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1. Auflage 2020

© 2020 Lars Hannig

Wallbaumweg 42, 44894 Bochum

Cover- und Einbanddesign: Lars Hannig

Lektorat: Natascha Herkt

Geschrieben und Druckvorlage erstellt mit Papyrus Autor

Das Werk ist einschließlich aller seiner Teile urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung der Urheber unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt

ISBN: 9783751964548

Inhalt

Vorwort

Als die Vernia Gesellschaft für Kriminologie mit der Bitte an mich herantrat, einleitende Worte für das vorliegende Werk zu verfassen, war ich geneigt abzulehnen.

Es war nicht so, dass mich das Werk nicht überzeugt hätte oder ich mich außerstande gefühlt hätte, sachkundige Informationen beizusteuern. Das Gegenteil war der Fall.

Vielmehr hätte ich weiter ausholen und unangenehme Themen anrühren müssen, mit denen ich mir in gesellschaftlichen Kreisen keine Freunde gemacht hätte und von denen nicht jeder geneigte Leser bereit gewesen wäre, sie zu hören.

Warum nun also doch?

Da ich 1915 die Ehre hatte, Robert Fuchs persönlich in einer Ermittlung zu unterstützen, kann ich für seine zweifellose Fachkompetenz als Kriminalist bürgen. Zudem erinnerte ich mich meiner persönlichen Verantwortung als Wissenschaftler, die auch beinhaltet, mögliche unangenehme Konsequenzen im Namen der Wahrheit auf mich zu nehmen.

Was das Gebiet des Übernatürlichen angeht, ist eine genauere Betrachtung erforderlich. Unter Supranaturalismus sind Phänomene zusammengefasst, die den für uns sinnlich wahrnehmbaren und rational begreiflichen Teil der Welt zu überschreiten scheinen. Mit wachsender Erkenntnis muss die scharfe Ausgrenzung solcher Phänomene, von den etablierten Gegenständen der Wissenschaft, neu überdacht werden.

Ich bevorzuge eine Betrachtung des Übernatürlichen als über unser bisheriges Verständnis der Natur hinausgehend.

Wer vermag die Zukunft vorauszusagen?

Die Philosophie der Antike lehrt uns, alles sei wiederkehrend. Eine schwer zu begreifende Hypothese, erscheint uns doch jedes Leben als ein Neuanfang.

Und doch werden auch wir in eine Zeit und eine Gesellschaft hineingeboren, wie unsere Eltern vor uns. Auch wenn es uns angesichts des rasanten Fortschritts unserer Zeit nicht so erscheinen mag, werden wir von denselben Konstanten beherrscht wie unsere Vorfahren. Wir sind nicht die Ersten und womöglich auch nicht die Letzten.

In jeder bekannten religiösen Ausrichtung ist von einer großen Katastrophe die Rede, die unsere Welt gezeichnet hat.

Besonders gefällt mir folgende Umschreibung:

Wie die Nadel eines Grammophons ist die Alte Welt aus den Fugen geraten. Ein Sturm im Stundenglas. Jeder Funke unserer Schaffenskraft, jeder Gedanke schon einmal gedacht, doch verloren und vergessen. An manchen Orten finden sich noch Bruchstücke davon wieder. Worte, in Stein gemeißelt. Artefakte, deren Sinn sich uns nicht erschließt. Urgedanken ohne belegte Herkunft, überliefert, als gingen sie aus dem kollektiven Geist der Menschheit selbst hervor. Dem gleichen Ort, an dem auch unsere Urängste zuhause sind, die uns wie ein Schatten begleiten.1

In einem Punkt sind sich Religion und Wissenschaft jedoch einig: Unser Vernia liegt dort, wo sich einst die Wiege der letzten Hochkultur dieser Alten Welt befand.

Benannt nach der großen Göttin Vernia, die aus dem Dampf der Tiefe gestiegen war und uns die Wunder der Mechanik offenbarte. Ein Kontinent als Flickenteppich tausender Geschichten, durchzogen von Volksmythen und Aberglaube.

Wir sind modern, leben in einer rationalen Zeit und haben uns durch den Fortschritt einen nie gekannten Wohlstand erwirtschaftet. Uns beherrscht der Glaube an die Wissenschaft. Wir vermessen und formen die Welt, füllen sie mit unserer eigenen Schöpfung und erheben uns über die Götter, die allenfalls noch ihren Platz in Sprichwörtern und Legenden haben.

Wir sind umgeben von Phänomenen, deren Natur schwer zu identifizieren ist und die für den Laien kaum zu begreifen sind. In gleichem Maße können sie unsere Vorstellungskraft beflügeln als auch überfordern.

Im vergangenen Jahr wurden in Vernia ein Prozent der Kriminalfälle ungeklärt mit dem Vermerk des Supranaturalismus zu den Akten gelegt, als sei eine unbekannte Naturgewalt am Werk gewesen.

Diese Grenzfälle sind das tägliche Brot privater Ermittler kurioser und übernatürlicher Phänomene.

In diesem Buch werden sieben Fälle des berühmten Detektivs Robert Fuchs vorgestellt, die sich zwischen 1917 und 1921 in Vernia zugetragen haben und erst kürzlich freigegeben wurden. Wohlgemerkt als phantastische Literatur.

Arcton, im September 1922

Professor Doktor Charles Singer

Universität Arcton, Fachbereich Vernianistik

Abteilung Kultur- und Literaturwissenschaft


1 Cordelia Vanderbergh, Der Sturm im Stundenglas. 1909, S. 72.

Der Fall des Herrn Krumm

Donnerstag, der dritte Dezember des Jahres 1917.

Schneeregen trommelte gegen Sprossenfenster, deren dünne, teils gesprungene Scheiben in ihren Rahmen zitterten. Durch die Ritzen pfiff der Wind.

Von der Stube im Souterrain aus ließ sich das geschäftige Treiben der Altstadt von Brasston auf Knöchelhöhe beobachten.

Bereits das Schuhwerk der Menschen sprach Bände. Die abgetragenen Lederschuhe des Milchmanns, der seinen Holzkarren in weit ausgreifenden Schritten im Dämmerlicht hinter sich her zog und dabei ein Tempo vorlegte, das die Flaschen auf der Ladefläche zitternd klingeln ließ. Dann Dutzende Paare schmutziger Arbeiterstiefel, dicht gefolgt von schlecht geschnürten Kinderschuhen mit abweichenden Socken. Ein Constable auf seiner Patrouille, poliertes Leder und bedächtige Schritte. Helle Damenschuhe neben den frisch geputzten Halbschuhen eines Herren, der auch Gamaschen trug. Ihn begleitete die glänzende Spitze eines Gehstocks, die im Takt der Schritte auf das Pflaster tippte. Einen Augenblick später folgten die Pfoten eines schwarzen Pudels, der sich eilig auf Seiten der Dame einfand. Früh morgens und spät abends erschien stets ein leichtes Mädchen in Rock und hochhackigen Schnürschuhen. Hinter dem Trottoir klapperten beschlagene Hufe über das Kopfsteinpflaster und Kutschen mit Speichenrädern ratterten hinterher. Hin und wieder schnaufte ein Dampfwagen vorbei.

Den ganzen Tag zogen Passanten vorüber, jeder von ihnen mit einer eigenen Geschichte. Und in wie vielen dieser Geschichten mochte ein ungelöstes Rätsel verborgen liegen? Eine Frage, die sie sich vielleicht kaum wagten einzugestehen, geschweige denn auszusprechen, weil sie ihnen zu verrückt erschien. Zu kurios.

