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© 2017 Duanna Mund
2. Auflage 2020
Umschlag- und Buchgestaltung:
Birgit und Franz Winkler, Anton Christian Glatz
Herstellung und Verlag:
BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt

ISBN 9783751962186

Inhaltsverzeichnis

Die handelnden Personen:

Ayasha Frau aus Damaskus / Syrien Name arabisch / bedeutet „Leben“
Samir Ayashas Mann Name arabisch / bedeutet „Begleiter bei abendlichem Gespräch“
Laith Ayahas Sohn Name arabisch / bedeutet „Löwe“
Lana Ayashas Tochter Name arabisch / Kurzform von Alana, bedeutet „die Schöne“
Sidi Ayashas Großvater Name ostarabisch / bedeutet „mein Großvater“
Tarek Junge aus dem Westjordanland / Israel Name arabisch / bedeutet „der an die Tür klopft“
Zahira Frau aus Mossul / Irak Name arabisch / bedeutet „hell, glänzend“
Hakim Zahiras Mann Name arabisch / bedeutet „der Weise“
Alkan Mann aus der Türkei Name türkisch / bedeutet „blutrot“
Goman junger Mann aus dem Norden Syriens Name kurdisch / bedeutet „der Gläubige“
Roye Gomans Schwester Name kurdisch / bedeutet „Sonne, Tag“
Reem Frau aus Syrien Name arabisch / bedeutet „weiße Antilope“
Christine Frau aus Österreich Name ursprünglich griechisch / bedeutet „die Gesalbte“

Die Elster

Endlich hatte Tarek sich so weit im Griff, dass das dröhnende Rauschen in seinen Ohren nachließ. Nur das heftige Pochen in der linken Schläfe hielt an und er vernahm deutlich, wie es gegen die Wand aus Dunkelheit schlug. Bevor der Schein der nackten Glühbirne erloschen war, hatte er sich genau eingeprägt, wo der Mann lag. Darin war er gut, das wusste er. Alles lediglich eine Frage der Übung. Genau hatte er Winkel und Entfernung vom Tisch zum schmalen Lederbeutel unter dem Hemd des Mannes studiert, das Hemd, dem man die Strapazen der letzten Wochen ansah, schmutzig und verdrückt wie es war. Die Knöpfe am Hals trug der Mann immer geschlossen, so als hätte er heute noch ein geschäftliches Treffen. ‚Wie dumm‘, dachte Tarek und erinnerte sich in der Dunkelheit an den abgewetzten Kragen, dem der dritte Knopf fehlte, ausgerechnet jener, unter dem der Lederbeutel verborgen gewesen wäre. Warum trug er nicht, wie die anderen, das weite, um die Hüfte gebundene Hemd der Bauern? Er hätte es darin besser gehabt. Alkan wäre nicht auf ihn aufmerksam geworden und hätte möglicherweise einen anderen ausgesucht. Der Städter war aufgefallen. Auf den ersten Blick sah man ihm an, dass da was zu holen war. Erneut fiel Tarek der Knopf ein. Er hatte ihn am Morgen desselben Tages unter dem Tisch gefunden und eingesteckt. Der Mann sollte ihn nicht finden.

Tarek visualisierte den Beutel vor seinem inneren Auge. Das half gegen die Aufregung. Wirklich, die Ruhe kehrte zurück. Er atmete tief ein. Jedes Mal war es so. Es brauchte einfach Zeit, bis die Panik wieder verging, die Panik, die kam, wie eine Woge, unaufhaltsam, wenn es finster wurde. Er war ihr ausgeliefert. Wie gut, Alkan schien ahnungslos zu sein. Beim Üben funktionierte Tarek und er lernte schnell. Alkan setzte große Stücke auf ihn und verließ sich darauf, dass Tarek zu allem bereit war, zu allem. Nun aber wartete Alkan draußen, gleich drüben beim Loch im Zaun. Der Gedanke zwang Tarek zur Konzentration. Er durfte nicht versagen, Alkan würde es nie akzeptieren. Jetzt besann er sich darauf, dass er auf die Frau des Mannes achten musste. Er lauschte. Gleich neben ihm lag sie, zwischen ihren beiden Kindern auf der Decke am Boden. Erleichtert vernahm er tiefe Atemzüge. Lange vor der Dämmerung waren sie erschöpft eingeschlafen. Ayasha, die Frau – er musste es vermeiden, ihr in die Augen zu blicken. Sie war die Einzige, die es in der Hand hatte, ihn von seinem Vorhaben abzubringen. Bei Laith, ihrem Sohn, galt es besonders vorsichtig zu sein. Der Kopf des Jungen lag wahrscheinlich wie zuvor auf den Beines des Vaters und er drehte sich unruhig hin und her.

