Bedenkt: den eignen Tod, den stirbt man nur.

Doch mit dem Tod der anderen muss man leben.“

Mascha Kalèko

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

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© 2020 Sabine Wöger

Illustration: Sabine Wöger

Veröffentlichung: Wolfgang Wöger

Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt

ISBN: 978-3-7519-4562-2

Ein Wort zuvor

Im Zuge langjähriger Seminartätigkeit zur Thematik der würdevollen Trauer- und Abschiedskultur in Alten- und Pflegeheimen, auch durch viele Dialoge mit den Pflegenden über die steigende Intensität an Sterbe- und Ablebensprozessen in Zeiten von Personalmangel, fühlte ich mich zum Verfassen dieses Buches angeregt. Es ist für mich immer wieder berührend mitzuerleben, wie sehr das betreuende Team um die palliative Sorge von alten Menschen bemüht ist, die Würde der Menschen über den Tod hinaus wahrt, und den Hinterbliebenen tröstend zur Seite steht.

Mein Ansinnen ist es, den engagierten Pflegekräften eine Hilfestellung für die Gestaltung der Trauer- und Abschiedskultur in den Altenpflegeeinrichtungen durch Ritualarbeit zur Verfügung zu stellen.

In den Kapiteln I bis IV wird grundlegendes Wissen über die Bedeutung, Zielsetzung, Struktur und Durchführung von Trauer- und Abschiedsritualen, im Kontext der hospizlichen und palliativen Sorge um alte Menschen, vermittelt. Danach werden in Kapitel V seelsorgliche Angebote, insbesondere Möglichkeiten zur Gestaltung demenzfreundlicher Gottesdienste, dargelegt. Beachtenswerte rechtliche und organisatorische Aspekte nach dem Ableben, werden in Kapitel VI beschrieben. Das Kapitel VII befasst sich mit pflege- und betreuungsrelevantem Wissen im Hinblick auf Sterben und Tod bei Mitgliedern von einigen ausgewählten gesetzlich anerkannten Kirchen und Religionsgesellschaften.

Möglichkeiten des würdevollen Gedenkens der verstorbenen Heimbewohnenden werden in Kapitel VIII behandelt. Wie die Mitbewohnenden über das Ableben einfühlsam informiert und in ihrer Trauer begleitet werden können, steht im neunten Kapitel.

Zu den Kategorien „Gedenken und Verabschieden“, „Würdigung“, „Liebe“, „Hoffnung/Unsterblichkeit der Seele“, „Loslassen, Trost erfahren, um Verzeihung bitten“, „Segnung“ und „Verabschieden des Leibes“ in Kapitel X und zu „Seelenpflege für das betreuende Team“ in Kapitel XI werden jeweils Rituale vorgestellt. Alle Rituale beinhalten Formulierungshilfen, da an mich oftmals eine entsprechende Bitte herangetragen wird. Nicht immer können Seelsorgende anwesend sein, und nicht alle Pflegenden fühlen sich zur freien Rede berufen. Im Praxisfeld bedarf es der täglichen Balancierung zwischen vielfachen Anforderungen an die Pflegenden auf der einen Seite und den begrenzten Ressourcen auf der anderen. Bei der Konzeption der einzelnen Rituale wurde daher auf Einfachheit in der Vorbereitung und auf die Praktikabilität in der Umsetzung Wert gelegt. Die Dauer der einzelnen Rituale liegt durchschnittlich bei 15 bis 30 Minuten und kann beliebig gekürzt oder verlängert werden.

Das zwölfte Kapitel, „Tröstendes“, weist eine Auswahl an überkonfessionellen und religiösen Texten, Gedichten und Geschichten, Bibelversen, Psalmen, Gebeten und Liedern auf.

Das letzte Kapitel, „Achtung Kerzenflamme“, wird mit der traurigen Brandchronologie in geriatrischen Pflegeeinrichtungen eingeleitet, um in weiterer Folge brandgefährliche Situationen und Brandschutzmaßnahmen aufzuzeigen.