Solange bis das Verlangen nach Gewissheit alles andere überschattete und sie einen privaten Ermittler aufsuchten. Doch nicht an diesem Abend, dank des scheußlichen Wetters waren die Straßen bis auf den Nachtwächter mit seiner Laterne verwaist.

Nicht einmal der Junge mit dem Schuhputzkasten, der sich manchmal neben dem Fenster niederließ und mit dem der Detektiv sich gelegentlich unterhielt, wenn es nichts zu tun gab, war heute Abend gekommen. Bloß ein paar Streuner schlichen durch die Straßen. Ein graugetigerter Kater blieb unversehens stehen. Gelbe Augen starrten ins Souterrain hinab und trafen auf die Grünbraunen des Ermittlers. Ein kurzer Moment, dann ein Sprung und schon war er wieder aus dem Sichtfeld verschwunden.

»Bald ergibt sich etwas«, sagte Robert Fuchs zu sich selbst. Er lehnte sich in seinem abgenutzten Ohrensessel vor, stützte die Ellenbogen auf die Oberschenkel und fuhr sich durchs strähnige rotblonde Haar, das sein kantiges Gesicht mit der hohen Stirn und den leichten Geheimratsecken umrahmte.

Er war zweiunddreißig und hielt nichts von Eitelkeiten.

Die feinen Herrschaften in ihrer kostbaren Kleidung, die manchmal an seinem Fenster vorüberzogen, lebten in einer Welt mit streng abgestecktem Horizont. Selbst ihre mit stoischer Miene dreinblickenden Fahrer trugen Bowler oder Zylinder.

Wahrscheinlich war er der einzige Mann in der Stadt, der keinen Hut besaß und stets mit dem gleichen Mantel auf die Straße ging.

Die Tasse Tee auf dem Beistelltisch war längst kalt geworden. Sein Blick wanderte zu seinem jungen Gehilfen.

Emil lehnte zusammengekauert in der Ecke vor dem freistehenden Kohleofen. Die struppigen dunkelblonden Haare des Elfjährigen warfen diffuse Schatten an die Wand. Er hatte sich eine Decke übergeworfen und las beim Licht der Gaslaternen, das von draußen hereinfiel. Seine blaugrauen Augen zogen gemächlich, jedoch unersättlich über die Buchseiten. Die Nebelmorde von Orpheus Lothair stand auf dem Einband.

Zum Abendessen hatte es zwei harte Scheiben Brot gegeben. Zu wenig, um seinen Hunger in dieser Welt zu stillen und so suchte er Ablenkung in der Romanwelt.

Emil blickte von seinem Buch auf. »Sicher, Sir. Es wird sich etwas finden, ich beschwere mich nicht.«

Fuchs hatte ihn im Rahmen eines Falls vor zwei Wintern in einem Waisenhaus kennengelernt und ihn als seinen Gehilfen zu sich geholt. Er hielt sich wacker und lernte fleißig.

Fuchs rieb sich die Schläfen und atmete durch. Es roch muffig in der Stube und die Luft stach kühl in der Nase.

Solange es die größte Sorge der Altstadtbewohner war, den Winter zu überstehen, fiel es den Menschen leicht, sich für eine Weile mit offenen Fragen und unerklärlichen Ereignissen abzufinden. Kuriose Fälle mussten warten.

Fuchs betrachtete den Jungen. Das Buch in seinen Händen zitterte leicht. Zuerst würden ihnen die Kohlen ausgehen. Eine Weile konnten sie so überstehen, wenn sie sich in Decken einwickelten, doch dann ging es an die Substanz.

Das Geschäft mit dem schwarzen Gold florierte besonders in diesem Winter und Oddsworth, ihr Vermieter, hatte den Kohlenkeller mit einem schweren Vorhängeschloss gesichert. Manchmal fielen bei der monatlichen Lieferung ein paar Briketts vom Karren, wurden von den Rädern zerbrochen, in den Boden gedrückt und blieben ungeachtet in dem verwinkelten Kellergang zurück. Heimlich las Emil die Bruchstücke auf und behielt sie als Notreserve.

Lange würde Fuchs ihn nicht mehr ernähren können, auch nicht sich selbst. Er trank einen Schluck des abgestandenen Tees, der sich kaum mehr vom trüben Leitungswasser unterschied, so oft hatte er die Teeblätter bereits aufgebrüht.

Er schwenkte die Tasse hin und her und blickte auf die schwarzen Flocken, die darin umhertrieben. Er musste an die alte Wahrsagerin in ihrem Zirkuswagen denken, die Emil unbedingt hatte aufsuchen wollen und die ihnen doch nichts sagen konnte, was sie nicht bereits wussten. Die Zeiten waren düster. Für diese Information hatten sie ein Abendbrot eingetauscht.

Fuchs machte dem Jungen keinen Vorwurf. Jeder musste seine eigenen Erfahrungen machen. Falls ein knurrender Magen ihn lehrte, nicht auf jeden Taschenspielertrick hereinzufallen, war es die Investition wert gewesen. Es gab viele Dinge, die der Schulunterricht im Waisenhaus nicht abgedeckt hatte. Für ihre Arbeit wichtige Dinge.

Fuchs unterrichtete ihn, so gut es ging, doch eigene Erfahrung war noch immer der beste Lehrmeister.

Ein kalter Luftzug und der Geruch von Rauch weckten Fuchs. Diesiges Dämmerlicht fiel durch die Fenster, es war Tag geworden. Die Tür quietschte und wurde zweimal ins Schloss gedrückt. Jetzt im Winterverzog sie sich.

Er öffnete die Augen und streckte sich im Sessel.

Vor ihm stand Emil, die Kleidung mit Schneekristallen übersät und mit aufgeregten roten Flecken auf den bleichen Wangen. »Ich hab was!«

Emil entfaltete eine Zeitung vom Vortag, die er gefunden hatte. »Hier!« Er deutete auf eine Seite, die dicht mit Reklame und Gesuchen bedruckt war. Auf den ersten Blick waren sie kaum voneinander zu unterscheiden.

»Sind Ihre Kinder Schwächlinge? Bei schlechter Blutzusammensetzung: Meyers Kräftigungsprodukte! Stellen Sie uns auf die Probe.«

»Aufruf an die Industrie! Rüsten Sie nach, rüsten Sie auf: Dank neuester Flugaschefänger für mehr Effizienz und Lebensqualität! Kostenlose Beratung.«

Ungeduldig tippte Emil auf eine unscheinbare Annonce.

Fuchs musterte ihn kurz und hoffte, diesmal würde es sie kein Geld kosten, das sie ohnehin nicht hatten.

Zwischen Werbungen für die Pfeife der Zukunft, einen Bartformer und ein Wunderelixier gegen Haarausfall wurde er fündig.

»Sprössling vermisst!« Er überflog die Anzeige. »Fähiger Privatermittler gesucht. Großzügige Belohnung bei Aufklärung. Unterkunft auf Landsitz in Schönewald-Region.«

»Das wäre doch was, oder?«, fragte Emil.

Fuchs erhob sich und setzte sich in Bewegung.

Ein gutes Zeichen, dachte Emil. Wann immer sein Mentor nachdachte, fing er an umherzuwandern und sich über seinen Kinnbart zu streichen.