Tarek horchte erneut hinüber zum Mann. Stille ... Lautlos setzte er den ersten Schritt hinüber zur linken Tischkante, um sich an dieser entlang zu tasten. Jetzt blieb nur noch ein halber Meter bis zur Brust des Mannes. Wenn er sich niederkniete, könnte er in der Dunkelheit besser die Höhe abschätzen. Sein Griff musste sicher sein. Für einen Augenblick fiel das Licht der Scheinwerfer eines vorbeifahrenden Autos durch die schmale Dachluke herein und tanzte gespenstisch über seine Hand. Tarek duckte sich, zuerst erschrocken über das verräterische Licht, dann über seine eigene heftige Bewegung. Er spürte, wie seine Hand vorfuhr und sich den Beutel griff. Als er seinen Fehler erkannte, war es bereits zu spät.

Die weit offenen Augen des Mannes fuhren wie ein flammendes Schwert auf ihn zu, noch bevor sich der feste Griff um sein Handgelenk schloss. Jetzt ging alles schnell. Ein schmerzerfüllter Schrei gellte durch den Raum, als Tarek seine Zähne in die Hand des Mannes rammte. Ein heftiger Ruck und das dünne Band, an dem der Lederbeutel hing, riss. Mit dem Instinkt eines gejagten Tieres stürzte Tarek hinüber zur Tür. Trotz völliger Dunkelheit wusste er genau, wo sich diese befand. Er trampelte über den Körper eines am Boden liegenden Menschen, trat auf etwas Weiches und verfing sich. Eine Decke – Fast wäre er … Tarek stürzte.

Panik – da war sie wieder. Alkan wartete. Während Tarek auf allen Vieren zur Tür kroch, hörte er Alkans Stimme, die ihn zwang zu denken: ‚Die Schwingen der Elster! Hoch! Erhebe dich! Du bist stark und schnell! Die Beute … sie gehört dir … Flieg! Flieg!‘ Vor dem Mann erreichte Tarek die Tür. ‚Flieg …‘ Dicht, ganz dicht konnte er ihn im Rücken spüren. Jetzt. Ein Griff von hinten. Der Mann – die Hand fuhr in die hereinströmende Nachtluft, ins Leere. ‚Dort, der Vogel! Hinterher …‘

— - —

Im Haus ging das Licht an, hell, viel zu hell. Die Menschen im Raum waren aufgesprungen. Geblendet blickten sie zur offen stehenden Tür, durch die die Kälte der Nacht hereindrang. Für einen Moment wagte es niemand, sich dieser zu nähern. Dann aber löste sich Ayasha von ihrer weinenden Tochter und ging zum schwarzen Rechteck, in dem ihr Mann verschwunden war. Wortlos blickte sie hinaus in die Dunkelheit. Es schien, als wollte sie rufen, doch ihre Stimme versagte. Laith drängte seine Mutter zur Seite und schrie: „Vater! Samir! Samir! Vater!“ Er lief hinaus in die Dunkelheit. „Vater!“

Niemand fand nach dem Vorfall wieder Schlaf. Zwei Männer sorgten rasch für Ruhe. Der Kleinere von ihnen zischte böse: „Die Grenzschutzpolizei! Gleich werden sie da sein!“ Alle zuckten zusammen. Der Lärm durfte nicht nach draußen dringen. Verzweifelt schaute sich Ayasha um und suchte den Mann, den Samir für den Transport zur bulgarischen Grenze angeworben hatte. Dieser blieb unauffindbar. Auch der Junge, der nie von seiner Seite gewichen war, schien verschwunden zu sein. Jetzt schlug der Kräftigere der Schlepper einer hysterisch weinenden Frau ins Gesicht. Augenblicklich verstummte diese. Alle blickten fassungslos in die kalten Augen des Mannes und niemand wagte es noch, einen Laut von sich zu geben.