Ich hoffe, die ohnehin schon höchst kompetente, wertvolle und menschliche Weise, in der Pflegende den alten Menschen und ihren Angehörigen beistehen, durch die Inhalte dieses Buches bereichern zu können.

In Dankbarkeit für Ihr Interesse

Inhaltsverzeichnis

  1. SPIRITUALITÄT UND RELIGIOSITÄT IM KONTEXT VON PALLIATIVE CARE
  2. RITUALE IM KONTEXT VON PALLIATIVE CARE
  3. RITUALTHEORIE
  4. GESTALTUNG VON RITUALEN
  5. ANGEBOTE DER SEELSORGE
  6. NACH DEM ABLEBEN
  7. STERBEN UND TOD IN GESETZLICH ANERKANNTEN KIRCHEN UND RELIGIONSGESELLSCHAFTEN
  8. WÜRDEVOLLES GEDENKEN
  9. MITBEWOHNENDE ÜBER DAS ABLEBEN VON HEIMBEWOHNENDEN INFORMIEREN
  10. TRAUER- UND ABSCHIEDSRITUALE
  11. SEELENPFLEGE FÜR DAS BETREUENDE TEAM
  12. TRÖSTENDES
  13. ACHTUNG KERZENFLAMME!
  14. LITERATUR

I SPIRITUALITÄT UND RELIGIOSITÄT IM KONTEXT VON PALLIATIVE CARE

Für eine Gesellschaft, die eine körperlich-geistige Unversehrtheit und die Fähigkeit zur Leistung idealisiert, ist die Tatsache der Vergänglichkeit allen Lebens besonders schwer zu verkraften. Schnelllebigkeit, Erlebensdichte und Erfolgsdruck hinterlassen zuwendungsbedürftige Seelen. Die Bedeutung eines ruhigen Innehaltens, das Erleben von Stille und emotionaler Präsenz und die Wahrnehmung der dem Menschen innewohnenden geistig-spirituellen Kraft werden oftmals unterschätzt. Dies ist wohl mit ausschlaggebend für die Tendenz, Trauer durch Aktionismus zu bewältigen, um den (drohenden) Verlustschmerz und Trauerweg abzukürzen.

Erst wenn Verzweiflung, Trauer und Ungewissheit spürbar sind, menschlich Mach- und Verstehbares ausgeschöpft ist oder ein persönliches Ringen um Sinngebung und Transzendenz den Menschen bis an die Grenzen dehnt, eröffnet sich die Quelle des Spirituellen. Diese vermag das Leben mit Vertrauen, Hoffnung und Trost zu speisen: still und unaufdringlich.

„Spiritualität“

Der Begriff Spiritualität leitet sich vom lateinischen Wort „spiritus“ ab und bedeutet „Geist“, „Hauch“. Die Wortbedeutung ist vielseitig und lässt unterschiedliche Deutungen zu. Menschen fühlen sich in ihrem persönlichen Erleben dann spirituell bereichert, wenn sie sich im Kern ihres Menschseins zutiefst verstanden und behütet fühlen, im Sinne eines „Ich bin beseelt“ und „So wie es kommt, wird es gut sein.“ Spiritualität ist eine dem Menschen innewohnende geistige Kraft, die insbesondere in sensiblen Lebensübergängen und -phasen, etwa am Übergang vom Leben zum Tod, bedeutsam wird.

Spiritualität ist eine innere Einstellung, dank der ein Mensch dem Leben in einer jeden Stunde, vom Geborenwerden bis zum Sterben, versucht, in einer sinnvollen Haltung zu begegnen. In der säkularen Welt gibt es eine Spiritualität fern von einer Religionszugehörigkeit. Doch berichten ebenso religiös gebundene Menschen von tiefen spirituellen Erfahrungen, die den Glauben erst lebendig machen. Vor allem hilft Spiritualität dem Menschen bei der Suche nach einer persönlichen Sinngebung in existenziellen Lebenslagen. Unabhängig von der Konfession oder von der persönlichen Weltanschauung berichten Menschen von spirituellen Erfahrungen, die sich vor allem in der unmittelbaren zwischenmenschlichen Begegnung erschließen.