»Schönewald«, murmelte er, zog die Schreibtischschublade auf und entfaltete eine rissige Landkarte auf der Arbeitsfläche. Mit dem Zeigefinger fuhr er über das vergilbte Papier. »Nicht unbedingt in der Nähe, aber gut. Ich denke darüber nach.«

Er warf einen Blick auf seine Taschenuhr. »In einer knappen Stunde treffe ich ohnehin Oddsworth. Vielleicht gibt er uns einen Aufschub.«

Als es an der Zeit war, sich auf den Weg zu machen, hatte er das Für und Wider der Reise abgewogen und einen Entschluss gefasst. »Emil, begleite mich ein Stück und begib dich dann zum nächsten Telegraphiebüro. Wir nehmen den Auftrag an.«

Gegen Abend kehrte Fuchs zurück, hängte seinen Mantel an den Ständer hinter der Tür und strich sich die Eiskristalle aus dem Bart. »Elender Geldsack.«

Emil legte sein Buch beiseite. »Keine guten Nachrichten?«

Bevor Fuchs antworten konnte, klopfte es an der Tür und er öffnete einem Burschen in Postuniform. »Telegramm für Herrn Fuchs.«

»Der bin ich«, sagte Fuchs. »Haben Sie vielen Dank.«

Der Postbote blieb einen Augenblick stehen, warf einen Blick in die karge Stube und verabschiedete sich dann. Mit einem Trinkgeld war nicht zu rechnen und Fuchs war froh, sich nicht erklären zu müssen.

Fuchs zog die Tür zu, riss den Umschlag auf und überflog die Antwort aus Schönewald.

»Wir werden erwartet«, sagte er erleichtert. »Bleibt also die Frage der Anreise. Ich kümmere mich am besten gleich darum.«

Fuchs schlüpfte wieder in seinen Mantel und band seinen Schal um. »Nach unserer Rückkehr werden wir unsere Sachen beim Pfandhaus auslösen müssen. Also pack dein Lieblingsbuch besser ein, sonst lässt Oddsworth das auch fortschaffen. Du weißt ja, wo der Koffer steht.«

Dann begab er sich noch einmal in die Kälte.

Am frühen Morgen des fünften Dezembers verließen Fuchs und Emil ihre zugige Stube. Mit gepacktem Koffer machten sie sich auf den Weg durch die verwinkelten Gassen der Altstadt, in denen sich der Unrat türmte. Emil stieg mit einem großen Schritt über eine Ratte, die im Kohlenmonoxid des Bodennebels verendet war.

Sie erreichten den Prosper Boulevard.

»Der Bahnhof liegt in der anderen Richtung«, sagte Emil.

»Unser Geld reicht nicht für den Zug. Wir nehmen einen Dampfwagen.«

»Ich rufe uns einen.« Emil streckte die Hand aus, um einen der Wagen herbeizuwinken, die sich die Straße mit Pferdefuhrwerken, kleineren Droschken und Omnibussen teilten.

»Nicht nötig. Es wartet ein Wagen auf uns.« Er wies Emil an, den Arm herunterzunehmen.

Sie bogen in eine Nebenstraße ein, die auf einen Hinterhof führte. Auf der Rückseite befand sich die Laderampe eines Warenhauses. Zahllose Kisten und Kartons warteten hier zu Stapeln getürmt auf ihre Abholung. Inmitten von ihnen stand abfahrbereit ein schwarzer Lastwagen mit roten Speichenrädern und erinnerte mit seinem Aufbau ein wenig an eine kleine Lokomotive. Der Schornstein über dem Dampfkessel spuckte Rauch. Das massige Führerhaus bestand aus Metallverkleidungen an den Seiten und einem offenen Unterstand, der vor Regen schützte. Das Schwungrad an der Seite drehte sich im Leerlauf.

Ein Fahrer lehnte in abgenutzter Arbeiterkleidung an dem mit einer dunklen Wachstuchplane bespannten Laderaum und rauchte. Er nickte Fuchs zu, als erwartete er ihn bereits. Ihr abgestoßener grüner Reisekoffer war das Erkennungszeichen.

»Die erste Rate«, sagte der Fahrer und streckte die Hand aus. »Den Rest bei Ankunft, wie vereinbart.«

Fuchs gab ihm ein Bündel alter Scheine von seiner eisernen Reserve, die er in einer Zigarrenkiste unter einem losen Dielenbrett aufbewahrt hatte.

Der Fahrer steckte die Scheine ein und trat seine Zigarette aus, dann führte er Fuchs und Emil auf die Rückseite des Lastwagens.

Zwischen den hoch gestapelten Kartons im Laderaum war ein schmaler Durchgang ausgespart. Im Dunkeln standen zwei Holzkisten als Sitzgelegenheit bereit. »Rein mit euch. Ich hab nicht den ganzen Tag Zeit. Und Finger weg von meiner Ware. Das meiste davon ist weit mehr wert als ihr.«

Kurz darauf lud er auch die letzten Kartons ein und versperrte den Zugang zum Versteck seiner heimlichen Passagiere.

Fuchs und Emil saßen einander gegenüber, zwischen ihren Knien stand ihr Reisekoffer. Durch einen schlecht geflickten Riss in der Plane fiel ein dünner Lichtstrahl auf ihre Gesichter.

Mit einem Quietschen lösten sich die Bremsen. Schnaufend setzte sich der Wagen in Bewegung. Es würde eine holperige Fahrt werden.

»Ich hoffe, mir wird nicht schlecht.«

»Nun schau nicht so«, sagte Fuchs. »Unser Geld reicht nicht für den Zug. Die Ausreisegebühren auf regulärem Weg können wir uns genauso wenig leisten. Bleibt nur die Industrieroute.«

»Was wenn wir erwischt werden?«

»Werden wir nicht. Der Kerl ist ein Profi. Du hast ihn doch gehört, der macht den ganzen Tag nichts anderes als seine Ware auszufahren.«

Emil schwieg und suchte mit seinen Augen einen möglichst unbeweglichen Punkt im Laderaum, auf den er starren konnte, damit ihm nicht noch übler wurde.

Fuchs spähte durch den Riss nach draußen. Sie bogen gerade um den Häuserblock und fädelten in den Verkehr auf der Ausfahrtstraße ein. Nach einer Weile erreichten sie eine Schleuse, hinter der die Außenbezirke begannen. Ein Wachmann in schwarzer Uniform und Schirmmütze trat ans Führerhaus, er schien den Fahrer zu kennen. Sie scherzten miteinander, ein Lederbeutel wechselte seinen Besitzer. Dann wurden sie durchgewunken.

Bald wichen triste Hochhäuser und Industrieanlagen dem Brachland, das die Stadt umgab. Durch den Riss schaute Emil zurück und betrachtete die Turmschlote der davonziehenden Stadt, die wie Monolithe am Horizont aufragten, Rauch spien und den Himmel verdunkelten.

Kilometerweit erstreckte sich die vom Bergbau geplünderte Gesteinswüste, die von tiefen Schluchten und Tälern durchzogen war. Die darauffolgende Steppe, in deren rissiger Erde kaum etwas gedieh, begann hügelig und lief dann flach aus. Das Brachland hielt sich hartnäckig und war die Heimat von Nomadenstämmen, die den Industriestädten den Rücken gekehrt hatten. Auch Gesetzlose, die hier ihr Glück suchten und vorbeifahrende Transporte und Händler überfielen, hatten in der kargen Landschaft eine neue Heimat gefunden.

