Phänomenologie der Lebenswelt

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Über dieses Buch

Der zweite Band der zweibändigen Husserl-Auswahlausgabe enthält neben einer ausführlichen Bibliographie Texte zu folgenden Themen: Analyse der Wahrnehmung – Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins – Konstitution der Intersubjektivität – Das Problem der Lebenswelt.

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Fußnoten

  1. Die Einleitungen der Herausgeber:innen der einzelnen Husserliana-Bände (sowohl der deutschsprachigen Husserliana-Bände wie auch der der Collected Works in englischer Übersetzung) empfehlen sich als erste Annäherung an die jeweiligen Texte; sie erhalten sowohl biographische und werkgeschichtliche Angaben wie philosophische Einführungen und Interpretationen. Ferner ist die neuere Forschungsliteratur seit ca. 2000 in der großen Mehrzahl auf Englisch abgefasst. Die aktualisierte Bibliographie der vorliegenden Ausgabe trägt dieser Forschungssituation Rechnung.

  2. Vgl. Literarische und naturwissenschaftliche Intelligenz. Dialog über die »zwei Kulturen«, hrsg. von H. Kreuzer, Stuttgart 1969.

  3. Näheres zu dieser Methode in den Texten »Tatsache und Wesen« und »Wesenserschauung durch eidetische Variation« des ersten Auswahlbandes.

  4. Zur Gliederung der »regionalen Ontologien« vgl. den Gesamtaufbau der Ideen II (»Husserliana« IV).

  5. Vgl. hierzu im ersten Auswahlband den Text »Psychologismus und transzendentale Grundlegung der Logik«.

  6. Vgl. hierzu im ersten Auswahlband Abschnitt 15 des Textes »Die phänomenologische Fundamentalbetrachtung«.

  7. Vgl. auch hierzu im ersten Auswahlband den Text »Die phänomenologische Fundamentalbetrachtung«, Abschnitt 15.

  8. Zu dieser methodischen Haltung der »Epoché« Näheres im ersten Auswahlband, Abschnitte 5 und 6 des Textes »Die phänomenologische Fundamentalbetrachtung«.

  9. Husserl, Krisis, S. 172.

  10. Vgl. Husserl, Erfahrung und Urteil, S. 303 ff.

  11. Hier S. 113.

  12. Husserl sagt in seinen zahlreichen Analysen zur Intersubjektivität statt »primordial«. mindestens ebenso oft »primordinal«. Das ist aber von der lateinischen Herkunft des Wortes her nicht korrekt. Im hier abgedruckten Text »Konstitution der Intersubjektivität« wurde daher in Abweichung von Band I der »Husserliana« stets »primordial« gesetzt.

  13. Zur ganzen Theorie vom Leib-Körper vgl. Ideen II, »Husserliana« IV, S. 143 ff.

  14. Vgl. Kant, Kritik der reinen Vernunft, B XIII.

  15. Vgl. hier S. 262.

  16. Vgl. hier S. 284 f.

  17. Vgl. Husserl, Krisis, S. 452 f.

  18. Vgl. hier S. 277 f.

  19. Vgl. Husserl, Krisis, S. 115, 141 Anm., 213, 466.

  20. Vgl. hier S. 282.

Endnoten

  1. [Hrsg.] Der Text stammt aus einer Vorlesung »Grundprobleme der Logik« von 1925/26, von der M. Fleischer den größten Teil unter dem neuen Titel Analysen zur passiven Synthesis als Band XI der »Husserliana« herausgegeben hat. Die aus der »Husserliana«-Ausgabe übernommenen Überschriften stammen von der Herausgeberin M. Fleischer.

  2. Es kann jeder Gehalt des unveränderten Dinges immer wieder durch Wahrnehmung erreicht werden, ich kann um die Oberfläche herumgehen, ideell kann das Ding geteilt werden und immer wieder von allen oberflächlichen Seiten angesehen werden etc.

  3. Die Wahrnehmung ist originales Bewusstsein eines individuellen, eines zeitlichen Gegenstandes, und für jedes Jetzt haben wir in der Wahrnehmung ihre Urimpression, in der der Gegenstand im Jetzt, in seinem momentanen Originalitätspunkt original erfasst wird. Es muss aber gezeigt werden, dass originale Abschattung notwendig Hand in Hand geht mit Appräsentation.

  4. [Hrsg.] Die Vorlesungen zur Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins wurden 1928 in Band IX des Jahrbuchs für Phänomenologie und phänomenologische Forschung auf Bitten von Husserl durch M. Heidegger herausgegeben. Der Text besteht aus einem Hauptteil mit 45 Paragraphen und 13 Beilagen. Heidegger veröffentlichte ein Manuskript, das Husserls Assistentin E. Stein im Sommer 1917 im Auftrage und unter Beteiligung Husserls ausgearbeitet hatte. Grundlage ihrer Ausarbeitung waren eine Vorlesung aus dem Jahre 1905 und ergänzende und korrigierende Aufzeichnungen Husserls aus den Jahren 1905–17. Der vorliegenden Auswahl liegt der Text des Erstdrucks zugrunde; die von R. Boehm besorgte Edition in Band X der »Husserliana« wurde für Textverbesserungen aufgrund der teilweise erhaltenen Originalmanuskripte Husserls berücksichtigt. Da der ganze Text zu lang gewesen wäre, mussten einige Paragraphen und Beilagen weggelassen werden. Hier sind fast zwei Drittel abgedruckt. Weggelassen sind erstens die Paragraphengruppen, die die Kritik Husserls an der Zeittheorie seines Lehrers Franz Brentano enthalten (§ 3 – § 7 1. Hälfte) oder sich auf diese Kritik zurückbeziehen (§ 19 – § 22); diese Textabschnitte sind heute mehr von philosophiehistorischem als sachlichem Interesse. Zweitens wurde auf die Paragraphen ab § 40 und die darauf bezüglichen Beilagen verzichtet, weil sie den Umkreis der Zeitanalyse im engeren Sinne überschreiten. Unter den Beilagen zu den Paragraphen 8–18 bzw. 23–39 sind die weggelassen, die stärker von der Hauptlinie des Gedankengangs abschweifen.