Der Arbeitskreis Seelsorge der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin definiert den Begriff „Spiritualität“ wie folgt: „Spiritualität ist die dynamische Dimension menschlichen Lebens, die sich darauf bezieht, wie Personen (individuell und in Gemeinschaft) Sinn, Bedeutung und Transzendenz erfahren, ausdrücken und/oder suchen und wie sie in Verbindung stehen mit dem Moment, dem eigenen Selbst, dem Anderen/m, mit der Natur, mit dem Signifikanten und/oder dem Heiligen“ (DGP Sektion Seelsorge, 2018, S. 1). Spiritualität umfasst den Bereich der existenziellen Fragen, der persönlichen Wertvorstellungen und der spirituell-religiösen Vorstellungen und Praktiken (ebd.).

„Religion“

Religion versteht sich als ein Sinnsystem, das von einer Gemeinschaft vermittelt und getragen wird. Bestimmte Rituale, Symbole und Werthaltungen ermöglichen den Gläubigen, sich mit einem höchsten Prinzip, welches das Grundlegende und Letztgültige von Leben und Welt umfasst, zu verbinden (Weiher, 2011, S. 32).

Religiosität bei Viktor Frankl

„Gott ist der Partner unserer intimsten Selbstgespräche“

(Frankl, 2006, S. 96).

Viktor Frankl, 1905–1997, ist der Begründer der Existenzanalyse und Logotherapie. Das ist eine wert- und sinnorientierte Richtung der Psychotherapie, die stark von seinen Deportationserfahrungen durch den Holocaust geprägt ist. Frankl überlebte vier Konzentrationslager: Theresienstadt, Ausschwitz, Dachau und Kaufering II. Seine Frau Tilly, sie war ebenfalls Jüdin und wurde deportiert, kam im August 1945 im KZ Bergen-Belsen zu einem Zeitpunkt zu Tode, zu dem ein Überleben bereits möglich gewesen wäre. Sie war extrem geschwächt und wurde am Tag der Befreiung durch die Engländer zu Tode getrampelt. Bis auf eine Schwester verlor Frankl alle anderen Familienmitglieder durch den Holocaust. Diese von mehrdimensionalem Schmerz erfüllten Jahre prägten wohl seine Beziehung zu Gott, mit dem ein „intra-personales Gespräch“ (2012, S. 56) geführt werden kann, wie er dies in seinem Werk „Der Wille zum Sinn“ beschreibt:

„Nun, Gott – der vom religiösen Menschen intendierte personale Gott – ist letztlich nichts anderes als gleichsam das Ur-Du. Ja, er ist es so sehr und so wesentlich, dass man eigentlich gar nicht von ihm, in der dritten Person sprechen kann, sondern jeweils nur zu ihm, in der zweiten Person. Und ich weiß nicht, ob es zum Beispiel einem Menschen, der einmal, sagen wir in einem Konzentrationslager war, im Graben gestanden ist und zu Gott gesprochen hat, ob es diesem Menschen jemals wieder möglich ist, auf einem Katheder zu stehen, sagen wir in diesem Hörsaal, und von Gott zu sprechen als von demselben, zu dem er damals im Graben gesprochen hat“ (Frankl, 2012, S. 56).

