurchdringliche, nach außen hin saubere und unangreifbare Fassade aufgebaut, um nicht entdeckt zu werden und das Schicksal anderer Schwuler teilen zu müssen.
Denn nicht nur die NSDAP verfolgte Männer und Frauen, die dem eigenen Geschlecht mehr zugetan waren als dem jeweils anderen. Auch von Mitgliedern der katholischen Kirche wurden sie verdammt, wie sie auch mehr oder weniger offen alle kinderlos bleibenden Beziehungen als wider die Natur und somit untragbar bezeichneten. Zuneigung und Achtung voreinander zählten nicht. Wer keine Kinder zeugen oder gebären konnte oder wollte, verweigerte seinen Beitrag zum Fortbestand der katholischen Kirche und war somit nicht wert, von ihr geschützt und getragen zu werden. Ausgenommen davon waren selbstverständlich alle Männer, die im Weihestand der katholischen Kirche und somit von ihr abgesegnet ehe- und kinderlos lebten.
Das jedenfalls hatte Johann oft genug hören und sich dabei auf die Zunge beißen müssen, um seine Wut über so viel unchristliches, unsoziales und vorsintflutliches Denken und Handeln nicht laut herauszuschreien. Noch dazu angesichts der unglaublichen Dinge, die hinter manch verschlossener Tür geschahen.
Jetzt steckte er hier fest, konnte sich nicht bemerkbar machen, rang nach Luft und war den Schmerzen in Kopf, Brust und Rücken hilflos ausgeliefert. Zum Glück spürte er seine Beine nicht, ahnte aber den Grund dafür und brach in Panik aus. Er bäumte sich vergeblich auf, fiel verzweifelt wieder in sich zusammen.
All die Kinder tauchten mit einem Mal vor seinem inneren Auge auf, die er nicht davor bewahren hatte können, in die unterirdischen Verliese des Heims gebracht und eingesperrt zu werden.
Er hatte nichts unternommen, weil er nicht als weibischer Homosexueller auffliegen und von seinen Kollegen denunziert werden wollte.
Er war so ein Feigling gewesen.
Seine ehemaligen Schutzbefohlenen hatten inzwischen einen Verbündeten, dessen war er sich in diesem Augenblick sicher: den Teufel. Der hatte diese Tür auf ihn fallen lassen, damit er nicht schnell sterben, sondern langsam krepieren und währenddessen sein eigener Richter sein sollte.
In die ohrenbetäubende Stille hinein glaubte er das grausige Lachen all jener zu hören, die jetzt ihre ehemals so verzweifelten Augen auf ihn gerichtet hielten, um ja keine Sekunde seines Leidens zu versäumen.
Und dann war da noch dieser Schrei. Er hatte ihn nicht gehört, aber er ahnte, wie er geklungen haben musste.
Er kannte diese Schreie.
Schreie nach Leben.
Jakobs Schrei nach Leben.
Johann heulte wie ein Kind, als er begriff, dass man nicht nur für das verantwortlich ist, was man tut, sondern auch für das, was man unterlässt. Wer beim Teufel eine Rechnung offen hat, bezahlt höllisch drauf, das wurde ihm in diesen Augenblicken schmerzlich bewusst.
„Mea culpa.“
Er bäumte sich ein letztes Mal verzweifelt auf und schrie in einer Welle seelischen Schmerzes gegen Dunkelheit und Schutt an, bevor er erschöpft zusammensank und sich fragte, wie lange es wohl dauern würde, bis sein qualvoller Todeskampf zu Ende war. Der Schmerz verzerrte sein Zeitgefühl, raubte ihm fast den Verstand. Er wusste nicht, wie lange er bereits lebendig begraben lag, lauschte auf Geräusche, hoffte auf Rettung, ergab sich schließlich seinem Schicksal.