    Die von E. Stein zusammengestellten und redigierten Texte wiesen in Terminologie und Gedankenführung erhebliche Unterschiede auf. Dies ist auch in den Unausgeglichenheiten zwischen den Abschnitten in dem von Heidegger herausgegebenen Manuskript noch deutlich spürbar. Unter diesen Umständen schien es erlaubt, bei der Zusammenstellung der Textabschnitte für den vorliegenden Band etwas freier vorzugehen als bei den übrigen hier abgedruckten Texten: Die in die Auswahl aufgenommenen Beilagen I, IV, VI, VIII und IX sind für Husserls Zeitanalyse mindestens ebenso bedeutsam wie der Haupttext. Außerdem sind die Brüche zwischen ihnen und dem Haupttext nicht stärker als zwischen einzelnen Paragraphen innerhalb des Haupttextes. Und gewiss ist die Analyse als ganze ohne umständliches Vor- und Zurückblättern zwischen Haupttext und Beilagen flüssiger lesbar. So bot es sich an, die Beilagen an den Stellen zwischen den Paragraphen einzufügen, an denen Heidegger bzw. E. Stein im Haupttext auf sie verwiesen. Die Textabschnitte der vorliegenden Auswahl entsprechen nun folgenden Paragraphen bzw. Beilagen: Einleitung = Einleitung (Schlussabschnitt weggelassen)

    Nr. 1–2 = § 1 – § 2

    Nr. 3 = § 7 (1. Hälfte weggelassen)

    Nr. 4–7 = § 8 – § 11

    Nr. 8 = Beilage I

    Nr. 9–15 = § 12 – § 18

    Nr. 16–24 = § 23 (erster Satz weggelassen) – § 31

    Nr. 25 = Beilage IV

    Nr. 26–30 = § 32 – § 36

    Nr. 31 = Beilage VI (die beiden ersten Abschnitte weggelassen)

    Nr. 32–33 = § 37–§ 38

    Nr. 34 = Beilage VIII

    Nr. 35 = § 39

    Nr. 36 = Beilage IX

  5. [Hrsg.] »Wenn niemand mich danach fragt, weiß ich es; wenn ich es dem Frager erklären will, weiß ich es nicht«; Bekenntnisse, Buch 11, Kap. 14.

  6. »Empfunden« wäre dann also Anzeige eines Relationsbegriffes, der in sich nichts darüber besagen würde, ob das Empfundene sensuell, ja ob es überhaupt immanent ist im Sinne von Sensuellem, m. a. W. es bliebe offen, ob das Empfundene selbst schon konstituiert ist, und vielleicht ganz anders als das Sensuelle. – Aber dieser ganze Unterschied bleibt am besten beiseite; nicht jede Konstitution hat das Schema Auffassungsinhalt – Auffassung.

  7. [Hrsg.] Eine Darstellung und Kritik an Brentanos Zeittheorie hatte Husserl in den vorangehenden, hier weggelassenen Paragraphen vorgetragen.

  8. [Hrsg.] »Hyletisches Datum« ist eine andere Bezeichnung für die Empfindungsinhalte, von denen Husserl in Abschnitt 1 gesprochen hatte. Die »hyletischen Daten« oder »Empfindungsdaten« werden als etwas »aufgefasst«, und so wird durch sie hindurch etwas Objektives, Transzendentes bewusst.

  9. Es liegt nahe, diese Erscheinungs- und Bewusstseinsweisen der Zeitobjekte in Parallele zu setzen zu den Weisen, in denen ein Raumding bei wechselnder Orientierung erscheint und bewusst ist; ferner den »zeitlichen Orientierungen« nachzugehen, in denen Raumdinge (die ja zugleich Zeitobjekte sind) erscheinen. Doch verbleiben wir vorläufig in der immanenten Sphäre.

  10. Auf die Begrenztheit des Zeitfeldes ist im Diagramm keine Rücksicht genommen. Dort ist kein Enden der Retention vorgesehen, und idealiter ist wohl auch ein Bewusstsein möglich, in dem alles retentional erhalten bleibt. […]

  11. [Hrsg.] In den hier weggelassenen Paragraphen.

  12. Über Akte als konstituierte Einheiten im ursprünglichen Zeitbewusstsein vgl. § 37, S. 430 f. [im vorliegenden Band Abschn. 32, S. 150 f.; Hrsg.].

  13. Vgl. Beilage IV [hier Abschn. 25; Hrsg.]: Wiedererinnerung und Konstitution von Zeitobjekten und objektiver Zeit, S. 459 ff. [136 ff.].

  14. Vgl. S. 400 [110].

  15. Zur Konstitution der Gleichzeitigkeit vgl. § 38, S. 431 f. [Abschn. 33, S. 151 ff.] und Beilage VII, S. 468 ff. [hier weggelassen].

  16. Vgl. § 17, S. 400 ff. [Abschn. 14, S. 111 ff.] und § 18, S. 401 ff. [Abschn. 15, S. 112 ff.].

  17. Zu dem Folgendem vgl. insbes. § 36, S. 429 [Abschn. 30, S. 144 f.].

  18. »Erscheinung« ist hier im erweiterten Sinne gebraucht.

  19. Vgl. § 11, S. 390 ff. [Abschn. 7, S. 95 ff.].

  20. Vgl. S. 466 ff. [147 ff.].

  21. Vgl. Beilage IX [Abschn. 36]: Urbewusstsein und Möglichkeit der Reflexion, S. 471 ff. [162 ff.].

  22. [Hrsg.] Husserl ist der Problematik der Intersubjektivität über Jahrzehnte in immer neuen Analysen nachgegangen, die I. Kern in den Bänden XIIIXV der »Husserliana« vollständig herausgegeben hat. Das konzentrierteste Resümee dieser Forschungen enthält die fünfte von Husserls Cartesianischen Meditationen, verfasst im Sommer 1929, die hier fast vollständig abgedruckt ist. Es fehlen nur einige Paragraphen gegen Schluss, in denen Husserl Perspektiven entwickelt, die über die eigentliche Intersubjektivitäts-Problematik hinausführen. Der Text ist dem von S. Strasser herausgegebenen Band I der »Husserliana« entnommen. Die aus der »Husserliana«-Ausgabe übernommenen Überschriften der Paragraphen stammen von Husserls Assistent E. Fink, sind aber von Husserl autorisiert. Die Einteilung des Textes in drei Kapitel und ihre Betitelung stammen von mir. Die Abschnitte 1–17 entsprechen den Paragraphen 42–58, der Abschnitt 18 dem die 5. Meditation abschließenden § 62.

