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AUSSERDEM VON PANINI ERHÄLTLICH:

DIABLO: Der Sündenkrieg I – Geburtsrecht

Richard A. Knaak, ISBN 978-3-8332-4022-5

DIABLO: Der Sündenkrieg II – Die Schuppen der Schlange

Richard A. Knaak, ISBN 978-3-8332-4085-0

DIABLO: Der Sündenkrieg III – Der verhüllte Prophet

Richard A. Knaak, ISBN 978-3-8332-4086-7

DIABLO: Das Vermächtnis des Blutes

Richard A. Knaak, ISBN 978-3-8332-3896-3

DIABLO: Der Dunkle Pfad

Mel Odom, ISBN 978-3-8332-3897-0

DIABLO: Das Königreich der Schatten

Richard A. Knaak, ISBN 978-3-8332-3946-5

DIABLO: Der Mond der Spinne

Richard A. Knaak, ISBN 978-3-8332-3947-2

THE ART OF DIABLO

Großformat im Hardcover, ISBN 978-3-8332-3835-2

Weitere Titel und Infos unter www.paninishop.de

Der Sündenkrieg

Buch 1

Geburtsrecht

Richard A. Knaak

Ins Deutsche übertragen
von Ralph Sander

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Amerikanische Originalausgabe: „DIABLO: The Sin War I – Birthright“ von Richard A. Knaak, erschienen bei Simon and Schuster, Inc., 2006.

Copyright © 2002, 2021 Blizzard Entertainment, Inc.
Alle Rechte vorbehalten.

Deutsche Ausgabe: Panini Verlags GmbH, Schlossstraße 76, 70176 Stuttgart.

Geschäftsführer: Hermann Paul

Head of Editorial: Jo Löffler

Head of Marketing: Holger Wiest (E-Mail: marketing@panini.de)

Presse & PR: Steffen Volkmer

Übersetzung: Ralph Sander

Lektorat: Manfred Weinland

Umschlaggestaltung: tab indivisuell, Stuttgart

Satz und E-Book: Greiner & Reichel, Köln

YDDITP005E

ISBN 978-3-7367-9881-6

Gedruckte Ausgabe:

ISBN 978-3-8332-4022-5

1. Auflage, April 2022

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PROLOG

Die Welt war zu jener Zeit noch jung, und nur wenigen war sie als Zuflucht bekannt. Ebenso wussten nur wenige, dass Engel und Dämonen nicht nur existierten, sondern dass einige von ihnen die Entstehung Sanktuarios, der Zuflucht, überhaupt erst herbeigeführt hatten. Die Namen Inarius, Diablo, Rathma, Mephisto und Baal – um nur einige Mächtige und oftmals Gefürchtete zu nennen – waren noch keinem Sterblichen über die Lippen gekommen.

In jener Zeit also, da man nichts vom ewigen Streit zwischen den Hohen Himmeln und den Brennenden Höllen wusste, mühte sich der Mensch, einfach nur zu leben, um dann irgendwann den Weg alles Irdischen zu nehmen. Er ahnte nichts davon, dass schon zu jener Zeit beide unsterblichen Seiten ein Auge auf ihn und das in ihm schlummernde Potenzial geworfen hatten und dass darüber ein Konflikt entflammen sollte, der viele Jahrhunderte andauern würde.

Von allen, die so schrecklich ignorant waren, was das furchtbare Schicksal Sanktuarios anging, war Uldyssian ul-Diomed – Uldyssian, der Sohn des Diomedes – der Blindeste von allen. Und er war zugleich auch derjenige, der sich inmitten all der Wirren wiederfand, die spätere Verfasser der geheimen Weltenchronik den Sündenkrieg nannten.

Es war kein Krieg im herkömmlichen Sinne. Natürlich gab es Kämpfe, Schlachten, aber in erster Linie war er geprägt von Seelenqual und Seelenraub. Ein Krieg, der auf ewig die Unschuld Sanktuarios befleckte und derer, die es bevölkerten. Ein Krieg, der alle veränderte, am schlimmsten jene, die sich dessen gar nicht bewusst waren.

Ein Krieg, der gewonnen und zugleich auch verloren wurde …

Aus den Büchern von Kalan

Erster Band, zweites Blatt

EINS

Der Schatten schob sich über Uldyssian ul-Diomeds Tisch und tauchte nicht nur einen großen Teil der Fläche in Dunkelheit, sondern auch seine Hand und das noch nicht getrunkene Ale.