Ayasha ließ sich widerstandslos von den Frauen auf ihren Platz zurückführen und saß wie erstarrt neben der Mulde der Decke, die vom schlafenden Körper ihres Mannes geblieben war. In dieser lag zusammengerollt ihre Tochter. Das Mädchen schien den Geruch des Vaters umschlingen zu wollen. Laith kehrte aus der Kälte der Nacht zurück und setzte sich zu seiner Mutter. Es tat weh, die zurückgebliebene Familie zu beobachten, so weh, dass keiner im Raum offen hinsah. Aus den Augenwinkeln beobachteten die verängstigten Menschen, wie Laith das abgerissene Lederband unter dem Tisch aufhob und seiner Mutter in die Hand legte. Dann wurde das Licht wieder ausgeschaltet. Das Bild blieb und alle wussten, dass es das Band von dem Beutel war, in welchem der Mann die Papiere der Familie aufbewahrt hatte. Die Finsternis stand als schwarze Ohnmacht im Raum.

Erst als die Dachluke nach endlos erscheinenden Stunden als schmutzig-graues Rechteck den Morgen ankündigte, schlichen zwei Männer hinaus ins Freie. Kurz fiel der Schein der Dämmerung auf den Boden des Raumes und Ayasha konnte sehen, dass die beiden Lehrer aus Großvaters Bergdorf sich auf die Suche nach Samir machten. Als die zwei nach einer Stunde wieder zurückkamen, waren die Vorbereitungen für den Aufbruch schon voll im Gange. Schnell, schnell – hinüber zum Lastwagen, dessen geöffnete Plane den Blick auf die leere Ladefläche frei gab. Einer der Lehrer blickte stumm hinüber zu Ayasha und erwiderte ihren fragenden Blick mit kaum merklichem Kopfschütteln. Der andere eilte bereits seiner Familie hinterher. Weil das Geräusch des gestarteten Motors hereindrang, stürmten nun auch die Letzten hinaus. Der Lehrer, der gerade Ayasha aufhelfen wollte, hielt in der Bewegung inne, als er ihren starren Blick sah. Die Frau würde zurückbleiben. Zuletzt eilte er den anderen hinterher.

Ayasha nahm von alledem nichts mehr wahr. Sie blickte ausdruckslos auf das Band in ihren Händen, als begriffe sie nicht. Laith hob das Stück Brot auf, das in der Eile des Aufbruchs zu Boden gefallen war. Er schabte mit seinen Fingernägeln den klebrigen Staub von der feuchten Rinde und legte den Laib in den Kittel seiner Mutter. Dann strich er über ihr wirres Haar und hüllte ihre hängenden Schultern in die Decke des Vaters. Laith, der Zwölfjährige, wirkte groß neben der in sich zusammengesunkenen Frau. Etwas hatte sich verändert. Er vernahm die schon vergessen geglaubten Worte des Vaters. Sie klangen laut und deutlich. Damals, als sie stehengeblieben waren, um ein letztes Mal hinüber zum Baum zu blicken, unter dem sie am Tag zuvor Sidi begraben hatten, Sidi, seinen Urgroßvater – Vaters Worte: „Du wirst die Familie führen, wenn ich es nicht mehr kann. Du, mein Sohn.“

Laith hatte ihnen wenig Beachtung geschenkt, denn Vater war immer da, wenn er gebraucht wurde, allmächtig, allwissend. Jetzt verstand er. Vater musste vorausgesehen haben, dass das Schicksal sie trennen würde. Aber allmächtig? War er auch allmächtig? Inschallah1! – Bald würde er wieder da sein! Es war nur vorübergehend, vielleicht schon morgen oder übermorgen. Laith spürte so etwas wie Zuversicht. Bis dahin galt: ‚Du wirst die Familie führen!‘

Der Junge versuchte seiner Stimme einen festen Klang zu geben: „Mutter ... Wir warten.“ Ayasha rührte sich nicht. „Mutter?“