Die spirituelle Entwicklung meines Vaters

Ich denke an meinen Vater, der niemals religiöse Praktiken pflegte. Überhaupt war von „Gott“ in meiner Familie nie die Rede. Es lief mir als Jugendliche kalt über den Rücken, als mein Vater erstmals mit mir über seinen Tod sprach: „Wenn ich mal tot bin, dann: rein in die Kiste, Deckel zu und Erde darauf. Ende. Das wars dann.“

Jahrzehnte später erkrankte er schwer. Die Krebsdiagnose trat schlagartig in sein Leben und raffte ihn innerhalb weniger Wochen regelrecht dahin. Doch in ebenso kurzer Zeit eröffnete sich in ihm eine Spiritualität, die sein ganzes Wesen umhüllte, und die ich zuvor nur dann und wann erahnt hatte. Meinem Vater war es möglich, sich in seiner körperlichen und seelischen Not hoffend einem Über-Sinn anzuvertrauen. Er schien durch das Weltliche hindurchzublicken, obwohl seine Augen meist zu Boden gerichtet waren. Dennoch „sah“ mein Vater etwas viel Höheres, etwas, was uns alle übersteigt, wohl das, was wir als „göttlich“ bezeichnen.

Wenn wir ruhig werden und uns selbst zuwenden, wenn wir „in letzter Einsamkeit und in letzter Ehrlichkeit Zwiesprache halten mit uns selbst, ist es legitim, den Partner solcher Selbstgespräche Gott zu nennen, ungeachtet dessen, ob wir uns nun für atheistisch oder gläubig halten“ (Frankl, 2006, S. 96).

Mein sonst so aktiver Vater wurde still. Seine Wesentlichkeit, die geistige und liebende Präsenz, wurde groß und erfüllte den Raum. Wenige Tage vor seinem Ableben überließ ich mich meinen Gefühlsregungen und malte mit Acrylfarben ein Bild. Während er noch schlief, hing ich es frühmorgens in seinem Zimmer auf. Ganz ruhig betrachtete mein Vater das Bild. Eine lange Weile ließ er es auf sich wirken. Dann und wann löste sich eine Träne. Der Tumor in der Lunge verhielt sich ruhig, verschonte meinen Vater vor Luftnot und Angst. Es war, als ob die spirituelle Erfahrung die körperlichen Beschwerden meines Vaters entmachtete.

„Da, der goldene Faden, da gehts wohl hinauf“, sagte er.

Abbildung 1: Seelenbild für meinen Vater

Beim Malen kam ich mit dem Wissen um einen ersten und letzten Halt in unser aller Leben in Berührung. Der schwarze runde Kreis, links unten im Bild, zeugt vom Schicksalhaften, von dem kein Leben verschont bleibt. Das Dunkle steht für die Versäumnisse, für die Schuld, die wir auf uns laden, für das Leiden, das uns widerfährt. Doch hineingewoben sind Spuren in Gold, die sich zu einem Faden einen, der das ganze Leben über den Tod hinaus durchzieht. Der Faden ist dünn, weil so vieles die Spuren Gottes in unserem Leben übertönt und überschattet. Doch, dieser goldene Faden ist immer da.

Durch die Verwirklichung von Einstellungswerten ist mein Vater regelrecht über sich hinausgewachsen. Jede Minute wandelte sich für ihn zu einem „kleinen Leben“, das er seinen Möglichkeiten gemäß mit Sinn erfüllte. Sein Leiden ertrug er klaglos, obwohl er so sehr auf ein paar gute Jahre während seiner Pensionierung, nach jahrzehntelanger Schichtarbeit, gehofft hatte. Seiner Liebe zu mir ließ er freien Lauf und sparte auch nicht mit tröstenden Worten, wenn mich das Trauerweh wieder einmal bis in meinen tiefsten Kern erfasst hatte. Mein Vater fand am Ende seines Lebens den Zugang zu einer ihm längst innewohnenden tiefen Spiritualität.

II RITUALE IM KONTEXT VON PALLIATIVE CARE

Am Ende eines Lebens sind nicht nur körperliche Bedürfnisse zu erfüllen, auch religiöse und spirituelle Themen und Fragen gewinnen zunehmend an Bedeutung.