Der Bauer mit dem sandblonden Haar musste nicht aufblicken, um zu sehen, wer ihn in seiner kurzen Pause vom Tagwerk störte. Er hatte den Fremden mit anderen im Boar’s Head sprechen hören, der einzigen Taverne des abgelegenen Dorfes Seram, und er hatte gebetet, der Mann möge nicht auch an seinen Tisch kommen.

Es war blanke Ironie, dass ausgerechnet der Sohn des Diomedes betete, der Fremde möge ihn in Frieden lassen, denn wer da vor Uldyssian stand, war kein Geringerer als ein Missionar der Kathedrale des Lichts. In seinem silbrigweißen Gewand und dem hohen Kragen gab er ein imposantes Bild ab – wenn man den Saum übersah, der deutlich erkennbar mit dem Morast von Seram in Berührung gekommen war, und zweifellos schaffte er es, bei vielen Dorfbewohnern Ehrfurcht zu wecken.

Bei Uldyssian jedoch wühlte seine Anwesenheit nur schreckliche Erinnerungen auf, und der Bauer zwang sich voller Ärger, seinen Blick nicht von dem vor ihm stehenden Krug abzuwenden.

„Habt Ihr das Licht gesehen, mein Bruder?“, fragte der Fremde endlich, als deutlich geworden war, dass der potenziell zu Bekehrende beabsichtigte, ihn auch weiterhin zu ignorieren. „Hat das Wort des großen Propheten Eure Seele berührt?“

„Sucht Euch einen anderen“, murmelte Uldyssian und ballte die freie Hand unwillkürlich zur Faust. Er trank den letzten Schluck Ale aus, in der Hoffnung, seine Bemerkung würde der unerwünschten Unterhaltung rechtzeitig ein Ende setzen.

Der Missionar jedoch wollte sich damit nicht zufrieden geben. Stattdessen legte er seine Hand auf den Unterarm des Bauern, womit er das Ale davon abhielt, Uldyssians Lippen zu erreichen. Dann sagte der junge Mann: „Wenn Ihr nicht an Euch denken wollt, dann denkt an diejenigen, die Ihr liebt! Wollt Ihr deren Seelen im Stich lassen und …“

Der Bauer stieß einen Schrei aus, und sein Gesicht wurde rot vor Zorn, den er nicht länger beherrschen konnte. Er sprang auf und packte den erschrockenen Missionar am Kragen. Als der Tisch umkippte, fiel der Krug zu Boden, das Ale spritzte auf den Holzboden, ohne dass Uldyssian Notiz davon nahm. Ringsum verfolgten die übrigen Gäste – darunter auch einige Reisende, die hier eher selten zu finden waren – die Auseinandersetzung mit einer Mischung aus Besorgnis und Interesse. Aus Erfahrung wussten alle, es war besser, sich aus solchen Konfrontationen herauszuhalten. Einige Dorfbewohner, die den Sohn des Diomedes kannten, schüttelten den Kopf und tuschelten untereinander darüber, welche unglückliche Wahl an Gesprächsthemen der Fremde getroffen hatte.

Der Missionar war noch eine Handbreit größer als Uldyssian, der mit seinen etwas mehr als sechs Fuß selbst schon nicht zu den kleinen Männern zählte. Doch der breitschultrige Bauer wog eineinhalb mal so viel wie er, und das Gewicht verteilte sich vollständig auf Muskeln, die er der Arbeit auf dem Feld und dem Umgang mit den Tieren verdankte. Uldyssian war ein bärtiger Mann mit kantigem Kiefer und grobschlächtigen Gesichtszügen, die typisch waren für diese Region westlich des großen Stadtstaates Kehjan, dem Juwel der östlichen Hälfte der Welt. Tiefbraune Augen brannten sich in die blasser gefärbten des hageren und überraschend jungen Priesters der Kathedrale.

„Die Seelen der meisten Mitglieder meiner Familie können vom Propheten längst nicht mehr eingesammelt werden, Bruder! Sie starben vor fast zehn Jahren an der Pest!“

„Ich w-werde für … für sie alle beten …“

Seine Worte machten Uldyssian nur noch zorniger, hatte er doch monatelang unablässig für seine Eltern, seinen älteren Bruder und seine beiden Schwestern gebetet, als sie leiden mussten. Tag und Nacht hatte er oftmals völlig ohne Schlaf zu der Macht gefleht, die über sie wachte – zuerst, damit sie sich erholten, später dann, als es keine Hoffnung mehr gab, damit ihr Tod schnell und schmerzlos käme.

