Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

© 2020 Sabine Wöger

Illustration: Sabine Wöger

Veröffentlichung: Wolfgang Wöger

Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt

ISBN: 978-3-7519-4595-0

Widmung

Für die Lebens- und Sozialberatenden
und für ihre individuellen Bemühungen,
zu einem wert- und sinnstiftenden Leben anderer beizutragen.

Erfahrungen und Gedanken vorweg

Seitens der „Europäischen Akademie für Logotherapie und Psychologie“ wurde ich beauftragt, ein Seminar zum Thema „Krise“ für angehende Lebens- und Sozialberatende1 bzw. Psychologische Beratende zu halten. Aus dem geplanten „Seminar“ wurde kurzfristig ein „Webinar“. Ich sollte das Thema „Krise“ inmitten der „Coronavirus-Krise“ lehren. Die Umstände haben die Teilnehmenden und mich etwas direkter in die Thematik hineingeworfen als vorgesehen. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich noch keine Erfahrung mit Online-Seminaren. Zunächst war ich zurückhaltend und überlegte, ob das angedachte Programm dazu geeignet sei, den mir überaus bedeutsamen Beziehungsaufbau zu den Seminarteilnehmenden herzustellen, und ob es möglich sei, das Seminar interaktiv zu gestalten. Auch Praxisnähe und die Durchführung von Selbsterfahrungsübungen waren mir wichtig. Nach anfänglichem Zögern entschied ich mich dazu, diese Herausforderung anzunehmen und begann, meine Lehrmethodik entsprechend zu adaptieren. Hierzu motivierte und unterstützte mich mein Ehemann, der im EDV-Bereich sehr versiert ist. Auch für die Teilnehmenden war diese Form des Lehrens eine völlig neue Erfahrung. Einige von ihnen waren „noch gar nicht Freund mit dem Computer“, erzählten sie mir. Dennoch beobachtete ich Folgendes:

Alle bekundeten ihre Bereitschaft, sich auf dieses neue Vorhaben einzulassen. Verfügbare Ressourcen wurden aufgegriffen und neue wurden entwickelt. Den Teilnehmenden war es möglich, sich von den beängstigenden Tagesnachrichten und den privaten, auch existenziellen, Sorgen im Zusammenhang mit der Coronavirus-Krise zu distanzieren. Stattdessen ließen sie sich mit hoher Konzentration auf die Seminarinhalte ein. Alle waren überaus diszipliniert, so wurden beispielsweise die anfangs dargelegten Kommunikationsregeln eingehalten, und nach den Pausen saßen alle wieder pünktlich vor ihren Bildschirmen. Im Zuge der Seminarevaluierung wurde das „Ungewohnte“ und auch „die anfängliche Angst davor“ thematisiert, jedoch gab es überwiegend positive Rückmeldungen. Die Teilnehmenden waren für die Möglichkeit der fortdauernden Ausbildung via Webinar dankbar. Vor allem jene, die sonst von Ferne anreisen mussten, konnten auf diese Weise Geld sparen, zudem wurde die Umwelt nicht zusätzlich belastet. Auch das Zeitaufgebot für die An- und Abreise und das damit verbundene Unfallrisiko sind weggefallen. Betont wurde zudem, dass während der geltenden Ausgangsbeschränkungen im Zuge der Gesundheitskrise die Zeit „sinnvoll genutzt wurde“. Wenn auch in einer anderen Weise, so fanden auch via Webinar berührende Dialoge statt. Unter anderem fiel mir auf, dass mit Fortschreiten des Seminares das konzentrierte Zuhören zunehmend intensiver wurde. Was gesagt wurde, war wesentlich. Es gab auch mehr Gesprächspausen als in Präsenzseminaren, wodurch zuvor Geäußertes wie von selbst einer Vertiefung zugeführt wurde.

Diese Erfahrung zeigte mir einmal mehr, dass Menschen in Krisen nicht zwangsläufig hilflose Opfer werden und andere für die Umstände verantwortlich machen müssen, um letztlich in eine noetische Starre zu verfallen. Was sich in diesem Webinar im Kleinen entwickelte, geschieht auch in der Bewältigung von Krisen immensen Ausmaßes im Großen, wie jene der Corona-Pandemie, und allem zum Trotz.