  23. [Hrsg.] Der folgende Text ist Husserls unvollendetem Spätwerk Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie entnommen, wie es erstmals vollständig von W. Biemel als Band VI der »Husserliana« herausgegeben wurde. Die Kapitel dieser Auswahl enthalten die beiden in sich geschlossenen Paragraphengruppen der Krisis, in denen der Begriff der Lebenswelt eingeführt wird, und die Beilage II, vermutlich aus dem Jahre 1936, worin Husserl den für das Lebensweltproblem zentralen Begriff der Idealisierung näher erläutert. Von dieser Beilage sind die beiden Schlussabschnitte weggelassen, da sie sich nicht mehr auf das Idealisierungsproblem beziehen. Die Abschnitte 1–2 des hier abgedruckten Textes sind die Paragraphen 8–9, die Abschnitte 4–5 die Paragraphen 33–34, und Abschnitt 3 ist Beilage II. Die Überschriften der beiden Kapitel und des Abschnitts 3 stammen von mir.

  24. Es ist eine schlimme Erbschaft der psychologischen Tradition seit Lockes Zeiten, dass beständig den sinnlichen Qualitäten der in der alltäglich anschaulichen Umwelt wirklich erfahren Körper – den Farben, den Tastqualitäten, den Gerüchen, den Wärmen, den Schweren usw., die an den Körpern selbst wahrgenommen werden, eben als ihre Eigenschaften – unterschoben werden die »sinnlichen Daten« »Empfindungsdaten«, die ungeschieden ebenfalls sinnliche Qualitäten heißen und, im allgemeinen wenigstens, gar nicht von ihnen unterschieden werden. Wo man einen Unterschied fühlt (statt ihn, was höchst notwendig ist, gründlich in seiner Eigenheit zu beschreiben), spielt – darüber wird noch zu sprechen sein – die grundverkehrte Meinung eine Rolle, dass die »Empfindungsdaten« die unmittelbaren Gegebenheiten sind. Und sogleich pflegt dann dem ihnen an den Körpern selbst Entsprechenden das Mathematisch-Physikalische unterschoben zu werden, dessen Sinnesquellen zu untersuchen wir eben beschäftigt sind. Wir sprechen hier und überall, getreu die wirkliche Erfahrung zur Aussprache bringend, von Qualitäten, von Eigenschaften der wirklich in diesen Eigenschaften wahrgenommenen Körper. Und wenn wir sie als Füllen von Gestalten bezeichnen, so nehmen wir auch diese Gestalten als »Qualitäten« der Körper selbst, und auch als sinnliche, nur dass sie als αἰσϑητὰ ϰοινά nicht die Bezogenheit auf ihnen allein zugehörige Sinnesorgane haben, wie die αἰσϑητὰ ἲδια.

  25. Genaueres über den Begriff der definiten Mannigfaltigkeit vgl. »Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie«. 1913 u. ö. S. 135 ff. – Zur Idee der »mathesis universalis« cf. »Logische Untersuchungen«, I, 1900, in zweiter Bearbeitung 1913 u. ö.; und vor allem »Formale und transzendentale Logik«, Halle, Niemeyer, 1930.

  26. Sie konzipiert ein Vollkommenheitsideal aufgrund einer Konzeption der Unendlichkeit von Unvollkommenheit, durch eine ihr eigenwesentliche Gradualität motiviert. Sie idealisiert die Eigenschaftlichkeit der Dinge. Sie idealisiert damit korrelativ ihre Identifizierbarkeit, andererseits idealisiert sie auch die unvollkommene Erfahrbarkeit, in der unsere aktuelle Erfahrung von bekannten zu unbekannten Dingen fortschreitet; so wird einem Gang iterativer Vervollkommnung eine schlechthinnige Unendlichkeit der Iteration substruiert – als Ideal.

  27. Die Seinsbewährung des Lebens ergibt in Erfahrung terminierend eine volle Überzeugung. Selbst wenn sie induktiv ist, ist die induktive Antizipation die einer möglichen Erfahrbarkeit, die letztlich entscheidet. Induktionen können sich durch Induktionen im Miteinander bewähren. In ihren Antizipationen der Erfahrbarkeit, und da jede direkte Wahrnehmung selbst schon induktive Momente (Antizipation der vom Objekt noch nicht erfahrenen Seiten) einschließt, so ist alles im weiteren Begriff »Erfahrung« oder »Induktion« beschlossen.

Analyse der Wahrnehmung1

[3] 1. Originalbewusstsein und perspektivische Abschattung der Raumgegenstände

Die äußere Wahrnehmung ist eine beständige Prätention, etwas zu leisten, was sie ihrem eigenen Wesen nach zu leisten außerstande ist. Also gewissermaßen ein Widerspruch gehört zu ihrem Wesen. Was damit gemeint ist, wird Ihnen alsbald klarwerden, wenn Sie schauend zusehen, wie sich der objektive Sinn als Einheit 〈in〉 den unendlichen Mannigfaltigkeiten möglicher Erscheinungen darstellt und wie die kontinuierliche Synthese näher aussieht, welche als Deckungseinheit denselben Sinn erscheinen lässt, und wie gegenüber den faktischen, begrenzten Erscheinungsabläufen doch beständig ein Bewusstsein von darüber hinausreichenden, von immer neuen Erscheinungsmöglichkeiten besteht.

Worauf wir zunächst achten, ist, dass der Aspekt, die perspektivische Abschattung, in der jeder Raumgegenstand unweigerlich erscheint, ihn immer nur einseitig zur Erscheinung bringt. Wir mögen ein Ding noch so vollkommen wahrnehmen, es fällt nie in der Allseitigkeit der ihm zukommenden und es sinnendinglich ausmachenden Eigenheiten in die Wahrnehmung. Die Rede von diesen und jenen Seiten des Gegenstandes, die zu wirklicher Wahrnehmung kommen, ist unvermeidlich. Jeder Aspekt, jede noch so weit fortgeführte Kontinuität von einzelnen Abschattungen gibt nur Seiten, und das ist, wie wir uns überzeugen, kein bloßes Faktum: Eine äußere Wahrnehmung ist undenkbar, die ihr Wahrgenommenes in ihrem sinnendinglichen Gehalt erschöpfte, ein Wahrnehmungsgegenstand ist undenkbar, der in einer abgeschlossenen Wahrnehmung im strengsten Sinn allseitig, nach der Allheit seiner sinnlich anschaulichen Merkmale gegeben sein könnte.

