Zum Inhalt

In den 40’er Jahren des 21. Jahrhunderts liegt die gesamte Welt in Trümmern. Nach Jahrzehnten brutaler Terroranschläge, künstlich hervorgerufener Pandemien, schwerer Finanz- und Wirtschaftskrisen, welche schließlich den Zusammenbruch der USA, der EU, der UNO und der NATO zur Folge haben, errichtet das „Internationale Direktorium“ eine weltumfassende Diktatur. Ströme von Heimatlosen und Vertriebenen überfluten die noch wenigen, einigermaßen funktionierenden Länder der westlichen Welt. Dies bringt den wohlhabenden Privatier Ernest von Milet auf die Idee, einen eigenen Staat zu gründen. Nachdem er eine abgelegene und unbewohnte Karibikinsel erwirbt, erschafft er dort sein „Utopia“, eine exklusive Enklave für Wohlbetuchte und Gleichgesinnte aus aller Welt, was dem „Internationalen Direktorium“ bald schon ein Dorn im Auge ist, weshalb es Truppen nach Utopia entsendet, um den neugegründeten Staat zu vernichten und den Staatsgründer als „Systemfeind“ zu inhaftieren. Einen Tag vor dessen geplanter Hinrichtung betritt die Menschenrechtsanwältin Dr. Helena Ehrlich seine Zelle im Hochsicherheitstrakt, um seine Version der Dinge anzuhören und für die Nachwelt zu dokumentieren...

Der Autor verfasste diesen Roman bereits im Jahre 2002. „Utopia“ wurde nach der alten Rechtschreibung (vor 1996) lektoriert.

Der Autor

© Patrick Karez, 1999

Patrick Karez wurde in den Siebziger Jahren als Kind Prager Eltern in Deutschland geboren. Nach seiner Matura lebte er zehn Jahre lang in Paris, wo er an der Université de Paris-Sorbonne s.c.l. in Kunst- und Architekturgeschichte promovierte und als Kunstkritiker für eine dem französischen Ministerium für Kultur anhängige Institution tätig war. In diesem Rahmen publizierte er bereits mit Mitte Zwanzig – so etwa Kunstkritiken, Übersetzungen aus dem Tschechischen, Englischen und Französischen – und verfasste nebenher kontinuierlich belletristische Texte. Nach seinem Studium ging er für ein Vierteljahr nach Südostasien, lebte ferner für mehrere Jahre in Budapest, Rom, New York und Wien, wo er sieben Jahre lang als Mitarbeiter für die Österreichische Nationalgalerie Belvedere samt anhängigen Häusern tätig war. Das 19. Jahrhundert und die Kunst der Jahrhundert-wende zählen zu seinen Forschungsschwerpunkten. So stammen etwa aus der Feder des Autors u.a. die beiden Romanbiographien „Gustav Klimt“ (erschienen im November 2014 im acabus Verlag, Hamburg; 4. Auflage 2020; russische Ausgabe bei Molodaya Gvardiya, Moskau, 2019) sowie „Egon Schiele“ (erschienen im September 2016, im acabus Verlag, Hamburg). Nach seinen Romanen „Schwartz auf Weiss“ (2004, publiziert 2018), „Diva – Whatever happened to Martha Kűlföldi“ (1999/2019), „Reinthal“ (2020), „Rochade“ (2001/2021) und „Finisterræ“ (1991/2021), legt der Autor nun den bereits im Jahre 2002 verfassten Roman „Utopia“ vor.

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

© 2002/2021 Dr. Patrick Karez
Cover/Layout: Patrick Karez & Roman Bitzinger
Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand GmbH,
Norderstedt

ISBN: 9783753489995

Inhaltsverzeichnis

1

Die Fliege krabbelte senkrecht die Wand hinauf. Einfach so, als handele es sich um die natürlichste Sache der Welt. Irgendwie mußte sie durch den Spalt im Fenster hineingekommen sein.

Ernest von Milet saß auf seiner Bettkante, den Kopf in die Hände gestützt, und beobachtete das Insekt, wie es nun mit einem jähen Satz von der Wand abhob und auf die vergitterte Milchglasscheibe des Fensters zuflog. Nicht nur, daß das völlig undurchsichtige Milchglas in seinem Innern ein dichtes Netz aus Metall barg - zudem befanden sich auch noch jeweils davor und dahinter massive Gitterstäbe aus Eisen, welche tief in die Wand eingelassen waren. Die obere Hälfte des Fensters ließ sich zwar bis auf wenige Grad nach Innen kippen - dennoch konnte Ernest, wenn er seinen Hals verrenkte und hinaus schaute, lediglich ein dreieckiges Fleckchen Himmel erkennen. Ein Vis-à-Vis gab es hier nicht - und so vermochten es einzig die Wolken und die Seemöwen, der eindimensionalen, glattpolierten Emailscheibe des Äthers ab und zu ein wenig Leben einzuhauchen. Das tropische Klima gewährleistete hier an der Ostküste meist sonniges Wetter und bestand somit täglich auf das gleiche, dunstige Blaugrau seines dreieckigen Ausschnitts. Dennoch ließ es sich hier und da dazu herbei, Ernests reduziertem Blickfeld ein kurzes Intermezzo aus Tropenstürmen und Sturzregen zu bieten, welche die drückende Schwüle und Hitze der Zelle jedoch kaum zu mindern vermochten. Wenn Ernest sich auf die vordere Kante seiner Pritsche stellte und seinen Hals lang machte, so konnte er einen geringen Teil des gegenüberliegenden Gebäudetraktes erkennen, der jedoch an Häßlichkeit und Trostlosigkeit kaum zu überbieten war. Deshalb sah er von diesem Blickwinkel tunlichst ab.