Krisen bringen nicht nur die Grenzen, sondern auch die Möglichkeiten des Menschen und einer Gesellschaft hervor. Egozentrismus wird von einem „Wir-Gefühl“ und von der Bereitschaft zum kollektiven Zusammenhalt abgelöst. Klage, Ohnmacht und Ängste setzen schöpferische, kreative Kräfte frei: Menschen packen ihre Gitarren und Liederbücher aus, andere holen die Malutensilien aus der Schublade und gestehen sich etwas irritiert ein, dass sie nun endlich für lang aufgeschobene Vorhaben Zeit hätten. Die Menschen initiieren zudem auf der Suche nach sinnvollen Aufgaben grandiose Projekte, um anderen zu helfen. Die Politiker*innen unseres Landes bemühen sich um rasche unbürokratische Lösungen. Helfende wachsen bei der Erfüllung dringlicher Anliegen ihrer Mitmenschen regelrecht über sich hinaus, lassen dadurch das Edle am Menschen hell erstrahlen.

Die Lebens- und Sozialberatung ist die professionelle Beratung und Betreuung von Menschen in Problem- und Entscheidungssituationen. Sie trägt dazu bei, belastende Situationen zu erleichtern, zu verändern sowie realisierbare und nachhaltige Lösungen für die Zukunft zu finden. Psychologisch Beratende bilden gemeinsam mit anderen helfenden Berufsgruppen eine wertvolle Säule im Gesundheitswesen. Sie Beraten und Begleiten in individuellen herausfordernden Lebenslagen. Vor allem in Zeiten der Krisen kann die Bedeutung der logotherapeutischen Beratung gar nicht hoch genug geschätzt werden, stehen hierbei doch die gesunden Anteile des Menschen im Vordergrund. In der Lebens- und Sozialberatung gilt es, einen Rahmen zur Verfügung zu stellen, um den Möglichkeitsraum von Krisen-Betroffenen zu öffnen und zu weiten – hierbei unterstützt die logotherapeutische Haltung. Diese hat vor allem die Selbstkompetenzen der Betroffenen sowie die Ressourcen und Entwicklungspotenziale, aber auch den geistigen Freiraum zur individuellen Beantwortung von schwierigen Lebensfragen im Blick.

Wichtig erscheint mir, dass Psychologische Beratende Zeit und Raum so gestalten, dass sich Menschen in Krisen beruhigen und sich ihrem Inneren zuwenden können. Dann vernehmen sie die Stimme des Gewissens, entwickeln hilfreiche Einstellungen, treffen und verantworten schlussendlich richtungsweisende Entscheidungen und Prozesse der Neuorientierung.

Die Berufsgruppe der Lebens- und Sozialberatenden bereichert unsere Gesellschaft: Ihre Vertretenden stehen achtsam, hörend und empathisch zur Seite. Sie beraten und begleiten.

Ihnen gilt mit diesem Buch mein aufrichtiger Dank für ihr umfassendes Engagement.


1 Vertretende des Gewerbes der Lebens- und Sozialberatung werden in diesem Buch abwechselnd auch als „Psychologische Beratende“ bezeichnet.

Inhalt
I LOGOTHERAPEUTISCHES MENSCHENBILD

Der Mensch ist wert- und sinnstrebig, nicht trieb- oder machtstrebig

Es macht einen Unterschied, ob eine Person vom Beratenden als ein Individuum gesehen wird, das lust- oder machtstrebend und somit den Trieben und Gestimmtheiten hilflos ausgeliefert ist, oder ob die Wert- und Sinnorientierung das Sein und Wirken einer Person bestimmt und sie daher der ethischen Reflexion angesichts existenzieller Herausforderungen fähig ist. Was Beratende in einem Menschen sehen, was sie ihm heimlich unterstellen bzw. überzeugt zutrauen, ist mitentscheidend dafür, was Klient*innen untergraben und verheimlichen oder entfalten und für ein gutes Leben (aller) einsetzen.