Doch plötzlich, wie eine letzte Gnade, die er sich nicht zu erhoffen gewagt hatte, spürte er seinen Körper nicht mehr, waren die unerträglich gewordenen Schmerzen verschwunden, breitete sich innerer Frieden in ihm aus.
Das geschah genau in dem Augenblick, als ihn ein dünner Lichtstrahl traf, und gleich darauf eine bekannte Stimme seinen Namen rief.
„Hier!“
Der Schrei verließ jedoch seinen Mund nicht mehr.
Dr. Alfred Kammerer beobachtete interessiert, wie die drei Männer vorsichtig ihre Schaufeln über den freigelegten Untergrund zogen. Geröll und zu festen Brocken verbackene Erdklumpen wurden in Eimer gefüllt, gesiebt und dann in einen bereitstehenden Container gekippt. Er hatte sich aus einer emotionsgeladenen Besprechung mit Vertretern von Stadtbauamt und Denkmalschutz verabschiedet, weil sein Sekretariat angerufen hatte. Bei einer von seinem Institut geleiteten Humusabtragung in der Altstadt seien alte Mauerreste gefunden worden, die er in näheren Augenschein nehmen sollte. Das hätte auch noch bis zum nächsten Tag Zeit gehabt, aber der achtunddreißigjährige Archäologe mochte Gespräche nicht, die sich im Kreis drehten, und um so ein Gespräch hatte es sich heute gehandelt. Wie meistens.
Als ihn der Anruf seiner Sekretärin erreichte, hatte der Geschäftsführer des Archäologischen Instituts Kammerer & Partner kurzerhand beschlossen, die Entdeckung als dringlich einzustufen: Ein guter Grund, der dicken Luft im Besprechungszimmer mit ein paar Worten des Dankes für die aufgewendete Zeit zu entkommen.
Die Mauern, die an diesem 27. Juli 1988 auf dem Grundstück im Ingolstädter Stadtkern zutage gekommen waren, stammten aus verschiedenen Epochen der städtischen Vorgeschichte. Es schien sich um die ursprüngliche Kelleranlage eines Anwesens aus dem 16. Jahrhundert zu handeln, die aus etlichen kleinen Räumen bestanden hatte. Da die Mauerreste uneinheitliche Strukturen und Baumaterialien aufwiesen war anzunehmen, dass sie im Laufe der vergangenen Jahrhunderte durch eine Reihe von Umbauten den Bedürfnissen der jeweiligen Bewohner angepasst worden waren. In neuerer Zeit waren diese Kellerräume nicht mehr genützt, und im Laufe der Zeit verfüllt worden.
Das alles würde noch zu prüfen sein, war aber vollkommen unspektakulär.
Dr. Kammerer wandte sich gerade zum Gehen, als einer der Männer ihn zurückrief.
„Hier ist was!“
Er trat näher an die bezeichnete Stelle heran und beugte sich ein wenig vor. Zunächst sah er nur die Reste eines knapp über einen dreiviertel Meter langen, gewölbten Mauerwerks, in dessen backsteinerne Oberseite ein tellergroßes Loch eingebrochen war.
„Was ist da?“, wollte der Archäologe wissen und spähte in das Loch. „Ein Schuh?“
Der Arbeiter, der ihn zurückgerufen hatte, hielt eine Schaufel neben das Loch, um nachrutschendes Geröll aufzuhalten.
„Ja, aber in dem Schuh steckt ein Fuß – oder das, was davon übriggeblieben ist.“
Alfred Kammerer ging in die Hocke und besah sich etwas genauer, was in dem Loch zu sehen war. Der Schuh stammte eindeutig nicht aus dem 16. Jahrhundert wie das eingestürzte Gewölbe darüber, dessen war er sich schon beim ersten Blick sicher. Er war wohl einmal schwarz gewesen, jetzt jedoch eher grau und mürbe. Die Reste der zur Seite gekehrten Sohle wirkten abgetragen, der Absatz war schief getreten. Man konnte gerade noch erkennen, dass ein graugelb verfärbter Unterschenkelknochen und die Reste eines Fußknöchels aus diesem Schuh ragten.
