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Umschlaggestaltung: Kathrin Steigerwald, Hamburg unter Verwendung von Fotomotiven von konradbak/fotolia
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© 2019, Franckh-Kosmos Verlags-GmbH & Co. KG, Stuttgart
Alle Rechte vorbehalten
ISBN 978-3-440-16710-6
eBook-Konvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig
Das wunderbarste Märchen ist das Leben selbst.
(Hans Christian Andersen)
Wer den Kopf nicht hebt, kann die Sterne nicht sehen.
(Aus Armenien)
Im Küstenwald war es so still, als würde hier noch alles schlafen. Weder ein Vogel noch sonst ein Tier regte sich. Das einzige Geräusch, das hin und wieder zu hören war, war das leise Rauschen des Windes in den Ästen und Baumwipfeln.
Ich ritt auf Finja langsam den geschwungenen Pfad entlang. Ich überließ mich vollkommen dem schreitenden Tempo der Stute, während meine Gedanken rasten, sich überschlugen, mich völlig überforderten, um am Ende immer wieder bei der Frage nach dem Warum zu landen.
Der schmale Weg machte einen großen Bogen nach links. An manchen Stellen kamen wir nun dem Abhang gefährlich nahe, aber ich vertraute auf Finja, meine wunderschöne Stute, ohne die ich mir ein Leben nicht mehr vorstellen konnte und auch nicht wollte.
Als die Bäume lichter wurden, ließ ich meinen Blick über das unter uns liegende Meer schweifen, das von hier oben einfach überwältigend aussah. Sanft klopfte ich Finja den Hals. Was für ein großartiges Gefühl, wie sehr sie mir inzwischen vertraute. Sie schnaubte leise. Ein ganz kurzer Moment des vollkommenen Glücks, inmitten des Sturms, der gerade durch mein Leben fegte und alles zu verwüsten drohte.
Es geschah, als ich schon die Lichter des Gutshofes durch die Bäume hindurch erspähen konnte. Hinter dem Küstenwald senkte sich eine Weide, abgesteckt durch Holzzaunpfähle. Im Frühjahr und Sommer grasten hier die Zuchtstuten mit ihren Fohlen, aber dann flatterte zwischen den Pfosten natürlich Elektrolitze.
Wir waren noch nicht weit gekommen, da hörte ich ein nasses Patschen unter Finjas Hufen. Fast zeitgleich begann meine Stute zu rutschen. Verzweifelt versuchte sie, mit den Hinterläufen Halt zu finden.
In den letzten Tagen hatte es fast ununterbrochen geregnet. Die Wiese, auf die wir geritten waren, war völlig durchweicht. Ich hatte meine Stute direkt in eine große matschige Pfütze gelenkt.
»Ruhig, Finja, ganz ruhig«, redete ich beschwörend auf sie ein.
Unter Finjas Hufen spritzte Wasser und Schlamm hoch. Doch sie fand keinen Halt und meine Beruhigungsversuche zeigten keine Wirkung.
Im nächsten Moment rutschte ihr rechter Vorderhuf seitlich weg. Mit einem sonderbaren Ächzen ging sie in die Knie. Ich schrie erschrocken auf, als ich nach vorne geschleudert wurde und dabei die Steigbügel verlor. Es gelang mir, mich in der Mähne festzukrallen, sodass ich auf Finjas Rücken blieb. Verängstigt riss die Stute den Kopf hoch und kämpfte sich auf alle vier Beine zurück.
Einen schnellen Atemzug stand sie unbeweglich da. Ich hätte den Moment nutzen und schnell von ihrem Rücken springen müssen. Doch ich war wie gelähmt und ja, einfach auch zu unerfahren.
Und dann war es auch schon zu spät. Finja wieherte grell, machte dabei auf der Hinterhand kehrt und donnerte los. Ich hing wie eine willenlose Marionette auf dem Rücken meiner Stute, die Hände fest in ihrer Mähne verschlungen. Finja galoppierte direkt auf den Küstenwald zu und ich konnte nichts anderes tun, als den Kopf einzuziehen und darauf zu hoffen, dass sie von alleine anhalten würde.
Die Bäume und Büsche flogen an uns vorbei. Blätter und kleine Zweige rieselten auf uns nieder. Finja rannte um ihr Leben, es lag nicht mehr in meiner Macht, sie davon abzuhalten. Nichts lag mehr in meiner Macht.
Wir hatten inzwischen wieder die Stelle erreicht, an der ich vorhin aufs Meer geblickt und eine Entscheidung getroffen hatte. Ich wollte schreien, ich wollte mit aller Kraft an Finjas Zügeln ziehen. Wir würden abstürzen. Bei dieser Geschwindigkeit würde sie nicht anhalten können. Das konnte nicht gut gehen. Doch zu nichts von alldem war ich in der Lage. Ich klammerte mich auf ihrem Rücken fest und sah den Abgrund immer näher und näher kommen.
Doch gerade als ich dachte: Das ist unser Ende, warf sich Finja nach links und schlitterte in letzter Sekunde an dem Abgrund vorbei. Durch das ruckartige Herumschmeißen verlor ich nun endgültig den Halt. Ich rutschte von Finjas Rücken und landete unsanft auf der rechten Seite, während meine Stute davongaloppierte.
Mein Herz schlug wie verrückt, in der Hüfte verspürte ich einen stechenden Schmerz. Womöglich hatte ich sie mir gebrochen. Stöhnend wollte ich mich aufrichten und erkannte viel zu spät, dass ich direkt am Abhang lag. Der Boden sackte unter mir weg, Erde und Laub glitt den Hang hinunter.