Leben und Werk von Viktor Frankl

Dr. med., Dr. phil., Dr. h. c. mult. Viktor Emil Frankl, 1905 bis 1997, ist der Begründer einer sinn- und wertorientierten Richtung in der Psychotherapie, der Logotherapie. Das griechische Wort „logos“ bedeutet Sinn. Die Entwicklung der Existenzanalyse und Logotherapie ist eng mit der Deportations- und Konzentrationslagererfahrung Frankls verbunden, so als wollte das Schicksal Frankl an seinen eigenen Thesen messen (Frankl, 2002, S. 10). Er selbst gab ein personales und überaus eindrückliches Zeugnis davon, dass es trotz schwerster Schicksalszuwendung möglich ist, einer solchen dennoch in lebensbejahender, sinnstiftender Weise zu begegnen. Als Gefangener in mehreren Konzentrationslagern und als trauernder Hinterbliebener, nahezu seine ganze Familie kam in Konzentrationslagern ums Leben, erschloss sich ihm die Erkenntnis, dass sich die Frage nach dem Lebenssinn gerade in jener Totalität stellt, die auch das Leiden, das Sterben und den Tod, von ihm als „tragische Trias“ bezeichnet, miteinschließt. Eindrücklich schildert Frankl seine Erfahrungen in deutschen Konzentrationslagern in dem Buch „… trotzdem Ja zum Leben sagen“ (Frankl, 1982). Der Arzt, er war Neurologe und Psychiater, später Psychotherapeut, ermutigt die Lesenden zur aktiven Auseinandersetzung und Gestaltung des je individuellen Schicksalsraumes, in dem kein Mensch durch eine andere Person vertretbar ist. Er appelliert an die Erfüllung des damit einhergehenden individuellen Auftrages an die Person, an die eine „Forderung der Stunde“ (Frankl, 1982, S. 127) mit einem individuellen Auftragscharakter gerichtet ist.

Drei Säulen der Logotherapie

Die Logotherapie umfasst drei Säulen: eine Anthropologie, eine beraterisch–therapeutische Theorie und eine methodisch–strukturierte Praxis. Die drei Bereiche sind durch einen Theoriekern miteinander verbunden. Dieser konstituiert sich durch das Phänomen des Geistig-Personalen, das Ausgerichtet-Sein auf Sinn und Werte, wie auch der Verantwortlichkeit, der die Freiheit des Menschen zugrunde liegt.

Die Gefahr der Verkennung des zutiefst Menschlichen am Menschen! Zentrale Unterschiede zwischen Logotherapie, Psychoanalyse und Individualpsychologie

Laut Viktor Frankl vermochte das psychoanalytische Modell von Sigmund Freud die menschliche Psyche aufgrund der Vernachlässigung der noetischen Dimension nur fragmentarisch zu erfassen. Kritisch äußert er sich über den entlarvenden Zugang der Tiefenpsychologie, da dieser die Gefahr in sich berge, zutiefst Menschliches am Menschen einer Fehlinterpretation zu unterziehen. Er verdeutlicht dies am Beispiel von sozial engagierten Menschen, denen irrtümlich Selbstherrlichkeit als Motiv für ihr soziales Engagement unterstellt und dieses zudem als behandlungsbedürftiger Komplex verstanden wurde (Frankl, 2012, S. 16). Aus Sicht von Frankl bedeutet das Lustprinzip der Freudschen Psychoanalyse ein psychologisches Artefakt, da Lust nicht als Ziel menschlicher Strebungen interpretiert werden könne, sondern als Folge ihrer Erfüllung, gemäß dem intentionalen Charakter psychischer Aktivität (Frankl, 1946, S. 27). Humangeistige Inhalte wie Zusammenhalt, Hilfsbereitschaft und die Fähigkeit, zugunsten höherer Werte eigene Bedürfnisse zurückzustellen, demnach entschieden einen Verzicht in Kauf zu nehmen, wurden von Freud triebdynamisch interpretiert, als pathologische Ersatzsymptomatik oder als Sublimierungen überschüssiger Libido bewertet.

Das therapeutische Ziel der Individualpsychologie liegt in der Einbeziehung des Symptoms in die persönliche Verantwortungssphäre von Neurotiker*innen und in der Weitung der Ich-Sphäre durch einen Zuwachs an Selbstverantwortung. Aus individualpsychologischer Sicht intendieren Neurotiker*innen durch das Arrangement mit dem Symptom seine Exkulpation. Nach Krankheitslegitimation strebend meiden sie einen selbstverantwortlichen Umgang mit einer Situation, was eine Ich-Einschränkung nach sich zieht. Frankl stand der Eindimensionalität des individualpsychologischen Ansatzes kritisch gegenüber, da seelische Störungen nicht primär auf Frustrationen des Gemeinschaftsgefühls und des Macht- und Geltungsstrebens beruhen.