1 Redewendung, die von arabisch sprechenden Christen, Juden und Muslimen verwendet wird, sinngemäß „So Gott will“

Ayasha

Jetzt ist es warm geworden und heute Morgen saß ein kleiner Vogel auf dem kahlen Baum vor meinem Fenster. Er muss hier neu sein, neu wie ich. Gestern war er jedenfalls noch nicht da. Ich kenne ihn nicht, wie vieles hier, und doch ist er vertraut wie das Gestern meines Lebens. In seinen Flügeln nistet die salzige Luft des Meeres. Wenn er das Trillern drüben im Strauch hört, antwortet er mit einem Echoruf. Die Melodie ist mir fremd und doch klingt sie lieblich wie das unbeschwerte Lied einer Hirtenflöte. „Jetzt wird es besser werden, Ayasha. Du wirst sehen!“, sagen die Frauen, als sie den Vogel erblicken.

Auch sie sind mir nicht vertraut, obwohl sie in meiner Sprache reden. Sie streifen das Tuch von den Haaren, jetzt, da die Sonne an Kraft gewinnt, und halten die Wangen ins Licht. Mich, die ich abseits stehe, holen sie in ihre Runde. Sie sagen: „Träume nicht vom Schatten der Aleppokiefer.“

Als ich zum Weiß der Berge am Ende der Welt hinüberblicke, drehen sie meinen Kopf zur Seite. Ahnen sie, dass ich mich an den Tag erinnere, an dem auf den Alawiten der Schnee lag? Daran, wie die Wände von Großvaters Haus erzitterten und Vaters Haare weiß wurden wie drüben die fernen Gipfel? Sie sorgen sich um mich, obwohl sie nichts von mir wissen können. Immer, wenn ich mich vor dem blutigen Kragen des Sommers fürchte, beruhigen sie mich und stellen sich vor die Bilder der Gewalt im Bildschirm des Fernsehers. Ich könne froh sein, meine Kinder bei mir zu haben. Was sollen die sagen, die allein gekommen sind? Besser gehe es mir als so manchen anderen.

Wir lehnen an der Wand des Hauses, in das wir vor wenigen Wochen eingezogen sind. Die Erde dampft die Restkühle der Nacht in die laue Luft des Tages. Bloßfüßig stehen wir, wie ich es von zu Hause in den Bergen gewohnt bin. Das Gras zwischen meinen Zehen scheint sich warm zu zittern und es flüstert meinen Toten zu. Das ist lauter als das Gerede der Frauen. Ich wehre mich gegen die aufkommende Unruhe und halte mir die Ohren zu. Es ist wirkungslos und wieder spüre ich, wie es in mir hochsteigt. Wie oft in letzter Zeit werde ich zornig und hoffe, beim nächsten Wutausbruch alles zu vergessen. Ich warte und bete darum, dass Rosa nicht mehr Tamariske sei, Grün nicht mehr Feige, Gelb nicht Zitrone und Rot? Rot … Rot darf Granatapfel bleiben, muss Granatapfel bleiben! Rot darf Damaszenerrose bleiben. Rot muss!

Die Frauen sagen: „Nouruz2 wird auch bleiben!“

Als hätten sie meine Gedanken gelesen. Heute, im ersten warmen Frühling, werden wir Nouruz feiern mit all seinen Farben, die das Fest ausmachen. Die Stimmen der Frauen lachen: „Der Tag hat die Nacht eingeholt und wird sie von nun an übertreffen!“

„Tahwil-e Sal3!“, jubeln sie.

Wie könnt ihr feiern? Den Weizen habt ihr nicht zum Keimen gebracht! Wo sind die flachen Schüsseln mit den grünen Schösslingen? Ihr müsst die beschädigten Gegenstände entsorgen, die zerbrochenen! Nichts ist so, wie es der Brauch befiehlt. Wie auch? Wir haben ja nichts mehr, weder hier noch zu Hause. Das Zerbrochene fehlt, das Ganze. Zudem haben sie auf die rituelle Körperreinigung vergessen, feiern einfach ohne Vorbereitung, mit Körpern, die nicht von Sünden befreit sind, ohne Waschungen, die die Seelen von ihren Qualen erlösen. Das Fest der Himmelfahrt von Jamshid, dem mythischen, iranischen König, findet in diesem Jahr fast zugleich mit dem Tag der Auferstehung Jesu Christi statt. Zwölf Tage muss unser Fest dauern, erklärten wir den Einheimischen. Und zu Hause tanzen wir.