Mit weit aufgerissenen Augen blickte ich auf das steile Gefälle, das sich unter mir auftat, und versuchte, mit den Händen irgendwo Halt zu finden. Doch es gelang mir nicht. Wie in Zeitlupe rollte ich die Böschung hinunter Richtung Meer.
»Hilfe!«, begann ich panisch zu kreischen. Ich schrie mir die Seele aus dem Leib, schluckte Erde, kleine Steinchen, etwas geriet in meine Augen, ich hustete, versuchte, irgendwie zu bremsen. Doch es half alles nichts, ich nahm nur noch immer mehr an Fahrt auf. Und dann fiel ich einige Sekunden lang einfach nur ins Leere.
Ich hatte längst aufgehört zu kreischen, als ich mit ausgestreckten Armen in einer kleinen Mulde landete. Im nächsten Moment wurde es schwarz um mich herum.
In jedem Anfang liegt die Ewigkeit.
(Hugo von Hofmannsthal)
Wie aus weiter Ferne drang das schrille Piepsen des Weckers zu mir vor. Ein schreckliches Geräusch, das einfach nicht enden wollte. Und je mehr ich versuchte, es zu ignorieren, desto penetranter wurde es. All das Finger in die Ohren stecken oder unters Kopfkissen wühlen brachte einfach nichts, musste ich schließlich einsehen.
Stöhnend schlug ich die Bettdecke zur Seite. Doch gerade als meine Zehenspitzen das eiskalte Parkett berührten, erstarb das nervige Schrillen. Mal vorausgesetzt, ein Wecker verfügte über Verstand, dann war es wohl so, dass er lediglich seinen Job erfüllen und darüber hinaus sich nicht weiter verausgaben wollte.
Schönen Dank auch dafür!
Natürlich war dieser Gedanke Blödsinn. Nur war ich gerade aus dem Tiefschlaf gerissen worden. Auf brutalste Art und Weise. Und das völlig grundlos. Schließlich war heute Samstag und ich hatte nichts vor, also gab es auch keinen Grund für mich, um neun Uhr aufzustehen. Da konnte man schon mal blödsinnige Gedanken haben.
Das nächste Ärgernis dieses für mich viel zu frühen Samstagvormittags waren die arktischen Temperaturen in meinem Zimmer. Meine Mutter, mit der ich mich eigentlich ziemlich gut verstand, musste sich mal wieder spätabends in mein Zimmer geschlichen, und während ich friedlich in der wohligen Wärme geschlafen hatte, die Heizung von Stufe 5 auf 0 heruntergedreht und das Fenster gekippt haben.
»Eine kühle Schlafumgebung sorgt dafür, dass Kopf und Gehirn sozusagen im Schlaf freigepustet werden«, lautete ihre ewige Begründung dafür.
Egal wie oft ich ihr schon gesagt hatte, dass sich ein eingefrorenes Gehirn nicht gerade förderlich auf meine Lernfähigkeit auswirkte oder eine abgestorbene Nasenspitze alles andere als schick war, wann immer sich ihr die heimliche Gelegenheit bot, verwandelte sie abends meinen kuscheligen Raum in einen sibirischen Gefrierschrank.
Fröstelnd eilte ich zum Fenster und knallte es zu. Als ich auf die Straße sah, fiel mein Blick auf einen unserer Nachbarn, der gerade in sein Auto stieg und davonfuhr. Im Hauseingang gegenüber stritten die Zwillinge Jette und Jonas um irgendein Spielzeug. Um welches, konnte ich nicht erkennen, aber im Grunde war es mir auch egal. Mir war kalt, ich war müde und wollte jetzt schleunigst wieder zurück in mein kuscheliges Bett. Doch gerade als ich mich vom Fenster abwandte, klingelte es an der Wohnungstür.
»Verdammt«, fluchte ich. »Wer ist das denn?«
Ich war alleine in der Wohnung, denn im Gegensatz zu mir war meine Mutter ein Morgenmensch. Wenn um sechs ihr Wecker klingelte, sprang sie aus ihren eiskalten Federn direkt in die Joggingsachen, lief ihre gewohnte Strecke an der Elbe entlang und war fit und bereit für den Tag. Spätestens um halb acht machte sie sich dann auf den Weg in ihre Agentur und das an sechs Tagen in der Woche.
Der Sonntag gehörte dann uns, Sophia und Martina.
Seit ich ein kleines Mädchen war, verbrachten meine Mutter und ich den Sonntag gemeinsam und bis auf ganz wenige Ausnahmen bei uns zu Hause. Wir frühstückten gemütlich zusammen, erzählten uns dabei gegenseitig von der hinter uns liegenden Woche, wir tauschten uns aus, brachten uns auf den neuesten Stand, schauten anschließend eine DVD, hörten Musik, oder quatschten über Bücher.
Als ich noch kleiner war, hatte meine Mutter mir sonntags immer stundenlang vorgelesen. Die ganze Woche über hatte ich dieser Vorlesezeit entgegengefiebert, denn die Leidenschaft für Bücher war mir von ihr genauso vererbt worden wie die dunklen glatten Haare und leicht schräg stehenden grünen Augen.
Leise vor mich hin fluchend schlüpfte ich in die Jeans von gestern, zog eine dicke Strickjacke über mein Schlafshirt und lief zur Wohnungstür.