Die Fliege nahm nun erneut Anlauf und schlug beharrlich gegen die Milchglasscheibe. Ernest seufzte. Gut zwei Jahre lang saß er nun bereits in dieser Zelle. Besuch war ihm strengstens verboten und man weigerte sich sogar, ihm Zeitungen, Bücher oder zumindest Schreibutensilien - geschweige denn seine Post - auszuhändigen; ein Fernsehgerät gab es nicht, genauso wenig ein Rundfunkgerät - und so verstrich ein jeder Tag wie der andere: ein leeres, loses Gebilde aus Zeit, welches lediglich vom Hell und Dunkel der Tageszeiten sowie von den raren Sondervorstellungen des Wetters unterbrochen wurde. Auch die drei Mahlzeiten, die täglich durch die Zellentür geschoben wurden, waren eine feste Konstante, die Ernest half, in diesem zähen Brei aus Warten, Hoffen und Nachdenken, nicht völlig den Verstand zu verlieren. Besuche wie dieser hier gehörten zu den Höhepunkten seiner Inhaftierung und Ernest hoffte, das Tier würde noch lange gegen die Scheibe taumeln, um ihm stumme Gesellschaft zu leisten in diesem Abraum von Zeit.

Wie dumm es doch war! Anstatt dem Lufthauch zu folgen und sich mit dessen Hilfe auf die Suche nach der Öffnung zu machen, stieß es immer wieder beharrlich mit dem Kopf gegen das dicke Glas, während das Summen seiner Flügel immer verzweifelter wurde...

Anfangs hatte Ernest in der Tat befürchtet, wahnsinnig zu werden. Man hatte ihn, den Gewehrkolben im Kreuz, kurzerhand in die Zelle geworfen wie einen gemeinen Tagedieb, wie ein wildes Tier, einen streunenden Hund. Die ersten Stunden war er in der Zelle auf und ab gegangen, hatte seine Kreise gedreht wie eine Raubkatze im Käfig. Er hatte beim besten Willen nicht fassen können, was ihm soeben widerfahren war. Noch viel weniger konnte er sich vorstellen, daß seine Inhaftierung zu einem derart peniblen Dauerzustand ausarten würde. Anfangs hatte er geschrien; dann, nachdem man ihn zusammengeschlagen hatte, hatte er gesungen. Dumme, amerikanische Lieder, Gospelstücke wie „We shall overcome“ und so. Warum ihm gerade diese Lieder in den Sinn gekommen waren, wußte er nicht. Zumindest war die Akustik in dieser kahlen und hohen Zelle nicht schlecht, dachte er. Seinen schwarzen Humor, den zumindest könnten sie ihm nicht nehmen. Der gehörte nur ihm allein.

Nie zuvor war Ernest länger als einige Stunden unfreiwillig in einem Raum eingesperrt gewesen und man kann - auch wenn man selbst inhaftiert gewesen ist - beim besten Willen nicht das Gefühl beschreiben, das einen ereilt, wenn sich die Tür hinter einem schließt und man nicht weiß, für wie lange. Zu der unbändigen Wut mischte sich dann allmählich die Angst. Er war zwar unschuldig, das sagte er sich immer wieder - und es klang wie eine Beschwörung, wie ein magisches Ritual - und doch hatte er Angst. Angst vor der Brutalität seiner Wärter, Angst vor einer Bestrafung, Angst vor der Gleichgültigkeit, Angst vor dem Vergessen... Man unterrichtete ihn über nichts - er wußte nicht einmal, ob die alte Staatenordnung noch immer bestand oder ob die Welt sich inzwischen nicht wieder in neue Wirren und Verrenkungen gestürzt hatte.

Er sprach oft vor sich hin - als ob er befürchtete, das Sprechen zu verlernen. Doch sprach er kaum zusammenhängende Sätze, sondern vielmehr Worte, die wie Beschwörungsformeln klangen: magische Sprüche, die er immer und immer wieder aufsagte. Oft erfand er auch Worte oder Laute - und sagte sie sich dann immer wieder laut vor. Einen Menschen zu töten ist Sünde. Ihn einzusperren ist die Hölle. Mit aller Gewalt bemühte er sich, nicht an die Vergangenheit zu denken, sich nicht zu erinnern. An jene süßen Tage der Freiheit, die ihm damals doch so selbstverständlich erschienen waren. Wenn er sich denn doch einmal bei einer Erinnerung ertappte, so schlug er sich mit aller Gewalt mit den Fäusten gegen die Schläfen, um sie sogleich wieder aus seinem Kopf zu hämmern. Doch der Schlaf kannte kein Erbarmen. Und gleichwohl waren es gerade seine Träume, für die er noch lebte. Während der er noch lebte. In seinen Träumen konnte er sich frei bewegen, konnte die unüberwindlichen Mauern von Raum und Zeit überschreiten. Doch selbst dieses Privileg war ihm nach einigen Monaten abhanden gekommen: Wenn er überhaupt noch träumte, dann träumte er von seiner Zelle.

Manchmal erwachte er und weinte; manchmal erwachte er sogar mit einem unbestimmten Glücksgefühl. Obwohl er nichts erlebte, war sein tägliches Befinden denselben wechselnden Launen und Stimmungen unterworfen, wie das eines in Freiheit Lebenden. Vermutlich, so dachte er, lag es am Wetter, an irgendwelchen interplanetarischen Konstellationen, am Pollenflug oder an dem Essen, welches oftmals schwer verdaulich und nährstoffarm war. Bestimmte Gerichte stimmten ihn glücklich - manche wiederum stürzten ihn in tiefste Depressionen.

Der heutige Tag war durch den Besuch der Fliege zu einem denkwürdigen, einem besonderen Tag geworden. Wie gebannt verfolgte er das verzweifelte Insekt mit seinen Blicken und weidete sich an dessen unbändiger Energie, an seinem verzweifelten Kampf gegen die Elemente. Die Freiheit war doch so greifbar nah - und dennoch schlug sich das verdammte Biest immer wieder den Kopf an!

