Portraits und ihre Geschichte
Erste Auflage 2019
© Osburg Verlag Hamburg 2019
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Lektorat: Bernd Henninger, Heidelberg
Umschlaggestaltung: Judith Hilgenstöhler, Hamburg
Satz: Hans-Jürgen Paasch, Oeste
Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck
Printed in Germany
ISBN 978-3-95510-201-2
eISBN 978-3-95510-210-4
FÜR PETER UND JÖRG
Leonard Bernstein (1918–1990) ·
Sergiu Celibidache (1912–1996)
Helmut Schmidt (1918–2015)
Henry Kissinger (geboren 1923)
Anita Lasker-Wallfisch (geboren 1925)
Mischa Maisky (geboren 1948)
Dietrich Fischer-Dieskau (1925–2012)
Hans Heinz Stuckenschmidt (1901–1988)
Herta Müller (geboren 1953)
Helmut Thielicke (1908–1986)
Frère Roger Schutz (1915–2005)
Gleb Jakunin (1934–2014)
Sofia Gubaidulina (geboren 1931)
Moskauer Skizzen
Viktor Jerofejew (geboren 1947)
Ludmila Petruschewskaja (geboren 1938)
Andrej Bitow (1937–2018)
Charles Aznavour (1924–2018)
Auma Obama (geboren 1960)
Im Gehäuse
Oscar Niemeyer (1907–2012)
Richard Meier (geboren 1934)
Ieoh Ming Pei (1917–2019)
Peter Zumthor (geboren 1943)
Norman Foster (geboren 1935)
Zaha Hadid (1950–2016)
Fritz Koenig (1924–2017)
Andrzej Wajda (1926–2016)
Ariane Mnouchkine (geboren 1939)
Seyran Ateş (geboren 1963)
Hans Joachim Schellnhuber (geboren 1950)
Claude Lévi-Strauss (1908–2009)
Günther Anders (1902–1992)
Epilog
Abdrucknachweis
Justus Frantz, dem Begründer des Schleswig-Holstein Musik Festivals, war es gelungen, die berühmtesten Dirigenten und Musiker für die Schleswig-Holstein Orchester Akademie zu gewinnen, um hochbegabten jungen Musikern aus aller Welt in traumhaft ländlicher Idylle, fernab von der Großstadt Hamburg, die außergewöhnliche Möglichkeit zu geben, Kurse auf internationalem Niveau zu besuchen – bei Meistern wie Leonard Bernstein, Yehudi Menuhin und dem für seine unerbittliche Strenge und unberechenbaren Wutausbrüche gefürchteten Dirigenten Sergiu Celibidache, der weltweit als der beste Orchestererzieher galt.
Damals, im Sommer 1987, erlebte ich Leonard Bernstein, wie er hundertundzwanzig junge Musikstudenten und -schüler aus vierzehn Ländern in der Konzert-Scheune zu Schloss Salzau durch Igor Strawinskys Ballettmusik »Le Sacre du Printemps« in seinen eigenen Bannkreis entführte mit dem Lockruf: »Let us make music as friends!«
Schon der Name des Werks entfacht in der Phantasie eine fiebrige Atmosphäre:
Der wirbelnde Taktstock verzaubert das Orchester in einen Reigen seliger Geister, während um den Dirigenten wie um einen Erdgeist im Rausch der Klänge kochende Dämpfe aufzusteigen scheinen. »Let’s make music!«, hallt es durch die Scheune.
Bald nach Leonard Bernstein hielt Sergiu Celibidache dort Hof, vor jungen Musikern, die voller Erwartungen hergekommen waren, um einen Monat mit Sergiu Celibidache zu arbeiten. Für viele Studenten ging damit ein Traum in Erfüllung, von dem geliebten, gehassten, angehimmelten und oftmals missverstandenen »Celi« zur tiefsten Entdeckung der Musik geführt zu werden, dorthin, wo Musik anfängt.
Unterschiedlicher hätten die Dirigenten nicht sein können. Bernstein, durchdrungen sowohl von der Klassik, von Gustav Mahlers übermächtigen Liebesgefühlen, als auch von eigenen Kompositionen wie der »West Side Story«, »Candide« und Gospels – Celibidache hingegen, in seiner ehrfurchterweckenden Erscheinung den allumfassenden Zusammenhängen der zenbuddhistischen Weltsicht nachhängend: »Man will nichts – man lässt es entstehen.« Momente, die dem Schöpferischen vorausgehen. Jegliches Ego des Interpreten solle aus der Musik verbannt werden …
Im eigenen Umgang mit der Zeit erklangen die Werke unter seiner Leitung auf eine vollkommen neue, transzendente Weise in oft meditativ langsamen Tempi. So wie der junge Celibidache für Berlin eine der faszinierendsten Erscheinungen der Nachkriegszeit war, so wurde für mich die spätere Begegnung mit ihm in Salzau zum unvergessenen Erlebnis.
Die unerbittliche Haltung gegenüber seiner Arbeit während der Orchesterproben – die Glut, sein unerschütterlicher Standpunkt »Musik ist Erleben! – Musik lebt im Augenblick der Entstehung« (sie sei gänzlich an den Raum der Aufführung gebunden) – haben mich tief beeindruckt. Auch aus diesem Grund unterschied sich der »Magier« von seinen Kollegen – insbesondere von Herbert von Karajan, seinem Antipoden –, indem er im Gegensatz zu ihnen keine CD-Aufnahmen zuließ. Jedoch, kaum war Celibidache gestorben, kümmerte sich niemand mehr um sein Gebot.
Fünf Jahre lang, von 1945 bis 1952, rang der »genialische Feuerkopf« (FAZ) mit den Berliner Philharmonikern um Präzision und Klangschönheit. Seinem Nachfolger, dem zurückgekehrten Wilhelm Furtwängler übergab er (1952) ein »Orchester in Hochform« (FAZ). Danach arbeitete Sergiu Celibidache als weltweit gefragter Gastdirigent mit Orchestern in Südamerika, Stockholm, Kopenhagen, Prag, Italien und Japan. Von den einen wurde er für seinen ungewöhnlichen Stil wie ein Gott verehrt – von anderen wegen seiner übermäßig gedehnten Tempi abgelehnt.
1975 führte Celibidache als Generalmusikdirektor die Münchner Philharmoniker (mit dem Schwerpunkt Anton Bruckner und Johannes Brahms), bis ihm der Tod 1996 für immer den Taktstock aus der Hand nahm.
Auf die Frage, was ein Dirigent sei, antwortete der Maestro einmal: »Jeder Dirigent ist ein verkappter Diktator, der sich glücklicherweise mit Musik begnügt.« Zu jener Zeit war die Diskussion noch nicht um den despotischen Stil von Daniel Barenboim entbrannt, der sich selber in der Auseinandersetzung mit seinen Kritikern als »Pultdiktator« bezeichnet.