Als ich durch den Türspion lugte, entdeckte ich einen mir unbekannten Mann und wollte einem ersten Impuls folgend so tun, als wäre niemand zu Hause. Schließlich hatte meine Mutter mir bestimmt an die tausend Mal eingebläut: Öffne niemals für einen Fremden die Tür, Sophia! Natürlich ausgeschmückt mit den schaurigsten Schreckensszenarien. Das hatte sich fest in meinem Unterbewusstsein verankert.
Doch der Mann vor unserer Wohnungstür schien die Bewegung dahinter bemerkt zu haben, denn er hielt einen weißen Umschlag hoch und rief: »Hallo, hier ist der Stadtkurier. Ich habe ein Einschreiben für Sie!«
Mist. Und nun? Weiter so zu tun, als wäre niemand da, kam mir albern vor. Außerdem war ich neugierig.
»Für wen ist denn das Einschreiben?«, wollte ich erfahren, während ich durch den Spion jede Regung des Mannes beobachtete.
»Für Martina Lagemann. Die wohnt doch hier?«, gab der Kurier zurück. Dabei verzog er genervt das Gesicht. Bestimmt ging ihm mein übervorsichtiges Getue gewaltig auf den Geist. Zeit bedeutete schließlich Geld, ahnte ich, wenn man in diesem Job tätig war.
»Ja, das ist richtig«, erklärte ich.
»Wären Sie dann jetzt wohl so nett und nehmen das Einschreiben entgegen?« Die Stimme des Kuriers klang noch immer freundlich, allerdings mit sehr bemühtem Unterton.
Leider musste ich ihn dennoch enttäuschen. »Kann ich nicht, denn ich bin nicht Martina Lagemann.«
Ich sah ihn tief durchatmen, bevor er zurückgab: »Der Brief muss nicht persönlich von Martina Lagemann in Empfang genommen werden. Es reicht mir, wenn Sie den Erhalt quittieren.«
Okay, ich hatte den armen Kerl lange genug vor der Tür schmoren lassen.
»Tut mir leid, aber man kann ja nie wissen«, murmelte ich entschuldigend, nachdem ich die Tür endlich geöffnet und den Brief in Empfang genommen hatte.
»Ja, schon gut.« Der Kurier lächelte verständnisvoll und ließ mich auf einem kleinen Handcomputer unterschreiben. »Ich kann die Vorsicht schon verstehen. In einer Großstadt wie Hamburg passiert schließlich ständig etwas. Wobei man hier in Ottensen ja eher in einem behüteten und recht gesitteten Stadtteil wohnt.«
Da konnte ich dem Mann eigentlich nur zustimmen und inzwischen kam ich mir tatsächlich ein bisschen albern vor.
»Sie haben mich aus dem Tiefschlaf geklingelt«, verteidigte ich mich leicht trotzig.
»Na dann, schönen Tag noch«, antwortete er grinsend und verschwand im Treppenhaus.
Ich schloss die Wohnungstür und ging mit dem Brief in unsere Küche.
Mein Platz am Tisch war schon gedeckt. Meine Mutter musste heute noch früher als sonst aufgestanden sein, denn es gab neben Aufbackbrötchen, Wurst, Käse, Weintrauben und einem Schälchen Geflügelsalat auch selbst gebackene Blaubeer-Muffins. In einem steckte ein Zahnstocher, an dem wiederum ein kleiner Zettel haftete.
Guten Morgen, Maus, wenn du Lust hast, dann komm doch später in die Agentur. Dort wartet nämlich eine Überraschung auf dich.
Das kleine Bildchen neben dem Text, das wohl eine Strichfigur mit so etwas Ähnlichen wie einem Paket mit Schleife darstellen sollte, hätte glatt von einem Erstklässler stammen können.
Ich biss in den Muffin, obwohl ich eigentlich noch zu verschlafen war, um ausführlich zu frühstücken. Während ich lustlos kaute, betrachtete ich den Brief, den ich auf den Tisch gelegt hatte.
Der Name meiner Mutter und die Adresse waren so ordentlich auf den schneeweißen Umschlag geschrieben worden, als hätte sich der Absender die Mühe gemacht, einen dünnen Linealstrich zu ziehen, damit bloß keiner der etwas altmodischen Buchstaben aus der Reihe tanzte. Auf der 70-Cent-Briefmarke war eine weiße Steilküste abgebildet, darüber stand in schwarzen Buchstaben Nationalpark Jasmund. Laut Poststempel war der Brief vorgestern in Bergen aufgegeben worden.
Ich wusste weder, wo sich Bergen befand, noch hatte ich jemals von einem Nationalpark Jasmund gehört.
Eigentlich interessierte es mich auch nicht sonderlich, doch wegen der überkorrekten Schreibweise wollte ich nun auch wissen, wer ihn meiner Mutter geschickt hatte. Noch dazu als Einschreiben.
Der Absender war ein gewisser Harry Hansen und nun stand fest, dass er sich tatsächlich die Mühe gemacht hatte, Bleistiftlinien zu ziehen. Bei seinem Namen und der Adresse hatte er nämlich vergessen, sie anschließend wieder wegzuradieren.
»Harry Hansen«, murmelte ich vor mich hin. »Noch nie von dir gehört …«
Mein Handy klingelte. Ich legte den Brief zurück auf den Tisch und lief rüber in mein Zimmer, wo ich es von der Kommode nahm und auf dem Display erkannte, dass meine beste Freundin Ella mich anrief.
»Hi, Ella«, begrüßte ich sie etwas atemlos.