Sinnvolles Wirken erhöht den Menschen

Aus logotherapeutischer Sicht kommt gerade der Hinwendung zu einer sinnvollen Aufgabe bei der Bewältigung einer Krise eine hohe Bedeutung zu. Indem die Person von sich selbst abrückt, ja geradezu über sich selbst hinauswächst, erfährt sie zwischenzeitlich eine heilsame Distanzierung von Problemlagen und erfasst ihr Dasein als sinnvoll.

Einander ergänzende Aspekte: Bewusst-Sein als auch Verantwortlichsein

In der Logotherapie bilden nicht das Bewusst-Sein oder das Verantwortlichsein, sondern sowohl das Bewusstsein als auch das Verantwortlichsein einander ergänzende Aspekte des Menschseins. Im Unterschied zur Psychoanalyse, die den ‚Willen zur Lust‘ und die Bewusstmachung des Seelischen anstrebt, auch anders als die Individualpsychologie, die den ‚Willen zur Macht‘ als das eigentlich menschliche Streben definiert, forscht die Logotherapie um die Bewusstmachung des Geistigen, weshalb sie als eine „Psychotherapie vom Geistigen her“ (Frankl, 1946, S. 20) bezeichnet wird.

Entgegen dem Nihilismus

Frankl warnte davor, den Menschen zu korrumpieren und seinen Nihilismus zu vertiefen, indem man ihn zu einem Homunkulus degradiert und als „Spielball von Reaktionen und Instinkten“ oder als „ein Produkt von Trieben, Erbe und Umwelt“ (Frankl, 1946, S. 60) versteht.

Jeder Mensch ist ein absolutes Novum

„Das Ziel einer logotherapeutischen Behandlung liegt in der Hervorbringung

und Verwirklichung der bislang verborgenen

essentiellen Gestalt einer Person“ (Kurz, 1999, S. 20).

Ein Leben reift dann zu einem sinnvollen Ganzen, wenn das je und zutiefst Eigene in der Welt sinnstiftend wirksam werden kann, frei von jeglicher Maskierung. Je de-maskierter eine Person das Leben lebt, desto menschlicher und weiser, weil gewissenstreuer, sind ihre zwischenmenschlichen Interaktionen, Entscheidungen und Aktivitäten. Menschen wirken auf einzigartige Weise in die Welt hinein und werden gerade in dieser Originalität gebraucht: die Straßenkehrenden und Raumpflegenden, die Mediziner*innen und Politolog*innen, die Gesunden und die Kranken, die Alten und die Jungen. In der Bewältigung von Krisen kommt vor allem dem Gewissen eine richtungsweisende Funktion zu, die bei schwierigen Entscheidungsprozessen äußert unterstützend ist.

Jede existenzielle Herausforderung verlangt nach einem konkreten und selbstverantworteten Dasein einer Person

Kein Mensch und kein Schicksal ist mit einem anderen vergleichbar, sie haben demnach den Charakter von Einzigartigkeit und Einmaligkeit. Im Konzentrationslager erschloss sich Frankl und den Gefangenen die Erkenntnis, dass der Sinn des Lebens in jener Totalität bedeutsam ist, die auch den Tod miteinschließt. Demnach, so Frankl, ist nicht nur der Sinn des Lebens, sondern auch der des Leides und des Sterbens gewährleistet. Frankl verwies auf die Notwendigkeit, neben der Vermittlung von Wissen auch das Gewissen ständig zu verfeinern, um die einer jeden Situation innewohnende Forderung heraushören zu können.

Er [der Mensch] hat nicht zu fragen, er ist vielmehr der vom Leben her Befragte, der dem Leben zu antworten – das Leben zu ver-antworten hat. Die Antworten aber, die der Mensch gibt, können nur konkrete Antworten auf konkrete ‚Lebensfragen‘ sein. In der Verantwortung des Daseins erfolgt ihre Beantwortung […]. (Frankl, 2009, S. 48)

Jede Krisensituation ist inhaltlich, im Hinblick auf die Schwere und auf die Konsequenzen, speziell und mit keiner anderen vergleichbar. Die davon Betroffenen können in der Weise und individuell darauf reagieren, wie es ihnen gemäß ihrer Entwicklung zum Krisenzeitpunkt möglich ist. Doch sie können ihr Antwortspektrum auch weiten, etwa durch Inanspruchnahme von professioneller Beratung, durch Literaturrecherche, Bibelstudium, durch kreatives Gestalten und vieles mehr.