Justus Frantz kannte die unberechenbaren Wutausbrüche von Sergiu Celibidache, die in Zorn oder auch zarteste Liebenswürdigkeit umschwenken konnten. Frantz beschwor mich, alle denkbaren Schwierigkeiten, selbst die leiseste Störung, um alles in der Welt zu vermeiden, die das Ende der Arbeit, die Abreise des Gottähnlichen bedeuten konnte.
In weiser Voraussicht hatte man einen begleitenden Arzt nach Salzau bestellt, damit er sich der oftmals nervlich überforderten jungen Musiker, ihrer Magenbeschwerden und Seelenverfassung annehme. Ein Grund für das unbeherrschte Verhalten des Dirigenten war auch die durch eine Operation eingeschränkte Bewegungsfreiheit.
Als ich Justus Frantz fragte, wo, wann und ob er überhaupt eine Annäherung für möglich halte, fielen ihm schließlich nach reiflicher Überlegung die Minuten nach der geheiligten Mittagsruhe ein. »Um Punkt 15.00 Uhr wird der Chauffeur ihn vom Schloss abholen.«
Ich rechnete mir aus, dass der ausgeruhte Halbgott etwa drei Minuten später vor der Musikscheune der Limousine entsteigen werde und baute mich, auf alles gefasst, am mutmaßlichen Ankunftspunkt vor der Musikscheune auf:
Der BMW mit dem Dirigenten rollt heran, er hält genau vor meinen Füßen; der Schlag geht auf, der Maestro im Jogginganzug packt den nächstliegenden Halt, meine Schulter, auf die er sich mit seinem ganzen Gewicht stützt während des beschwerlichen Weges bis zu seinem Thron, dem Klavierhocker vor dem großen Steinway-Flügel in der Musikscheune. Er ahnt nicht, dass es die Fotografin ist, die diesen Dienst als unerwartete Chance nutzt, den großen Maestro in seiner Hilflosigkeit um die Erlaubnis zu bitten, ihn portraitieren zu dürfen? Ein dankbares Lächeln bedarf keiner weiteren Antwort. Die willkommene Nähe hatte uns zusammengebracht.
Das Orchester der jungen lernbegierigen Musiker hat in Erwartung ihres unerbittlichen Lehrers und seiner Launen bereits Aufstellung genommen und staunt nicht wenig über die mit einer Hasselblad bewaffnete Begleitung.
Vom Hocker über den hochgeklappten Deckel des Steinway-Flügels hinweg erfolgt die Einführung in das Werk von Claude Debussy, »La Mer«. Hin und wieder schlagen die steifen Finger eine wichtige Tonfolge auf den schwarz-weißen Tasten an, während sich die dunklen Augen unter den diabolisch geschwärzten Brauen fest auf die angespannten Schüler richten. In leidenschaftlicher Verehrung und Angst hängen die seelenvollen Blicke am großen Meister, dessen bezwingendes, imposantes Gesicht sämtliche Facetten des Ausdrucks beherrscht. Wahrlich unheimlich ist die Macht des Blickes! Auch ich kann mich seiner Magie nicht entziehen.
Auf einem Sonnenstrahl weht der Wind eine dicke Hummel an des Meisters riesengroßes Ohr. Es wird geprobt, geprobt, erzählt, erklärt, selten gelacht. »Forte!«, ruft es. »Was bedeutet forte? Keine messbare Quantität, nein – forte an sich gibt es nicht! Haltet euch nicht an die Notation – sondern an die Funktion …«, wie Franz Liszt sie einst beschrieb: »Die Musik steckt hinter den Noten …«
»Musik fängt erst dort an«, lerne ich, »wo das Denken überwunden werden kann.«
Eine Kuh mit dem ihr eigenen animalischen Gebrüll setzt dem Denken einen Kontrapunkt. »Musik ist Erleben!«, donnert die Stimme. Der schwere Körper erhebt sich. Ein Schüler, die erste Violine, hilft ihm auf dem Weg zum Regiepult, vor dem sich ein Dirigent dem Fotografen üblicherweise nur von seiner Rückseite darbietet. Mich jedoch interessiert das Gesicht, dessen Großartigkeit erst beim Dirigieren aufscheinen wird. In Sekundenschnelle wage ich die Frage:
»Darf ich Sie, Maestro, inmitten des Orchesters fotografieren?«
Ein liebenswürdiger Wink weist mir die Richtung! Die Sterne stehen günstig! Halb verborgen hinter einem Stützbalken, den Dirigenten fest im Blick, lausche ich, gleich wie die Schüler zwischen ihren unermüdlich wiederholten Einsätzen, gebannt den Gedanken und Weisheiten des im zenbuddhistischen Kosmos schwärmenden Meisters. Schließlich gibt der kurze Taktstock das Zeichen zum Durchlauf des ganzen Werkes: Es beginnt zu tönen – fern – nahe – schwebend auf hohen Tonebenen, während das machtvolle Gesicht vor mir mit den immer luftiger werdenden Tönen zwischen Himmel und Meer – Züge von unsagbarer Sanftheit freilegt.
Als der Maestro im »überirdischen Tonschreiten« abzuheben scheint, ruft meine innere Stimme: »Jetzt! Jetzt!« Ich halte den Atem an – und mitten in die mythische Meeresstille hinein klackt der Auslöser … Die Hand des Maestros schlägt gegen die mächtige Stirn: »Und jetzt drückt sie auch noch ab!«
Draußen donnern die Mähdrescher vorüber. Allen stockt der Atem. Justus Frantz steht wie gelähmt im Scheunentor. Er traut seinen Augen und Ohren nicht. Der Maestro dirigiert wie in Trance, ich mache meine Bilder, die jungen Musiker spielen wie auf Wolken – die Tauben gurren im Gebälk, die Schwalben flitzen ein und aus und füttern ihre Jungen.
»Der Rest ist Musik …« (Sergiu Celibidache)
Würde Helmut Schmidt, der Altbundeskanzler, mich ein zweites Mal empfangen?
Diese Frage stellte ich mir nach dem unvergessenen »Streitgespräch« 1985 in Bonn, als er mir gegen seine Gewohnheit ein einziges Mal recht geben musste. Unser Thema war die »Kunst«.
Der Brief mit der erhofften Zusage auf meine wiederholte Bitte um eine Begegnung schloss mit dem Satz: »Beharrlichkeit hilft – das gilt nicht nur für die Politik!«
Was lag da näher, als es noch einmal zu versuchen? Also wagte ich einen Anruf, diesmal in seinem Büro im ZEIT-Verlag. Nachdem ich die Sekretärin, Frau Loah, telefonisch gebeten hatte, Herrn Schmidt zu fragen, ob er noch einmal zu einer Begegnung bereit sei, ließ er mich wissen:
»Ja – er könne sich gut erinnern! Er sei zu einem erneuten Treffen bereit.« Diese Antwort hatte ich nicht erwartet.
Überpünktlich erschien ich im Pressehaus. Frau Loah, erleichtert, dass der Termin nicht wieder verschoben werden musste, machte mir Mut: »Er scheint heute gut gelaunt zu sein …« Diesmal war mir erlaubt, gleich das Zimmer von Helmut Schmidt, dem neuen Mitherausgeber der ZEIT, zu betreten. Das gleiche Bild wie ich es schon zur Genüge kannte: Helmut Schmidt hinterm Schreibtisch, irgendwelche Schriftstücke lesend, unterschreibend, abhakend, zur Seite legend. Doch im Gegensatz zu früher wohl aussehend, leicht gebräunt, ein Mehr an Volumen – eingeknöpft in das obere Drittel der Weste.