Die Frauen entzünden ein kleines Feuer. Hier wird es große geben, am Karsamstag. Auch das haben wir gelernt und, dass die Einheimischen, wenn das Feuer heruntergebrannt ist, über die Glut springen – Jung und Alt, wie zu Hause an Charshanbe-Suri4. Während Zahira die Hände über die wärmenden Flammen hält, erzählt sie: „Hier legen die Eltern gefärbte Eier in kleine Nester und verstecken diese.“

Wenn sie spricht, klingt stets ein Lächeln in ihrer Stimme. Obwohl sie auch nicht länger in Österreich ist wie die anderen, rufen wir sie, wenn jemand zum Übersetzen gebraucht wird. Sie scheint gebildet zu sein, Zahira, die feingliedrige Frau aus dem Irak, die fließend Englisch spricht. Alle mögen sie und sie hat auch schon Freundschaft geschlossen mit der jungen Deutschlehrerin, die zweimal in der Woche ins Haus kommt. „Wenn die Kinder die Eier suchen“, fährt Zahira fort, „lässt man sie glauben, dass es ein Hase sei, der diesen Unfug treibt!“

Die Frauen schütteln die Köpfe und wundern sich, doch Brauch ist Brauch. Auf alle Fälle gefiele dieser Spaß dem Haji-Firuz5, das steht fest. Erzählten wir den Einheimischen von ihm, sie würden wohl ebenso erstaunt schmunzeln wie wir gerade. Er sieht ulkig aus, der rot gekleidete Mann mit seinem Magierhut, seinem schwarz-gefärbten Gesicht. Die Leute hier hätten ihre Freude daran, wie er mit seinem Tamburin durch die Gassen zieht und seine munteren Lieder singt, wie er die Menschen mit der guten Nachricht glücklich macht, mit seinen Geschichten vom kommenden Frühling. Die Sorgen verjagen, den Kopf hochhalten und fröhlich sein: Dafür steht der Haji-Firuz.

Es ist Nacht geworden. Das Feuer wärmt meine Hände kaum mehr, ist bloß knisternde Glut. Beunruhigt schaue ich mich nach Laith und Tarek um. Da sind die beiden. Sie haben sich in eine Decke gehüllt und schlafen auf dem Steinboden. Soll ich sie wecken? Nein, wie kleine Hunde, die sich gegenseitig wärmen, schmiegen sich die Bubenkörper aneinander. Lana lehnt an meiner Brust und blickt mit großen dunklen Augen in das rote Glimmen. Ich streiche zärtlich über das glatte Haar meiner Tochter. Niemals weicht sie von meiner Seite. Alle sind sie bei mir! Lana, Laith und Tarek, auch Tarek. Samir …?

Gleich wird er zur Tür herein kommen. Morgen oder übermorgen. Samir. Gleich ... Besser geht es mir als so manchen von ihnen. Was sollen die sagen, die allein gekommen sind?

Ich hebe den Blick. Dort, wo die Berge weiß waren, am Ende der Welt, ist jetzt nichts mehr. Nur Dunkelheit, und dennoch brennt sich das weiße Haupt meines Vaters erneut in meine Erinnerung. Müde bin ich. Ob ich jemals in meinem Leben derart müde war? Vielleicht solltest du aufhören zornig zu werden, denkt es in mir, nicht mehr darauf warten, alles zu vergessen!