Der einigermaßen unbeschädigt gebliebene Gewölberest darüber lag zwischen zusammengefallenen Mauerstücken, Geröll, verbackener Erde und Gestein.
Es dauerte eine ganze Zeit, bis der Schutt vorsichtig weggeräumt war und ganz freigab, was darunter lag.
Allem Anschein nach handelte es sich bei dem Fund um die Überreste eines Mannes, der bäuchlings verschüttet gelegen hatte. Über einem Teil seiner linken oberen Körperhälfte ragten die verrotteten Reste eines hölzernen Türblatts heraus. Darunter wurde der Schädel des Toten sichtbar, ein wenig nach rechts gedreht. Er betrachtete prüfend den Schutt zwischen dem Gewölberest und dem angrenzenden Gebäude. Ihm war nicht bekannt, ob die Häuser ehemals miteinander verbunden gewesen waren. Weiteren Aufschluss darüber würden Unterlagen aus dem Stadtarchiv ergeben, falls notwendig.
Das alles betraf seine Arbeit nicht, aber der Fund hatte den Archäologen in ihm neugierig gemacht.
„Wie ist der denn da reingekommen?“, fragte er den Arbeiter, der neben ihm stand. „Und vor allem: wann?“
Der Mann betrachtete nachdenklich die inzwischen freigelegten menschlichen Überreste. Das Skelett sah aus, als hätte es jemand einfach da hingeworfen und unter Schutt und Mauerstücken vergraben. Da er zum großen Teil unter dem erhalten gebliebenen Gewölberest gelegen hatte, waren das Skelett und die Reste der Bekleidung bis auf die zeitbedingten Spuren gut erhalten geblieben.
„Das ist mir auch ein Rätsel, denn die Kellerräume wurden meines Wissens zum Ende des 19. Jahrhunderts verfüllt“, antwortete er schließlich. „Nur ein Treppenabgang ist bis zur Bombardierung 1945 stehen geblieben. Fragen Sie mich nicht, warum.“
„Dann könnte er hier“, Dr. Kammerer zeigte auf die menschlichen Überreste, „das Opfer eines Bombenangriffs sein.“
„Das glaube ich nicht. Die Überlebenden haben fieberhaft nach Verschütteten gesucht, sobald Entwarnung gegeben worden ist. Außerdem war der Kellerabgang garantiert nicht als Zugang zu einem Luftschutzkeller markiert gewesen, weil da ja überhaupt keiner war.“
„Dann wird sich wohl die Polizei Gedanken darum machen müssen, warum hier ein Toter liegt.“
Kommissar Walter Braunagel verließ mit gemischten Gefühlen das Büro, in dem er die letzten eineinhalb Stunden verbracht hatte. Staatsanwalt Dr. Schiller, dessen Verlobte und Leiterin der Abteilung für Tötungsdelikte Hauptkommissarin Annemarie Zeller, und Braunagels Kollege Norbert Schwarz hatten ihm in dieser Zeit eindringlich nahegelegt, sich eine Auszeit zu nehmen.
Es war dem Kommissar einerseits klar, dass er in seiner augenblicklichen Verfassung nicht in der Lage sein würde, seiner Arbeit in gewohnter Weise nachzugehen. Andererseits quälte ihn jedoch die Vorstellung, gerade jetzt auf die Sicherheit eines einigermaßen strukturierten Tagesablaufs inmitten seiner Kollegen verzichten zu müssen.
Während des Gesprächs hatte eins ins andere gegriffen, bis er schließlich Annemarie Zellers Vorschlag zustimmte, sich beurlauben zu lassen und sich zunächst einmal nur um sich selbst zu kümmern.
„Sie werden sich mit dem psychologischen Dienst in Verbindung setzen und sich dort behandeln lassen“, entschied seine Chefin.