Er erhebt sich, reicht mir kurz angebunden fest die Hand, und – schon wendet er sich seinen Papieren zu. Kurz zur Sekretärin:
»Kannst du etwas für Frau von Kruse tun? – Kaffee oder Tee? … Und Sie wollen mich wieder fotografieren? Kann ich dabei weiterarbeiten?«
»Ja, aber bitte nicht dauernd.«
»Nicht dauernd?! – ich habe zu tun!!«
»Ich weiß, ich weiß …« »Bockig«, wie man das bei Kindern kennt, heftet er den Blick umso fester auf die Papiere; mit einem Stift wird geräuschvoll darauf herumgearbeitet … Die Absicht ist klar: Es soll mir schwer gemacht werden, man will mich zappeln lassen. Umso unverdrossener verfolge ich mein Ziel, die allzu bekannten Ecken und Kanten zu umrunden, den Widerspenstigen von seiner bedeutenden Arbeit wegzulocken, die so demonstrativ erledigt werden muss.
»Sie wissen, Herr Schmidt, dass Sie mir damals rieten, ein Buch zu machen?«
»Das weiß ich nicht!«
»Aber Frau Loah hat Ihnen davon erzählt!«
»Weiß ich nicht …«
Auf störrische Weise soll die bereits zugestandene Bereitschaft zum Portrait heruntergespielt werden, das merke ich wohl. Gezielt platziere ich den kleinen Sammelband »Vom deutschen Stolz« mit der Bitte um ein Autogramm auf dem Schreibtisch. Ohne ein Wort wird diese Lästigkeit erledigt. Unbeirrt schiebe ich einige Fotografien vom Schleswig-Holstein Musikfestival nach.
»Ah, mein Freund ›Lenny‹! … Würden Sie mir dieses Bild schicken?«
»Das ist für Sie!«
»Prima.«
Umgehend wird auf der Rückseite das Entstehungsdatum notiert: »Sommer 1987«.
»Wie heißt noch das komische Schloss?«
»Schloss Salzau.«
»Aha.«
»Salzau« wird notiert, dann verschwindet das Foto in einer Zellophanhülle. Unversehens entgleitet ihm ein Blick – nach oben – zu mir, und unversehens klackt der Auslöser. Ich ziehe Celibidache aus der Tasche.
»Oh, den haben Sie auch!«
Auch dieser gleitet in die Zellophanhülle.
»Lenny wird im nächsten Jahr siebzig. Der ruiniert sich völlig.«
»Ja, ich fürchte, langsam aber sicher verbrennt er sich.«
»Das kann man wohl sagen.«
Währenddessen hält Helmut Schmidt seinen Blick eisern unter Kontrolle, beständig nach unten gerichtet … Und ich muss innerlich lachen:
»Was werden Sie mit den Fotos in der Hülle machen?«
»Meine Frau und ich haben ein System entwickelt. Alle Bilder werden in Be-s-timmte Mappen geklebt, um sie bei passender Gelegenheit zur Hand zu haben. Selbstver-s-tändlich kommt dem Fotografen ein Honorar zu.«
Unter dem Druck, Zeit zu verlieren, lässt er nicht ab von seiner geheiligten Arbeit. Jetzt ziehe ich meine Trümpfe hervor: Marion Dönhoff, Marcel Marceau, Ida Ehre, György Ligeti …, um gleichzeitig den Altkanzler um einen handschriftlichen Gedanken für das geplante Buch »Zeit und Augenblick« zu bitten. Mit eisern nach unten gerichtetem Blick: »Darüber muss ich noch nachdenken« …
Und nun das Ass: das Autograph von Karl Popper.
»Der interessiert mich! Er ist einer der bedeutendsten Menschen, die ich kennengelernt habe.«
»Und einer der bescheidensten!«
»Das kann man wohl sagen. Anlässlich seines fünfundachtzigsten Geburtstags habe ich in der ZEIT einen Artikel geschrieben – auch über seine ungewöhnliche Bescheidenheit.«
Und plötzlich reicht’s: »Also Gnädigste, wenn Sie glauben, Sie können mich durch Ihre Plauderei gefügig machen und mich von meiner Arbeit abbringen, dann haben Sie sich getäuscht!«
Amüsiert gestehe ich mein Versagen ein, frage darauf frank und frei:
»Herr Schmidt, würden Sie sich mir zuliebe zehn Minuten an einen anderen Platz setzen?«
»Dann kann ich nicht arbeiten.«
»Ich soo auch nicht.«
»Zehn Minuten sind zu lang …«
»Fünf Minuten?«
»Na ja, fünf Minuten – vielleicht …«
Dennoch wird weiter Papierarbeit demonstriert, und ich demonstriere Untätigkeit, wende ihm den Rücken zu, schaue zum Fenster hinaus und schweige … Nach endlosen fünf Minuten angespannten Arbeitseifers erhebt sich Herr Schmidt.
»Erlauben Sie, Gnädigste, dass ich für fünf Minuten verschwinde und mir die Hände wasche? Danach habe ich fünf Minuten für Sie Zeit.«
Frau Loah erscheint, ebenfalls der nette Sicherheitsbeamte von damals in Bonn. In Windeseile wird ein leichterer Stuhl an einen passenden Platz manövriert, alles störende Mobiliar beiseitegeschoben … Ein freundlicher Zufall schickt mir eine reizende Dame, Hilde von Lang, die mit Helmut Wichtiges zu besprechen hat. Blitzschnell erfasst sie die Situation, setzt sich neben mich auf das Sofa, sodass während des geplanten Gesprächs gezwungenermaßen sein Blick auch in meine Richtung gehen muss. Erst nach zehn Minuten erscheint Helmut frisch aufpoliert. Wenn auch verblüfft, amüsieren ihn die zwischenzeitlich vorgenommenen Umbauten.
»Aha, da soll ich sitzen?«, und gefügig nimmt er auf dem vorgesehenen Stuhl Platz. Im Gespräch geht es um die plötzlich veränderte Börsensituation. Von heute auf morgen sind die Kurse gefallen wie seit der Kubakrise nicht mehr. Man beleuchtet die Ursachen und Perspektiven. Auch der gerade erschienene Artikel »Glaubwürdigkeit des Politikers – Stellungnahmen von Helmut Schmidt, Marion Dönhoff, Theodor Eschenburg zum Barschel-Skandal«, steht im Focus des Gesprächs. Ich sehe Helmut Schmidt in Hochform, er sitzt aber nicht bildgefällig, bis Frau von Lang nicht mehr an sich hält:
»Helmut, setz dich anständig hin! Sie mag es dir nicht sagen, aber wir beide sehen es!«
»Was? Ach, ihr meint mein Doppelkinn? Das kann ich mir wohl langsam leisten …«
»Grade hinsetzen!«, rufe ich.