Rot darf Granatapfel sein, Damaszenerrose, Ostereierrot – ja, das auch. Und – das Blut im Boden meiner Heimat.“


2 persisch, Name des Neujahrs- bzw. Frühlingsfestes, das am 20. oder 21. März gefeiert wird, sinngemäß „neuer Tag“

3 persisch, sinngemäß „Tag-und-Nacht-Gleiche“

4 persisch, Vorabend des letzten Mittwochs des Jahres im iranischen Kulturraum, sinngemäß „fröhlicher Mittwoch“

5 Nouruz-Botschafter

Der Zaun

Laith vermochte nicht zu sagen, wie viel Zeit vergangen war. Das Rechteck im Dach wechselte vom Weiß des Tages ins Schwarz der Nacht, wieder, immer wieder. „Wir warten“, sagte er, wenn er schlaflos im Bett lag. „Wir warten“, zu Lana, obwohl sie nicht fragte. „Wir warten“, zur Mutter, die stumm blieb.

Hinaus wagten sie sich nicht. Laith wusste, dass Mutter, auch wenn sie schwieg, es nicht geduldet hätte, dass sie sich der Gefahr aussetzten, entdeckt zu werden. Allein für die Notdurft verließen sie den Raum und hockten sich hinter die Brennnesseln beim Haus. Das Brot half den Hunger zu stillen, anfangs. Trinkwasser fanden sie in der trüben Pfütze, die vom Regen im rostigen Eimer vor dem Schuppen zurückgeblieben war. Lana wurde zunehmend unruhig, aber die Mutter schien es nicht zu bemerken. Laith half sich selbst, indem er dazu überging, seine kleine Schwester irgendwie zu beschäftigen.

Als Ayasha kurz eingeschlafen war, schlich er sich hinaus und klaubte Kiesel vom Rand des Schotterweges auf, die er in den Säcken seiner viel zu weiten Hose sammelte. Wieder zurück, begann er auf dem Boden des Raumes die Steinchen zu kleinen Ziegen und Schafen zu legen. Nicht lange und er musste Nachschub holen, denn Lana hatte augenblicklich begonnen, mitzubauen.

Als die Mutter erwachte, war bereits eine Landschaft entstanden. Das Bild von der Weide auf dem Hügel, das sie beim Blick aus dem Fenster im ersten Stock von Sidis Haus hatten. Die Mutter schwieg, dennoch sah sie, dass alles vorhanden war: der kleine Wald unten am Bach, die schroffen Felsen, ja selbst die Krallen des Baumes, in den letzten Sommer der Blitz gefahren war. Aus den kleinsten Kieseln, den wenigen glatten, runden, hatten sie Vater gelegt und Ro, den Hund.

Weil Laith es neben seiner stets wachen Mutter unmöglich war, den Raum unbemerkt zu verlassen, verlegten sich die Kinder am nächsten Tag darauf, die grauen Blumen, die der Schimmel an die Wand unter der Dachluke gezeichnet hatte, weiterzumalen. Mit dem kleinen Messer, das Laith zu seinem zwölften Geburtstag geschenkt bekommen hatte, kritzelten sie abwechselnd Muster und Linien in den blätternden Verputz. Ganz unten im Eck fanden sie Vater wieder, sie brauchten ihn nicht einmal zu zeichnen. Da war der dunkle, schmale Fleck, der zu zwei krakeligen Beinen auslief. Bloß den Kopf schwindelten sie noch dazu.

Noch unerträglicher als die Tage zogen sich die Nächte. Laith wusste, dass seine Mutter wach blieb. Er konnte ihre offenen Augen in der Dunkelheit sehen, bewegungslos hinüber zur Tür gerichtet und kalt wie das Glimmen der Milchstraße. Laiths Verstand erfasste nicht, warum er bei Mutters leerem Gesichtsausdruck an den Sternenbogen am Himmel denken musste. Oder doch? Sein Innerstes war erfüllt von Einsamkeit. Unerreichbar schien die Mutter, fern der Vater wie das letzte Gestirn im äußersten Winkel des Firmaments.