[4] So gehört zum Urwesen der Korrelation äußere Wahrnehmung und körperlicher »Gegenstand« diese fundamentale Scheidung von eigentlich Wahrgenommenem und eigentlich Nichtwahrgenommenem. Sehen wir den Tisch, so sehen wir ihn von irgendeiner Seite, und diese ist dabei das eigentlich Gesehene; er hat noch andere Seiten. Er hat eine unsichtige Rückseite, er hat unsichtiges Inneres, und diese Titel sind eigentlich Titel für vielerlei Seiten, vielerlei Komplexe möglicher Sichtigkeit. Das ist eine sehr merkwürdige Wesensanlage. Denn zu dem eigenen Sinn jeder Wahrnehmung gehört ihr wahrgenommener Gegenstand als ihr gegenständlicher Sinn, also dieses Ding: der Tisch, der gesehen ist. Aber dieses Ding ist nicht die jetzt eigentlich gesehene Seite, sondern ist (und dem eigenen Sinn der Wahrnehmung gemäß) ebendas Vollding, das noch andere Seiten hat, Seiten, die nicht in dieser, sondern in anderen Wahrnehmungen zur eigentlichen Wahrnehmung kommen würden. Wahrnehmung, ganz allgemein gesprochen, ist Originalbewusstsein. Aber in der äußeren Wahrnehmung haben wir den merkwürdigen Zwiespalt, dass das Originalbewusstsein nur möglich ist in der Form eines wirklich und eigentlich original Bewussthabens von Seiten und eines Mitbewussthabens von anderen Seiten, die eben nicht original da sind. Ich sage mitbewusst, denn auch die unsichtigen Seiten sind doch für das Bewusstsein irgendwie da, »mitgemeint« als mitgegenwärtig. Aber sie erscheinen eigentlich nicht. Es sind nicht etwa reproduktive Aspekte als darstellende Anschauungen von ihnen da, wir können nur jederzeit solche anschaulichen Vergegenwärtigungen herstellen. Die Vorderseite des Tisches sehend, können wir, wenn wir gerade wollen, einen anschaulichen Vorstellungsverlauf, einen reproduktiven Verlauf von Aspekten inszenieren, durch den eine unsichtige Seite des Dings vorstellig würde. Was wir dabei aber tun, ist nichts anderes, als uns einen Wahrnehmungsverlauf vergegenwärtigen, in dem wir, von Wahrnehmung zu neuen Wahrnehmungen übergehend, den Gegenstand von immer neuen Seiten in den originalen Aspekten sehen würden. Das geschieht aber nur ausnahmsweise. Es ist klar, dass, was die wirklich gesehene Seite als bloße Seite charakterisiert und es macht, dass nicht sie als das Ding genommen wird, sondern dass etwas über sie Hinausreichendes bewusst ist als wahrgenommen, von dem gerade nur [5] das wirklich gesehen ist, in einem unanschaulichen Hinausweisen, Indizieren besteht. Das Wahrnehmen ist, noetisch gesprochen, ein Gemisch von wirklicher Darstellung, die das Dargestellte in der Weise originaler Darstellung anschaulich macht, und leerem Indizieren, das auf mögliche neue Wahrnehmungen verweist. In noematischer Hinsicht ist das Wahrgenommene derart abschattungsmäßig Gegebenes, dass die jeweilige gegebene 〈Seite〉 auf anderes Nichtgegebenes verweist, als nicht gegeben von demselben Gegenstand. Das gilt es zu verstehen.

Zunächst werden wir darauf aufmerksam, dass jede Wahrnehmung, noematisch: Jeder einzelne Aspekt des Gegenstandes in sich selbst auf eine Kontinuität, ja auf vielfältige Kontinua möglicher neuer Wahrnehmungen verweist, eben diejenigen, in denen sich derselbe Gegenstand von immer neuen Seiten zeigen würde. Das Wahrgenommene in seiner Erscheinungsweise ist, was es ist, in jedem Momente des Wahrnehmens, 〈als〉 ein System von Verweisen, mit einem Erscheinungskern, an dem sie ihren Anhalt haben, und in diesen Verweisen ruft es uns gewissermaßen zu: Es gibt hier noch Weiteres zu sehen, dreh mich doch nach allen Seiten, durchlaufe mich dabei mit dem Blick, tritt näher heran, öffne mich, zerteile mich. Immer von neuem vollziehe Umblick und allseitige Wendung. So wirst du mich kennenlernen nach allem, was ich bin, all meinen oberflächlichen Eigenschaften, meinen inneren sinnlichen Eigenschaften usw. Sie verstehen, was diese andeutende Rede besagen soll. In der jeweiligen aktuellen Wahrnehmung habe ich gerade die und keine anderen Aspekte und Aspektwandlungen, und immer nur begrenzte Aspektwandlungen. In jedem Moment ist der gegenständliche Sinn derselbe hinsichtlich des Gegenstandes schlechthin, der gemeinter ist, und ist in der kontinuierlichen Abfolge der Momentanerscheinungen in Deckung. So etwa dieser Tisch da. Aber dieses Identische ist ein beständiges x, ist ein beständiges Substrat von wirklich erscheinenden Tisch-Momenten, aber auch von Hinweisen auf noch nicht erscheinende. Diese Hinweise sind zugleich Tendenzen, Hinweistendenzen, die zu den nicht gegebenen Erscheinungen forttreiben. Aber es sind nicht einzelne Hinweise, sondern ganze Hinweissysteme, Strahlensysteme von Hinweisen, die auf entsprechende mannigfaltige Erscheinungssysteme deuten. Es sind Zeiger in eine Leere, da ja die nicht aktualisierten [6] Erscheinungen nicht als wirkliche, auch nicht als vergegenwärtigte Erscheinungen bewusst sind. Mit andern Worten, alles eigentlich Erscheinende ist nur dadurch Dingerscheinendes, dass es umflochten und durchsetzt ist von einem intentionalen Leerhorizont, dass es umgeben ist von einem Hof erscheinungsmäßiger Leere. Es ist eine Leere, die nicht ein Nichts ist, sondern eine auszufüllende Leere, es ist eine bestimmbare Unbestimmtheit. – Denn nicht beliebig ist der intentionale Horizont auszufüllen; es ist ein Bewusstseinshorizont, der selbst den Grundcharakter des Bewusstseins als Bewusstsein von Etwas hat. Seinen Sinn hat dieser Bewusstseinshof, trotz seiner Leere, in Form einer Vorzeichnung, die dem Übergang in neue aktualisierende Erscheinungen eine Regel vorschreibt. Die Vorderseite des Tisches sehend, ist die Rückseite, ist alles von ihm Unsichtige in Form von Leervorweisen bewusst, wenn auch recht unbestimmt; aber wie unbestimmt, so ist es doch Vorweis auf eine körperliche Gestalt, auf eine körperliche Färbung usw., und nur Erscheinungen, die dergleichen abschatten, die im Rahmen dieser Vorzeichnung das Unbestimmte näher bestimmen, können sich einstimmig einfügen; nur sie können ein identisches x der Bestimmung durchhalten als dasselbe, sich hierbei neu und näher bestimmende. Bei jeder Wahrnehmungsphase des strömenden Wahrnehmens, bei jeder neuen Erscheinung gilt immer wieder dasselbe, nur dass der intentionale Horizont sich geändert und verschoben hat. Zu jedem Dingerscheinenden einer jeden Wahrnehmungsphase gehört ein neuer Leerhorizont, ein neues System bestimmbarer Unbestimmtheit, ein neues System von Fortschrittstendenzen mit entsprechenden Möglichkeiten, in bestimmt geordnete Systeme möglicher Erscheinungen einzutreten, möglicher Aspektverläufe mit untrennbar zugehörigen Horizonten, die in einstimmiger Sinnesdeckung denselben Gegenstand als sich immer neu bestimmenden zu wirklicher, erfüllender Gegebenheit bringen würden. Die Aspekte sind, wie wir sehen, nichts für sich, sie sind Erscheinungen-von nur durch die von ihnen nicht abtrennbaren intentionalen Horizonte.