Ruckartig richtet er sich auf und das sogenannte »Doppelkinn«, nämlich der Bauch, wölbt sich nur noch ein wenig in den Vordergrund. Wie im Chor loben wir Damen den Gezähmten: »Toll! Wunderbar!«
Jetzt kommt der Widerständler »in Form«. Ich bin begeistert und nutzte die Gunst der Stunde, um mir ab und zu eine Frage oder Bemerkung zum Gespräch zu erlauben, worauf Schmidt väterlich meint: »Kind, das, was Sie hier gehört haben, müssen Sie gleich wieder vergessen.«
»Ist schon vergessen.«
Zu Frau von Lang gewandt: »Du wolltest mir doch etwas erzählen? Sollen wir die Dame für fünf Minuten nach draußen bitten?«
Nur zu bereitwillig räume ich das Feld, um Filme zu wechseln und mit Frau Loah sprechen zu können.
Helmut Schmidt erscheint in der Tür, Frau von Lang verabschiedet sich, und Frau Loah zeigt die Seite im STERN, auf der das neue Buch von Helmut Schmidt schon an vierter Stelle in der Bestsellerliste steht. Das reicht natürlich nicht. »An die erste Stelle muss es aufrücken!« Ich werde wieder ins Zimmer gebeten, Herr Schmidt setzt sich, wie gehabt, an den Schreibtisch mit der Bemerkung:
»Sie stehen wohl unter dem Eindruck, dass ich, wie alle anderen hier, nicht arbeite.« Dieses Spiel soll er ohne mich weiterspielen! Ich bitte nur noch um ein Exemplar vom Riesenstapel – mit Signatur. Bei Hunderttausend müsste doch eines übrig sein? Ohne Kommentar wird das Zellophanpapier entfernt und mir das Buch signiert übereicht. Ich beglückwünsche ihn zum Erfolg.
»Das ist doch alles Sentimentalität. Die Leute kaufen nur aus Sentimentalität.«
»Nein, Herr Schmidt, Sie werden das Buch nicht geschrieben haben, damit es aus lauter Sentimentalität gekauft wird.«
»Natürlich nicht. Aber ein Buch schreiben oder es verkaufen, sind zwei verschiedene Dinge.«
»Davon kann auch ich ein Lied singen! Und jetzt, Herr Bundeskanzler, verlasse ich Sie endlich, aber vergessen Sie bitte nicht meinen Wunsch!«
»Was soll ich da schreiben, das müssen Sie mir sagen …«
»Bitte, Sie werden am besten wissen, welches Zitat oder welcher Gedanke Ihnen wichtig ist!«
»Ich notiere: Zitat oder Ähnliches, handgeschrieben …«
Ein reizendes amüsiertes Lächeln, das er nicht mehr unterdrücken kann, gleitet übers Gesicht. Wir verabschieden uns im gegenseitigen Einvernehmen. Helmut Schmidt schließt die Tür hinter mir, um gleich darauf wieder zu erscheinen – mit meinem Belichtungsmesser: »Kindchen, Sie haben etwas vergessen … Das werden Sie sicher noch brauchen …«
Das Büro von Marion Dönhoff war nicht weit. Dort traf ich sie mehrmals, sie, die wie Helmut Schmidt nach der Rückkehr aus dem Krieg, bereit für einen Neuanfang, einen eigenen Weg beschritt, um ab 1983, als gemeinsame Herausgeber der ZEIT mit Helmut Schmidt zusammen zu wirken. Ihr, der »Gräfin«, überlasse ich das Schlusswort in ihrem Buch mit Betrachtungen zur Zeit der Kanzlerschaft von Helmut Schmidt, »Menschen, die wissen, worum es geht«: »Helmut Schmidt hat fast alle Gaben …, die den perfekten Regierungschef ausmachen, und dazu auch noch Fortune. Man müsste die Rache der Göttin Nemesis fürchten, wenn er selber nicht den Zweifel als Korrektiv in der eigenen Brust trüge … Im tiefsten Inneren nagt der Zweifel, steckt ein Melancholiker, der in dem Unbekannten, was heraufzieht, die dunklen Katastrophen viel deutlicher spürt als die lichten, hoffnungsvollen Momente der Geschichte …«
Damals war Helmut Schmidt, der damalige Bundeskanzler, achtundfünfzig Jahre alt. Seitdem sind nahezu vierzig Jahre vergangen. Bis zu seinem Lebensende meldete sich der Elder Statesman mit seinen klaren Gedanken in seiner Vaterstadt zu Wort, zu der er sich voller Stolz bekannte und auch mir aus dem Herzen sprach: »Hamburg, diese großartige Synthese einer Stadt aus Atlantik und Alster, aus Buddenbrooks und Bebel, aus Leben und Lebenlassen.«
Viele Jahre später, am 24. Juni 2011, begegnete ich Helmut Schmidt zum dritten Mal – diesmal in seinem Haus in Langenhorn zusammen mit Peer Steinbrück. Schweigend im Zigarettenqualm kämpften die Freunde gegeneinander am verdrehten Schachbrett – »Zug um Zug«.
»Das größte politische Ereignis aller Zeiten in der Hansestadt Hamburg«, der Staatsakt anlässlich der Trauerfeier für Helmut Schmidt, vereinte tausendachthundert Gäste aus aller Welt am 23. November 2015 in der Michaeliskirche. Den Höhepunkt bildete die denkwürdige Rede des früheren Außenministers der Vereinigten Staaten von Amerika, Henry Kissinger. Die unverwechselbare Stimme – tief wie aus einem Brunnen, von Wehmut getragen – klang lange nach.
Das geliebte Abendlied seines Freundes, »Der Mond ist aufgegangen«, war verklungen. Wie ein Abschiedsstrahl überglänzte die Sonne das barocke Gold, die Blumen, den Bundesadler in Schwarz-Rot-Gold auf dem Sarg, davor den leuchtenden Kranz aus Hunderten von Sonnenblumen.
Der bewegende Nachruf galt dem Andenken einer kostbaren Freundschaft, wie sie selten zwischen zwei Staatsmännern möglich sein kann, die einer Generation angehörten, die den Zweiten Weltkrieg, den Wahnsinn des Nationalsozialismus – jeder auf seine Weise – an verschiedenen Fronten überlebten; Freunde, die sich seit 1956 kannten und sich lebenslang mit »Sie« und dem Vornamen anredeten.