»Was bist du denn so am Keuchen?«, wollte sie wissen und schickte ihr typisches etwas zu lautes Ella-Lachen hinterher. »Hast du etwa Morgensport gemacht? Einmal den Flur hoch- und runtergejoggt?«
»Doofe Nuss«, gab ich brummend zurück. »Ärgere mich lieber nicht. Meine Laune ist eh schon im Keller. Erst klingelt der Wecker völlig grundlos und dann muss ich in arktischer Kälte zur Tür sprinten, wo ich nicht sicher sein kann, ob der Kurier wirklich einer ist oder möglicherweise ein hinterhältiger Gewaltverbrecher.«
»Hä?«, machte es am anderen Ende der Leitung verständnislos. »Hast du schlecht geträumt oder was faselst du da?«
»Falsch! Ich würde jetzt gerne noch träumen, und zwar in meinem Bett. Aber irgendwie will das heute keiner kapieren.«
»Du Arme«, zwitscherte Ella gespielt mitleidig. »Aber, wo du jetzt schon mal wach bist, dann kommst du bestimmt mit ins Äz! Ich muss ein Geschenk für meinen Vater besorgen. Er hat morgen Geburtstag und mir ist gerade aufgefallen, dass ich noch gar nichts für ihn habe. Also, wann treffen wir uns? Schaffst du es um zehn?«
Ich warf einen Blick auf meinen Wecker und schüttelte den Kopf. »Niemals! Ich muss noch duschen und …«
Ella ließ mich nicht ausreden. »Okay, dann um elf!«, bestimmte sie. »Aber sei pünktlich!«
»Ich versuch es …«, gab ich zurück.
* * *
Das Alstertal-Einkaufszentrum war eines der größten in Norddeutschland und das hatte nicht nur Vorteile.
Wenn man zum Beispiel mit seiner besten Freundin auf der Suche nach dem perfekten Geburtstagsgeschenk für ihren Vater war und sie eh schon unter chronischer Entscheidungsunfähigkeit litt, dann war eine derart umfangreiche Auswahl nicht gerade förderlich. Es dauerte Stunden, bis Ella endlich den Entschluss fasste, dass der Schal, den sie zu Beginn unseres Geschenksuch-Marathons bei Elkline entdeckt hatte, das perfekte Geschenk wäre.
»Mein Vater steht auf Schweden und auf Elche und auf dem Emblem ist einer. Das passt«, begründete sie ihre späte Entscheidung.
Anschließend diskutierte sie mit der Verkäuferin eine ziemliche Weile lang darüber, welches der vier zur Auswahl stehenden Geschenkpapiere am besten zu dem Schal passte, bis diese schließlich hörbar genervt beschloss: »Wir nehmen das blaue. Damit macht man nie etwas verkehrt.«
Bevor Ella Einspruch erheben konnte, war der Schal bereits verpackt und wurde ihr in einer Papiertüte von der blonden Frau über den Tresen gereicht.
Ihr: »Viel Spaß damit!«, klang verdammt nach: »Und jetzt haut endlich ab!«
»Boah, die war aber zickig«, beschwerte sich Ella bei mir. »Am liebsten würde ich den Schal jetzt wieder umtauschen. Einfach aus Prinzip. Ich meine, hallo, schon mal was von Servicewüste Deutschland gehört?!«
Ich rollte mit den Augen. »Ella, echt, wenn ich die Verkäuferin gewesen wäre, ich schwöre dir, ich hätte dich schon vor einer halben Stunde vor die Tür gesetzt.«
Ella starrte mich unschuldig an. »Was? Aber warum denn?«
Ich konnte nur den Kopf über meine Freundin schütteln. »Die arme Frau ist bestimmt fünfmal mit dir zur Kasse gegangen, damit du es dir im letzten Moment wieder anders überlegst. Vielleicht doch lieber das Hemd oder das Portemonnaie oder drüben bei Thalia das Buch? Hm … schwere Entscheidung, sososo schwer«, äffte ich sie nach.
Ella streckte mir die Zunge heraus. »Blödsinn! Und selbst wenn, was ist daran so verkehrt, wenn man sich Gedanken macht und nicht einfach im Vorbeirennen das Erstbeste kauft? Mein Vater ist halt wählerisch und ich möchte ihm etwas schenken, worüber er sich wirklich freut.«
Versöhnlich legte ich Ella den Arm um die Schultern und drückte ihr einen Beste-Freundinnen-Kuss auf die Wange. »Ist ja schon gut, Ellalein, lass dich von mir nicht aufziehen. Die Hauptsache ist doch, dass du jetzt ein tolles Geschenk hast.« Damit wollte ich sie zur Rolltreppe ziehen, denn wir hatten beschlossen, nach dem Geschenkekauf noch bei der Eisdiele unsere Lieblingswaffeln zu essen. Doch Ella zögerte.
»Hm … tja, aber ist es wirklich ein tolles Geschenk?«
Ich schnappte nach Luft. Nein, nicht das Ganze noch mal von vorne. »Ella, der Schal ist perfekt. Dein Vater wird ihn lieben und ständig tragen«, redete ich beschwörend auf sie ein. »Also, natürlich nicht, wenn es warm ist.« Sekunden später hätte ich mir für diese komplett überflüssige Bemerkung glatt die Zunge abbeißen können.
Ella strich sich hektisch eine Strähne ihrer langen dunkelblonden Lockenmähne aus dem Gesicht, die sich aus dem lockeren Dutt an ihrem Hinterkopf gelöst hatte. »Da hast du gerade etwas sehr Wahres gesagt. Der Winter ist vorbei und demnächst ist es viel zu warm für einen Schal. Mein Vater kann also überhaupt nichts mehr mit seinem Geschenk anfangen?«
Bevor ich es verhindern konnte, hatte sie auf dem Absatz kehrtgemacht und war zurück in den Laden gestampft.