Die Trotzmacht des Geistes

Die geistige Dimension übersteigt Soma und Psyche

In der geistigen Dimension menschlichen Seins liegen die freie Stellungnahme zu Leiblichkeit und Befindlichkeit, zu Soma und Psyche und ebenso die Intentionalität, die den Menschen zu einer selbstständigen Willensentscheidung befähigt.

Das Sinnorgan Gewissen

Bei der Aktivierung der geistigen Dimension erweist sich nach Frankl das Gewissen als hilfreich, von ihm auch als „Sinnorgan“ bezeichnet (Frankl, 2012, S. 24). Ein aktiviertes Gewissen wendet die Normen und Werte auf das unmittelbare, das vergangene wie auch das künftige Tun und Lassen eines Menschen an und urteilt über deren Wert. Somit kann es den Menschen anweisen, eine Handlung auszuüben oder zu kontrollieren.

In der Logotherapie wird diese spezifisch humane Dimension als geistige, „noetische Dimension“, bezeichnet. Der somatischen Ebene werden alle biologisch-physiologischen Körperfunktionen, der psychischen Ebene die Gestimmtheiten, Gefühle, Instinkte, Affekte und Begierden zugeordnet (Biller & Stiegeler, 2008, S. 111). Die somatische und psychische Ebene, auch „subnoetische Dimensionen“ bzw. „Psychophysikum“ genannt, sind nach Frankl der noetischen Dimension untergeordnet. Alleinig der Blick auf all die körperlichen und psychischen Reduzierungen und Verluste, die Menschen im Zuge einer Krise erfahren, würde das Menschlichste am Menschen, sein Wertgefüge, seine ihm angeborene Sehnsucht nach Sinn und somit die Fähigkeit zur geistigen Unabhängigkeit, deren er trotz Leiderfahrung fähig ist, außer Acht lassen (ebd., S. →–→). Der Mensch ist also nicht frei von biologischen, psychologischen und soziologischen Umständen, aber allemal ist und bleibt er frei, zu all diesen Bedingungen und Umständen Stellung zu beziehen, sei es, dass er sich ihnen unterwirft oder sei es, dass er sie überwindet, indem er Gebrauch macht von der Trotzmacht des Geistes (Frankl & Kreuzer, 1986, S. 76).

Die Person ist gemäß Frankl des aus sich selbst Heraus- und sich selbst Gegenübertretens fähig. Sie vermag qua geistiger Person, sich selbst qua psychophysischem Organismus einen Gegenpol zu bilden bzw. steht der psychophysische Parallelismus dem psychonoetischen Antagonismus gegenüber (Frankl, 2002, S. 60–62).

Eine wertfreie Logotherapie gibt es nicht

Laut Frankl gibt es keine Logotherapie, die sich aller Wertungen entziehen könnte. Gar meinte Frankl, wäre ein logotherapeutischer Zugang, der „sich für wertfrei hält, […] in Wirklichkeit bloß wertblind“ und zudem „geist-los“ (2002, S. 60).

Der Mensch kann sich selbst überschreiten

„Im Dienst an einer Sache oder in der Liebe zu einer Person

erfüllt der Mensch sich selbst. Je mehr er aufgeht in seiner Aufgabe,

je mehr er hingegeben ist an einen Partner, umso mehr ist er Mensch,

umso mehr wird er er selbst“ (Frankl, 2009, S. 18).

Die Person wird vom Leben befragt – nicht umgekehrt

Die Logotherapie ermutigt zum Perspektivenwechsel. Eine Person in leidvoller Bedrängnis ist dann nicht mehr die fragende, klagende, hadernde, die vom Leben erwartende und fordernde, sondern jene, die vom Leben selbst angefragt und dazu aufgefordert ist, nach den richtigen Antworten zu suchen, „denn“, so Frankl (1982, S. 125– 127), „kommt es im Leben nie und nimmer darauf an, was wir vom Leben noch zu erwarten haben, vielmehr lediglich darauf, was das Leben von uns erwartet.“

Sinnerfahrung und -stiftung trotz Leid, Schuld und Tod

Auf noch so Sinnloses vermag der Mensch dennoch sinnvoll zu reagieren. Die Fragen, die das Leben dem Menschen stellt, kann er sich nicht aussuchen. Wohl aber die Antworten, die die Person mit ihrer unvergleichbaren und einzigartigen geistigen Haltung gibt. Dadurch ver-antwort-et sie ihr Schicksal.