Schon die ersten Worte nahmen den ganzen Raum gefangen:
»Unsere lange Freundschaft ist ein Pfeiler in meinem Leben. … Es fällt mir schwer, Ihnen das Wesen dieser tiefen Freundschaft zu beschreiben, in der wir sechs Jahrzehnte über dieselben Probleme nachgedacht haben. Unser Ziel war der Aufbau einer globalen Wirtschaftsordnung. Doch über allem stand die Suche nach Versöhnung und einer blocküberwölbenden Friedensordnung in der Welt.«
Beide waren nach der Prämisse angetreten: »Mut und Visionen sind die wichtigsten Voraussetzungen für einen Politiker.«
Es lag Henry Kissinger am Herzen, die Bedeutung des Gewissens des sich seiner Verantwortung bewussten Politikers in den Mittelpunkt seiner Gedanken zu rücken, indem er Helmut Schmidt, den er »eine Art Weltgewissen« nannte, zitierte:
»›Für mich bleibt das eigene Gewissen die oberste Instanz‹, gleichzeitig aber räumte er ein, ›Die Wahrheit ist auch – wir haben alle mehr als einmal gegen unser Gewissen gehandelt.‹«
Kissinger sprach von der bewundernswerten Entschlusskraft seines Freundes, wenn es darum ging, mit Krisensituationen fertigzuwerden. Er erinnerte an die Flutkatastrophe 1962 in Hamburg, als der Innensenator Helmut Schmidt dank seiner eigenmächtigen Entscheidung das Schlimmste verhütete.
Die Gedanken führten Henry Kissinger zurück in das Jahr 1977, als der damalige Bundeskanzler, herausgefordert vom Terror der RAF, den wagemutigen Befehl zur Erstürmung der entführten Lufthansamaschine in Mogadischu gab. Die Mitverantwortung am Tod von Hanns Martin Schleyer nach der Entführung – das wusste Henry Kissinger – belastete ihn lebenslang; schicksalhafte Entscheidungen, die seine Verantwortung für Freiheit und Recht auf die tiefgreifendste Probe stellten, die ihn – wie Helmut Schmidt seinem Freund anvertraute – »bis in die Grundfesten seines Lebens erschütterten«.
Das alles geschah – ohne dass er es in der Rede erwähnte – in jenen Jahren, als sich auch Henry Kissinger auf der anderen Seite des Atlantischen Ozeans während des Vietnamkrieges vor schicksalhafte Entscheidungen und schwerste Anfeindungen gestellt sah, bevor ihm 1973 (zusammen mit Le Duc Tho) der Friedensnobelpreis für das Waffenstillstands- und Abzugsabkommen mit Vietnam verliehen wurde.
Die Tiefe des gegenseitigen Vertrauens zwischen den alten Weggefährten wurde deutlich, als Kissinger, wie zu sich selber, fortfuhr: »Wir haben immer wieder – jedoch nie lange darüber gesprochen.« Genauso war ihnen beiden klar, und Kissinger wusste, wovon er sprach: »Jeder Politiker hat etwas zu verbergen …« – eine Anspielung auf seine Rolle als nationaler Sicherheitsberater, als »Architekt der Entspannungspolitik im Kalten Krieg« unter Richard Nixon von 1969 bis 1973, nach dessen Rücktritt er unter Gerald Ford bis 1977 das Amt des Außenministers innehatte. Wehmütig, in seinen Gedanken bei »Helmut«, dem einstigen »Krisenkanzler«, konstatierte Kissinger: »Politische Akteure agieren im Schatten der Vergänglichkeit. … Ihre Zeit im Amt ist gemeinhin kürzer als der Rhythmus der Geschichte.«
Und noch eine andere Seite des Freundes mit seinen vielen Ecken und Kanten riss Henry Kissinger in seinem Nachruf an:
»Seine tiefe Liebe zur Musik von Mozart und Johann Sebastian Bach«, die soeben auf der Empore verklungen war, deren Klänge »Helmut« – selbst nachdem ihm ein Hörsturz die akustische Wahrnehmung musikalischer Töne für immer versagte – allein beim Blick auf die Partitur mit dem inneren Ohr vernahm. »Er trug die Musik in sich, die seinem Leben eine Melodie gab.«
Henry Kissinger hatte zum Ausklang seiner Rede gefunden. Sein Blick ging in die Ferne, als sei er allein; »ein Pfeiler in seinem Leben« war für immer weggebrochen. Einmal – und noch einmal setzte er an: »In meiner Rede an seinem 90. Geburtstag bat ich ihn, dass er mich überleben möge – ich habe mich geirrt. Helmut bleibt bei uns: perfektionistisch – launisch – fordernd – inspirierend – immer zuverlässig.«
Dann füllte Stille den Raum.
Das Bild des früheren, legendären Außenministers der Vereinigten Staaten von Amerika am Rednerpult gegenüber dem sonnenblumengeschmückten Sarg sowie der berührende letzte Gruß in deutscher Sprache an den Weggefährten hinterließen einen so tiefen Eindruck und sind bis heute präsent, dass ich beschloss, Henry Kissinger in einem persönlichen Brief um eine Begegnung zu bitten, in dem ich mein dreimaliges Treffen zum Portrait mit Helmut Schmidt erwähnte.
Nach mehreren Telefonaten mit Sheila, der freundlichen Sekretärin, wurde die Begegnung auf den 18. Oktober, um 15.15 Uhr in der Park Avenue 350, festgelegt. Auch die Frage der Garderobe wurde geklärt. »Normal«, schlug ich vor.
Als ich einige Tage vorher in New York landete – die »Weltordnung« von Henry Kissinger im Gepäck, gewappnet mit vielen Fragen zu diesem Buch –, schlug mir eine mörderische Hitze entgegen, die ganz New York lahmzulegen drohte und bis zur Abreise anhalten sollte. Das machte meine Unternehmungen nicht leichter, unter anderem auch nicht den Besuch im geliebten Metropolitan Museum. Aber vor allen Dingen wollte ich die Zeit vor dem geplanten Treffen für einen Weg zum »Ground Zero« nutzen, der bei meinem letzten Besuch, 2010, neben riesigen Baukränen und Bohrungen ein einziges Trümmerfeld darbot.
Das neue Bild des »Ground Zero« ist von ungeheuerlicher Schönheit: Wie um die ewige Wunde zu kühlen, rauschen unablässig von den Innenwänden des ausgehobenen, riesigen schwarzen Quadrats glitzernde Wasserstränge in das tiefer gelegene quadratische Becken, um dort in einer noch tiefer gelegenen Öffnung in den unsichtbaren Abgrund zu stürzen. In die Brüstung der umlaufenden schwarzen Wand sind die Namen der dreitausend Opfer eingeschnitten. Hier und da wächst eine weiße Blüte aus der Gravur. Dahinter steigt der neue Turm des Architekten Daniel Libeskind wie ein Obelisk dreihundert Meter in den Himmel. Zu dem heutigen Ensemble gehört, eindrucksvoll, das Memorial Museum, errichtet auf dem Fundament einer untergegangenen Welt: Im zementierten Fundament lassen die Stümpfe der Grundmauern und riesigen geknickten Eisen- und Stahlträger die gigantische Anlage der Architektur ahnen. Offene, verrostete Wasseranschlüsse, die einst vom Hudson gespeist, den mächtigen Gebäudekomplex mit Klär-, Kühl- und Heizungswasser versorgten, ragen wie verödete Adern aus aschgrauem Gestein. Man glaubt, den süßlich stinkenden Rauch über der Stadt zu riechen. Rundherum an den Wänden farbige Fotografien der dreitausend Toten; daneben Fetzen von ihren Lieblings-Kleidungsstücken; am Ausgang der Rest eines verbogenen ausgebrannten Feuerwehrautos, das als hilfebringender Retter mit der Mannschaft im Qualm verkohlte.