Mein: »Aber Ella, unter Garantie wird es doch wieder Herbst, Winter, eisigkalt …«, blieb von ihr ungehört und mir leider nichts anderes übrig, als ihr hinterherzutrotteln.
Bye-bye, leckerste Waffeln mit Vanilleeis und warmen Himbeeren unten bei Jannys Eis.
Es war bereits kurz nach fünf, als ich die Wohnungstür aufschloss und mit einem tiefen Seufzen den Flur betrat. Am Ende hatte Ella sich für eine neue Handyhülle und einen Bildband über Schweden entschieden.
Doch der Weg bis dahin war wirklich anstrengend gewesen. Ich fühlte mich wie nach einem Marathon und wollte jetzt einfach nur noch etwas essen und trinken und danach aufs Sofa vor den Fernseher.
Meine Mutter saß am Küchentisch und hielt ein Blatt Papier in den Händen. Als sie mich bemerkte, zuckte sie erschrocken zusammen und faltete das Blatt in der Mitte, bevor sie es in dem Stapel Magazine verschwinden ließ, der neben ihr auf dem Tisch lag.
»Sophia, oh, ich habe dich gar nicht kommen gehört«, rief sie. Ihre Stimme klang ungewohnt schrill, auf ihren Wangen und am Hals waren hektische rote Flecken zu sehen.
»Was hast du denn da gerade unter die Zeitschriften geschoben?«, fragte ich sie, während ich ihr gegenüber am Tisch Platz nahm.
Meine Mutter tat ahnungslos. »Ich? Gar nichts? Zumindest nichts Wichtiges, nur so einen unnötigen Werbeflyer.«
Ich musterte sie skeptisch. Wie sie jetzt den Stapel Illustrierter vom Tisch nahm und rüber zum Küchenbuffet trug, da stimmte doch etwas nicht.
»Mama, ist irgendetwas passiert?«
Sie schüttelte den Kopf. »Iwo, was soll denn passiert sein? Ich hatte einfach nur einen anstrengenden Tag und wollte jetzt hier flugs noch ein bisschen Ordnung schaffen. Danach gönne ich mir ein ausgiebiges Bad und anschließend bestelle ich uns was beim Italiener. Heute Abend läuft Wilsberg. Wenn du nichts vorhast, dann können wir ihn uns ja zusammen anschauen?«
Sie bemühte sich um Normalität. Doch ich kannte meine Mutter zu gut, um ihr eben genau das nicht abzukaufen.
»Bist du wegen dem Brief so … na ja … komisch?«
Ich hatte die Frage nicht wirklich ernst gemeint, weil ich mir beim besten Willen nicht vorstellen konnte, dass der Brief von diesem Harry Hansen ernsthaft etwas mit der aufgewühlten Verfassung meiner Mutter zu tun haben könnte.
Doch anscheinend hatte ich direkt ins Schwarze getroffen. Meiner Mutter entglitten regelrecht die Gesichtszüge und die Schwerfälligkeit, mit der sie auf den Stuhl zurücksank, passte so gar nicht zu ihren sonst so grazilen Bewegungen.
»Mama?«, rief ich besorgt und gleichzeitig vorwurfsvoll. »Jetzt sag gefälligst, was los ist?«
Doch statt mir ihr sonderbares Verhalten zu erklären, stützte sie ihre Ellbogen auf den Tisch und vergrub für einen Moment das Gesicht in den Händen.
»Mama … bitte«, wisperte ich und streckte den Arm über den Tisch nach ihr aus. Sacht berührte ich mit den Fingerspitzen ihren blasslila Blusenärmel. »Ist es tatsächlich wegen dem Brief? Was stand denn darin?«
Langsam hob sie den Kopf. Ihre Augen waren gerötet, tiefe Schatten lagen darunter und das mulmige Gefühl, was ich schon die ganze Zeit über verspürt hatte, verstärkte sich.
Meine Mutter nahm die Ellbogen vom Tisch und drückte die Schultern durch. Ihre Stimme war nicht viel mehr als ein heiseres Hauchen, als sie sagte: »Der Brief ist von deinem Großvater«, sodass ich erst meinte, mich verhört zu haben.
»Wie bitte?«, krächzte ich nicht viel lauter.
Meine Mutter räusperte sich. »Harry Hansen ist dein Großvater. Er hat den Brief geschrieben.«
»Ach so – ich habe also einen Großvater. Noch einen …«, war das Einzige, was mir in diesem Moment dazu einfiel.
Was ist ein Freund? Ein anderes Ich.
(Cicero)
»Ich mache uns erst einmal einen Tee, Sophia«, beschloss meine Mutter und ging rüber zur Küchenzeile, um den Wasserkocher anzuschalten.
Ich antwortete nicht, war viel zu sehr damit beschäftigt, meine Gedanken zu sortieren.
Harry Hansen war also mein Großvater. Väterlicherseits. Die Eltern meiner Mutter hießen Gitta und Ewald Lagemann und lebten seit Opa Eddis Pensionierung auf ihrer Lieblingsinsel Teneriffa in einer kleinen Finca. Ein Lebenstraum, den sie sich erfüllt hatten. In den Sommerferien besuchten wir sie regelmäßig und an Weihnachten kamen sie dann zu uns nach Deutschland.
Und nun hatte ich plötzlich noch einen Opa. Der Vater meines Vaters, zu dem meine Mutter seit über siebzehn Jahren keinerlei Kontakt hatte. Laut ihren Schilderungen war er es, der darauf keinen Wert legte. Der sich aus dem Staub gemacht hatte, als er erfuhr, dass ich unterwegs sei.