Anstatt über das Leben samt dem Schicksalhaften zu klagen und sich dadurch selbst und andere in eine Ohnmachtsstellung zu manövrieren, gilt es also, der tragischen Trias menschlicher Existenz, dazu gehören das Leid im Kontext von krisenhaften Lebenslagen, das Sterben und der Tod, in einer an Werten und Sinn ausgerichteten Haltung zu begegnen. Denn gerade dort, wo Hilf- und Hoffnungslosigkeit sich breitmachen, sind Menschen dazu aufgerufen, sich selbst zu ändern.

Selbsttranszendenz zugunsten höherer Werte und im Zuge von Krisen

Der Mensch kann sich selbst überschreiten, sofern er von einem Wert beseelt oder von einem Sinn erfüllt ist. Wir sind auf Gemeinschaft ausgerichtet und fähig, aufeinander Zuzugehen und Trennendes in kultureller, politischer oder religiöser Hinsicht zu überwinden. Nicht nur das Wohlergehen der eigenen Person ist bedeutsam, ebenso das der anderen, die Tier- und Pflanzenwelt miteingeschlossen. Menschen sind dazu fähig, zugunsten von Liebe, Frieden, Gesundheit, Natur- und Klimaschutz und für das Wohl nachkommender Generationen eigene Bedürfnisse entschieden zurückzustellen oder auch gänzlich darauf zu verzichten. Verzicht basiert demnach auf reflektierten geistigen Entscheidungen, fern jeglicher Triebdynamik.

Studierende starteten im Zuge des eingeschränkten Betriebes an österreichischen Hochschulen zahlreiche Hilfsprojekte während der Corona-Krise. Sie boten persönliche Assistenz und Abwicklung von Einkäufen in Geschäften und Apotheken für Menschen mit Beeinträchtigungen und andere Risikogruppen an. Autor*innen initiierten Lesungen via Livestream für Kinder und Erwachsene. Andere nahmen von sich aus Kontakt zu allein lebenden Menschen auf, um ihnen das Gefühl zu geben, dass jemand gerne für sie da ist, wieder andere versendeten Karten und Briefe mit rührenden, einander verbindenden Zeilen.

„Selbstverwirklichung“ bedarf der Sinnorientierung

Nach Frankls Auffassung kann sich der Mensch nur in dem Maße verwirklichen, in dem er einen Sinn draußen in der Welt, nicht aber in sich selbst erfüllt. Diesen Prozess nennt Frankl die „Selbsttranszendenz der menschlichen Existenz“ (Frankl & Kreuzer, 1986, S. 31). Eine Selbstverwirklichung, die auf etwas ausgerichtet ist, was nicht über den Menschen selbst hinausgeht, ist nach Frankl „sinn-los.“ „Mensch sein heißt ausgerichtet und hin geordnet sein auf etwas, das nicht wieder es selbst ist; auf etwas oder auf jemanden“ (ebd., S. →). Wirklich Mensch wird der Mensch erst dann und ganz er selbst ist er nur dort, wo er in der Hingabe für eine Aufgabe aufgeht, im Dienst an einer Sache oder in der Liebe zu einer anderen Person sich selbst übersieht und vergisst (ebd., S. →). Nicht die Forderungen des Menschen an das Leben, sondern dessen Erwartungen an die einzelne Person sind bedeutsam. Gemäß Frankl ist es für das menschliche Sein unerlässlich, sich im polaren Spannungsfeld zwischen Sein und Sollen zu bewegen.

Der Mensch ist frei und verantwortlich

Das Wesen des Menschen ist seine Freiheit und sie ist kein Akt bloßer Willkür. Hingegen fordert sie uns zur Überschreitung und Weitung unserer Möglichkeiten heraus, etwa bei gesellschaftspolitisch und ethisch schwierigen Fragen. Die Freiheit ist eng an die Bereitschaft zur Übernahme von Selbstverantwortung gekoppelt. Frankl konstituierte Existenz als eine, „dem Menschen arteigene, Seinsart“ (2002, S. 60), die sich dadurch auszeichnet, dass dem Menschen nicht ein faktisches, sondern ein fakultatives Sein eigentümlich ist, also nicht ein „Nun-einmal-so-und-nicht-anders-Müssen“, sondern ein „Immer-auch-anders-werden-Können“ (ebd., S. →).