Zurück in der »heilen Welt« verfolgte mich auf Schritt und Tritt das gelbe Haarteil und der karottenfarbige, rüsselförmige Mund von Donald Trump auf T-Shirts, Papptrinkbechern, Gummipuppen – und von morgens bis abends auf den Fernsehschirmen – überall, zwei Wochen vor der verhängnisvollen Wahl.
Draußen schienen die reflektierten Sonnenstrahlen die Glasfassaden der Wolkenkratzer anzuzünden.
Am 18. Oktober kroch ich in der dumpfen Hitze, unter der Last meiner Kameratasche, umgeben von Straßengetöse, von Rastalocken, Tattoos und aufregenden Frisuren der Afroamerikanerinnen, durch die Park Avenue bis hin zur No. 350, wo ich vom Portier respektvoll empfangen und zur berühmten Adresse nach oben begleitet wurde, um dort im tiefgekühlten Konferenzraum auf den einstigen Außenminister der Vereinigten Staaten geduldig zu warten.
Man hatte mich für 11.30 Uhr bestellt. Dr. Kissinger würde mir eine knappe Stunde zur Verfügung stehen, hatte Sheila versprochen. Der Tagesrhythmus des Dreiundneunzigjährigen – an gewisse Vorschriften gebunden – könnte mir, wie ich fürchtete, kostbare Zeit stehlen. In dem Raum herrschte gleißendes Tageslicht. Während ich, fast zur Eissäule erstarrt, der erwarteten Begegnung entgegenharrte und Sheila immer wieder erschien, um den Auftritt ihres Chefs von Neuem anzukündigen, schrumpften die ohnehin knappen sechzig Minuten auf fünfzehn zusammen. Trotz der erheblichen Verspätung verlängerte sich, zu meinem Glück, die noch verbliebene Frist auf gnädige dreißig Minuten.
Henry Kissinger begrüßt mich auf Deutsch; der dunkelblaue Anzug steht ihm gut: »Ihr Brief hat mich beeindruckt …«
Sobald wir über seine berühmte Rede zu »Helmuts« Tod sprechen, hat er die überwältigende Feier in der Michaeliskirche vor Augen.
»Es ist schon außergewöhnlich, wenn bei einem solchen Anlass nur sinnreiche, aber vor allem kurze Reden gehalten werden. Er hört es gern, dass sein Nachruf weltweit ein starkes Echo fand. »Das freut mich«, sagt er, dann wird er nachdenklich: »Meinen Sie, dass das Wort ›launisch‹ am Ende meiner Rede auf Helmut passend gewählt war?«
Nur zu gern nehme ich ihm die Zweifel. Meine eigene Erfahrung mit seinem Freund gibt ihm recht. Mit diebischer Freude und lauernder Wachsamkeit droht er dann im Scherz: »Wehe, wenn Sie Schlechtes über mich schreiben, dann entlasse ich Sheila; sie hat unser Treffen organisiert!« Mir wird bewusst, ich stehe einem ausgekochten, raffinierten Taktiker gegenüber – seiner Listigkeit, seinem Witz, gepaart mit sublimem Humor. Augenblicklich erliege ich seinem intellektuellen Charme.
Andererseits gehört nicht viel Phantasie dazu, sich sein Gesicht auch in aufgebrachter Stimmung oder voller Ungeduld vorzustellen: … wenn Mitarbeiter seinen Erwartungen nie genügen und hinter seiner Schnelligkeit zurückbleiben müssen. (Dann zeigt sich womöglich eine gewisse Ähnlichkeit mit »Helmut«.) Es macht Vergnügen, hinter jedem Wort die Schläue, die Selbstironie, jeden Hintergedanken zu wittern … Der Diplomat weiß genau, was er sagen will und was nicht. Letzteres entlockt er geschickt dem anderen – mir.
Wie ihm, dem »Architekten der Außenpolitik«, der Coup gelang, ab 1971 in geheimer Mission auf höchst riskantem politischem Terrain Zhou Enlai, den Präsidenten der Volksrepublik China, nach zwanzig Jahre langer feindlicher Abstinenz ins Gespräch zu locken, um Moskau unter Druck zu setzen und damit für eine gemeinsame Rüstungsbegrenzung mit Amerika gefügig zu machen, lässt sich ahnen. Mit einem Schlag machten ihn seine heimlichen Flüge ins Reich der Mitte zum Weltstar. Mein damals sechzehnjähriger Sohn und viele andere Jugendliche sahen in ihm einen »Popstar«.
Schon in der ersten Minute entsteht eine Art launiges Einvernehmen. Jede Befangenheit verschwindet, während mein Buch, »Charakterbilder – Begegnungen unter fünf Augen«, auf inspirierende Weise zum Schlüssel der freundschaftlichen Annäherung wird. Immer wieder fieberhaft darin blätternd, blickt der 93-Jährige gebannt in Gesichter, die nicht mehr sind. In diesem Moment werde ich zur Botin, die über den weiten Ozean geflogen kam, um ihn, Henry Kissinger, mit ihrem Buch an Begegnungen mit vielen seiner nächsten Freunde – oder auch Nicht-Freunde – zu erinnern, deren Stimme er kannte, die mit ihm gesprochen und ihn möglicherweise einst in politische Entscheidungen verwickelt hatten.