Keines seiner Gebete war erhört worden. Aufgewühlt und hilflos hatte Uldyssian zusehen müssen, wie einer nach dem anderen qualvoll starb. Nur er und sein jüngster Bruder Mendeln hatten überlebt, um alle anderen zu beerdigen.

Schon da waren Missionare unterwegs gewesen, die von den Seelen seiner Familie sprachen und davon, dass ihre jeweilige Konfession die Antwort auf alles hatte. Alle hatten sie Uldyssian zugesichert, er werde Frieden mit dem Verlust seiner Liebsten schließen, solange er dem jeweiligen Glaubenspfad folgte.

Doch Uldyssian, einst ein gottesfürchtiger Mann, hatte jeden Einzelnen von ihnen sehr lautstark bloßgestellt. Ihre Worte klangen hohl und leer, und seine Weigerung erschien ihm nach einer Weile berechtigt, erwies sich doch die Existenz dieser Konfessionen als so flüchtig wie die Jahreszeiten.

Aber nicht alle Glaubensrichtungen verschwanden wieder so schnell, wie sie kamen. Die Kathedrale des Lichts war zwar jüngeren Ursprungs, doch sie wirkte weitaus stärker als alle Vorgänger. Sie und der vor etwas längerer Zeit gegründete Tempel der Triune schienen sich recht schnell zu den beiden vorherrschenden Institutionen zu entwickeln, die es auf die Seelen der Bewohner von Kehjan abgesehen hatten. Für Uldyssian kam der beharrliche Eifer, mit dem sie neue Anhänger zu gewinnen versuchten, einem emsigen Wettkampf gleich, der in einem krassen Gegensatz zu ihren spirituellen Botschaften stand.

Das war ein weiterer Grund, weshalb Uldyssian mit keiner von beiden Seiten etwas zu tun haben wollte.

„Betet für Euch selbst, aber nicht für mich und die Meinen“, knurrte er. Die Augen des Missionars traten hervor, als Uldyssian ihn am Kragen packte und ihn mühelos hochhob, bis die Füße in der Luft baumelten.

Der gedrungene Mann mit dem schütteren Haupthaar hinter der Theke kam in den Schankraum, um einzugreifen. Tibion war ein paar Jahre älter als Uldyssian und konnte es körperlich nicht mit ihm aufnehmen, doch er war ein guter Freund von Diomedes gewesen, und mit seinen Worten verschaffte er sich Gehör bei dem wütenden Bauern. „Uldyssian! Wenn du dich schon nicht beherrschen kannst, dann verschone wenigstens meine Taverne, ja?“

Der Angesprochene zögerte, als die Worte des Wirts seine Wut durchdrangen. Sein Blick wanderte von dem fahlen Gesicht vor ihm zu Tibions rundlicher Miene und wieder zurück. Mit einem missmutigen Ausdruck ließ er den Mann los, der in einer unwürdigen Haltung auf dem Boden zusammensank.

„Uldyssian …“, begann Tibion, doch der Sohn von Diomedes wollte sich nicht noch mehr anhören. Mit zitternden Händen und ausholenden Schritten verließ er die Schenke, wobei seine schweren, abgetragenen Stiefel ein hartes Geräusch auf den ausgetretenen Dielen verursachten.

Draußen angekommen, atmete Uldyssian die kalte, klare Luft ein, die seinen Zorn milderte. Fast sofort bedauerte er, wozu er sich in der Taverne hatte hinreißen lassen. Er bedauerte nicht seine Gründe dafür, aber dass er vor so vielen, die er kannte, ein solches Verhalten an den Tag gelegt hatte – und das nicht zum ersten Mal.