Das versprach Braunagel. Allerdings konnte er im Augenblick noch nicht über das reden, was ihn bewegte und der Grund für seine aktuelle Situation war. Er würde sich bei seinem Therapeuten melden, sobald die Zeit dafür gekommen war.
„Lassen Sie sich nicht zu viel Zeit damit.“
Die Stimme des Staatsanwalts ließ keinen Zweifel daran, dass er den Kommissar nicht sich selbst überlassen wollte.
„Versprochen.“
„Ich werde dich vermissen“, gestand Norbert Schwarz dem langjährigen Kollegen, als sie sich kurze Zeit später in ihrem Büro gegenübersaßen. Walter Braunagel räumte schweigend seinen Schreibtisch auf, verstaute ein paar persönliche Sachen in einem kleinen Karton, und lehnte sich dann in seinem Stuhl zurück. „Wär‘ mir recht, wenn dieser Zustand nicht zu lange dauert“, brummte er dabei vor sich hin.
Das entsprach in jeder Hinsicht seiner vollen Überzeugung.
„Du bist nicht der erste Polizist, dem das passiert ist. Nimm dir Zeit, du wirst sie brauchen.“
Braunagel kannte diese Sprüche inzwischen zur Genüge. Seitdem er seine Dienstwaffe gezogen und abgedrückt hatte, hörte er solche Sätze immer wieder. Sie mochten gut gemeint sein und den Tatsachen entsprechen, halfen ihm aber kein Stück weiter. Sie nervten einfach nur. Sogar wenn sie von Norbert Schwarz kamen, dessen Offenheit Braunagel bislang immer geschätzt hatte.
Er hing seinen Gedanken nach, während er sorgfältig Schublade für Schublade öffnete und herausnahm, was er seinem Stellvertreter nicht überlassen wollte.
Jeder in der Inspektion wusste, dass er sich noch vor zwei Jahren in psychotherapeutischer Behandlung befunden hatte, um seine Depressionen nach der Trennung von seiner Ex in den Griff zu bekommen. Am Ende seiner Therapie lernte er Simone kennen, und schaffte es letztendlich auch mit ihrer Hilfe, die immer wieder aufbrechenden Schwarzen Löcher in seiner Seele zu umgehen. Als seine Freundin im vergangenen Jahr die Chance bekam, für einige Monate in einem Fünfsternehotel in Hong Kong zu arbeiten, fühlte er sich so weit gefestigt, dass er eine vorübergehende Trennung von ihr verkraften konnte. Dass ausgerechnet in diesem Hotel eine Tragödie ihren Anfang nehmen würde, die Braunagels Leben komplett aus den Fugen geraten lassen sollte, konnte niemand ahnen.
„Ich werde Karlheinz Riedmüller für ein paar Tage besuchen“, ließ er den Kollegen wissen.
Norbert Schwarz seufzte. „Riedmüller von der Kriminalpolizeiinspektion Ingolstadt, na wunderbar! Ich dachte, du würdest eher Abstand zu all dem Polizeikram brauchen.“
„Ich brauche vor allen Dingen Abstand zu Würzburg“, gab Braunagel zurück. Er klemmte seinen Karton unter den Arm und streckte Schwarz die freie Hand entgegen. „Außerdem bin ich in Ingolstadt ja nicht aus der Welt!“
„Aber auch nicht mehr in Franken“, gab Schwarz zu bedenken und ergriff Braunagels Hand. „Wenn du Hilfe brauchst …“
„So schlimm sind die Oberbayern ja nun auch wieder nicht“, beschwichtigte ihn sein Kollege. „Ich hab‘s schon mit Angehörigen anderer Völkerstämme ausgehalten, also werde ich auch mit denen zurechtkommen.“
„Niederbayern härtet ab und macht einen Franken stark fürs Leben, das ist unbestritten“, stimmte Schwarz dem Seitenhieb auf ihre Chefin zu. „Dann mach’s erst mal gut und melde dich gefälligst.“
„Verlass dich drauf.“
Braunagel fand Karlheinz Riedmüller nach einigem Suchen in den Gewölben des Schlosskellers am Paradeplatz. Jener hatte einen Bauplan vor sich ausgebreitet, und war mit zwei Herren so ernsthaft in eine Diskussion vertieft, dass er den Eintretenden zunächst nicht bemerkte.