Die spirituelle Dimension bei Cicely Saunders

Durch die in England geborene Krankenschwester, Sozialarbeiterin und spätere Ärztin Cicely Mary Strode Saunders, 1916–2005, erfuhr der ursprüngliche Hospizgedanke eine Neubelebung. Ende der 1960er-Jahre prägte sie den Begriff „Totaler Schmerz“ und revolutionierte damit den Umgang mit Schwerkranken. Sie beschrieb die Komplexität des Schmerzes durch das Zusammenwirken von vier Schmerzkomponenten. Demnach hat Schmerz körperliche, seelische, soziale und spirituelle Anteile. Eine nicht gesühnte Schuld kann, bei einem Glauben an einen richtenden und strafenden Gott, spirituelle Schmerzen in Form von Scham und Angst hervorrufen. Ebenso die Ungewissheit darüber, ob es eine den Menschen übersteigende und wohlwollende Macht überhaupt gibt, vermag den Geist zu beunruhigen, zu ängstigen. Nicht zu wissen, ob es die bedingungslose Liebe und eine letzte Gerechtigkeit gibt, kann der Erfahrung von spirituellem Heil entgegenstehen. Saunders wollte von der jüdisch-christlichen Tradition einen Bogen zu einer universalen Offenheit gegenüber Menschen mit je unterschiedlichen Überzeugungen spannen und erachtete einen überkonfessionellen Betreuungsansatz von Palliative Care für selbstverständlich. Auch in der von der Weltgesundheitsorganisation vorgelegten Definition von Palliative Care von 1990 kommt die Bedeutung der Spiritualität der Erkrankten zum Ausdruck: „[…] Palliative Care […] integrates the psychological and spiritual aspects of patient care“ (S. 11).

Ritual

Weil es je nach Disziplin eine Vielzahl und zugleich kontrovers diskutierter Definitionen zum Ritualbegriff gibt, mutmaßen Schäfer und Wimmer, ob das Ritual „einen irreduziblen Kern von Unbestimmtheit trägt, die seine Definition bisher so schwierig gemacht hat“ (1998, S. 9). Das lateinische Wort „ritus“ bedeutet „heiliger Brauch“ oder „Sitte“ (Langenscheidt, 2019). Im übertragenen Sinne sind damit Zeremonien oder Gewohnheiten im Allgemeinen gemeint. Der weiter gefasste Begriff des Rituals führt in die christliche Kultpraxis, wonach die christliche Liturgie an sich als ein Ritual zu verstehen ist. Das Ritual wird einerseits mit Wiederholbarkeit und Tradition konnotiert, andererseits ist damit auch etwas Kreatives und Transformierendes gemeint (Wildt & Gerhards, 2016, S. 2).

Rituale prägen unser Leben in sämtlichen familiären, religiösen, kulturellen, politischen und wirtschaftlichen Kontexten. Im Kontext von Palliative Care haben sie eine immens wichtige und vielfältige Bedeutung für Menschen in jedem Lebensalter: für die Erkrankten, für die An- und Zugehörigen, für die Betreuenden, für die Mitbewohnenden bzw. -patient*innen und schließlich für die Trauer- und Abschiedskultur einer Gesellschaft.