Im Abstand einiger Kilometer befanden sich entlang der festgefahrenen Straße bewaffnete Grenzposten, die die Industrieroute bewachten.

Weiter außerhalb passierte der Lastwagen im Stundentakt kleinere Siedlungen an Quellen, die nur die nötigste Lebensgrundlage boten, deren Bewohner aber friedlich waren.

Ärmlich gekleidete Männer und Frauen sahen von ihrer Arbeit in den trockenen Gärten und Feldern auf, als sie vorbeifuhren. Ein kleiner Junge mit einem Spaten winkte dem Lastwagen zum Gruß. Sie besaßen nichts, das für Plünderer von Interesse war.

Kurz vor Mittag erreichten Fuchs und Emil die fruchtbaren Landstriche der Schönewald-Region, denen der Winter nichts anhaben konnte. Selbst das Laub der Bäume trotzte dunkelgrün der schneidenden Winterkälte. Nirgends sah man Schnee oder Eis. Emil konnte sich kaum an der wilden, unberührten Natur sattsehen. Dichte Wälder verliefen entlang der unbefestigten Straße. Grüne Hügel und Täler formten das Land. Hie und da sah man kleine Ortschaften an einem See oder an einer Flussgabelung. Felder und Wiesen erstreckten sich wie ein Flickenteppich vor ihnen. Im Nordwesten lag der Blausichel-Meeresarm. Unterhalb einer Steilklippe befand sich sogar ein kleiner Küstenort.

Der Besitz der Industriellenfamilie Blackwell stand für sich allein, umgeben von Wald und einem weitläufigen Garten.

Schnaufend und stotternd kam der Lastwagen vor dem Tor des Anwesens zum Stehen. Als Fuchs und Emil aus dem Laderaum stiegen, tat ihnen alles weh. Blinzelnd sahen sie sich um, ihre Augen mussten sich erst an das Licht außerhalb ihres dunklen Verstecks gewöhnen. Fuchs zahlte dem Fahrer die zweite Rate und war damit auch seine letzten Ersparnisse los. Der Wagen ließ eine Staub- und Rauchwolke zurück, die sich nur langsam verzog.

Fuchs öffnete das Tor. Er konnte nicht anders als anerkennend zu pfeifen, als sie hindurchgingen. Es war, als beträten sie eine andere Welt.

Das Herrenhaus Blackwell Manor war ein verwinkelter zweistöckiger Bau mit hohen Fenstern, zahlreichen Giebeln und Schornsteinen. Die mit Simsen und Ecklisenen verzierten Außenmauern waren von Wind und Wetter verfärbt und an vielen Stellen mit Efeu bewachsen. Im ersten Stock boten Balkone rundherum einen herrlichen Ausblick.

An der Vorderseite des Hauses am Ende eines breiten Treppenabsatzes öffnete sich eine schwere Doppeltür mit Rundbogen. Ein Bediensteter mit hohen Wangenknochen und schütterem weißen Haar kam ihnen entgegen und stellte sich als Augustus, der Butler vor. Er nahm ihren Koffer entgegen und führte Fuchs und Emil den Flur entlang in die Eingangshalle.

»Ich bringe Ihr Gepäck ins Gästezimmer«, erklärte Augustus und schloss hinter ihnen die Tür.

Die Halle war angenehm beheizt und reichte bis in den ersten Stock. An den Wänden hingen Landschaftsgemälde und Familienportraits, die einen ersten Eindruck vermittelten, mit wem sie es zu tun hatten. Ein Portrait zeigte eine zierliche weißblonde Frau mit zwei ebenso blonden Kindern, einem schüchternen Mädchen und einem herausfordernd dreinschauenden Jungen, in einem Gartenpavillon.

Am oberen Ende der breiten Treppe wurde eine weitere Doppeltür geöffnet. Ein hochgewachsener Herr im Anzug, unverkennbar der Hausherr, trat heraus und bat die Neuankömmlinge zu sich. Er erwartete sie bereits.

Fuchs und Emil betraten den Rauchersalon, in dem bequeme Ledersessel, importierte Teppiche und die kunstvoll verzierte Holzvertäfelung von Geschmack und Wohlstand zeugten. Die Längsseite des Raumes wurde von einem großen Kamin und weiteren Landschaftspanoramen dominiert. Daran angrenzend befanden sich prall gefüllte Bücherregale. Eine Fensterfront bot freien Blick auf den üppigen Garten, gegen den die Gemälde verblassten.

»Horace Blackwell.« Der Hausherr stellte sich mit kräftigem Händedruck vor. Seine Augenbrauen waren buschig wie sein Bart und dunkel wie seine Augen, beinahe schwarz.

»Von Blackwell Inc.? Dem Schreibgeräteimperium?«

»Als gäbe es noch einen anderen.« Blackwell lachte schwerfällig.

»Ermittler Robert Fuchs, dies ist mein Gehilfe Emil. Ich danke für Ihre Einladung. Es geht um einen Vermisstenfall?«

»Setzen Sie sich«, bot Blackwell an und kam gleich zur Sache. »Mein jüngster Spross ist verschwunden, er wurde zwischenzeitlich gefunden, tot. Ich habe Grund zur Annahme, dass es jemand auf meine Familie abgesehen hat. Ich will wissen, wer dafür verantwortlich ist und ich will, dass er zur Rechenschaft gezogen wird.«

Fuchs erhob sich und ging ein paar Schritte bis zum Fenster. Emil wollte ihm folgen, doch der abschätzige Blick des Hausherrn schüchterte ihn ein.

»Haben Sie Feinde?«, fragte Fuchs.

»Keine, die nicht Manns genug wären ihre Differenzen mit erhobenen Fäusten mit mir persönlich auszutragen.«

Blackwell ließ einen Moment verstreichen, bevor auch er aufstand. »Können Sie mir Ergebnisse liefern?«

Fuchs befeuchtete seine Lippen und ließ seinen Blick über den Garten und die Ausläufer des Anwesens schweifen. »Eine große Familie haben Sie.«

Die Formalitäten und Mittel, die ein legitimes Kind in Vernia erforderten, waren enorm. Die Dunkelziffer illegaler Geburten speiste die überfüllten Waisen- und Arbeitshäuser, wo nicht wenige dem Hunger des Industrieapparats zum Opfer fielen.

»Neun Bälger«, schnaufte Blackwell. »Verzogene.«

Er atmete tief durch, seine Miene entspannte sich etwas. »Um meine Eliza, meine Jüngste, sie ist elf, mache ich mir die größten Sorgen. Zur Sicherheit verlässt sie das Haus nur in Begleitung meiner Bediensteten und nicht ohne Absprache mit mir. Sie ist ein gutes Kind, wie Cornelius, mein Ältester.«

»Ihre einzige Tochter«, sagte Fuchs. »Wie viele sind verschwunden?«

»Zwei Kinder bisher. Ehemals Nummer Acht, ähm … Jake und kürzlich Peter Hammond, der Sohn eines Geschäftspartners. Elender Tunichtgut.«

Emil rümpfte die Nase. Blackwell musterte ihn streng.

»Ich gebe keine Garantie«, sagte Fuchs.