Vor einigen Wochen, oder Monaten, hatte sich eine Wespe in seine Zelle verirrt. Er hatte sich mit Absicht stechen lassen, um bewußt das völlig neue, unbekannte Gefühl des Schmerzes, welchen der Insektenstich verursachte, bis in seine letzten Ausläufer auszukosten. Der Stich der Wespe war geradezu eine Offenbarung für ihn gewesen. Doch auch dieses Insekt, obgleich man ihm aufgrund seiner Größe und seiner Aggressivität eine höhere Form der Intelligenz zusprechen mochte, war stundenlang wie ein Betrunkener gegen die Milchglasscheibe getaumelt - bis es schließlich, vor Erschöpfung und Frustration, vielleicht auch vor Angst, auf dem Zellenboden zusammengebrochen war. Ernest hatte es anschließend aufgehoben und durch den schmalen Spalt hinausbefördert - und er verstand beim besten Willen nicht, weshalb auch dieses Tier nicht einfach innegehalten hatte, um den Luftzug zu verspüren, welcher ihm doch sogleich den Weg ins Freie gewiesen hätte...

Für ihn freilich gab es einen derartigen Ausweg nicht. Doch immer noch hoffte er - und daran vermochte auch die unmenschliche Länge seines Eingesperrtseins nichts zu ändern - daß man auch ihn eines Tages hier herausholen würde. Schließlich hatte er einmal mächtige und einflußreiche Freunde gehabt. Man konnte ihn doch nicht ewig hier festhalten?

Ernest ertappte sich dabei, daß er mit der Fliege sprach - so als sei sie ein menschliches Wesen oder als verfüge sie zumindest über Gehör und Verstand. Er erzählte dem Insekt sein Leben, er klagte ihm sein Leid, besang es, bereimte es, versah es mit magischen Wortfetzen, mit Urlauten, die es beschwören sollten, innezuhalten, sich zu konzentrieren und seine nicht ganz ausweglose Lage zu erkennen. Diesmal hatte er Erfolg damit: Das schwarz behaarte Tier kroch plötzlich zielstrebig auf die obere Kante der Milchglasscheibe zu und verschwand...

2

Immer noch benommen von den Schlägen gegen die Scheibe, und geblendet von den gleißenden Strahlen der Sonne, flog das Tier in mißtrauischem Zickzackkurs auf das gegenüberliegende Gebäude zu.

Erst als es in seinem Schatten eintraf, bewegte es sich senkrecht in die Höhe, scheinbar immer auf die Sonne zu. Das flache Dach des Gebäudes war über und über mit Stacheldraht bestückt, in dessen Krallen sich im Laufe der Jahre so mancher Fetzen verfangen hatte. Vom Rascheln der zerrissenen Plastiktüten irritiert, flog das Insekt auf der Rückseite des Gebäudes wieder hinunter, in einen zweiten Innenhof, der sich zwischen vier weiteren Gebäudeblöcken des Gefängniskomplexes ausbreitete. Sein Boden war asphaltiert und verblichene Farblinien bezeichneten zaghaft ein Spielfeld, wo jene Gefangenen, die nicht im Hochsicherheitstrakt einsaßen, sich bei lautstarken Ballspielen abreagieren konnten. Freilich war es Ernest untersagt, seine Zelle zu verlassen - und selbst im Krankheitsfalle war es ihm nicht gestattet, die Krankenstation aufzusuchen. Einmal, er hatte aufgrund plötzlicher Bauchkrämpfe eine Blinddarmentzündung befürchtet, war der Stationsarzt, von zwei schwer bewaffneten Wärtern eskortiert, zu ihm in die Zelle gekommen und hatte dabei das gesamte, für die Untersuchung benötigte Gerät in einer großen Ledertasche mitgeführt. Da das Spielfeld sich im zweiten Innenhof, hinter dem ihm gegenüberliegenden Gebäudetrakt, befand, konnte Ernest die Rufe der Spieler nicht hören. Nur ab und zu drang der verminderte Ton einer Trillerpfeife an sein Ohr - doch dieses schrille Geräusch, einem hohen Schrei nicht unähnlich, hatte, derart losgelöst von seinem Sinn, etwas Bedrohliches für Ernest und er hörte es nicht gern.

Der Ball der Spieler, der jäh in die Höhe katapultiert worden war, kam dem Insekt bedrohlich nahe, so daß es abermals an Höhe gewann und das in östlicher Richtung angrenzende Gebäude, mit seiner Bekrönung aus Stacheldraht und den darin verfangenen und vom Wind sich blähenden und flatternden Fetzen, überflog. Vom jähen Küstenwind erfaßt, ging es nun im Tiefflug auf jene verödete und versandete Brache zu, die sich rings um die Gebäudeansammlung schloß. Einzelne Baracken wuchsen hie und da aus dem staubigen Boden und bildeten die einzige Abwechslung in dieser Ödnis, bis schließlich ein sehr hoher und feinmaschiger Drahtzaun ihren jähen Abschluß bildete. Er wurde in regelmäßiger Entfernung von hohen Wachtürmen flankiert, die des Nachts grelle und sich in rhythmischen Abständen zu den Seiten hin schwenkende Scheinwerfer trugen, welche die Nachtfalter und Stechmücken aus den umliegenden Sümpfen zu Millionen und Abermillionen anzogen. Das Tier konnte die Hochspannung förmlich spüren, als es den mit unzähligen Volt aufgeladenen Maschendrahtzaun in angemessenem Abstand überflog. Der Umzäunung folgte auch auf der gegenüberliegenden Seite ein breiter und scheinbar toter Streifen Brache, völlig ohne Vegetation, vermutlich vermint. Dann, plötzlich, wie eine grüne und undurchdringliche Wand, schnurgerade wie mit dem Lineal gezogen, bäumte sich dichtester subtropischer Urwald auf. Die großen, öligen Blätter waren ein Stoff, welcher der Fliege vertraut war - und so ließ sie sich für eine Weile auf ihnen nieder. Offensichtlich immer noch verwirrt, krabbelte sie für eine Weile auf dem Blattwerk hin und her, bis sie schließlich damit begann, hektisch mit den Vorderbeinen ihren Kopf zu putzen. Nachdem sie dieses Geschäft beendet hatte, machte sie sich daran, ihren Hinterleib und die Flügel mit ihren Hinterbeinen zu reinigen.