Das Rechteck im Dach war wie eine Erlösung, als es sich im Morgenlicht endlich von der schwarzen Erbarmungslosigkeit abhob. Laith stand auf und ging leise zur Tür. Als er zurückblickte, sah er, dass Mutter ihn beobachtete. Kein Wort kam über ihre Lippen und er trat hinaus. Das Blau des Wintertages ließ ihn kurz straucheln. Dann atmete er tief ein und folgte entschlossenen Schrittes den Spuren im Schnee, die hinüber zum Zaun führten. Dort angekommen sah er, dass die Abdrücke sich in zwei Linien entlang des Stacheldrahts teilten. Offensichtlich hatten die Lehrer der Dorfschule bei ihrer Suche nach seinem Vater den Zaun abgeschritten. Nachdem er sich zuerst nach rechts gewandt hatte und bis zum Ende der Spur gegangen war, versuchte Laith es in der entgegengesetzten Richtung. Hinter dem Wäldchen gelangte er zu einer Stelle, an der der Zaun eine Biegung machte und quer über ein Stoppelfeld zu einer kleinen Strauchgruppe führte. Er zögerte. Sollte er es wirklich wagen, seine Deckung zu verlassen? Erst nachdem er sich vergewissert hatte, dass weit und breit niemand zu sehen war, ging er los. Der Boden war hart. Bald kam Laith näher heran und er bemerkte, dass sich im Schnee, vor den Büschen eine aufgewühlte Grube befand. Da begann er zu laufen. Zuletzt stolperte er und ging zu Boden. Im selben Augenblick erkannte er, dass auch der Vater hier gestürzt war, denn die Spuren des Kampfes waren deutlich. Ein großes Loch klaffte im Zaun. Laith reckte vorsichtig den Kopf hinüber auf die andere Seite ... nichts. Drüben fiel das Gelände als steinige Wiese hinab in eine Senke. Das Gras war kaum von Schnee bedeckt und lag wie niedergemäht im eisigen Wind. Falls es hier jemals etwas gegeben hatte, was darauf hinwies, wo Vater zu finden wäre, war es längst hinweggewischt.

„In Gottes Namen“, murmelte Laith, wie er es von Vater gelernt hatte, und dann Mutters „Inschallah“.

Alles liegt in Gottes Hand, hatte Vater gesagt, als sie aufgebrochen waren und zurückgeblickt hatten, ein letztes Mal. Er spürte die Hand des Vaters in seiner, groß und warm. Sie spendete keinen Trost. Ermattet ließ Laith sich in die Grube zurücksinken und blickte hinauf zum Himmel. Am Rand seines Gesichtsfelds krallte sich der Zaun in sein Gehirn, der Zaun mit dem Fetzen eines abgerissenen Hemdärmels. Weiß war er, fast wie Schnee. Einzig die Fransen am Rand zeigten eine blutig-schwarze Linie, die wie in einer Bordüre als regelmäßiges Muster in den Stoff auslief. An der Kälte auf seinen Wangen spürte Laith, dass ihm die Tränen zu beiden Seiten des Gesichts hinunterliefen. Als sich sein verschwommener Blick wieder klärte, sah er, dass auf dem Draht eine Kette aus Eisblumen tanzte. Alles um ihn drehte sich.

Ein großer Vogel, dort – klar und deutlich. Plötzlich war er da und in dem Augenblick, da Laith ihn entdeckte, flog er krächzend hinüber, dorthin, wo Vater verschwunden war. Der Junge wusste, nie würde er seinen wippenden Flug vergessen, denn alles, was er Vater jemals sagen wollte, nahm er mit sich. Schwarz, weiß, schwarz, weiß brannten sich die Flügel in seine Seele ein. „Es ist nur eine Elster“, sagte er, um sich zu beruhigen, doch seine Stimme zerbrach …

Als sich der Schwindel in seinem Kopf gelegt hatte, erhob er sich und ging zurück zum Haus.

Ayasha

Wenn ich eine Geschichte zu erzählen hätte, wo würde sie beginnen? Was wäre ihr Schluss? Anfang und Ende – dazwischen fehlte ihr der Inhalt. Nichts, Leere! In welcher Zeit schriebe ich? Vergangenheit? Gegenwart? Zukunft – undenkbar. Woraus bestünde die Handlung, welche Personen spielten ihre Rollen? Ich – wo bin ich in meiner Geschichte? Da müsste doch die Mutter sein! Die Mutter für Laith und Lana, für Tarek, wenn schon der Vater fehlt.