Immer wieder überrascht mich der heitere Ton nach der anfangs so herausfordernden Frage:
»Warum brauchen Sie für ein paar ›shots‹ mehr als fünfzehn Minuten??«
»Weil ich nicht frech drauflosschießen will!«
»Wie viel Zeit hat Helmut Ihnen gegeben?«
»Helmut habe ich dreimal getroffen, er hat mir jedoch mehr Zeit eingeräumt, obwohl wir uns jedes Mal gestritten haben …«
»Worüber haben Sie sich gestritten?«
»Selbstverständlich nicht über Politik!«
»Sondern?«
»Über Kunst, wobei er immer recht hatte – um jeden Preis! Erstaunlicherweise gab er mir – vielleicht versehentlich – ein einziges Mal recht mit dem Wort: ›S-timmt‹.«
»Das hat er nie zu mir gesagt! Ja, so war er …«
Wir müssen beide herzlich lachen – und dieses Lachen bringt uns zusammen! Jeder Blick, jedes Lächeln springt über. Es funkt derartig, dass Henry Kissinger sich zu einem übermütigen Kompliment hinreißen lässt. Ich sehe genau, was in diesem Moment hinter der hohen Stirn vorgeht: »You are a youngster!« Das dabei rasch zugeknöpfte Jackett betont fatalerweise die stramme Rundlichkeit. Meine persönliche Widmung in Silber auf rotem Vorsatzpapier in den Charakterbildern« wird in Sekundenschnelle überflogen …
Marion Dönhoff, seine jahrzehntelange Freundin, schreibt: »Ich kenne niemanden, der so rasch in seinen Reaktionen, so treffend in seinen Bemerkungen ist, wie Henry Kissinger.« Welch tiefe Freundschaft beide verband, zeigt sich, als Henry Kissinger sichtlich bewegt und voller Überraschung unter meinen »Charakterbildern« auch ihr Portrait entdeckt: »Marion!« Der Blick bleibt auf ihr hängen. »Stellen Sie sich vor, genau diese Fotografie schenkte sie mir als Zeichen ihrer Freundschaft! Wir kannten einander seit 1955. Sie war ein Teil von meinem Leben. Den letzten Gruß rief ich ihr nach während der feierlichen Beisetzung auf Crottorf, dem Gut ihres Vetters Graf Hatzfeld. Wie oft war ich in Blankenese bei Marion Dönhoff!«, die Henry Kissinger in ihrem Buch »Menschen, die wissen, worum es geht«, als den größten Außenminister von Amerika im 20. Jahrhundert charakterisiert. »Bewundert viel – und viel gescholten …«
»Politisch hatten wir einen ziemlich unterschiedlichen Blickwinkel«, räumt Kissinger ein, »insbesondere bei der Definition des Wortes ›Macht‹.«
»Ich sehe mich nicht als Machtpolitiker«, erklärt der Staatsmann in einem Interview, »ich denke, man muss den Faktor Macht verstehen, ohne die Macht unbedingt zu lieben. Marion verstand meine Einstellung und sagte nichts dagegen. – Ja, so war das.«
Es freute ihn sichtlich, dass genau dieses Foto auch auf einer Gedenktafel an prominenter Stelle in Berlin seinen Platz hat. »Im Übrigen, fährt er fort, hege ich eine hohe Wertschätzung für den Preußischen Adel – die zuverlässige Haltung in der Geschichte, die Beständigkeit, Anständigkeit, Verlässlichkeit – und das Verständnis der Ehre.«
Die »Charakterbilder« werden zum unerschöpflichen Quell der Erinnerungen. Eine Themenvielfalt eröffnet sich, für die die bemessene Zeit nicht reicht. Außerdem gibt das auch in Deutschland hochgelobte Buch, »Weltordnung«, in dem Kissinger auf einleuchtende Weise seine Gedanken zu einer möglichen Weltordnung, der er die Idee des Westfälischen Friedens von 1648 zugrunde legt, immer wieder Anlass zu politischen Fragen. Ein Buch, in dem sich seine Hoffnungen mit diesem Gedanken verbinden.
»Kein Außenminister«, las ich, »denkt so viel über den Gang der Welt nach, über die großen Zusammenhänge der Geschichte und die Rolle, die sein Land zu spielen hat.«
Während meiner Reise nach New York legte ich das Buch nicht mehr aus der Hand. Die vielen Anmerkungen und Zettel liefern den Beweis. Kissinger geht davon aus, dass der Frieden keine natürliche und selbstverständliche Ordnung ist. Frieden müsse sorgfältig und kunstvoll konstruiert werden und zwar auf gemeinsamen und nicht gegensätzlichen Interessen der Großmächte. Dreizehn Jahre lang – von 1635 bis 1648 – rangen die europäischen Mächte während des Dreißigjährigen Kriegs in Münster und Osnabrück um den Westfälischen Frieden, um einen für alle gültigen Vertrag. In seinen Überlegungen geht es Henry Kissinger um eine auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner beruhende »Welt-Ordnung« unter den gegenwärtig noch wachsenden Großmächten.
Nach dem kurzen Ausflug in »die Weltordnung« geht der Blick wieder zurück auf die »Charakterbilder«: Angesichts der Portraits der Brüder von Weizsäcker interessiert es Dr. Kissinger, wie ich Richard von Weizsäcker erlebt habe: »Wie fanden Sie ihn?«
Die Frage lässt an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. Sein Kalkül geht auf, indem ich nicht direkt darauf antworte, sondern ohne Umschweife voller Begeisterung von Carl Friedrich von Weizsäcker erzähle: »Er war der Erste, dem ich auf meiner Reise zu den bedeutenden Zeitgenossen begegnete, der mich persönlich und dessen Aufsätze und Bücher – insbesondere sein Essay über Goethes ›Wahlverwandtschaften‹ – wie kaum ein anderer inspiriert und angeregt hat.«
»Yes«, versichert Kissinger mit Nachdruck, »Carl Friedrich, he was an outstanding man! Er wollte mich damals für den Senat der Max-Planck-Gesellschaft gewinnen.«
An ein jedes Gesicht knüpft sich eine Erinnerung: »Berthold Beitz! – Looking very smart!«, schmunzelt er und schaut mich an: »Obviously you appeal to him?«
Die Geister der Vergangenheit stehen auf: »Auch Karl Popper – Sir Karl! Er gehört zu den ganz Großen!«
»Welche Begegnung war für Sie die interessanteste?«
Ich muss nicht lange nachdenken: »Die augenblickliche! Jedoch, die aufregendsten Umstände erlebte ich in Moskau mit Gorbatschow und Schewardnadse, wobei Eduard Schewardnadse in seiner starken Ausstrahlung, seiner chevaleresken Art, mit den großen schwarzen Augen, seinem Wissen, seiner Bewunderung für andere Europäer wie Kardinal Casaroli, mich von vornherein faszinierte. Unmissverständlich fixierte er mit seinem Blick – damals – den russischen doppelköpfigen Adler vor ihm auf dem Schreibtisch; einerseits auf Europa – andererseits unabwendbar nach Asien gerichtet, während Gorbatschow …«
»Gorbatschows Charme ist seine Langweiligkeit …«, fällt Kissinger mir ins Wort.
Mitten im Gespräch wird meinem Gegenüber bewusst, dass ich auch fotografiere. Dabei fällt sein Blick auf die farbig gestreifte Krawatte: Ob sie passend sei? Ich zerstreue seine Sorge: »Bei Schwarz-Weiß spielt Farbe keine Rolle.«
Die kurz bemessene Zeit rast dahin.
Plötzlich, wie ein Blitzschlag, die Frage – ich traue meinen Ohren nicht: »Können Sie heute Nachmittag wiederkommen? – Vielleicht auch noch morgen?«
»Heute Nachmittag passt es mir ausgezeichnet – morgen bedauerlicherweise nicht. Morgen reise ich ab.«
So bleibt es beim Wiedersehen am Nachmittag um 16.00 Uhr!