Tief unter ihr durchfuhr eine Kolonne von drei schwarzen Wagen, offensichtlich Staatslimousinen, den Urwald. In Schrittempo bewegten sie sich auf das Haupttor der Gefängnisanstalt zu. Im Hintergrund stieß der hohe Schlot des Krematoriums rauchschwarzen Ruß aus, der sich unter keinen Umständen mit dem Blau des Himmels vermischen wollte. Von der glänzenden Karosserie der Staatswagen angelockt, stieß sich die Fliege plötzlich von ihrem Blatt ab und stürzte im Sinkflug auf die Kolonne zu. Doch noch während sie sich hoch genug in der Luft befand, verspürte sie die extreme Hitze des schwarz lackierten Metalls und wich diesem aus, um einem der beiden Wachtposten am Eingang auf dem mit hellem Khakistoff überspannten Stahlhelm zu landen. Jener überprüfte soeben die Papiere der Ankömmlinge - und der Schweiß, der ihm dabei auf die Stirn trat, roch zu verlockend, um ihm widerstehen zu können. Doch kaum hatte das Insekt auf der naßglänzenden Stirn des Militärs Platz genommen, wurde es sogleich wieder verscheucht. Es drehte seine Runden um jene Person mit den appetitlichen Ausdünstungen und ließ sich schließlich auf dem Lauf ihres Maschinengewehrs nieder, wo es gemächlichen Schrittes bis zur Mündung hinauf krabbelte und einen Blick in die runde, nachtschwarze Aushöhlung riskierte.

Aus dem halb geöffneten Fenster des ersten Wagens schlug ihm indessen eine noch weitaus interessantere Geruchsmischung entgegen: Allem voran ein herbes Aftershave, in vier Varianten; daneben ein blumigfrisches Frauenparfum - das alles gemischt mit Schweiß und einem unsäglichen Cocktail aus männlichen und weiblichen Pheromonen sowie dem Duft von Zucker und einem nicht näher bekannten Nahrungsmittel. Mit einem Satz war das Tier auch schon im Innern des Wagens verschwunden.

Die Dame, welche in der Mitte der Rückbank Platz genommen hatte, schien in einen Stapel Papiers vertieft; die vier Männer jedoch sahen durch ihre schwarzen Sonnenbrillen ausdruckslos geradeaus wie Marionetten. Es handelte sich nur allzu offensichtlich um Herren von der Regierung, deren Steifheit und Gefühllosigkeit sie scheinbar dazu berechtigte, unsinnige Gesetze zu verfassen, Kriege gegen andere Völker zu führen, Gefängnisse und Arbeitslager zu errichten und andere Menschen darin einzusperren. Als einer von ihnen plötzlich aus seiner Lethargie erwachte und wie wild nach dem Eindringling zu schlagen begann, der so ganz und gar nicht in die perfekte und aseptische Welt der Politik zu passen schien, verließ die Fliege, beim ersten Anlauf, den Wagen durch das halb geöffnete Fenster, welches sie an dem ihm ausströmenden Lufthauch sofort erkannte. Eines zumindest hatte sie heute gelernt...

Der Grund für ihre kopflose Flucht war nicht etwa das wilde Gefuchtel des Staatsmannes gewesen - sondern vielmehr ein neuer Geruch, der von draußen in den Wagen einströmte und der ihr weitaus interessanter erschien als diese steifen und blassen Herren von der Regierung: Mit Heißhunger stürzte sie sich auf den noch frischen Kothaufen neben der Fahrbahn, der vermutlich von einem deutschen Schäferhund oder einem Rottweiler stammte, die hier den Menschen halfen, andere Menschen einzusperren, und fraß sich den Bauch voll.

3

Das Geräusch von Schuhabsätzen hallte über den unendlichen Korridor, an dessen Seitenwänden sich unzählige Zellentüren befanden. Eine wie die andere. Ein unendlicher, repetitiver Albtraum. Der Gefangene von Nummer 7 lauschte diesem Geräusch und meinte aus dem anschwellenden Staccato zwei Paar Herrenschuhe zu erkennen, zweifelsohne die der Wärter, sowie ein Paar Damenabsätze... Wie von ihm erwartet, näherten sie sich seiner Zellentür, um schließlich abrupt davor zu verstummen. Nachdem das leise Piepsen der Magnetkarte ertönte, die zum Öffnen seiner Zellentür erforderlich war, traten, wie bereits vermutet, zwei der schwarz uniformierten Wärter ein, in ihrer Mitte eine Frau eskortierend.

„Nur eine Stunde, hören Sie? Wir sind draußen vor der Tür, falls Sie uns brauchen sollten.“

„Ja, ich weiß“, sagte sie knapp und wandte sich unverzüglich dem Gefangenen zu.

„Mein Name ist Frau Doktor Helena Ehrlich“, stellte sie sich sachlich, aber dennoch nicht unfreundlich, vor.

Der Gefangene antwortete nicht.

„Sie wissen vermutlich längst, daß morgen Ihre Hinrichtung stattfindet - deshalb lassen Sie uns keine Zeit verlieren.“

Zeit verlieren?“, der Gefangene schien plötzlich aus seiner Lethargie zu erwachen und wandte sich der Frau mittleren Alters mit leidvoller Miene zu, „Wozu sollte ich sie mir Ihrer Meinung nach aufsparen?“

„Verzeihen Sie... dieser Ausdruck war wohl etwas taktlos von mir gewählt. Ich entschuldige mich vielmals bei Ihnen.“

Der Gefangene winkte ihre Worte mit einer gleichgültigen Geste ab.

„Gut... Herr von Milet“, sie zögerte, „Dürfte ich Sie ‚Ernest‘ nennen?“

„Nein. Eigentlich nicht“, Ernest sah sie mit kampfeslustiger Miene an, „Ich kenne Sie ja gar nicht!“

„Nun gut... Ich bin Abgesandte des Internationalen Komitees für die Wahrung der Menschenrechte. Wir sind der Ansicht, daß hier - ich meine: in Ihrem Fall - eine Mißachtung des internationalen Rechts vorliegt.“

„Und? Was kommen Sie da jetzt erst?“

„Es war uns nicht gestattet, früher mit Ihnen Kontakt aufzunehmen. Ich muß Ihnen auch zu unserem größten Bedauern mitteilen, daß wir Ihre Hinrichtung nicht verhindern können.“

Der Gefangene sah daraufhin, scheinbar gleichgültig, zu Boden.