Nicht zu wissen, wann der Tod in das eigene Leben oder in das von geliebten Menschen tritt, ist ein anthropologisches Phänomen. Oftmals kommt er zu einer Unzeit oder entgegen der Natur, etwa wenn Kinder vor den Eltern sterben. Ich frage mich, ob es einen geeigneten Zeitpunkt des Ablebens überhaupt geben könnte, hätten wir die Möglichkeit, diesen selbst zu wählen. Wenn wir auch darum bemüht sind, durch eine gesunde Lebensweise Krankheiten vorzubeugen, durch Hightech-Medizin das Leben trotz schwerster Erkrankung zu verlängern und den Tod hinauszuzögern, so ist er doch etwas Vorgegebenes und entzieht sich jeglichen Bemühens, ihm zu entkommen. Den Umstand, dass der Mensch um die Begrenztheit seiner Existenz weiß, erleben die einen als Tragik, andere wiederum als Chance zur Intensivierung des Lebens, da Wesentliches eher verwirklicht statt aufgeschoben wird. Für jene, die über kein stabiles und intrinsisch verankertes Glaubensfundament verfügen, liegt eine oftmals lebensbegleitende Herausforderung darin, mit der Radikalität der Todesexistenz und der Unbeeinflussbarkeit derselben durch den Menschen zurechtzukommen.

Trauerreaktionen sind demnach häufig von Erschütterung und Betroffenheit, Verzweiflung und Orientierungslosigkeit, Reue, von Erschöpfung, Unruhe, Wut, Erleichterung, Scham und Angst begleitet und brauchen einen besonderen Umgang. Auch dann, wenn uns die Angst vor der Endlichkeit durch die Fülle dramatischer Berichterstattungen zu überschwemmen droht, vermag ein Ritual übermäßige Ängste zu verringern, das Vertrauen in das Leben zu stärken, den Glauben an einen Über-Sinn und die Hoffnung auf ein Weiterleben zu intensiveren. Rituale ebnen den Weg, uns als Seiende in einem umfassenden Dasein zu erfahren.

Rituale unterstützen in sensiblen Lebensphasen

Neben den gesellschaftlich üblichen und religiös motivierten Ritualen wie Taufe, Erstkommunion und den traditionellen Gebräuchen zur Oster- und Weihnachtszeit gibt es auch Rituale für konkrete Anlässe. Sie sind situativ einmalig und können in sensiblen Lebensphasen und -übergängen durchgeführt werden. Abschied und die wandelnde Kraft der Trauer charakterisieren diese Zeiten, die die Pforten des Neubeginns in einer inneren gereiften Haltung öffnen. Wenn Kinder Erwachsene werden, aus dem Elternhaus ausziehen und ihre Sorgen mit den Partner*innen und nicht mehr mit den Eltern teilen, gilt es, Abschied zu nehmen. Das Bisherige bedarf eines versöhnten Loslassens, um sich für das Künftige bereit zu machen und lebensbejahend in die Zukunft gehen zu können. Der Beginn der Menopause markiert eine biologische Wende im Leben einer Frau und macht bewusst, dass bereits zwei Drittel der Lebenszeit verstrichen sind. Aber auch der Verkauf einer Immobilie, die wegen einer Ehescheidung nicht mehr zu finanzieren ist, bedeutet mitunter einen materiellen Schmerz, den es zu betrauern gilt, um im neuen Heim innerlich anzukommen. Wenn Schicksale, ob von Menschen oder Tieren, uns zwar nicht direkt betreffen, dennoch Trauer und Fassungslosigkeit in uns hervorrufen, helfen Rituale. Einerseits dienen sie uns selbst, um mit der Realität immenser Tragik weiterleben zu können. Andererseits bereichern sie die geistige Welt durch begleitendes und mitfühlendes Dasein oder auch durch das Gebet für die Betroffenen. Bei dem von Oktober 2019 bis März 2020 wütenden Buschfeuer in Australien kamen nicht nur Menschen ums Leben, es verendete, laut Schätzungen zu Jahresbeginn 2020, etwa eine Milliarde Tiere. In einem Ritual anlässlich dieser und ähnlicher Katastrophen, ich denke hier beispielhaft an die Zerstörung der artenreichen Ökosysteme durch (gelegte) Brände im Amazonas-Regenwald, gebe ich ein Quäntchen meiner Wut und Ohnmacht ab, um letztlich in mir die Hoffnung auf tragfähige politische Entscheidungen und zeitnahe Aufforstung der Wälder wieder zu stärken.

fahr