Der Mensch ist Gestalter seines Lebens

Unseren vermeintlichen körperlichen Trieben und seelischen Gestimmtheiten sind wir nicht hilflos ausgeliefert. Wir sind keine Opfer, sondern Gestaltende unseres Lebens. Dank der geistigen Dimension können wir von uns selbst abrücken und zum Psychophysikum in eine fruchtbare Distanz treten. In positiver Weise trotzend werden wir erst dann ganz Mensch, wenn wir unser Sein wert- und sinnorientiert ausrichten.

„Logo-Chance“ statt „Corona-Challenge“

Manche Menschen missbrauchen den geistigen Freiraum und treffen hochbedenkliche, gefährliche Fehlentscheidungen, etwa im Falle der „Corona-Challenge“.

Während die Zahl der Todesfälle im Zuge der Coronavirus-Pandemie weltweit in die Höhe schnellten, wurde ein Video in den Social Media gepostet, in dem ein Mann zu sehen war, der in einem Geschäft genüsslich in einen Apfel biss, um ihn dann zurück in das Regal zu legen. Währenddessen filmte ihn ein anderer. Die beiden Männer betitelten diesen Film mit „Corona-Challenge“. Die Medien berichteten von einer „sinnlosen“ Aktion. Diese beiden jungen Männer waren weder krank noch reagierten sie infolge einer psychischen Überforderung. Ganz im Gegenteil: Sie missachteten und missbrauchten das spezifisch Humane, den geistigen Freiraum, der es uns ermöglicht, reflektierte Entscheidungen zu treffen, stets das Sinnstiftende vor Augen. Die beiden Männer gefährdeten nicht nur ihr eigenes Leben, sondern auch das ihrer Mitmenschen. Ein solches Verhalten ist strikt abzulehnen.

Gerade diese Menschen, die bewusst Schuld auf sich geladen haben, brauchen die Kompetenzen der Lebens- und Sozialberatenden. Die heile geistige Person dahinter kann ohne Reue und ohne eine eingehende Wertereflexion nicht mehr hervorgebracht werden. Beratende sind dabei ebenfalls in ihrer Selbsttranszendenz gefordert und müssen sich die Frage stellen: „Zugunsten welcher Werte macht es Sinn, Menschen, obwohl sie andere durch ihr Fehlverhalten bewusst einem Gesundheitsrisiko ausgesetzt haben, dennoch zuzuhören und tröstend und beratend zur Seite zu stehen?“

Die beiden Männer brauchen einen Gesprächsrahmen, in dem es möglich ist, ein Schuldbekenntnis zu geben, zu bereuen, um danach nach den Möglichkeiten der Wiedergutmachung zu forschen. Für Lebens- und Sozialberatende ist das nicht einfach. Dennoch ist es möglich, schließlich wollen wir doch auch den schuldig gewordenen Menschen nicht verlieren!

II BEDEUTUNG DER HALTUNG

Die Haltung beeinflusst das Verhalten

Das Menschenbild von Lebens- und Sozialberatenden beeinflusst entscheidend die Begegnung mit den Klient*innen und somit den gesamten Beratungsprozess. Die jeweilige Anthropologie beeinflusst die wirksame therapeutische Haltung und auch die Wirksamkeit diverser Interventionen. In der zwischenmenschlichen Begegnung ist spürbar, wie jemand einem anderen gegenüber eingestellt ist. Die schönsten Worte hinterlassen keinen emotionalen Eindruck, wurden sie aus Vernunftgründen hervorgepresst. Das Verhalten und die Kommunikation resultieren also aus der dahinterstehenden Haltung. Wer die zwischenmenschliche Begegnung verbessern möchte, sollte nicht so sehr an dem arbeiten, was gesagt wird, vielmehr daran, wie etwas gesagt wird. Ein besseres wie erfordert in manchen Situationen wahrlich eine „Haltungs-Arbeit“, weil eine hilfreiche Einstellung nicht einfach vom Himmel fällt. Sie muss anlassbezogen entwickelt, reflektiert, gegebenenfalls korrigiert oder durch eine neue ersetzt werden.