Damit habe ich jedoch nicht gerechnet; um Punkt 16.00 Uhr steht er lachend vor mir – mit dunkler, dezent getupfter Krawatte! Und wieder muss ich Marion Dönhoff recht geben: »Dieser Mann spielt virtuos auf einem Dutzend Schachbrettern zugleich, er versteht es, Charme und Humor richtig einzusetzen; in aller Welt wird er von Kollegen so respektiert, dass jeder sich geehrt fühlt und es genießt, mit ihm zusammen zu sein …«
Obwohl ich hier einer ganz anderen Persönlichkeit gegenüberstehe, erinnert mich die Aura, der Geist, die humorvolle Ironie, insbesondere die dunkle Stimme, an meine Begegnung mit seinem Freund, dem Philosophiehistoriker und Diplomaten Isaiah Berlin 1992 in London, der von seinem hohen Gedankenturm zu mir herabgestiegen war und mir mit ähnlich abgrundtiefem Bass die Arie des Komtur aus Don Giovanni vorsang: »Pentiti, cangia vita … Pentiti, scellerato! …«
Im Übermut erzähle ich, dass man in ihm, Henry Kissinger, bei uns eine »exciting person« sieht. »An exciting person??«, brummt er: »Möchten Sie eine ›exciting woman‹ sein?« – »Aber ja, warum nicht!«
Als ich, wie schon zuvor im Zusammenhang mit dem neuen Tower auf »Ground Zero«, den Architekten, Daniel Libeskind, nenne, um den es viel Wirbel gegeben hatte und den ich 2011 persönlich in New York traf, macht Henry Kissinger aus seinem Unmut keinen Hehl: »Who is that? I don’t know him«, und mit einem Funken Spott in der Stimme: »Wollen Sie, dass ich ihn nicht mag?« Die Antwort sitzt – entwaffnend und entblößend zugleich! – Sein untrüglicher Sinn für Hintersinnigkeit ließ sich nicht täuschen … Aus welchem Grund auch immer er das Thema »Ground Zero« am liebsten übergeht, fragt er mich dennoch: »Waren Sie im ›Memorial Museum‹?« Er selber sei nur widerwillig, aus reiner Verpflichtung, der Einladung zur Eröffnung gefolgt: »Aber dann«, bekennt er, »hat mich das dort Abgebildete, der Schrecken, das Ungeheuerliche des Verbrechens, überwältigt. In den Resten der Stahlträger sah ich die eingeknickte Macht – die grauenhaften Spuren einer dunklen Gewalt.«
»Im Zusammenhang mit den Terroranschlägen in Paris sagten Sie, Herr Dr. Kissinger, in einem Interview, nur mit ›Softpower‹ käme man im Kampf gegen den IS-Staat nicht weiter. Das Wort ›Softpower‹ würden die Terroristen nicht verstehen …«
»Mein Rat: ›Softpower‹ yes! – but not only!«
Draußen geistert der Name Trump durch die Hitze. Die unmittelbar bevorstehende Wahl lässt nicht nur mir keine Ruh. Ich muss es wissen:
»Donald Trump – is he crazy?«
»Der ist nicht verrückt – er beherrscht die Medien und die unsägliche Dummheit der Primitiven perfekt … Wir wissen es doch – wir leben heute in einer geistfreien Welt.«
»Glauben Sie, dass er die Wahl gewinnt?«
»Nein, Trump wird nicht gewinnen. Aber wenn er gewinnt, dann werden seine eigenen Leute ihn ausbremsen – es sei denn, er würde sich gänzlich ändern! Jedoch die Gefahr bleibt: Er ist ein krankhafter Narziss!«
Heute, hundert Tage nach der Inthronisierung, denke ich an Henry Kissingers vielsagende Worte. Nichts ist mehr sicher – das Einzige, was sicher ist, ist Trumps Unberechenbarkeit.
Da ich weiß, wie sehr Henry Kissinger Angela Merkel schätzt, interessiert mich die Ansicht des »Realpolitikers«: »Können Sie Angela Merkels Flüchtlingspolitik verstehen; würden Sie sie unterstützen?«
»She is great – but she is at the time in a devastating situation. Eure deutsche Innenpolitik interessiert mich nicht. Mich interessiert Europa und seine Zukunft! Angela Merkel kämpft mit ihrer ganzen Kraft darum. Sie verdient Bewunderung! Sie ist die Einzige!«
»Viele aber können sich ihrem moralischen Gebot, ›wir schaffen das‹, nicht anschließen?«
Kissinger neigt sich mir zu – leise, hinter vorgehaltener Hand: »I think – they can’t …«
Meine nächste Frage lenkt das Gespräch in eine andere Richtung; ins »Rätsel Russland«, wie Kissinger es sieht, dem er in seinem Buch ein großes Kapitel widmet:
»Wie wird es im Syrienkrieg weitergehen, der die ganze Welt in Atem hält? Wie schätzen Sie Putins undurchsichtige Taktik ein? Gibt ihm der doppelköpfige Adler die Richtung vor? – Was bedeutet seine sprunghafte Freundschaft mit Erdogan?«
»Ich glaube, es ist eine ähnliche Situation wie zur Zeit von Zar Nikolaus I.«
Ich grübelte dieser Erklärung nach. Erst bei meiner späteren Recherche zur Geschichte Russlands unter Zar Nikolaus I., zwischen 1825 und 1855, wurde mir der Hintergrund von Kissingers Antwort klar, die, wenn man sie zu Ende denkt, schließlich für den Zaren im gesamteuropäischen Kontext eine Niederlage bedeutete. Zielte womöglich Kissingers Kommentar lediglich auf die Jahre 1828/29, als Nikolaus I. im Orient vorzugsweise die Außenpolitik auf Asien und die Eroberung der Türkei richtete, die ihm schließlich 1829 im Frieden von Adrianopel die Ostküste des Schwarzen Meers, wie auch den freien Verkehr auf der Donau, sicherte?
Oder hatte Kissinger mit seinem Hinweis das Jahr 1853 im Blick, als Nikolaus I. versuchte, mithilfe der Europäischen Verbündeten die Türkei zu erobern – die Bündnisse sich jedoch als nicht zuverlässig erwiesen, sodass der Einfall in die Türkei misslang, während Großbritannien und Frankreich gegen den Zaren in den Krimkrieg eintraten, die russische Armee (in der Schlacht an der Alma) geschlagen wurde – und Nikolaus I. am 18. Februar 1855 starb? (Da Großbritannien wegen des Seeweges nach Indien keinesfalls die Russen im Mittelmeer sehen wollte.)
»Wie damals«, fährt Kissinger in seinen Überlegungen fort, »gilt bis heute aus russischer Sicht Konstantinopel als Ursprungsort der Orthodoxie, das heißt, des Panslawismus. Zar Nikolaus I. sah sich, wie alle Zaren vor ihm, als Nachfolger der Oströmischen Kaiser und verkörperte damit die lebende Ikone Gottes. Russlands berühmtes Expansionsstreben diente seit jeher dem Ziel, die angrenzenden Länder zu befrieden, indem es einmarschierte, zum Beispiel in Usbekistan 1864, in die Tschechoslowakei 1968 und kürzlich in die Ukraine … However – die Zukunft liegt in den Ländern am Pazifischen Ozean. In zwanzig Jahren werden China, Indien, Japan, Korea, Indonesien, Thailand die machtvolle Rolle spielen …!«
»Und Europa …?? Eine utopische Insel des Friedens?«
Die Frage läuft ins Leere – wirft aber zugleich die nächste auf: »Wie wird es weitergehen? Meine Söhne werden mich danach fragen?«
»Warum wollen Sie Ihren Söhnen berichten? Glauben Sie, dass es sie interessiert?«