Zahira zieht mir das Nachthemd über den Kopf und möchte mich zwingen aufzustehen. Nichts wird es mit dem Tag, der fernbleiben soll. Noch immer bin ich am Leben. So leicht geht es nicht vorbei, auch wenn ich gestorben bin letzte Nacht, im Schlaf. Letzte Nacht und all die Nächte davor.

Sie ist mein Feind – Zahira! Ich hasse sie, weil sie es verhindert, dass alles aufhört. Sie öffnet das Fenster über dem Bett, in dem ich wie angewachsen sitze. „Sieh nur! Der Frühling!“, sagt ihre sanfte, grausame Stimme und dann: „Die Sonne!“

Augenblicklich strömt der Duft des lila Strauches vom Nachbargarten herein. Ich schließe die Augen, um wenigstens nicht sehen zu müssen, wie es sich draußen zu Tode blüht. Das Leben – zerknüllt und weggeworfen – es ist unmöglich, dass es sich neu entfaltet. Irrtum. Täuschung. Es stimmt nicht, was Zahira sagt!

Süß drängt es herein, da helfen auch meine geschlossenen Augenlider nicht. Der Duft ist so schwer, dass er mich zu Boden zieht, hinein zum Mittelpunkt der Erde. Es gibt keinen Platz in der Welt, keinen Platz mehr in mir. Zahira nimmt mich in ihre Arme. Ich spüre ihre Berührung nicht, gerade darum stoße ich sie von mir. Weg, weg! Dann aber … ,Komm, versuch es noch einmal‘, will ich sagen. ,Nimm mich in die Arme! Ich lebe noch!‘

Die Decke, die ich mir über den Kopf gezogen habe, erstickt meine Stimme. Das Dunkel ist warm. Ich liebe diese Decke, denn in ihr spüre ich mich. Sie schmiegt sich um meinen Leib, formt mich, macht meinen Körper sichtbar. Dieser liegt da, wie eine zusammengerollte Katze. An den Konturen der Decke kann man sehen, dass es mich noch gibt.

Zahira versteht und ist geblieben. Sie hat begonnen, der Decke vorzulesen, Wörter, einzelne Wörter. Das ist gut so. Keine Geschichte, denn Geschichten gibt es nicht. Wörter sind harmlos und Zahira spricht in der fremden Sprache. „Ich, du, er, sie, es … – wir, ihr, sie. Ich gehe, du gehst, er geht, sie …“

Stille. „Gut – böse, warm – kalt, oben – unten, dick – dünn, hoch – tief, alt – … Wie war das doch gleich?“

Zahira überlegt. Unter meiner Decke stelle ich mir vor, wie sie nachdenkt. Wie sie vorgibt, nachzudenken. Natürlich weiß sie es! „leicht – schwer, vorne – hinten“, geht es weiter. „Dunkel – …“

Zahira zieht mir die Decke vom Gesicht. „... hell“, ergänze ich.

Ich sehe mein Aufgabenheft in ihren Händen und erinnere mich, dass gestern die Ausfüllübung unvollendet blieb. Zahira richtet meinen Polster zurecht, sodass ich mich aufsetzen kann, und legt mir den Bleistift in die Hand.

„Beeil dich“, muntert sie mich auf. „In einer halben Stunde gehen Laith und Tarek in die Schule.“

Ich stehe auf und ziehe mich an. Die Aufgabe kann ich später noch machen. Es sind ja bloß Wörter. Wörter und keine Geschichte.

Die Frauen

Zahira hatte lange darauf bestanden, dass Ayasha mitkommen sollte. Drei Zugfahrscheine für drei Frauen lagen für die Fahrt nach Graz bereit. Warum auch nicht? Heute hatten sie erstmals Ausgang und ihre Männer würden inzwischen auf die Kinder aufpassen. Der Vorschlag war von der Deutschlehrerin gekommen und weil sie ihren guten Willen zeigen wollten, ihre Bereitschaft, sich anzupassen, beschlossen sie mitzumachen. Was sollte den Frauen hier schon passieren? Es war ein sicheres Land, das sie endlich erreicht hatten, obwohl … Nein, es würde schon alles gut gehen. Jetzt ging es darum, Vertrauen zu haben. Dennoch war die Aufregung groß.