Es änderte nichts daran, dass die bloße Anwesenheit des Akolythen der Kathedrale in Seram ihm einen Stich ins Herz versetzte. Uldyssian war mittlerweile ein Mann, der nur noch das glaubte, was er mit eigenen Augen sah oder was er mit seinen Händen berühren konnte. Er konnte die Veränderungen am Himmel sehen und daran erkennen, wann er sich mit der Feldarbeit beeilen musste und wann ihm noch genug Zeit blieb, um seine Arbeit in einem gemächlicheren Tempo abzuschließen. Das Getreide, das sein Schuften aus dem Boden hervorbrachte, ernährte ihn und die anderen. Dies waren Dinge, auf die er sich verlassen konnte, nicht aber die gemurmelten Gebete der Kleriker und Missionare, die seiner Familie nichts als falsche Hoffnungen gemacht hatten.

Seram war ein Dorf mit ungefähr zweihundert Einwohnern und damit für manche klein, für andere von passabler Größe. Uldyssians Hof lag zwei Meilen nördlich davon. Einmal in der Woche begab er sich hierher, um alle notwendigen Vorräte zu besorgen, wobei er sich immer eine kurze Pause gönnte, um in der Taverne etwas zu essen und zu trinken. Seine Mahlzeit hatte er gegessen, sein Ale war verschüttet worden, und nun galt es für ihn nur noch, seine übrigen Aufgaben zu erledigen, ehe er sich auf den Heimweg machte.

Von der Taverne abgesehen, die zugleich als Herberge diente, gab es nur noch vier andere wichtige Gebäude in Seram – das Versammlungshaus, das Handelshaus, die Quartiere der Dorfwache und die Schmiede. Alle waren von der gleichen einfachen Bauweise wie der Rest der Häuser in Seram. Sie hatten spitze, strohgedeckte Dächer und darunter ein Bauwerk aus Holzbrettern auf einem Unterbau, der aus mehreren Schichten Stein und Lehm bestand. Typisch waren für die meisten Gebiete, die unter dem Einfluss von Kehjan standen, nach oben in einem Spitzbogen auslaufende Fenster, die an jeder Hausseite in einer Dreiergruppe angeordnet waren. Aus einiger Entfernung war es sogar unmöglich, die Gebäude voneinander zu unterscheiden.

Morast blieb an seinen Stiefeln kleben, als Uldyssian weiterging. Seram war zu provinziell, als dass die Straßen gepflastert oder zumindest mit Steinen bedeckt gewesen wären. Es gab einen schmalen, trockenen Weg auf der gegenüberliegenden Seite jener Straße, auf der sich Uldyssian gerade voranbewegte. Doch er verzichtete darauf, dorthin zu wechseln. Als Bauer war er es gewöhnt, eins zu sein mit dem Boden.

Am östlichen Rand des Dorfes – der damit Kehjan am nächsten war – befand sich das Handelshaus. Neben der Taverne war es der Ort in Seram, an dem es am geschäftigsten zuging. Hierher kamen alle Einwohner mit ihren Waren, um sie gegen etwas anderes einzutauschen oder sie an durchreisende Händler zu verkaufen. Wenn neue Waren vorrätig waren, wurde ein blaues Banner an der Tür aufgehängt. Als Uldyssian näherkam, sah er, dass Cyrus’ schwarzhaarige Tochter Serenthia genau damit gerade beschäftigt war.

Cyrus und seine Familie betrieben das Handelshaus schon seit vier Generationen, und sie gehörten zu den wichtigsten Familien im Dorf, ohne dass sie sich edler kleideten als sonst jemand. Der Kaufmann sah nicht auf seine Kunden herab, die zum größten Teil zugleich seine Nachbarn waren. Serenthia beispielsweise trug ein schlichtes braunes Kleid, das am Mieder dezent geschnitten war und dessen Saum über den Knöcheln verlief. So wie die meisten im Dorf trug sie zweckmäßige Stiefel, die sich zum Reiten ebenso eigneten wie dazu, die morastige, von Furchen durchzogene Hauptstraße entlangzugehen.

„Gibt es etwas Interessantes?“, rief er Serenthia zu, um auf andere Gedanken zu kommen.

Cyrus’ Tochter drehte sich um, als sie den Klang seiner Stimme vernahm. Ihr volles, langes Haar flatterte im Wind. Bei ihren leuchtend blauen Augen, der elfenbeinfarbenen Haut und den von Natur aus kräftig roten Lippen war sich Uldyssian sicher, dass sie nichts weiter benötigte als ein entsprechendes Kleid, um es mit den schönsten blaublütigen Frauen von Kehjan aufnehmen zu können. Das schlichte Kleid verbarg nicht die Kurven ihres Körpers, und es lenkte auch nicht ab von der anmutigen Art, mit der sie sich in gleich welcher Umgebung bewegte.