Unzählige Male hatte ich mir Gedanken darüber gemacht, warum er kein Interesse an mir hatte. Weshalb er mich nicht kennenlernen wollte. Jede Art von Kontakt mied. Als ich noch jünger war, habe ich oft heimlich wegen ihm geweint. Ich war fest davon überzeugt, dass es an mir lag, dass er nichts mit uns zu tun haben wollte. Nur konnte ich mir einfach keinen Reim darauf machen, was ich denn so Schreckliches verbrochen hatte.
Meine Mutter hatte mir immer wieder versichert, dass mich nicht die geringste Schuld traf.
»Dein Vater ist derjenige, dem seine Unabhängigkeit wichtiger war als seine Familie. Er wollte lieber die Welt bereisen, statt zu seiner Verantwortung zu stehen. Nein, Sophia, er ist es nicht wert, dass seinetwegen dein Herz schwer ist. Glaub es mir, er ist es absolut nicht wert.«
An meinem zwölften Geburtstag hatte ich dann den Entschluss gefasst, nicht länger seinetwegen unglücklich zu sein und vor allem nicht weiter darauf zu hoffen, dass er doch eines Tages das Verlangen verspürte, mich kennenzulernen.
Und nun, quasi aus heiterem Himmel, hatte ich einen Großvater. Mein erster Gedanke war, dass er uns geschrieben hatte, weil mein Vater mich endlich kennenlernen wollte. Vielleicht fehlte dem ja der Mut, sich einfach selbst zu melden.
Meine Mutter stellte für mich eine Tasse mit dampfendem Tee auf den Tisch.
»Soll ich dir vielleicht etwas zu essen machen?«, fragte sie leise.
Ich schüttelte den Kopf. Appetit war gerade wirklich das Letzte, was ich verspürte.
»Was hat er geschrieben?«, fragte ich mit dünner Stimme.
Meine Mutter ließ sich wieder auf ihren Stuhl sinken. Sie seufzte tief, und tat sich sichtbar schwer damit, mir auf meine Frage zu antworten.
»Mama, dann gib mir den Brief. Ich bin schließlich selbst in der Lage zu lesen.« Ich versuchte mich an einem Grinsen, doch es missglückte mir.
»Lass mir bitte noch einen Moment«, bat sie mich leise und die Art, wie sie mich dabei ansah, war mir völlig fremd. Nein, so kannte ich sie nicht. Martina Lagemann war normalerweise immer Frau der Lage. Ich hatte noch nie erlebt, dass meine toughe Mutter irgendetwas oder irgendwer aus der Fassung gebracht hatte. So klein und zierlich sie körperlich auch sein mochte, ihr Selbstbewusstsein war mindestens doppelt so groß.
Ich hätte mir keine bessere Mutter wünschen können, denn auch wenn ich mich oftmals nach meinem Vater gesehnt hatte, wirklich vermisst hatte ich nie etwas. Auch ihn nicht. Dafür hatte meine Mutter immer gesorgt. Und nun saß sie vor mir am Tisch und es war nur noch wenig übrig von der Löwenmutter und gewitzten Geschäftsfrau.
»Lass mich den Brief doch einfach lesen, Mama«, unternahm ich nach einem langen Moment des Schweigens einen erneuten Versuch.
Doch sie schüttelte wieder nur den Kopf.
»Nein, ich denke, ich sollte es dir jetzt sagen … muss es wohl tun«, murmelte sie.
»Mensch Mama«, rief ich genervt. »Jetzt mach es doch nicht so spannend. So schlimm kann es wohl nicht sein, was dir dieser Harry Hansen da geschrieben hat.«
»Doch«, sagte sie nur und dann: »Er hat uns mitgeteilt, dass Gregor letzte Woche nach langer Krankheit den Kampf verloren hat und verstorben ist.«
Im ersten Moment stand ich so auf dem Schlauch, dass mir nicht klar war, wer mit Gregor gemeint sein könnte. Es war verrückt, aber ich dachte tatsächlich, die Rede sei von einem Hund. Harry Hansens Hund. Doch gleich darauf wurde mir bewusst, dass dieser Gedanke komplett schwachsinnig war. Ganz bestimmt hatte mein Großvater uns nicht via Einschreiben mitgeteilt, dass sein Hund verstorben war – wenn er denn überhaupt einen hatte.
Dennoch fragte ich leise: »Welcher Gregor?«
Meine Mutter blickte mir tief in die Augen. Ihre schwammen in Tränen, und noch bevor sie es aussprach, begann ich endlich zu begreifen.
»Dein Vater, Sophia, Gregor ist … war dein Vater.«
Ich konnte sie nur mit großen Augen anstarren, während ich mich fragte, was ich nun tun sollte. Wie ich mich verhalten sollte. Musste ich nicht traurig sein? In Tränen ausbrechen? Meinen toten Vater beweinen, betrauern? Aber wie weinte man um jemanden, den man nicht kannte? Wie trauerte man um einen Fremden?
Meine Mutter wusste es anscheinend, ihr liefen die Tränen über beide Wangen. Kleine Rinnsale, die helle Schlieren auf ihrem ebenmäßigen Make-up-Teint hinterließen. Aber im Gegensatz zu mir hatte sie Gregor Hansen gekannt.
»Entschuldige bitte, Sophia …«, sagte sie tonlos und tupfte sich mit dem Ärmelkragen ihrer todschicken Seidenbluse die Tränen von den Wangen.