„Um ehrlich zu sein, hat Ihr Fall da draußen eine unglaubliche Lawine losgetreten. Die meisten Punkte der Anklage, welche von seiten des Internationalen Direktoriums gegen Sie vorgebracht wurden, sind nicht haltbar. Vor allem die der ‚Volksverhetzung’ und die der ‚staatsgefährdenden und umstürzlerischen Aktivitäten gegen die Weltengemeinschaft’.“

Der Gefangene schwieg weiterhin.

„Sie haben inzwischen viele Freunde da draußen. Und überdies befinden sich die ‚Vereinigten Staaten der freien Welt‘ kurz vor einem Bürgerkrieg. Ich würde meinen, daß es sich hierbei um die größte internationale Krise seit dem Anbeginn des Kalten Krieges handelt - also seit rund einhundert Jahren.“

„Weshalb sind Sie also hier?“

„Nun, ich möchte im Auftrag unserer Gesellschaft Ihren Fall dokumentieren. Da bis zum heutigen Tage ein jeglicher Kontakt mit Ihnen strengstens untersagt war, bleibt uns leider nur noch sehr wenig Zeit dafür.“

„Ich soll Ihnen also in nur einer einzigen Stunde erzählen, wie es zu meiner Verhaftung kam? Zu diesem... Komplott gegen mich und gegen meinen freien Staat? Das ist unmöglich!“

„Hören Sie, unsere Anwälte arbeiten Tag und Nacht - schließlich geht es bei dieser ganzen Sache um weitaus mehr als nur um Sie und um Ihre skurrile Insel.“

Skurril? Sie wagen es, meinen selbst erschaffenen Staat als skurril zu bezeichnen? Wer gibt Ihnen das Recht dazu?“

„Nun... Sie müssen schon zugeben, daß es eine sehr gewagte Idee von Ihnen gewesen war, einen eigenen Staat für die homosexuelle Weltengemeinschaft zu gründen. Und das, was dort abging, scheint den Berichten zufolge... eben skurril gewesen zu sein.“

„So ein ausgemachter Unsinn! Sie wissen nichts! Sie wissen rein gar nichts! Sie käuen lediglich den selben Mist wieder, wie all diese anderen Verräter!“

„So beruhigen Sie sich doch! Es tut mir leid, daß ich einen falschen Ausdruck gewählt habe...“

„Das scheint Ihr Markenzeichen zu sein!“

Nun war es die Anwältin, die erstmals schwieg.

„In den letzten zwei Jahren haben Worte für mich eine besondere Bedeutung erlangt, müssen Sie wissen“, fügte Ernest tonlos hinzu.

„Gut. Ich werde darauf Rücksicht nehmen“, sie faßte sich allmählich wieder, „Aber genau deshalb bin ich doch hier: Nämlich, um gemeinsam mit Ihnen zu erörtern, was damals wirklich vorgefallen ist. Himmel, man hat Ihnen nicht einmal einen öffentlichen Prozeß gestattet! Die Welt weiß so gut wie nichts über die Hintergründe Ihrer Verhaftung. Alles, was die Weltpresse tagtäglich ausspeit, ist folgender Sachverhalt: Sie haben gegen Ende der ersten Hälfte des 21. Jahrhunderts damit begonnen, erst aus privaten- und schließlich aus staatlichen finanziellen Mitteln der Weltengemeinschaft...“

„Wie bitte? Das ist doch eine infame Lüge! Niemals habe ich auf öffentliche Gelder zurückgegriffen! Diese verdammte, verlogene Staatengemeinschaft hat nichts mit der ganzen Sache zu tun. Genau deshalb habe ich doch meinen eigenen Staat gegründet!“

„Nun... ich habe die Belege für Ihre... finanziellen Transaktionen doch mit eigenen Augen gesehen! Sie haben internationale Staatsgelder veruntreut und somit Ihre eigene Republik finanziert.“

„Lüge! Alles Lüge! Und nennen Sie mein Utopia nicht ‚Republik’! Ich habe Ihnen bereits gesagt, wie wichtig mir eine präzise Wortwahl inzwischen geworden sind! Es gibt doch nichts Verlogeneres auf dieser Welt als die sogenannte ‚Republik’!“

„Mäßigen Sie sich! Sie tun sich mit derartigen, reaktionären Äußerungen keinen guten Dienst. Wollen Sie nun kooperieren oder nicht?“

„Aber wie soll ich nur kooperieren, wenn alle Ihre Hintergrundinformationen falsch sind? Hören Sie: Das Ganze hier ist tatsächlich ein Komplott. Aber es ist ein Komplott gegen mich und gegen die gesamte freie Welt! Man wirft mir vor, ein Volksverhetzer und Umstürzler zu sein - doch alles was ich, was wir, wollten, das war, daß man uns endlich in Ruhe läßt! Daß wir unser eigenes Ding aufbauen können. Und Sie können mir glauben: Es war weitaus besser als alles, was in der menschlichen Entwicklungsgeschichte jemals dagewesen ist! Es war... die Krönung der Zivilisation, ein Hort der Toleranz, der Achtung der Menschenrechte, der Gesetze von Gleichheit und Brüderlichkeit und Freiheit - Werte, auf die doch sonst jeder... spuckt in dieser verkorksten Welt!“

„Nun... Ihre revolutionären Wahlsprüche von Gleichheit, Brüderlichkeit und Freiheit passen nicht so ganz zu dem monarchisch geprägten - oder sollte ich besser sagen: tyrannischen? - Staatssystem, welches Sie ersonnen haben...“

Tyrannisch? Ich?“

„Ja, entspricht es denn nicht der Wahrheit, daß Sie sich krönen ließen, gemeinsam mit Ihrem Liebhaber...?“