Braunagel beugte sich ebenfalls über den Plan.
„Gemütlich habt ihr’s hier!“, meinte er schließlich, und ließ den Blick durch den leer stehenden, renovierungsbedürftigen Raum schweifen. Riedmüller sah überrascht auf.
„Walter!“
„Deine Frau sagte, dass ich dich hier finde.“
„Wie bist du denn hergekommen?“
„Mit dem Taxi.“
Der Ingolstädter Kommissar klopfte dem Freund auf die Schulter und stellte ihm den Jüngeren der beiden Männer als seinen Schwiegersohn vor, den anderen als seinen Architekten.
„Dann stimmt es also, dass du nach deiner Pensionierung einen Jazzkeller aufziehen willst?“, fragte Braunagel, während er sich umschaute.
„Wir beide.“ Er wies mit dem Daumen auf seinen Schwiegersohn. „Ulrich ist seit vielen Jahren erfolgreicher Gastronom in Neuburg, und ich bin Jazz-Fan, wie du weißt. Das passt doch gut zusammen, oder? Der Keller wurde zum Jahresende geschlossen, und da haben wir uns als neue Pächter beworben. Es scheint, als ob es klappen würde mit unserem Traum.“ Riedmüller wandte sich an seinen Schwiegersohn und den Architekten. „Wir sind so weit fertig hier, denke ich.“ Er reichte dem Architekten die Hand. „Ich sehe Sie dann am Donnerstag in Ihrem Büro.“ An Ulrich gewandt: „Du meldest dich, sobald du die offenen Fragen mit der Stadt geklärt hast?“
„Mach ich!“, kam die zuversichtliche Antwort seines Schwiegersohns. Die drei Herren schienen sich ihrer Sache sehr sicher zu sein, und Braunagel spürte eine Begeisterung zwischen ihnen, die er schmunzelnd teilte.
Auf dem Weg zum Parkplatz erzählte Riedmüller seinem Freund aufgeregt von seinen Plänen.
„Ich hab mir lange überlegt, was ich nach meiner Pensionierung mache. Im Herbst vergangenen Jahres erfuhr ich, dass die Pächter des Schlosskellers nicht mehr weitermachen werden. Ein Jazzkeller war immer schon mein Traum, und den erfülle ich mir jetzt. Spielst du nicht Saxofon?“, fiel ihm zum Schluss noch ein.
„So leidlich, ja. Wann gehst du denn in Pension?“, wollte Braunagel wissen. Er konnte sich nur sehr schwer vorstellen, dass sein langjähriger Freund und Kollege eines Tages nicht mehr im Polizeidienst arbeiten würde.
„Zum 1. September. Davor hab ich noch ein bisschen Urlaub - das passt wunderbar.“
Braunagel folgte auf der Fahrt in den Ingolstädter Süden interessiert den Ausführungen Riedmüllers, bis sie schließlich vor der Garage eines etwas versteckt liegenden Einfamilienhauses in Spitalhof standen.
„Ich hab dich gar nicht nach deinem Gepäck gefragt“, fiel Riedmüller plötzlich ein, als sie aus seinem Wagen stiegen.