Ich schüttelte den Kopf. »Mama, du musst dich doch nicht entschuldigen. Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll – ich kannte ihn ja überhaupt nicht. Hab nicht einmal ein Bild von ihm vor Augen …«
Meine Mutter zuckte mit den Schultern. Sie kamen mir noch schmaler vor, als sie sowieso schon waren. »Das ist doch nur zu verständlich. Du hast ja keinerlei Verbindungen zu Gregor gehabt. Und was mich betrifft, ich habe ihn schließlich auch eine halbe Ewigkeit nicht mehr gesehen. Es ist nur so, dass mich die Nachricht von seinem Tod wirklich geschockt hat. Er war Mitte vierzig, Sophia. Viel zu jung zum Sterben.«
Meine Mutter ordnete mit den Fingern ihr schulterlanges Haar, das sie wie meistens zu einem strengen Zopf zusammengebunden trug.
Ich stand auf und kam um den Tisch herum. Behutsam legte ich meine Hände auf ihre Schultern und beugte mich etwas zu ihr hinunter. »Mama, ich möchte ihn gerne lesen«, bat ich.
Sie deutete mit einer Kopfbewegung auf das antike Küchenbuffet, das im krassen Gegensatz zu der sonst so klaren und schlichtweißen Kücheneinrichtung stand. Meine Mutter liebte es, hochmoderne und fast schon steril wirkende Möbel mit antiken und schwer verschnörkelten Schätzen zu vermischen. Als Inhaberin einer zwar kleinen, aber dennoch überaus erfolgreichen Werbeagentur verfügte sie glücklicherweise auch über die nötigen finanziellen Mittel, um ihrer Leidenschaft für diesen interessanten Einrichtungsmix nachkommen zu können.
»Auf dem Küchenbuffet …«, sagte sie leise.
Ich drückte noch einmal sanft ihre Schultern und wandte mich dann zu dem antiken Schrank um.
Der Brief steckte zwischen zwei Zeitschriften. Als ich ihn nun noch immer in der Mitte gefaltet in meinen Händen hielt, überkam mich erneut das mulmige Gefühl von vorhin.
»Mama, ich wäre gerne für mich, wenn ich ihn lese«, bat ich. »Ist es okay, wenn ich damit in mein Zimmer gehe? Kann ich dich einen Moment alleine lassen?«
Meine Mutter straffte die Schultern und stand vom Tisch auf. Sie zog sich ihre elegante Bluse zurecht, ebenso den knielangen hellblauen Stiftrock. Ihre Stimme klang nun wieder normal, der übliche sanfte, aber dennoch sehr klare Tonfall.
»Natürlich kannst du das, Sophia. Ich muss mich auch wirklich noch mal bei dir entschuldigen. Mein Verhalten … na ja, ich kann es mir selbst nicht erklären. Vielleicht, weil ich so lange nichts mehr von Gregor gehört habe. Und natürlich auch nicht von Harry. Da sind wohl einfach alte Gefühle … Erinnerungen in mir hochgekommen.«
Sie nahm mich kurz in den Arm, bevor sie damit begann, die eh schon lupenreine Arbeitsplatte aus weißem Granit mit einem speziellen Tuch zu wienern.
»Ich bin gleich wieder zurück«, versprach ich ihr und trug den gefalteten Brief rüber in mein Zimmer. Ich hielt ihn in beiden Händen, wie einen zerbrechlichen Schatz, der zwar eine traurige Nachricht für mich beinhaltete, aber wenigstens endlich überhaupt eine von meinem Vater. Es war wirklich sonderbar, aber noch immer konnte ich keine Trauer verspüren. Da war einfach nur Neugierde. Ich schämte mich insgeheim dafür. Doch was sollte ich tun, Gefühle konnte man schließlich nicht beeinflussen.
In meinem Zimmer setzte ich mich auf die Bettkante und atmete noch einmal tief durch, bevor ich das weiße Blatt Papier aufklappte und zu lesen begann. Die Schrift war genauso akkurat und leicht altmodisch wie auf dem Umschlag.
Liebe Martina, liebe Sophia,
leider muss ich Euch beiden die traurige Nachricht überbringen, dass Gregor am vergangenen Donnerstag nach langer und schwerer Krankheit verstorben ist.
Es war ihm wichtig, dass Ihr von seinem Tod erfahrt, und ich habe ihm versprochen, dass ich Euch schreiben werde.
Außerdem bitte ich Euch, am kommenden Mittwoch um 15:30 zur Testamentseröffnung in die Kanzlei der Rechtsanwältin und Notarin Markgraf zu erscheinen. Auch das war Gregor wichtig.
Die genaue Adresse der Notarin befindet sich auf der Visitenkarte, die ich diesem Brief beigefügt habe.
Es tut mir leid, dass ich mich nach so vielen Jahren ausgerechnet mit so einer traurigen Nachricht bei Euch melden muss.
Mit den besten Grüßen,
Harry
Ich legte den Brief neben mir aufs Bett und sank mit dem Oberkörper nach hinten zurück. Ich starrte an die Decke und bemühte mich, irgendetwas zu fühlen.
Mein Vater war tot. Schon seit über einer Woche. Jetzt hatte ich es mit eigenen Augen gelesen. Schwarz auf weiß.
Ob er wohl schon beerdigt war? Und warum sollten wir zur Testamentseröffnung kommen?
Verdammt, warum war ich nicht traurig? Warum musste ich nicht weinen?