„Er war mein Lebensgefährte!“

„...wobei Sie zur Krönungszeremonie angeblich als Kaiser Franz Joseph I. von Habsburg kostümiert erschienen und Ihr... Ihr Lebensgefährte... verkleidet als... ‚Sissi’ - diese Wittelsbacherin?“

„Das war doch alles nur ein Riesenspaß! Es war eine schrille, fulminante Party, die keinerlei juristische Konsequenzen hatte. Ich wurde lediglich pro forma gekrönt - weil es doch so viel schriller und amüsanter ist! Mein Staatssystem hingegen, war durch und durch demokratisch geprägt! Als Heterosexuelle - und als frustrierte Heterosexuelle noch obendrein, wie man unschwer erkennen kann - können Sie das alles doch nicht im mindesten beurteilen!“

„Gut. Jetzt sind wir quitt. Aber reißen Sie sich verdammt nochmal zusammen! Wie soll ich Ihnen denn nur helfen, wenn Sie derart renitent und unkooperativ sind?“

„Mir helfen? Mir können Sie doch gar nicht mehr helfen! Sie haben es vorhin selbst gesagt! Sich selbst wollen Sie helfen - dieser verlogenen Association für Menschenrechte, die heutzutage ohnehin niemand mehr wahrt! Dank dieser gottverdammten political correctness, gepaart mit dieser verteufelten Globalisierung, ist es doch erst soweit gekommen, daß man heutzutage nicht einmal mehr seine Nationalität nennen darf, ohne gleich als Aufrührer zu gelten! Und dabei werden heutzutage, in der Mitte des 21. Jahrhunderts, mehr Menschen verschleppt, gefoltert und ohne Gerichtsverhandlung hingerichtet als unter jedem zaristischen Regime!“

„Das ist auch mir klar“, sie senkte die Stimme und schaute mit besorgter Miene zur Tür, „Können Sie sich überhaupt vorstellen, in welche Gefahr ich mich hier begebe, indem ich nur mit Ihnen spreche? Es ist nicht einmal sicher, daß die mich mit heiler Haut und ohne Implantat von hier verschwinden lassen! Also hören wir endlich auf uns zu streiten und erzählen Sie mir lieber Ihre Version der Dinge. Es ist etwas schiefgelaufen mit der Gründung des Internationalen Direktoriums - das ist inzwischen wohl auch jedem Trottel klar geworden. Und aufgrund Ihrer Aussage können wir Beweise sammeln gegen die jetzigen Machthaber. Sie selbst werden wir leider nicht mehr retten können - doch der Rest der Welt schreit förmlich nach der Wahrheit! Was ist also vorgefallen, in der Woche vor Ihrer Verhaftung und der Auflösung von Utopia?“

Ernest kicherte plötzlich. Mit zitternder Hand fuhr er sich durch sein inzwischen ergrautes Haar.

„Nun liegt es also an einer elenden, dekadenten Schwuchtel, die Welt zu retten, hm?“, er sah die Anwältin von der Seite an - und für einen kurzen Augenblick kehrte sein alter, lausbubenhafter Charme zurück, mit dem er einst die Massen verzaubert hatte; „Zu allererst war es nicht nur ‚die letzte Woche’, die zur endgültigen Vernichtung Utopias führte - wie mir später erst klar wurde - sondern das Gift war von Anfang an gelegt worden.“

„Ich verstehe nicht...“

„Gut. Ich werde bei Adam beginnen. Und sorgen Sie dafür, daß man uns bis zu meiner Hinrichtung morgen früh in Ruhe läßt...“

4

Seltsamerweise fiel ihm das Sprechen, nach all der Zeit der Abstinenz, gar nicht so schwer. Die Fähigkeit, mit einem Menschen zu reden, geht einem anscheinend niemals abhanden. Es verhält sich mit dem Sprechen wohl wie mit dem Schreiben - oder auch mit dem Zeichnen oder dem Autofahren: man kann es für Jahre unterlassen - und dennoch verlernt man es nie, kehren stets die selben, uralten Mechanismen und Automatismen innerhalb von Bruchteilen von Sekunden wieder ins Bewußtsein des Handelnden zurück.

Was ihn jedoch viel mehr verunsicherte, ja geradezu erschreckte, das war jene tiefe, elementare Wut, die sich plötzlich seiner bemächtigte und stellenweise sogar an die Oberfläche seiner selbst brach. Er gestand es sich selbstverständlich nicht ein - doch am liebsten hätte er diese Frau umgebracht! Sie wie ein wildes Tier mit seinen Reißzähnen und seinen Krallen zerfetzt - und sie anschließend mit Haut und Haaren aufgefressen! Er wußte eigentlich gar nicht so recht warum - doch war sie, mit Ausnahme seiner Zellenwärter, das erste menschliche Wesen, dem er seit gut zwei Jahren plötzlich gegenüber stand - und alles, was er für sie empfinden konnte, stellvertretend für die gesamte Menschheit sozusagen, das war Wut und blanker Haß.

Dennoch riß er sich zusammen. Keines seiner wahren Gefühle erreichte jemals die Oberfläche seines Seins. Kaum daß nämlich die fremde Frau in seine Zelle eingetreten war und ihn mit einem Schwall von Worten überschüttet hatte, hatte Ernest sich augenblicklich in seine innere Welt zurückgezogen. Er hatte sich diese vor etwa zwei Jahren, gleich während der ersten Tage seiner Inhaftierung, erschaffen, um nicht vollends dem Wahnsinn anheim zu fallen. In dieser inneren, nahezu hermetischen Welt galten seine eigenen Regeln und Gesetze. Dennoch war diese Welt, bei Bedarf, durchaus semipermeabel - und zwar lediglich in eine, einzige Richtung: nämlich von Außen nach Innen. Während Bilder, Eindrücke, Laute, Regungen und sogar Gefühle von Außen zu ihm nach Innen vordringen konnten, insofern er dies überhaupt zuließ, blieb sein Äußeres stets beherrscht und regungslos wie eine Maske. Niemand vermochte auch nur im mindesten zu erahnen, was wirklich in seinem Innern vor sich ging.