„Kein Problem. Ich war ja bereits hier.“
„Oh Verzeihung, das hab ich vor lauter Jazzkeller nicht mitgekriegt.“
„Deine Frau hat mich samt Gepäck in eurem Gästezimmer einquartiert, bevor ich mit dem Taxi in die Stadt gefahren bin.“
„Nicht weit von hier fährt tagsüber alle zwanzig Minuten ein Bus nach Ingolstadt.“
Braunagel ging hinter Riedmüller den schmalen Gartenweg entlang zur Haustür, und folgte ihm dann in die Küche, wo Walli bereits auf sie wartete.
„Gulasch“, frohlockte der Hausherr. An Braunagel gewandt: „Setz dich.“
Riedmüllers hatten eine riesige Wohnküche, in deren Mitte ein blankgescheuerter Holztisch stand. Jetzt war er rustikal in Rot und Weiß eingedeckt, was die beiden Männer mit ein paar spöttischen Bemerkungen in Richtung Hausfrau quittierten.
„Bayern, weiß-blau?“
„Österreich? Rot-weiß-rot?“, gab sie augenzwinkernd zurück.
„Gulasch? Ungarn? Rot-weiß-grün?“, setzte ihr Mann dagegen. Als er sah, dass sie ihm mit dem Kochlöffel drohte, lenkte er lachend ein: „Stell halt noch einen Topf Schnittlauch dazwischen, dann passt’s. Zumindest farblich.“
„Ich hab mich für die Österreicher entschieden und fertig.“
„Das gilt“, gab Riedmüller nach. „Du mit deiner Schwäche für alles, was zwischen Salzburg und dem Neusiedler See liegt.“
„Richtig. Vor allem, wenn es flüssig und in Flaschen abgefüllt daherkommt“, stimmte sie ihm zu.
„Hast du denn heute frei?“, wollte Braunagel wissen, während Walli die Teller mit Spaghetti und dem würzig duftenden Gulasch füllte.
„Ich muss gleich noch ins Büro, müsste aber pünktlich zum Abendessen wieder zurück sein.“
„Habt ihr viel zu tun?“ Braunagel erinnerte sich in diesem Augenblick wehmütig an seine Dienststelle in Würzburg.
„Es geht. Hauptsächlich Schreibarbeiten momentan, aber dafür hab ich ja den Engelbert.“ Riedmüller lachte leise vor sich hin. „Engelbert Stiegler dürfte der Erfinder der Bürokratie gewesen sein. Und der Statistiken.“
„Ganz das Gegenteil von meinem Norbert Schwarz.“
Der Ingolstädter Kommissar musterte den Freund einen Augenblick lang nachdenklich.
„Wir haben viel Zeit, um uns zu unterhalten.“
Als sie sich am Abend zusammen im Wohnzimmer über alte Zeiten unterhielten, kam Riedmüller auf einen Fall zu sprechen, der im Jahr 1988 in Ingolstadt kurzfristig für Aufsehen gesorgt hatte. Damals wurden bei Aushubarbeiten in einer der Altstadtstraßen die skelettierten Überreste eines Mannes gefunden, der offenbar während eines Luftangriffs auf die Stadt verschüttet worden war, erzählte er. Niemand konnte sagen, warum man in der Ruine des völlig zerstörten Hauses nicht nach Überlebenden oder Toten gesucht, das Anwesen nach dem Krieg eingeebnet und als Parkplatz genützt hatte. Einzige plausible Erklärung: Das Haus hatte zuvor schon jahrelang leer gestanden. Die aus dem 16. Jahrhundert stammenden Keller waren bereits Jahrzehnte zuvor verfüllt worden, da die Bewohner ständig mit Grundwasserproblemen zu kämpfen hatten.