Wir unterscheiden dabei zwischen Innenhorizont und Außenhorizont der jeweiligen Aspekterscheinung. Es ist nämlich zu beachten, dass die Scheidung von eigentlich Wahrgenommenem und nur Mitgegenwärtigem zwischen inhaltlichen Bestimmt[7]heiten des Gegenstandes unterscheidet, die wirklich erscheinungsmäßig und leibhaft dastehen, und solchen, die in völliger Leere und noch vieldeutig vorgezeichnet sind; dass auch das wirklich Erscheinende in sich selbst mit einem ähnlichen Unterschied behaftet ist. Auch hinsichtlich der schon wirklich gesehenen Seite ertönt ja der Ruf: Tritt näher und immer näher, sieh mich dann unter Änderung deiner Stellung, deiner Augenhaltung usw. fixierend an, du wirst an mir selbst noch vieles neu zu sehen bekommen, immer neue Partialfärbungen usw., vorhin unsichtige Strukturen des nur vordem unbestimmt allgemein gesehenen Holzes usw. Also auch das schon Gesehene ist mit vorgreifender Intention behaftet. Es ist, was schon gesehen ist, immerfort ein vorzeichnender Rahmen für immer Neues, ein x für nähere Bestimmung. Immerfort ist antizipiert, vorgegriffen. Neben diesem Innenhorizont dann aber die Außenhorizonte, die Vorzeichnungen für solches, das noch jedes anschaulichen Rahmens entbehrt, der nur differenziertere Einzeichnungen forderte.

2. Das Verhältnis von Fülle und Leere im Wahrnehmungsprozess und die Kenntnisnahme

Um jetzt ein tieferes Verständnis zu gewinnen, müssen wir auf die Art achten, wie in jedem Momente Fülle und Leere zueinander stehen und wie im Wahrnehmungsverlauf die Leere sich Fülle zueignet und die Fülle wieder zur Leere wird. Wir müssen die Zusammenhangsstruktur in jeder Erscheinung und die alle Erscheinungsreihen einigende Struktur verstehen. Im kontinuierlichen Fortgang der Wahrnehmung haben wir, wie bei jeder Wahrnehmung, Protentionen, die sich stetig erfüllen im neu Eintretenden, eintretend in der Form des urimpressionalen Jetzt. So auch hier. In jedem Fortgang äußeren Wahrnehmens hat die Protention die Gestalt von stetigen Vorerwartungen, die sich erfüllen, und das sagt: Aus den Hinweissystemen der Horizonte aktualisieren sich gewisse Hinweislinien kontinuierlich als Erwartungen, die sich stetig erfüllen in näher bestimmenden Aspekten.

In der letzten Vorlesung lernten wir die Einheit jeder äußeren Wahrnehmung nach verschiedenen Richtungen verstehen. Die äußere Wahrnehmung ist ein zeitlicher Erlebnisabfluss, in dem [8] Erscheinungen in Erscheinungen einstimmig ineinander übergehen, in die Deckungseinheit, der Einheit eines Sinnes entspricht. Diesen Fluss lernten wir verstehen als ein systematisches Gefüge fortschreitender Erfüllung von Intentionen, womit freilich nach anderer Seite wieder Hand in Hand geht eine Entleerung schon voller Intentionen. Jede Momentanphase der Wahrnehmung ist in sich selbst ein Gefüge von partiell vollen und partiell leeren Intentionen. Denn in jeder Phase haben wir eigentliche Erscheinung, und das ist erfüllte Intention, aber doch nur graduell erfüllte, da ein Innenhorizont der Unerfülltheit und einer noch bestimmbaren Unbestimmtheit da ist. Außerdem aber gehört zu jeder Phase ein völlig leerer Außenhorizont, der nach Erfüllung tendiert und im Übergang nach einer bestimmten Fortschrittsrichtung danach in der Weise der leeren Vorerwartung langt.