100%ige emotionale Präsenz

„Glaub mir, Sie brauchen Dich. Die Menschen, die mit Dir geh’n.

Sie brauchen Dein Gutsein und auch Dein Versteh’n.

Deinen treuen, geraden Sinn, der sich frei hält vom raschen Gericht,

der Rücksicht kennt und Wahrheit spricht.

Sie brauchen die Reinheit in Deiner Gestalt

und Deiner Worte klare Gewalt“ (Maria Nels).

Abbildung 1: Symbolfigur zur För- derung von Konzentration und innerer Ruhe

Vertrauen sich mir Menschen an, weiß ich das zutiefst zu schätzen. Sie wenden sich mir in Lebenslagen zu, in denen sie verzweifelt sind, weil sie die bisherigen Rollen nicht mehr wahrnehmen können, weil sie sich schwach und nicht leistungsfähig, vulnerabel und weinerlich, schuldig und beschämt fühlen. Einen besonders einfühlsamen und achtsamen Umgang benötigen beispielsweise an Krebs erkrankte Menschen, die wegen einer körperlichen Entstellung, etwa dem Verlust der Körperbehaarung, große Scham verspüren. Von Krisen Betroffene fühlen oftmals Angst davor, von den Mitmenschen mangelnde Achtsamkeit zu erfahren.

Ich höre aufmerksam zu, mit allem was mich ausmacht: Intuition und Erfahrung, Offenherzigkeit und Empathie, Wissen und Verstand, Interesse am Erleben meines Gegenübers. So ist es mir am ehesten möglich, nonverbale Ausdrucksweisen entsprechend zu deuten. An manchen Tagen gelingt mir obig Genanntes nur halb so gut. Dennoch wage ich es, das mir mögliche Halbe beizutragen.

Ich bin bereit, mich auf die Nöte und Anliegen der Person vor mir, auf ihre (noch unentdeckten) Möglichkeiten im Umgang mit einer Krise einzulassen. Eine höchstmögliche Aufmerksamkeit versuche ich aufzubringen. Als Therapeutin und Beraterin stehe ich im Dienst der Humanität und bin darum bemüht, menschliche Existenz zu erklären, zu erleichtern und zu verbessern. Ich lasse mein Gegenüber ausreden und konzentriere mich darauf, wie etwas gesagt wird. Vor allem achte ich darauf, wer oder was in einer Erzählung unerwähnt bleibt.

Eine Holzfigur mit einer langstieligen Rose in den Händen symbolisiert meine Immanenz, das ist ein sehr aufmerksamer und konzentrierter Bewusstseinszustand. In meiner Praxis ist die Figur so platziert, dass sowohl die Klient*innen als auch ich sie sehen können.

Zeitnahe Verfügbarkeit

Jene Menschen, die in Krisensituationen Beratung oder Psychotherapie in Anspruch nehmen, befinden sich in Ausnahmesituationen, weshalb sie zeitnah ein professionelles Gespräch suchen und brauchen. Mit einem Termin erst in vier Wochen ist ihnen nicht geholfen. Mitunter erachten die Klient*innen auch eine Wartezeit von wenigen Tagen als unerträglich lange. Dann erinnere ich beispielsweise an die Möglichkeit, die Telefonseelsorge zu kontaktieren.

Selbstfürsorge

Keinesfalls würde und könnte ich an einem Tag mehr als drei Therapiesitzungen abhalten, diese dauern bei mir 90 Minuten, weil ich nur für eine begrenzte Zeit das hohe Maß an Aufmerksamkeit und Empathie aufbringen kann. Auch nach den Therapiestunden brauche ich Zeit, um den Gesprächsprozess in mir nachwirken zu lassen, um ausführlich zu dokumentieren, um schließlich Gesamtzusammenhänge und die Essenz der Begegnung zu erfassen. Beratende und Therapeut*innen, die in der Fülle an Aufgaben und Verpflichtung beinahe untergehen, sind kein Vorbild etwa für jene, die wegen chronischer Arbeitsüberlastung gerade eine Erschöpfungskrise durchleben.

Zu vielen Themen habe auch ich Lebenserfahrung. Menschen berühren mich. Zwischen den Therapiesitzungen pausiere ich mindestens eine Stunde. Ich möchte erholt und aufnahmebereit sein, bevor mir wieder ein Mensch sein Vertrauen schenkt.

Kapitel III→