»Das haben Ihre Kollegen auch gesagt.« Er machte eine ungeduldige Geste. »Ich will, dass es aufhört! Die Familie leidet, das Geschäft auch. Allein die Gerüchte.«

Fuchs wandte sich Blackwell zu. »Ich kann Ihnen mein ungeteiltes Interesse versichern.«

»Augustus hat sich von Ihren Referenzen überzeugt. Sie machen einen seriösen Eindruck. Den letzten Schnüffler musste ich entlassen.« Blackwell drückte einen Rufknopf an der Wand, ein Glöckchen läutete und der Butler erschien. Bevor sie aus dem Rauchersalon geführt wurden, wandte sich Blackwell noch einmal an Fuchs. »Enttäuschen Sie mich nicht!«

Kurz nach Mittag führte Augustus sie zu ihren Räumlichkeiten, die größer als die Wohnung in der Bertram Streetund trotz raumhoher Fenster kein bisschen zugig waren. Es gab einen Aufenthaltsbereich, ein Studierzimmer und einen Schlafbereich. In Letzterem waren zwei Betten an gegenüberliegenden Seiten des Raumes für sie vorbereitet. Türen in den Zierwänden verbanden die einzelnen Bereiche untereinander.

»Alles zu Ihrer Zufriedenheit?«, fragte Augustus. »Kann ich den Sirs noch etwas bringen?«

Emil stand unsicher auf der Schwelle zwischen Studierzimmer und Aufenthaltsbereich. Noch nie hatte ihn jemand Sir genannt.

»Können Sie dem Jungen etwas zu Essen bringen?«, bat Fuchs. »Mit leerem Magen denkt es sich schlecht.«

»Gewiss. Das Abendessen wird um sechs Uhr im Speisesaal serviert. Seien Sie pünktlich. Master Blackwell wird nur ungern warten gelassen.« Auf halbem Weg zur Tür blieb er noch einmal stehen. »Übrigens habe ich die Unterlagen Ihres Vorgängers im Studierzimmer für Sie bereitgelegt.«

Zehn Minuten später brachte er Emil einen Teller mit vier Sandwich-Hälften und ließ sie alleine.

»So lässt es sich leben!«, sagte Emil mit vollgestopftem Mund.

Fuchs schmunzelte und nahm sich ebenfalls ein Sandwich, während er die Unterlagen sichtete.

In den Akten fanden sich neben dem Polizeibericht auch Notizen von vier privaten Ermittlern. Die Namen sagten Fuchs nichts, mit Ausnahme des letzten.

»Archibald Couriljani«, las Fuchs anerkennend. Der Dachs, wie der geniale sowie launische Detektiv mit dem weißen Haar und den fingerdicken Brillengläsern genannt wurde. »In jungen Jahren habe ich jeden Bericht über ihn gesammelt und gehofft, ihn einmal kennenzulernen.«

Trotz erster Ergebnisse hatte Blackwell ihm den Fall nach einer Woche entzogen.

Fuchs überflog Couriljanis Bericht. Ein Landstreicher war verhaftet worden, nachdem dieser versucht hatte, die Taschenuhr von Jake Blackwell zu Geld zu machen. Nach einem zwanzigstündigen Verhör hatte der Tippelbruder gestanden und den zuständigen Inspektor zur Leiche des Jungen in eine verfallene Scheune geführt, die am Rande eines Sonnenblumenfelds stand. Damit war das Schicksal des Landstreichers besiegelt, ihn erwartete der Galgen.

Fuchs sah sich die beiliegende Tatortphotographie an und verzog das Gesicht. Laut des Obduktionsberichts war der Junge erstickt, nachdem sich eine gebrochene Rippe in seine Lunge gebohrt hatte. Der ganze Leib war mit Prellungen übersät. Fuchs blätterte weiter, bevor Emil einen genaueren Blick erhaschen konnte.

»Der Fall schien geklärt. Doch durch das Verschwinden des Hammond-Jungen wurde alles wieder aufgerollt.«

»Sie meinen den Sohn des Geschäftspartners, Peter?«

Fuchs nickte und überflog die Aufzeichnungen der Spürnase. »Couriljani wird wohl langsam wunderlich. Hör dir das an:

Opfer verschwand nach Ungehorsam aus abgeschlossenem Zimmer im Elternhaus. Haushälterin sah die Kutsche der Blackwells die Straße entlangfahren. Kutscher gab in Befragung an, er habe Waren abgeholt. Hammond bestätigte, dass Blackwell Palmen für den Garten seiner Frau von ihm gekauft habe, die abgeholt werden sollten. Spur des Jungen verliert sich hier. Okkulte Einflüsse nicht auszuschließen.

Auch Jake Blackwell verschwand aus Elternhaus. Widersprüchliche Aussagen des vermeintlichen Täters. Spuren eines Kampfes am Fundort. Verletzungen ähneln denen von Rutenhieben, auch hier bestrafende Handlung von Ungehorsam denkbar. Es wurde keine Waffe gefunden. Opfer wies keine Bissverletzungen wilder Tiere auf, Hufabdrücke am Tatort. Unerwartetes Erscheinen des Täters? Gestaltveränderung? Ein Bogie?«

Emil sah Fuchs fragend an, der die Notizen zuklappte und amüsiert den Kopf schüttelte. »Kein Wunder, dass Blackwell ihn entlassen hat.«

»Vielleicht gab es einen zweiten Täter«, sagte Emil. »Einen Komplizen vielleicht?«

»Möglich«, sagte Fuchs und richtete sich ächzend auf. »Oder der Kutscher hat bei Nacht und Nebel noch etwas anderes transportiert. Oder jemanden.

Bisher lag das Augenmerk der Ermittler auf dem unmöglichen Verschwinden aus einem verschlossenen Raum. Hammond hat das Zimmer seines Sohnes abgeschlossen. Wenn aber jemand anderes dem Jungen die Tür geöffnet hat?«

»Dann könnte der Junge einfach fortgelaufen sein.«

»Und die Sichtung der Kutsche bekommt einen anderen Stellenwert.«

»Aber die Aussagen von Hammond und Blackwell über die Lieferung passen. Wieso sollten sie lügen und etwas verheimlichen? Sie haben beide einen Sohn verloren.«

»Vielleicht ist es der Kutscher, der etwas verheimlicht. Eine Wahrheit ist der beste Deckmantel für ein Geheimnis. Lass uns ein Stück mit ihm fahren und herausfinden, was er weiß.«

Fuchs zog an der Glockenschnur, die neben der Zimmertür herabhing, um nach dem Butler zu läuten. Einen Augenblick später stand Augustus zu Diensten, um die Sandwichteller abzuholen. Obwohl er vielbeschäftigt wirkte, war sein Anzug makellos.

»Wäre es möglich, eine Fahrt mit der Kutsche zu unternehmen, damit wir ein Gefühl für die Umgebung bekommen?«, fragte Fuchs.

Augustus erwiderte: »Sicher wird McKinley Sie fahren. Ich bitte allerdings darum, seine Art zu entschuldigen. In einer halben Stunde steht die Kutsche am Haupteingang für Sie bereit.«

Es war noch früh am Nachmittag als Fuchs und Emil aufbrachen. McKinley war ein rauer, krummer Mann mit roter Knollennase und buschigem weißen Backenbart. Er trug eine karierte Kutschermütze auf dem beinahe kahlen Kopf. Ein Arm war durch eine mechanische Prothese ersetzt worden. Er machte keine Anstalten, seine Fahrgäste zu begrüßen oder ihnen beim Einsteigen zu helfen.

»Wohin?«, brummte er.

Fuchs sah auf seine Taschenuhr und entfaltete die Umgebungskarte im Schönewald Wandersmann, einem Reiseführer, den er im Studierzimmer gefunden hatte. Das Papier war blendend hell im Sonnenlicht. Fuchs wählte ein spontanes Ziel im groben Umkreis des Hammond-Wohnsitzes.