Ich stand wieder vom Bett auf und lief in meinem Zimmer auf und ab. Ich kam mir wie ein Tiger im Käfig vor, der sich mit der plötzlichen Gefangenschaft nicht abfinden konnte. Die Wände rückten immer näher – der Raum fing plötzlich an zu schrumpfen. Und stickig war es hier drinnen. Kein Wunder, dass ich bei diesem Mief nichts empfinden konnte. Meine Sinne und Gefühle waren zugenebelt. Logisch, das war die Erklärung.
Gerade als ich aufstehen wollte, um das Fenster zu öffnen, klopfte es leise an meiner Zimmertür. »Sophia«, erklang die besorgte Stimme meiner Mutter, »ist alles in Ordnung bei dir?«
»Ja!«, rief ich zurück – dabei war das eine glatte Lüge. Wie konnte alles in Ordnung sein, wenn ich gerade erfahren hatte, dass mein Vater gestorben war.
Ja, klar doch, ich hatte ihn nicht gekannt. Und weinen konnte ich auch nicht um ihn. Und dennoch … nichts war in Ordnung. Absolut gar nichts.
Die Tür wurde behutsam aufgeschoben und der dunkle Haarschopf meiner Mutter erschien im Rahmen. »Darf ich reinkommen oder brauchst du noch einen Moment für dich?«
Ich zuckte mit den Schultern. »Weiß nicht …« Doch nach einer kleinen Luftholpause fügte ich dann hinzu: »Ja klar, komm rein. Es geht schon.«
Wir setzten uns nebeneinander auf die Bettkante. Meine Mutter nahm meine Hand in ihre. Sanft strich ihr Daumen über meinen Handrücken.
»Ich weiß nicht so recht, was ich sagen soll«, gab sie offen zu.
»Warum sollen wir zu dieser Testamentseröffnung kommen?«, fragte ich sie.
»Auch das weiß ich nicht, Sophia. Ich werde morgen früh bei Harry anrufen und ihn fragen«, versprach sie.
Ich nickte – und dann schwiegen wir wieder eine ganze Weile lang.
Bis ich mich räusperte und vorschlug: »Warum machst du es nicht gleich?« Ich warf einen Blick auf den Funkwecker auf der Kommode neben meinem Kleiderschrank. »Es ist erst kurz nach acht. Da kann man ruhig noch anrufen.«
Meine Mutter holte tief Luft. »Ja, sicherlich kann man das. Aber ich möchte lieber eine Nacht darüber schlafen, Sophia. Im Moment bin ich noch zu … zu aufgewühlt.«
Erneut nickte ich. »Ja klar, das verstehe ich.«
Wir schwiegen wieder. In meinem Zimmer war es so still, dass ich mir einbildete, den Wecker ticken zu hören. Nur war das bei einem Funkwecker nur schwer möglich.
»Wie sieht es denn jetzt mit Abendessen aus?«, durchbrach meine Mutter schließlich die fast schon schmerzliche Stille. »Soll ich uns etwas vom Italiener bestellen oder nur schnell ein paar Brote schmieren?«
Mein Magen knurrte. Schließlich hatte ich seit dem Frühstück nichts mehr gegessen. Dennoch war ich mir sicher, keinen Bissen herunterzubekommen.
»Ich habe keinen Hunger, Mama.« Und weil ich wusste, dass sie sich damit nicht zufriedengeben würde, behauptete ich einfach: »Ella und ich haben vorhin im Äz was gegessen.«
»Ach, ihr seid im AEZ gewesen. Da war es doch heute bestimmt gerammelt voll, oder?«
Meine Mutter versuchte es mit Small Talk. Sie wollte Normalität. Aber ich nicht. Ich hatte das Gefühl, nicht einfach so zum Alltäglichen zurückkehren zu können.
»Wie war er, Mama?«, fragte ich sie leise. »Wie war mein Vater?«
Bestimmt war es nicht das erste Mal, dass ich ihr diese Frage stellte. Bis zu meinem zwölften Geburtstag und dem Entschluss, ihn aus meinen Gedanken zu streichen, hatte ich meiner Mutter ständig damit in den Ohren gelegen, mir doch bitte, bitte etwas über ihn zu erzählen. Doch Antworten hatte ich nie von ihr bekommen. Ihr Gesicht hatte sich verdunkelt, als hätte jemand die Vorhänge zugezogen, und mehr als ein knappes: Groß, blond, freiheitsliebend!, war nie über ihre Lippen gekommen.
Und auch jetzt sah ich ihr an, wie sie sich zu winden versuchte. Sie wollte das Thema umgehen. Sie wollte mich mit einer knappen Antwort abspeisen.
»Mama, bitte, ich möchte wirklich etwas über ihn erfahren. Verstehst du das denn nicht? Und jetzt, wo er tot ist, besteht doch auch nicht mehr die Gefahr, dass ich nach ihm suche und dann enttäuscht werde.« Das Argument war mir spontan in den Sinn gekommen. Vielleicht hatte sie sich tatsächlich all die Jahre so bedeckt gehalten, weil sie befürchtete, ich könnte eben genau das tun.
»Meine Güte, ist die Luft hier drinnen stickig«, stöhnte meine Mutter. Sie lief zum Fenster und öffnete es weit. Kühle Luft strömte ins Zimmer. Während ich fröstelnd die Schultern hochzog, blieb sie in dem frischen Windzug stehen und atmete ein paar Mal tief durch.
Als sie es schließlich wieder schloss und sich langsam zu mir umwandte, lag ein bitterer Zug um ihre Mundwinkel.
»Vielleicht hast du recht, vielleicht ist es tatsächlich der richtige Zeitpunkt, um dir etwas mehr über Gregor Hansen zu erzählen.«