Genauer besehen müssen wir aber Erfüllung und Näherbestimmung noch (und in folgender Weise) unterscheiden und müssen jetzt den Prozess der Wahrnehmung als einen Prozess der Kenntnisnahme beschreiben. Indem im Fortschritt der Wahrnehmung sich der Leerhorizont, der äußere und innere, seine nächste Erfüllung schafft, besteht diese Erfüllung nicht bloß darin, dass die leer bewusste Sinnesvorzeichnung eine anschauliche Nachzeichnung erfährt. Zum Wesen der leeren Vordeutung, die sozusagen eine Vorahnung des Kommenden ist, gehört, wie wir sagten, Unbestimmtheit, und wir sprachen von bestimmbarer Unbestimmtheit. Unbestimmtheit ist eine Urform von Allgemeinheit, deren Wesen es ist, sich in der Sinnesdeckung nur durch »Besonderung« zu erfüllen; soweit diese selbst den Charakter der Unbestimmtheit hat, aber der besonderen Unbestimmtheit gegenüber der vorangegangenen allgemeinen, gewinnt sie eventuell in neuen Schritten weitere Besonderung usf. Nun ist aber zu beachten, dass dieser Prozess der Erfüllung, die besondernde Erfüllung ist, auch ein Prozess der näheren Kenntnisnahme ist, und nicht nur einer momentanen Kenntnisnahme, sondern zugleich ein Prozess der Aufnahme in die bleibende, habituell werdende Kenntnis. Das werden wir sogleich besser verstehen. Im Voraus merken wir schon, dass die Urstätte dieser Leistung die immerfort mitfungierende Retention ist. Zunächst sei daran erinnert, dass kontinuierlich fortschreitende Erfüllung [9] zugleich kontinuierlich fortschreitende Entleerung ist. Denn sowie eine neue Seite sichtig wird, wird eine eben sichtig gewordene allmählich unsichtig, um schließlich ganz unsichtig zu werden. Aber was unsichtig geworden ist, ist für unsere Kenntnis nicht verloren. Worauf das thematisch sich vollziehende Wahrnehmen hinauswill, ist ja nicht bloß, von Moment zu Moment immer Neues vom Gegenstand anschaulich zu haben, als ob das Alte dem Griff des Interesses entgleiten dürfte, sondern im Durchlaufen eine Einheit originärer Kenntnisnahme zu schaffen, durch die der Gegenstand nach seinem bestimmten Inhalt zur ursprünglichen Erwerbung und durch sie zum bleibenden Kenntnisbesitz würde.2 Und in der Tat: Die ursprüngliche Kenntniserwerbung verstehen wir in der Beachtung des Umstandes, dass die mit der Erfüllung sich vollziehende Näherbestimmung ein bestimmtes Sinnesmoment neu beibringt, das zwar im Fortgang zu neuen Wahrnehmungen aus dem eigentlichen Wahrnehmungsfeld entschwindet, aber retentional erhalten bleibt. (Das geschieht schon vorthematisch, schon im Hintergrundwahrnehmen. Im thematischen Wahrnehmen hat die Retention den thematischen Charakter des Im-Griff-Bleibens.) Demgemäß hat der Leerhorizont, in den das Neue dank der Retention jetzt eingeht, einen anderen Charakter als der Leerhorizont der Wahrnehmungsstrecke, bevor sie originär aufgetreten war. Habe ich die Rückseite eines unbekannten Gegenstandes einmal gesehen und kehre ich wahrnehmend zur Vorderseite zurück, so hat die leere Vordeutung auf die Rückseite nun eine bestimmte Vorzeichnung, die sie vordem nicht hatte. Im Wahrnehmungsprozess verwandelt sich dadurch der unbekannte Gegenstand in einen bekannten; am Ende habe ich zwar genau wie am Anfang nur eine einseitige Erscheinung, und ist das Objekt gar aus unserem Wahrnehmungsfeld ganz herausgetreten, so haben wir von ihm überhaupt eine völlig leere Retention. Aber trotzdem, den ganzen Kenntniserwerb haben wir noch, und bei thematischem Wahrnehmen noch im Griff. Unser Leerbewusstsein hat jetzt eine gegliederte, systematische Sinneseinzeichnung, welche vordem, und vor allem [10] bei Beginn der Wahrnehmung, nicht bestand. Was damals ein bloßer Sinnesrahmen war, eine weit gespannte Allgemeinheit, ist jetzt eine sinnvoll gegliederte Besonderheit, die freilich weiterer Erfahrung harrt, um noch reichere Kenntnisgehalte als Bestimmungsgehalte anzunehmen. Kehre ich zu Wahrnehmungen der früheren Bestimmung wieder zurück, so laufen sie nun ab im Bewusstsein des Wiedererkennens, im Bewusstsein: »All das kenne ich schon.« Nun findet bloß Veranschaulichung, und mit ihr erfüllende Bestätigung der leeren Intentionen statt, aber nicht mehr Näherbestimmung.

3. Die Möglichkeit der freien Verfügung über das zur Kenntnis Kommende

Indem die Wahrnehmung ursprünglich Kenntnis erwirbt, erwirbt sie auch ein für die Dauer bleibendes Eigentum des Erworbenen, einen jederzeit verfügbaren Besitz. Worin besteht diese freie Verfügbarkeit? Frei verfügbar ist dieses schon Bekannte, obschon Leergewordene insofern, als die nachgebliebene leere Retention jederzeit frei erfüllbar ist, jederzeit zu aktualisieren ist durch Wiederwahrnehmung im Charakter des Wiedererkennens. Herumgehend, nähertretend, mit den Händen tastend etc., kann ich alle schon bekannten Seiten wiedersehen, wieder erfahren, sie sind wahrnehmungsbereit; und dasselbe gilt für die Folgezeit. Das bezeichnet den Grundcharakter der transzendenten Wahrnehmung, durch den allein eine bleibende Welt für uns da, für uns vorgegebene und eben frei verfügbare Wirklichkeit sein kann, dass für die Transzendenz eine Wiederwahrnehmung, erneute Wahrnehmung desselben möglich ist.

Doch noch ein Weiteres ist als wesentlich beizufügen. Haben wir ein Ding kennengelernt und tritt ein zweites Ding in unseren Gesichtskreis, das nach der eigentlich gesehenen Seite mit dem früheren und bekannten übereinstimmt, so erhält nach einem Wesensgesetz des Bewusstseins (vermöge einer inneren Deckung mit dem durch »Ähnlichkeitsassoziation« geweckten früheren) das neue Ding die ganze Kenntnisvorzeichnung vom früheren her. Es wird, wie man sagt, apperzipiert mit gleichen unsichtigen Eigenschaften wie das alte. Und auch diese Vorzeichnung, dieser [11] Erwerb innerer Tradition ist zu unserer freien Verfügung in Form aktualisierender Wahrnehmung.

Aber wie sieht nun des Näheren diese freie Verfügung aus? Was macht das freie Eindringen in unsere durch und durch von Antizipationen übersponnene Welt, was macht alle bestehende Kenntnis und neue Kenntnis möglich? Wir bevorzugen hierbei den normalen und Grundfall der Konstitution von äußerem Dasein, nämlich den von unveränderten Raumdingen. Die Klarlegung der Möglichkeit, dass Veränderungen von Dingen vonstatten gehen können, ohne dass sie wahrgenommen sind, und doch in mannigfachen nachkommenden Wahrnehmungen und Erfahrungen der Kenntnis, nach allen ihren unwahrgenommenen Stücken, zugänglich sind, ist ein höher liegendes Thema, das schon die Aufklärung der Möglichkeit einer Erkenntnis von ruhendem Dasein voraussetzt.