Der Kutscher gab nichts als ein kehliges »Aye« zur Antwort. Die Kabine des Zweiachsers roch streng nach Tabak, lehmige Schlieren zeichneten sich im Fußraum ab und Erdkrümel lagen auf dem Boden. Fuchs reichte Emil das Büchlein mit der Karte. »Für später zur Orientierung.«

Holpernd setzten sie sich in Bewegung.

Eine ganze Weile fuhren sie durch unbewohntes Waldland und sahen schweigend aus dem Fenster, in den blauen Nachmittagshimmel empor, an dem einzelne Wolken entlangzogen.

Als in der Ferne das einzige Gebäude der Umgebung auf einem grünen Hügel aufragte, klopfte Fuchs an die Decke der Kabine und signalisierte dem Kutscher zu halten.

»Was denn?«, brummte McKinley.

Fuchs lehnte sich heraus und wies auf den Hügel. »Was ist das dort drüben?«

McKinley drehte langsam den Kopf. »Das Hotel zur Blauen Sichel.«

Emil blätterte eilig im Reiseführer. Um das alte Gemäuer, das den Winter über geschlossen blieb, rankten sich Schauergeschichten. »Das Hotel wurde auf dem als Galgenberg bekannten Hügel erbaut. In den letzten zwanzig Jahren verschwanden dort mindestens drei Dutzend Menschen.«

»Wunderbar, genau was wir suchen!«, rief Fuchs und korrigierte sein Ziel. »Dorthin.«

»Aye«, brummte McKinley und die Kutsche setzte sich wieder in Bewegung.

»Ein Spukhotel und wir fahren auch noch freiwillig hin«, sagte Emil.

Mit spitzen Fingern pickte er ein Haar vom Polster und hielt es Fuchs hin, der schon wieder in der Ledermappe mit Couriljanis Aufzeichnungen vertieft war. Fuchs betrachtete das Haar und legte es behutsam zwischen die Seiten seines Notizbuchs.

»Recht hat das Bürschchen«, krächzte McKinley von draußen und schnaufte kopfschüttelnd, »Holzköpfe gehör’n dem Teufel.«

Kaum war die Silhouette des Hotels in Sichtweite gerückt, kam die Kutsche zum Stillstand.

»Was ist los?«, fragte Emil.

»Endstation!«, rief McKinley. »Die Gäule wollen nicht weiter. Kanns ihnen nicht verübeln. Ich setz keinen Fuß mehr auf den Galgenberg. Noch bin ich nicht vom Kutschbock gefallen!«

Fuchs stieg aus der Kutsche. Nach nur wenigen Schritten waren seine Schuhe lehmverschmiert, er warf einen Blick zurück auf die Schlieren und Erdspuren im Fußraum. »Sie haben den Hammond-Jungen gefahren!«

»Wovon reden Sie?«, schnaufte McKinley. »Hier ist doch nichts.«

»Hierher«, griff Fuchs den Gedanken auf und sah den Weg entlang in Richtung des Gebäudes. »Zum Hotel.«

»Ich sagte doch, weiter fahr ich nicht!«

»Und doch sind Sie weiter gefahren. Mit Peter. War es nicht so? Der lehmige Erdboden stimmt mit den Erdspuren in der Kutsche überein.«

McKinley sah empört auf und grummelte etwas Unverständliches, den Blick in die Ferne gerichtet.

Fuchs glaubte, die Worte hab ich davon und garstige Bälger herauszuhören. Er beugte sich zu seinem Gehilfen und flüsterte ihm etwas zu. McKinley musterte sie misstrauisch. Er wusste etwas, darauf hätte Fuchs geschworen.

»Peter war nicht allein. Wen haben Sie noch gefahren?«

Bevor McKinley abstreiten konnte, unterbrach Fuchs ihn.

»Es wurden nicht bloß Waren in jener Nacht befördert. Streiten Sie es nicht ab. Ich habe meine Informationen direkt von der Quelle. Und Sie wissen ja, wir stehen beide auf Blackwells Gehaltsliste. Also raus mit der Sprache, ich möchte es von Ihnen hören.« Fuchs klopfte vielsagend auf seine Akte. »Wen haben Sie noch gefahren?«

Grimmig richtete McKinley den Blick wieder in die Ferne. »Lady Blackwell.«

»Die Mutter? Weshalb hat sie Peter aufgesucht? Was wusste er? Etwa, was mit Jake geschah?«

»Unfug!«, schnaufte McKinley und stampfte mit dem Fuß auf. »Doch nicht Dorothy …«

Mitten im Satz brach er ab, als er Fuchs’ Bluff erkannte. Zähneknirschend fuhr er fort. »Die kleine Lady. Wie sie geschaut hat. Ich konnt’ nicht anders.«

»Sie haben Eliza gefahren? Und Blackwell weiß nichts davon. Sie darf das Haus nicht verlassen, aber das hat sie, nicht wahr? Sie haben gegen Blackwells Anweisungen gehandelt und den Chauffeur gespielt«, sagte Fuchs. »Sie haben den wahren Hintergrund der Fahrt geheim gehalten. Warum?«

McKinley kratzte nervös an seinem Bart. »Das geht niemanden was an.«

»Sie wollten Eliza schützen. Und sich selbst vermutlich auch. Bei den Hammonds muss jemand zu Peters Zimmer geschlichen sein und die Tür geöffnet haben.«

»Eliza«, sagte Emil.

»Ja und Sie, McKinley, haben die beiden mitgenommen«, endete Fuchs.

Der Kutscher zog die Mundwinkel nach unten und sprach kein weiteres Wort. Kaum waren Fuchs und Emil in Richtung des Hotels unterwegs, machte er es sich leise schimpfend mit seiner Pfeife und einer Zeitung in der Kutsche bequem und legte die bestiefelten Füße hoch.

Fuchs wandte sich noch einmal zur Kutsche um. »Die Verwicklungen im Hause Blackwell sind mir völlig egal«, rief er McKinley zu. »Ich habe einen Fall zu lösen.«

Der Kutscher erwiderte nichts, er blickte nicht einmal von seiner Zeitung auf.

Das weiße Hotel mit dem dunklen Schindeldach stand am Scheitelpunkt des Galgenbergs. Auf jeder der drei Etagen befand sich zu beiden Seiten des Haupteingangs je eine Fensterreihe. Bis auf einen Ausreißer unterm Dach waren die Fensterläden geschlossen.

Rundherum zeichnete sich der Horizont ab, wie eine blaue seitlich liegende Mondsichel. Hinter dem Hotel war das Gelände auf hundert Metern leicht abschüssig und endete abrupt in einem Kliff. Das Rauschen der Wellen und der Geruch von Salzwasser waren allgegenwärtig.

»Müssen wir wirklich da rein?«, fragte Emil und blickte zu Fuchs auf.

Den halben Fußweg zum Hotel hatten sie bereits zurückgelegt. Im Sommer spendete eine Allee den anreisenden Gästen Schatten, nun ragten dort knorrige kahle Äste in den Himmel.

»Die Ammenmärchen sind dir wohl zu Kopf gestiegen«, erwiderte Fuchs.

Emil wandte den Blick ab und richtete ihn stur geradeaus.

»Vielleicht bleibt uns das erspart«, sagte Fuchs und blieb unvermittelt stehen.