Als also all diese Worte, schwer, schnell und schmerzhaft wie ein plötzliches Geschützfeuer, aus dem Nichts auf ihn eingeprallt waren, hatte er sich augenblicklich verschlossen, um verläßlich und logisch zu antworten wie ein Automat - doch seine wahren Gedanken und Gefühle, die behielt er für sich. Erstens konnte er dieser Frau nicht trauen - und Ernest war bereits vor der Zeit seiner Inhaftierung ein äußerst mißtrauischer Mensch gewesen - und zweitens wäre er vermutlich an der Last seiner Emotionen zerbrochen, wenn er ihnen nur erst einmal freien Lauf gewährt hätte...

Ebenso verhielt es sich etwa mit der Tatsache, daß Ernest bis dato überhaupt nichts von seiner morgigen Hinrichtung gewußt hatte! Erst jetzt kamen ihm die permanenten, dämlichen Anspielungen der Wärter erneut in den Sinn - und er verstand es nun, diese entsprechend zu deuten. Regungslos und beherrscht, wie er nach Außen stets erschien, hatte er in keinster Weise auf diese niederschmetternde Neuigkeit reagiert. Der Sachverhalt war zwar durchaus nach Innen, zu seinem Verstand und zu seinem Bewußtsein, vorgedrungen - dennoch behielt er eisern seine Fassung. Nicht nur, daß die ganze Situation ihm wie ein böser Traum erschien - zudem war es weit unter seinem Niveau, mit einem erstaunten „Oh!“ oder einem jämmerlichen „Ah!“ darauf, was ja sein Todesurteil war, zu reagieren.

In seinem Innern jedoch, implodierten Sonnen und erloschen ganze Planetensysteme. Der Himmel verdüsterte sich plötzlich, und Schwärme schwarzer Krähen flatterten von den verdorrten Feldern auf. Große, häßliche Wanderheuschrecken, Skorpionen gleich, krochen lethargisch über die vertrockneten und abgefressenen Pflanzenteile, unter denen sich der rissige und ausgedörrte Boden auftat. Jener rissige Boden erzitterte und erbebte unter den Tritten eines riesenhaften Urviechs, einem scharlachroten Tier, welches dem Meer entstiegen war. Es war voll lästerlicher Namen und hatte sieben Häupter und zehn Hörner, wobei die sieben Häupter mit den toten Augen rollten und Feuer spien, so daß der rissige Boden, die spärlichen Pflanzenteile - aber auch die Heuschrecken und die Krähen - Feuer fingen und elendig zugrunde gingen, während der Himmel sich erbrach und seinerseits Feuer regnete. Der Drache trug eine Frau auf seinem Rücken, ein bunt zurechtgemachtes und aufgetakeltes Weib, billig und geschmacklos nach Kaufhausparfüm riechend, mit purpurrot lackierten Nägeln und gelben Zähnen, über die es sich mit breiter, stinkender Zunge leckte. Sie war einzig bekleidet mit löchrigen Netzstrümpfen, in denen ihr speckige Geldscheine steckten. Mit geistesabwesender Miene schwenkte sie eine Flasche billigen Fusels in ihrer Hand, voll von Greuel und Unreinheit ihrer Hurerei, und auf ihrer Stirn war geschrieben ein Name, ein Geheimnis: Die Politik. Um ihr blondiertes Haar herum loderten die Flammen einer schwarzen Aura aus verlorenen Träumen, erstickten Hoffnungen und unerfüllten Wünschen. Die Hure stieß einen markerschütternden Schrei aus - und brachte damit das gesamte Weltgefüge aus dem Lot. Es geschah ein großes Erdbeben, und die Sonne wurde finster wie ein schwarzer Sack, und der ganze Mond wurde wie Blut, und die Sterne des Himmels fielen auf die Erde, wie ein Feigenbaum seine Feigen abwirft, wenn er von starkem Wind bewegt wird. Und der Himmel wich wie eine Schriftrolle, die zusammengerollt wird, und alle Berge und Inseln wurden wegbewegt von ihrem Ort. Schließlich löste sich die Erde aus ihrer Verankerung und stürzte in das lodernde Feuer der Hölle, die ihrerseits verbrannte. Dennoch lächelte Ernest dieser fremden Frau zu und erzählte ihr aus seinem Leben, so als sei nichts gewesen, so als besuche sie ihn in seiner Villa, oben auf dem Hügel über der werdenden Stadt, bei einer Tasse frisch überbrühter arabischer Minze, welche ihnen allen bei dieser Hitze gute Dienste tat...

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Interner Bericht des „Internationalen Komitees für die Wahrung der Menschenrechte“ (ICHRA), Strafsache II/1044, digitale und in Einverständnis des ICRL gekürzte Gesprächsnotiz: Ernest von Milet, 641832/1:

Wenige Monate nach den schweren Unruhen des Jahres 2033 schlenderte, beziehungsweise stolperte, ich über die Quais der Rive Droite, die man seither notdürftig wieder instandgesetzt hatte. Die trüben Wasser der Seine wurden von Behelfs- und Pontonbrücken überspannt - und mir kamen, wie gewöhnlich, wenn ich hier entlang lief, die Tränen, wenn ich an die alte, nunmehr verlorene Pracht der Pariser Brücken dachte: Pont des Arts, Pont Neuf, Pont Royal, Pont Marie, Pont Alexandre III., (...)

Vor mir erhob sich der Bug der Île de la Cité aus den Fluten - aber es fehlten schmerzlich die beiden kubischen Glockentürme der Kathedrale Notre-Dame, mit deren Wiederaufbau man jedoch gleich im April - oder war es im März? - begonnen hatte... (...)