Wir fragen also, um wenigstens dieses Grundstück der konstitutiven Problematik zum Verständnis zu bringen, wie sieht die freie Verfügung über Kenntnis aus, die ich schon habe, wenn auch noch so unvollkommen habe, und zwar im Fall unveränderter Dinglichkeit? Was macht sie möglich?

Aus dem Bisherigen ersehen wir, dass jede Wahrnehmung implicite ein ganzes Wahrnehmungssystem mit sich führt, jede in ihr auftretende Erscheinung ein ganzes Erscheinungssystem, nämlich in Form von intentionalen Innen- und Außenhorizonten. Keine erdenkliche Erscheinungsweise gibt darum den erscheinenden Gegenstand vollkommen, in keiner ist er letzte Leibhaftigkeit, die das vollkommen erschöpfende Selbst des Gegenstandes brächte, jede Erscheinung führt im Leerhorizont ein plus ultra mit sich. Und da mit jeder die Wahrnehmung doch prätendiert, den Gegenstand leibhaft zu geben, so prätendiert sie in der Tat beständig mehr, als sie ihrem eigenen Wesen nach leisten kann. In eigentümlicher Weise ist jede Wahrnehmungsgegebenheit ein beständiges Gemisch von Bekanntheit und Unbekanntheit, die auf neue mögliche Wahrnehmung verweist, die zur Bekanntheit bringen würde. Und das wird noch in einem neuen Sinn gelten als in dem, der bisher hervorgetreten ist.

Sehen wir nun zu, wie im Übergang der Erscheinungen, etwa im Nähertreten, Herumgehen, Augenbewegen, die Deckungseinheit nach dem Sinn aussieht. Das Grundverhältnis in diesem be[12]weglichen Übergang ist das zwischen Intention und Erfüllung. Die leere Vorweisung eignet sich die ihr entsprechende Fülle an. Sie entspricht der mehr oder minder reichen Vorzeichnung, bringt aber, da ihr Wesen unbestimmbare Unbestimmtheit ist, in eins mit der Erfüllung auch Näherbestimmung. Also damit ist eine neue »Urstiftung« vollzogen, eine Urimpression, wie wir hier wieder sagen können, denn ein Moment ursprünglicher Originalität tritt auf. Das schon urimpressional Bewusste weist durch seinen Hof auf neue Erscheinungsweisen vor, die, eintretend, teils als bestätigende, teils als näher bestimmende auftreten. Vermöge der unerfüllten und jetzt sich erfüllenden Innenintentionen bereichert sich das schon Erscheinende in sich selbst. Dazu schafft sich im Fortgang der leere Außenhorizont, der mit der Erscheinung verflochten war, seine nächste Erfüllung, mindestens eine partielle. Der unerfüllt bleibende Teil des Horizonts geht über in den Horizont der neuen Erscheinung, und so geht es stetig weiter. Dabei verliert sich, was schon vom Gegenstand in die Erscheinung getreten war, partiell wieder im Fortgang aus der Erscheinungsgegebenheit, das Sichtige wird wieder unsichtig. Aber es ist nicht verloren. Es bleibt retentional bewusst und in der Form, dass der Leerhorizont der Erscheinung, die gerade aktuell ist, nun eine neue Vorzeichnung erhält, die bestimmt auf das schon früher gegeben Gewesene als Mitgegenwärtiges verweist. Habe ich die Rückseite gesehen und bin zur Vorderseite zurückgekehrt, so hat der Wahrnehmungsgegenstand für mich eine Sinnesbestimmung erhalten, die auch im Leeren auf das vordem Gesehene verweist. Es bleibt dem Gegenstand zugeeignet. Der Prozess der Wahrnehmung ist ein Prozess beständiger Kenntnisnahme, der das in Kenntnis Genommene im Sinn festhält und so einen immer neu gewandelten und immer mehr bereicherten Sinn schafft. Dieser Sinn ist während des fortdauernden Wahrnehmungsprozesses zugeschlagen zu dem vermeintlich in Leibhaftigkeit erfassten Gegenstand selbst.

Es hängt nun von der Richtung des Wahrnehmungsprozesses ab, welche Linien aus dem System der unerfüllten Intentionen zur Erfüllung gebracht, also welche kontinuierlichen Reihen von möglichen Erscheinungen aus dem gesamten System möglicher Erscheinungen vom Gegenstand zur Verwirklichung gebracht werden. Im Fortgang in dieser Linie verwandeln sich die ent[13]sprechenden Leerintentionen in Erwartungen. Ist die Linie einmal eingeschlagen, so verläuft die Erscheinungsreihe im Sinne sich von der aktuellen Kinästhese her stetig erregender und stetig sich erfüllender Erwartungen, während die übrigen Leerhorizonte in toter Potentialität verbleiben. Schließlich ist noch zu erwähnen, dass die Zusammengehörigkeit in der Deckung der ineinander nach Intention und Erfüllung übergehenden Abschattungserscheinungen nicht nur die ganzen Erscheinungen betrifft, sondern alle ihre unterscheidbaren Momente und Teile. So entspricht jedem erfüllten Raumpunkt des Gegenstandes etwas Entsprechendes in der ganzen Linie kontinuierlich ineinander übergehender Erscheinungen, in welchen dieser Punkt sich als Moment der erscheinenden Raumgestalt darstellt.

Fragen wir endlich, was innerhalb jedes Zeitpunktes der Momentanerscheinung Einheit gibt, Einheit als Gesamtaspekt, in dem sich die jeweilige Seite darstellt, so werden wir auch da auf wechselseitige Intentionen stoßen, die sich zugleich wechselseitig erfüllen. Im Übergang der Erscheinungen der Aufeinanderfolge sind sie alle in beweglicher Verschiebung, Bereicherung und Verarmung.

In diesen überaus komplizierten und wundersamen Systemen der Intention und Erfüllung, die die Erscheinungen machen, konstituiert sich der immer neu immer anders erscheinende Gegenstand als derselbe. Aber er ist nie fertig, nie fest abgeschlossen.