Sie hatten leerstehende Pferdeställe passiert und die Freizeitanlage erreicht. Hohe Hecken umschlossen das Gelände. Auf weiten Rasenflächen konnten die Gäste sich bei gutem Wetter entspannen, eine Runde Krocket spielen und ihre Kinder auf den Spielplatz schicken.

Emil ging voraus. Es gab eine Sandfläche, mehrere Klettergerüste, Rutschen und ein paar Schaukeln. Röhren und Ringe, durch die man kriechen konnte, sogar eine kleine Nachbildung des Hotels war zu finden. Ein hölzernes Spinnennetz am Rande der Sandgrube warf lange verworrene Schatten im Licht der tiefstehenden Frühabendsonne.

Eliza und auch Peter waren in Emils Alter, sicherlich hatte der Spielplatz die beiden auf ähnliche Weise angezogen.

»Na geh schon, verschaffe dir einen Überblick!«

Emil kletterte flink die Sprossen hinauf und setzte sich rittlings auf den obersten Querbalken des Gerüsts.

Fuchs lauschte der Brandung, der Wind wehte kühl und ließ seinen Mantel flattern. Das Hotel ragte verlassen in den Himmel empor.

Emil schirmte seine Augen gegen den glutfarbenen Sonnenuntergang und den Wind ab, der sein Haar zerzauste.

»Was siehst du?«, fragte Fuchs.

Sein Gehilfe kletterte wieder herab und nahm das letzte Stück mit einem Sprung. »Mir nach.«

Der Sand war vom Regen glattgespült worden und erinnerte an eine Dünenlandschaft.

In der Nähe der Kletterröhren entdeckte Fuchs etwas. Er ging in die Hocke, streckte eine Hand aus und spreizte die Finger, soweit er konnte. Er erreichte nicht ganz die Ausmaße der Hufabdrücke im Sand.

»Hier sind noch mehr«, sagte Emil.

Fuchs wandte sich den anderen Abdrücken zu, zückte eine Lupe und betrachtete sie genauer. Behutsam zupfte er etwas aus dem Sand. »Ein verfilztes schwarzes Haarbüschel.«

»Wie von einem Tier«, dachte Emil laut. »Ein Wolf vielleicht?«

Fuchs schüttelte den Kopf, »Kein Wolf hat solche Pranken.«

»Ein Bär vielleicht?«

Fuchs richtete sich auf. »Schon eher, aber nicht ganz.«

Er strich sich um den Kinnbart.

»Die Spuren verdichten sich in diesem Umkreis«, er deutete auf die Sandfläche und wies auf eine abgelegene Röhre im Boden. Für einen Erwachsenen war sie zu schmal.

»Kommst du dort hinein?«

Emil machte sich lang und verschwand unter der Erde. Es dauerte zehn Minuten, bis Fuchs wieder etwas von ihm hörte.

Ein dumpfer Schrei. Bleich und zitternd tauchte er aus einer Röhre auf der anderen Seite auf. »Ich … hab was. Hier.«

Emil zog ein Taschentuch hervor und hielt es Fuchs hin. Vorsichtig entfaltete er es und fand den Beweis, der zwischen Verschwinden und Gewalttat entschied.

Zwischen ein paar Haarbüscheln steckte ein abgerissenes Kinderohr.

»Hör mir zu«, sagte Fuchs und instruierte Emil: »Fahr mit McKinley zurück und verständige die Kriminalpolizei. Warte beim Anwesen auf mich, für heute hast du genug gesehen.«

Emil presste die Lippen aufeinander und hatte keine Einwände. Sein Fund würde ihn in lebhaften Bildern spätestens in der Nacht heimsuchen. Er lief zurück in Richtung Kutsche.

Die Theorie des wilden Tieres hatte Fuchs verworfen, noch bevor jemand eintraf, um den Tatort zu sichern. Dafür hallten die Worte Couriljanis durch seinen Verstand. Okkulte Einflüsse nicht auszuschließen. Ein Bogie?

Fuchs dachte an den Reim, der Kinder ermahnte brav zu sein, da sonst der Bogie-Mann komme und sie hole.

Ketten rasseln, Hufe scharren,

Trotzig harrt das Kinderpack.

Schritte stampfen auf dem Dach.

Gleich steckt er dich in seinen Sack!

Er jagt durchs Land und durch die Nacht,

Kein Weg ist ihm zu weit.

Er wird dich finden, gib gut Acht!

Wer lauert in der Dunkelheit?

Bist du frech und ungezogen,

Glaubst, der Reim sei bloß erlogen?

Dann spotte weiter, glaub’ nicht dran!

Schon heute Nacht kommt er dich holen.

Sein Name ist der Bogie-Mann.

Es würde einige Tage dauern, bis die unterirdische Verbindungskammer der Röhren auf dem Spielplatz freigelegt und untersucht war.

Er warf einen Blick auf seine Taschenuhr. Zumindest bis zum Eintreffen der Polizei musste er ausharren. Hinter der Hotelminiatur ließ er sich in den Sand fallen, sie bot ein wenig Schutz vor dem kalten Wind.

»He, Sie da!«

Eine raue Stimme ließ Fuchs aufschrecken. Er schirmte den Blick gegen die schwankenden Lichtkegel ab, die ihn blendeten. Er musste eingenickt sein.

Es war Nacht geworden, als der Inspektor mit zwei Schutzmännern endlich eintraf.

Fuchs klopfte sich den Sand von Hose und Mantel, stellte sich vor und schilderte den Fund.

»In Ordnung, Sie können gehen. Wir übernehmen hier.« Der Inspektor wies seine Leute an, den Tatort zu sichern.

Die Erkenntnisse der Beamten würde Fuchs später dem offiziellen Bericht entnehmen. Er machte sich auf den Weg den Hügel hinab.

»He da!«, rief McKinley und winkte ihm von weitem.

Nach einem langen und anstrengenden ersten Tag war er dankbar und erleichtert, den mürrischen Kutscher zu sehen. »Sind Sie etwa gekommen, mich abzuholen?«

»Aye«, sagte McKinley. »Die Gäule brauchen den Auslauf.«

Augustus fing Fuchs vor dem Gästezimmer ab. »Der Master verlangt nach Ihnen. Er wartet im Rauchersalon.«

»Es ist mitten in der Nacht«, sagte Fuchs.

»Das ist korrekt, Sir.«

Fuchs atmete tief durch und machte sich auf den Weg.

Mit verschränkten Armen stand der Hausherr am Fenster und blickte im Mondlicht auf den Garten hinaus. »Ich hatte Sie beim Abendessen erwartet.«

»Mir ist etwas dazwischen gekommen.«

»Ich hörte davon.« Blackwell ließ sich nieder und bot Fuchs den zweiten Sessel an. Ein Beistelltisch samt Messingaschenbecher stand zwischen ihnen.

»Sie haben also eine Spur des Jungen gefunden. Lassen Sie mich offen reden, bisher schien mir kein Ermittler dem Fall gewachsen. Aber Sie …«, Blackwell deutete auf ihn. »Rauchen Sie?«

Blackwell hielt ihm eine Zigarrenschachtel hin.

Fuchs hob abwehrend die Hand.