Nein, Paris war längst nicht mehr die Stadt, die sie einmal gewesen war; und viele von uns fragten sich nun, wohin man denn gehen könne - wo man denn auf dieser verkorksten Welt überhaupt noch die Chance habe auf ein halbwegs normales und störungsfreies Leben in Sicherheit und in relativem Wohlstand. Viele der Reicheren hatten - wie seit eh und je - in der Schweiz ihr Refugium gefunden. Doch inzwischen herrschte dort ein striktes Einwanderungsverbot. Auch Österreich und die südlichen Teilrepubliken Deutschlands hatten unlängst ihre Grenzen dichtgemacht für die großen Ströme von Heimatlosen, welche in diesen Tagen wie herrenloses Treibgut durch Europa irrten. Östlich von Deutschland und Österreich war Europa längst verloren - und man zerrte sich damals noch fieberhaft um Ungarn, Böhmen und Polen - sowie um die baltischen Republiken - doch wir alle wußten, daß der Kampf bereits verloren war. Wissen Sie, mit derartigen Mitteln Krieg zu führen - das war uns allen völlig fremd. Es lag nicht in unserer europäischen Kultur und Zivilisation, mit derartigen Angriffen umzugehen. Es war wie der Blitzangriff der Japaner auf Pearl Harbor vor inzwischen über einhundert Jahren, wissen Sie, wenn Menschen ihr eigenes Leben opfern und sich selbst zu Waffen machen, um andere mit sich ins Verderben zu stürzen... (...)

Nun, kurz: während ich da also über die Böschung am Seineufer entlangschritt, da kam mir zum allerersten Mal der Gedanke: Warum - angesichts der allgemeinen Misere und der verhängnisvollen Unfähigkeit der Politiker und der hohen Funktionäre - nicht einfach einen eigenen Staat gründen? Jetzt, in einer Zeit, wo ein jeder gegen jeden kämpfte, wo die alten Gesetze und Richtlinien von Hoheitsgewässern und Landesgrenzen sowieso schon längst verschoben- beziehungsweise völlig außer Kraft gesetzt worden waren: Da mußte es doch eine Möglichkeit geben, sich ein Stück Land zu sichern, eine herrenlose Insel, mitten im Pazifik, oder sonstwo, im Nordmeer (...), auf der man etwas errichten könnte, das der alten Welt und der alten Ordnung, wie wir Ältere sie noch ansatzweise kannten, in etwa gliche - ohne diese jedoch 1:1 zu kopieren und somit die alten Fehler wieder einzuschleppen, die ja indirekt für deren Untergang mitverantwortlich gewesen waren... (...)

Eines war mir von Anfang an klar: So wichtig mir die alten Grundsätze von Ethik und Moral auch waren - keinerlei religiöse Ideologie sollte die Staatsräson vergiften dürfen. Dennoch war ich nicht prinzipiell gegen ein... sagen wir: „religiöses Gefühl“ - und ein freier Staat soll sich ja schließlich nach den eventuell vorhandenen Belangen seiner Bürger richten - und nicht etwa umgekehrt... Da sich aber später ohnehin keine der großen Kirchen dazu bereit erklärte, eine Vertretung in Utopia einzurichten, hatte sich dieses Problem somit ganz von selbst gelöst... Anfangs, während der Planungsphase, als allerhand Ideen durch meinen Kopf geisterten, hatte ich mich noch darum bemüht, selbst eine Art „konfessionsübergreifende Religion“ zu gründen - doch meine Aufgabe war in erster Linie die Politik: nämlich, die Gründung und den Erhalt eines friedlichen, demokratischen und reibungslos funktionierenden Staates zu gewährleisten - und nicht etwa, mich als abgedrehter Sektenguru zu verdingen. Aber halt: ich greife vor... (...)

Jedenfalls reifte diese Idee in meinem Kopf stetig an - zuerst leise und hintergründig - und schließlich immer stärker, wie Schaumwein, wissen Sie, der in seiner viel zu engen Flasche, die man zuvor auch noch geschüttelt hat, gärt und rumort, bis er den Korken platzen läßt und mit unbändiger Wucht hinaus schießt!

Ich dachte an die verrücktesten Kleinigkeiten - so etwa, wie wohl das künftige Rathaus auszusehen hätte: typologischer Eklektizismus, verstehen Sie? - und ich dachte an den Grundplan der Stadt: ob achsial, radial, und so weiter... Eine achsiale Ausrichtung erschien mir auf Anhieb zu faschistoid - nein: radial müsse er sein, oder vielmehr schachbrettartig, wie eine Römerstadt (...).

Und im Laufe der Zeit wurde die Vorstellung davon immer klarer, immer deutlicher - wirklich ganz so, als flüstere mir jemand, oder etwas - Gott? - all diese Dinge ein... Ich sah die Straßen förmlich vor mir - mit ihren Häusern, den öffentlichen Plätzen, den Ministerien und Verwaltungsgebäuden. Ferner die Legislatur, Gesetze, die parlamentarische Zusammenarbeit, die Bildung einer Opposition, die Aufteilung der Staatsgewalt... Die Förderung der Schönen Künste, Krankenhäuser, Schulen, eine Universität... Ich sah Feste, Bälle, Geburten und Todesfälle voraus - dachte an den Bau von Altersheimen, die Einrichtung von Friedhöfen und Krematorien. Ich entwickelte sogar ein eigenes System für eine schonende Müllbeseitigung! Mein Gott, es war... einfach unglaublich! Wie ein römischer Kaiser, der eine Kolonie irgendwo in Germanien, oder Nordafrika, auf dem Reißbrett entwarf! (...)

Nein, dieses Gefühl von absoluter Macht stieg mir nicht zu Kopfe. Ich tat das alles ja nicht etwa für mich allein - ich tat es für uns alle; um uns allen einen Neustart zu ermöglichen... Um allen nachfolgenden Generationen die Möglichkeit einer Neuen Welt zu eröffnen, in der sie es besser haben sollten als unsere eigene Generation, die von Krieg und Terror so sehr gebeutelt war!

(...)

Freilich gab es auch Heterosexuelle - eine ganze Masse sogar! - die sich in Utopia niederlassen wollten. Nicht so sehr am Anfang - aber dann, später, als es sich in der Welt herumgesprochen hatte, daß es einem bei uns gut ging... Wir lehnten ihre Einwanderungsanträge selbstverständlich ab. Erstens, weil wir ohnehin bald völlig überlaufen waren - und zweitens, weil Utopia unser eigenes Ding werden sollte: Nämlich ein Refugium ausschließlich(lacht)