Es stellte sich heraus, fuhr der Kommissar mit seinem Bericht fort, dass es sich bei dem Toten um einen Zivilisten aus der Nähe von Ulm handelte. Verwandte von ihm wurden nicht gefunden. Das alles erklärte zunächst, warum ihn offenbar niemand als vermisst meldete. Weshalb er sich während des Bombenangriffs in der Stadt aufgehalten hatte, und wie er in das Treppenhaus unter dem leer stehenden Haus geriet, vermochte niemand zu sagen. Fest stand, dass der Treppenabgang nicht mit dem sonst üblichen weißen Pfeil als Zugang zu einem Luftschutzkeller ausgewiesen war. Er musste überrascht worden sein und hatte vermutlich einfach irgendwo Schutz gesucht. Denn niemand konnte damit rechnen, dass aus einem Bombergeschwader, das Ingolstadt bereits überflogen hatte, ein paar Maschinen ausscherten, zurück kamen und ihre tödliche Fracht abwarfen.
Der Fall wurde damals ziemlich schnell zu den Akten gelegt. Der Tote war eben ein weiteres Opfer des Zweiten Weltkrieges.
„Das Seltsame daran ist, dass wenige Monate später die Leiche eines pensionierten Lehrers gefunden wurde, in dessen Brieftasche sich ein ziemlich abgegriffenes Schreiben des Toten aus eiche befand.“
„Ach. Doch ein Verwandter?“
„Nein, das sicherlich nicht.“
„Woran starb der Pensionär denn?“, fragte Braunagel interessiert.
„Er scheint eines natürlichen Todes gestorben zu sein. Herzversagen, glaube ich.“
„Scheint.“
„Scheint.“
Riedmüller nippte an seinem Rotwein, während Braunagel nachdenklich sein Glas zwischen den Fingern drehte.
„Auch dieser Fall gilt als abgeschlossen. Mir fiel das alles nur im Zusammenhang mit dem Thema ‚alte Fälle‘ wieder ein.“
„Was stand denn in dem Brief, den der alte Mann in der Tasche hatte?“, wollte Braunagel wissen.
„Das weiß ich gar nicht mehr so genau“, gestand Riedmüller. „Das Schreiben wurde in Sütterlin abgefasst und konnte von keinem von uns so richtig gut gelesen werden, daran erinnere ich mich noch sehr gut. Außerdem hat‘s niemand weiter interessiert.“ Er trank einen Schluck und seufzte dann. „Ist schon so lange her.“
„Mich interessiert, warum du vorhin sagtest, dass es scheint, als sei der alte Herr eines natürlichen Todes gestorben.“
Riedmüller prostete seinem Freund zu.
„Weil ich die beiden Fälle zwar für abgeschlossen, aber nicht unbedingt für gelöst halte. Es gab keinen Grund für genauere Untersuchungen, und schon deshalb kann ich nur sagen: Es scheint. Davon ist auch mein Kollege Stiegler überzeugt. Frag ihn mal danach.“
Braunagel lag an diesem Abend noch lange wach. Der Würzburger Kommissar mochte solche Fälle nicht leiden. Er war überzeugt davon, Opfern ungeklärter Fälle etwas schuldig zu sein, und fühlte sich ihnen gegenüber verantwortlich. Er schlief schließlich mit dem festen Vorsatz ein, zumindest für sich selbst herauszufinden, was damals geschehen sein mochte und worin die Verbindung zwischen den beiden Toten lag.
Nach dem Frühstück am nächsten Tag machte Braunagel sich auf den Weg zur Audi in die Ettinger Straße, wo Riedmüller eine Werksbesichtigung für den Freund gebucht hatte.
Den Nachmittag verbrachte der Würzburger Kommissar in der Altstadt. Er schloss sich einer kleinen Touristengruppe an, die sich interessiert um eine Stadtführerin geschart hatte.
„Kennen Sie Ingolstadt?“, hatte diese ihn gefragt, als er unschlüssig etwas abseits auf dem Rathausplatz stand.
„Nicht unbedingt“, gab Braunagel zu.
„Dann kommen Sie mit und ändern Sie’s.“
Das tat er, und verliebte sich mit jeder neuen Information ein Stückchen mehr in diese Stadt, die bislang lediglich ein Name für ihn gewesen war.