»Sind Sie sicher? Importiert. Feinste Qualität aus der Karibik. Sind Sie vielleicht ein Rum-Mann?«

»Ein andermal vielleicht, danke.«

»Ist das nicht der einzige Vorzug daran, ein privater Ermittler zu sein? Niemand tritt Ihnen auf die Füße, wenn Sie im Dienst trinken«, lachte Blackwell und zündete seine Zigarre an. Er nahm genüsslich einen Zug. »Die Trennung von Arbeit und Vergnügung, verstehe. Sie sind ein Mann mit Prinzipien. Wenn Sie mir jetzt noch den Täter bringen, wartet ein nettes Sümmchen auf Sie.«

Fuchs’ Mundwinkel zuckten, »Ich werde mich bemühen. Passt es Ihnen gerade, über den Stand der Ermittlung zu sprechen?«

Blackwell hauchte Rauchkringel in die Luft. »Für die Länge einer guten Zigarre gehe ich nirgendwohin.«

»Ich bin mehrmals die Akte durchgegangen«, begann Fuchs und betonte, was ihm aufgefallen war. Blackwell brummte, ob zustimmend oder abweisend, war schwer zu sagen.

»Bis zum letzten Augenblick gab es an den Tatorten keine Hinweise auf Flucht oder Kampf. Entweder taucht der Täter aus dem Nichts auf oder aber er kann sich den Kindern im Vertrauen nähern. Möglicherweise stammt er aus Ihrem engeren Umfeld.«

Blackwells Blick verfinsterte sich. »Sie haben die Gerüchte also gehört? Was für einen Aufstand Hammond gemacht hat!«

»Sein Sohn ist verschwunden.«

»Meiner etwa nicht?«, fuhr Blackwell hoch. »Trotzdem ziehe ich nicht herum und beschuldige ihn. So etwas Feiges und Unprofessionelles!«

Er schritt umher und fuchtelte mit der Zigarre, die Augen weit aufgerissen.

»Dorothy, meine Ehefrau, hat ihre Koffer gepackt und droht die Kinder mitzunehmen. Wohin verrät sie nicht, zur Sicherheit sagt sie. Wie sieht das denn aus?«

»Sie hat Angst«, stellte Fuchs fest.

»Etwa vor mir?«, brüllte Blackwell.

»Es wäre ein Fehler zu gehen«, sagte Fuchs. »Wer steht dort zu ihrem Schutz bereit?«

»Ganz meine Rede!« Es dauerte einen Moment, bis Blackwell sich wieder beruhigt hatte und in seinen Sessel sank. Er griff sich an die Stirn. »Finden Sie den Täter. Sie haben bis zum Montag in zwei Wochen. Solange wird meine Dorothy bleiben.«

»Das wäre der Vierundzwanzigste«, sagte Fuchs. Sein Blick fiel auf eine Reihe Setzlinge von jeweils einem Meter Höhe mit spitzzulaufenden Palmwedeln vor dem Fenster. »Sind das die Palmen, die McKinley in jener Nacht abgeholt hat?«

»Was spielt das für eine Rolle? Konzentrieren Sie sich auf das Wesentliche!« Blackwell sah ihn entgeistert an. Sie schwiegen eine Weile.

»Ich hätte gerne, dass mein Gehilfe ein Auge auf Ihre Söhne hat. Wäre es möglich, Emil in das Internat einzuschleusen? Sie kennen ihn nicht, er kann sich also unbemerkt in ihrem gewohnten Umfeld bewegen.«

»Verdächtigen Sie etwa einen meiner Jungen?« Blackwell zog an seiner Zigarre und musterte den Ermittler kritisch. »Sind nicht gerade Heilige, aber deshalb bringen sie sich nicht gegenseitig um. Was hätten sie davon?«

»Ich möchte bloß unangenehme Überraschungen vermeiden«, sagte Fuchs. Der Täter konnte nicht aus dem Internat stammen, die Tatorte lagen zu weit davon entfernt. »Wäre es also machbar, einen Platz für Emil zu ergattern?«

»Nichts, was eine Spende nicht ermöglichen würde«, sagte Blackwell und stutzte. »Was ist das mit Ihnen und diesem Jungen? Er ist doch nicht etwa Ihr Sohn?«

»Nein. Emil ist mein Schüler und Gehilfe.«

»Gut«, schnaufte Blackwell. »Sie kennen das Sprichwort von Segen und Fluch? Bälger. Schaffen Sie sich bloß keine an!«

»Sie haben nicht die beste Meinung von Ihren Kindern.«

Blackwell grinste und deutete mit der Zigarre in der Hand auf ihn. »Sie sind gut.«

Fuchs beschloss, eine Theorie zu testen. »Wenn Sie es genau wissen wollen, ich habe Emil aus dem Waisenhaus geholt. Auch nicht aus Herzensgüte.«

»Sondern?«

Fuchs legte die Hände zusammen und hakte seine Finger ineinander. »Er ist clever, formbar, gehorsam. Und am wichtigsten: Wenn ein Fall zu abscheulich oder gefährlich wird, wohin sollte er schon fortlaufen?«

Blackwell lachte dreckig und zog an seiner Zigarre. »Sie alter Hund! Hätte ich Ihnen gar nicht zugetraut.«

Stille legte sich über den Raum, nur das Knistern des Kaminfeuers war zu hören.

Fuchs betrachtete seinen Gastgeber eindringlich.

Blackwell starrte ins Feuer und schüttelte den Kopf. »Cornelius, mein Erstgeborener, ist ein feiner Kerl. Und ich wollte immer eine Tochter. Eliza ist meine kleine Prinzessin.«

»Und die anderen?«

Blackwell musterte Fuchs. »Wir maßen uns an, die Welt zu verbessern. Aus Faulheit bauen wir Automaten, die letztlich mehr uns kontrollieren als wir sie. Dabei ist die Welt längst krank in ihrer Unnatürlichkeit. Sie kennen das Leben in der Stadt und seine Opfer. Sanguis Niger, um nur eine der Folgen zu nennen.«

Fuchs legte die Hände aneinander und atmete tief aus. »Die schwarze Blutkrankheit. Ist etwa eines Ihrer Kinder infiziert?«

Blackwell schüttelte den Kopf. »Manchmal liege ich nachts wach und sehe Eliza vor mir. Friedlich liegt sie in ihrem Bettchen, das Gesicht bleich wie ihr Laken und durchzogen von schwarzen Adern. Allein der Gedanke.«

»Grauenvoll. Soweit ich weiß, tappen die Mediziner im Dunkeln. Die Ursache der Krankheit ist nicht erwiesen.«

»Nicht erwiesen? Es breitet sich aus! Bald vielleicht auch auf dem Land. Was wenn meine Eliza krank würde? Geeignete Organspender sind nicht einfach zu finden«, sagte Blackwell. »Da ist es gut Reserven zu haben.«

»Sie würden ein Kind für das andere opfern?«

Blackwell lachte. »Für Eliza würde ich sie alle opfern.«

Er machte eine Pause.

»Um Cornelius wäre es wahrlich schade«, sagte er schließlich. »Ihn würde ich bis zuletzt aufsparen, falls alles andere scheitert.« Ein letztes Mal zog Blackwell an seiner Zigarre, bevor er den Stummel im Aschenbecher ausglühen ließ.

Zurück im Gästezimmer weckte Fuchs Emil, der sich den Schlaf auf den Augen rieb und erläuterte ihm seinen Plan.

Cornelius, der erstgeborene Blackwell, besuchte bereits die Handelsschule. Eliza hatte einen Privatlehrer und verließ den Besitz kaum. Die übrigen sechs konnte Emil im Auge behalten.

»Ich soll ins Internat? Aber ich bin ein Niemand!«