Wir müssen hier auf eine für die Objektivation des Wahrnehmungsgegenstandes wesentliche Seite der noematischen Konstitution hinweisen, auf die Seite der kinästhetischen Motivation. Nebenbei war immer wieder die Rede davon, dass die Erscheinungsabläufe mit inszenierenden Bewegungen des Leibes Hand in Hand gehen. Aber das darf nicht als ein zufälliges Nebenbei verbleiben. Der Leib fungiert beständig mit als Wahrnehmungsorgan und ist dabei in sich selbst wieder ein ganzes System aufeinander abgestimmter Wahrnehmungsorgane. Der Leib ist in sich charakterisiert als Wahrnehmungsleib. Wir betrachten ihn dabei rein als subjektiv beweglichen und sich im wahrnehmenden Tun subjektiv bewegenden Leib. In dieser Hinsicht kommt er nie in Betracht als wahrgenommenes Raumding, sondern hinsichtlich des Systems von sogenannten »Bewegungsempfindungen[14]«, die im Bewegen der Augen, des Kopfes usw. während der Wahrnehmung ablaufen, und sie sind nicht nur parallel mit den ablaufenden Erscheinungen da, sondern bewusstseinsmäßig sind die betreffenden kinästhetischen Reihen und die Wahrnehmungserscheinungen aufeinander bezogen. Blicke ich auf einen Gegenstand, so habe ich ein Bewusstsein meiner Augenstellung und zugleich, in Form eines neuartigen systematischen Leerhorizonts, ein Bewusstsein des ganzen Systems möglicher, mir frei zu Gebote stehender Augenstellungen. Und nun ist das in der gegebenen Augenstellung Gesehene mit dem ganzen System verknüpft, dass ich evidenterweise sagen kann: Würde ich die Augen nach der und der Richtung bewegen, so würden demgemäß in bestimmter Ordnung die und die visuellen Erscheinungen ablaufen; würde ich die Augenbewegung nach der und der andern Richtung laufen lassen, so würden andere, und entsprechend zu erwartende Erscheinungsreihen verlaufen. Ebenso für die Kopfbewegungen im System ebendieser Bewegungsmöglichkeiten, wieder ebenso, wenn ich die Bewegungen des Gehens hereinziehen würde usw. Jede Linie der Kinästhese läuft in eigener Weise ab, in total anderer als eine Reihe von sinnlichen Daten. Sie verläuft als mir frei verfügbar, als frei zu inhibieren, frei wieder zu inszenieren, als ursprünglich subjektive Realisation ab. Also in der Tat in besonderer Weise ist das System der Leibesbewegungen bewusstseinsmäßig charakterisiert als ein subjektiv-freies System. Ich durchlaufe es im Bewusstsein des freien »Ich kann«. Ich mag unwillkürlich mich darin ergehen, meine Augen etwa unwillkürlich dahin und dorthin wenden; jederzeit kann ich aber in Willkür eine solche und jede beliebige Bewegungslinie einschlagen. Sowie ich mit einer solchen Stellung eine Dingerscheinung habe, ist aber dadurch im ursprünglichen Bewusstsein des Infolge ein System der Zugehörigkeit der mannigfaltigen Erscheinungen von demselben Ding vorgezeichnet. Ich bin hinsichtlich der Erscheinungen nicht frei: Wenn ich eine Linie im freien System des »Ich bewege mich« realisiere, so sind im Voraus die kommenden Erscheinungen vorgezeichnet. Die Erscheinungen bilden abhängige Systeme. Nur als Abhängige der Kinästhese können sie kontinuierlich ineinander übergehen und Einheit eines Sinnes konstituieren. Nur in solchen Verläufen entfalten sie ihre intentionalen Hinweise. Nur durch dieses Zusammenspiel unabhängiger und abhängiger Vari[15]ablen konstituiert sich das Erscheinende als transzendenter Wahrnehmungsgegenstand, und zwar als ein Gegenstand, der mehr ist, als was wir gerade wahrnehmen, als ein Gegenstand, der ganz und gar meiner Wahrnehmung entschwunden und doch fortdauernd sein kann. Wir können auch sagen, er konstituiert sich als solcher nur dadurch, dass seine Erscheinungen kinästhetisch motivierte sind und ich somit es in meiner Freiheit habe, gemäß meiner erworbenen Kenntnis, die Erscheinungen willkürlich als originale Erscheinungen in ihrem System der Einstimmigkeit ablaufen zu lassen. Durch entsprechende Augenbewegungen und sonstige Leibesbewegungen kann ich jederzeit für einen bekannten Gegenstand zu den alten Erscheinungen, die mir den Gegenstand von denselben Seiten wiedergeben, zurückkehren, oder ich kann den nicht mehr wahrgenommenen Gegenstand durch freie Rückkehr in die passende Stellung wieder in die Wahrnehmung bringen und wieder identifizieren. Wir sehen also, in jedem Wahrnehmungsprozess wird ein konstitutives Doppelspiel gespielt: Intentional konstituiert ist als ein praktischer kinästhetischer Horizont 1) das System meiner freien Bewegungsmöglichkeiten, das sich in jedem aktuellen Durchlaufen nach einzelnen Linien von Bewegungen im Charakter der Bekanntheit, also der Erfüllung aktualisiert. Jede Augenstellung, die wir gerade haben, jede Körperstellung ist dabei nicht nur bewusst als die momentane Bewegungsempfindung, sondern bewusst als Stelle in einem Stellensystem, also bewusst mit einem Leerhorizont, der ein Horizont der Freiheit ist. 2) Jede visuelle Empfindung bzw. visuelle Erscheinung, die im Sehfeld auftritt, jede taktuelle, die im Tastfeld auftritt, hat eine bewusstseinsmäßige Zuordnung zur momentanen Bewusstseinslage der Leibesglieder und schafft einen Horizont weiterer, zusammengeordneter Möglichkeiten, möglicher Erscheinungsreihen, zugehörig zu den frei möglichen Bewegungsreihen. Dabei ist noch in Hinsicht auf die Konstitution der transzendenten Zeitlichkeit zu bemerken: Jede Linie der Aktualisierung, die wir, diese Freiheit realisierend, faktisch einschlagen würden, lieferte kontinuierliche Erscheinungsreihen vom Gegenstand, die ihn alle für eine und dieselbe Zeitstrecke darstellen würden, die also alle denselben Gegenstand in derselben Dauer und nur von verschiedenen Seiten darstellen würden. Alle Bestimmungen, die dabei zur Kenntnis kämen, wären, dem Sinn des Konstituierten gemäß, koexistent.