„Uldyssian! Bist du schon den ganzen Tag hier?“

Etwas an ihrem Tonfall ließ den Bauern das Gesicht verziehen. Serenthia war mehr als ein Jahrzehnt jünger als er, und er hatte mit ansehen können, wie sie vom Kind zur Frau wurde. Für ihn war sie fast wie eine der Schwestern, die er verloren hatte. Doch umgekehrt war Uldyssian für sie eindeutig sehr viel mehr als nur eine Art Bruder. Sie hatte die Avancen der jüngeren und wohlhabenderen Bauern abgewiesen, ganz zu schweigen vom Kokettieren durchreisender Händler. Der einzige andere Mann, an dem sie Interesse zeigte, war Achilios, Uldyssians guter Freund und der beste Jäger von ganz Seram. Es war allerdings schwierig zu sagen, ob das vielleicht nur an dessen Verbindung zu Uldyssian lag.

„Ich bin gleich nach der ersten Stunde des Tages eingetroffen“, erwiderte er. Als er näherkam, konnte er hinter Cyrus’ Gebäude mindestens drei Wagen erkennen. „Eine recht große Karawane für Seram. Was ist los?“

Sie war damit fertig, das Banner zu hissen, und band das Seil fest. Mit einem Blick über die Schulter, hin zu den Wagen, erwiderte sie: „Sie haben sich verirrt. Sie wollten eigentlich durch Tulisam reisen.“

Tulisam war die nächstgelegene Siedlung, eine Stadt, die mindestens fünfmal so groß war wie Seram. Sie lag auch mehr auf dem Weg von Kehjan zur See, wo sich die großen Häfen befanden.

„Der Lenker muss ein Neuling sein“, brummte Uldyssian.

„Nun, welcher Grund auch dazu geführt haben mag, auf jeden Fall haben sie sich entschlossen, einiges zu tauschen. Vater versucht, seine Begeisterung im Zaum zu halten. Sie haben einige sehr schöne Dinge, Uldyssian.“

Für den Sohn von Diomedes waren schöne Dinge in erster Linie entweder gute, robuste Werkzeuge oder auch ein neugeborenes Kalb, das gesund zur Welt gekommen war.

Er wollte etwas sagen, da bemerkte er eine Frau bei den Wagen. Sie war so gekleidet wie eine Edelfrau aus einem jener Häuser, die sich darum bemühten, die Lücke in der Führung zu schließen, die von den jüngsten Kämpfen der herrschenden Magierclans gerissen worden war. Ihr volles goldblondes Haar hatte sie hinter dem Kopf mit einem silbernen Band zusammengebunden, sodass der Blick auf ihr erhabenes, elfenbeinfarbenes Gesicht durch nichts gestört wurde. Mit funkelnden grünen Augen betrachtete sie ihre Umgebung. Die schmalen, vollkommenen Lippen öffneten sich einen Spaltbreit, als die Frau die Landschaft östlich von Seram in Augenschein nahm. Über den Schultern ihres wallenden smaragdfarbenen Kleides trug sie einen Pelz, das Mieder war eng geschnürt, und auch wenn ihre Kleidung das Sinnbild der herrschenden Kasten war, ließ sie keinen Zweifel daran, dass ihre Trägerin eine überaus weibliche Figur hatte.

Gerade als dieses faszinierende Geschöpf in Uldyssians Richtung schauen wollte, fasste Serenthia ihn völlig unerwartet am Arm. „Du solltest mit nach drinnen kommen und es dir selbst ansehen, Uldyssian.“

Während sie ihn zu der hölzernen Doppeltür zog, sah der Bauer sich noch einmal kurz um, konnte die Edelfrau aber nirgends entdecken. Hätte er nicht von seiner Unfähigkeit gewusst, seine Fantasie spielen zu lassen, wäre Uldyssian fast auf den Gedanken gekommen, die Frau sei nur ein Produkt seiner Einbildung gewesen.

Serenthia zerrte ihn förmlich nach drinnen und zog die Tür hinter ihnen mit einem auffallend lauten Knall zu. Drinnen war ihr Vater ins Gespräch mit einem Kaufmann vertieft und blickte nur kurz auf, als er sie hereinkommen hörte. Die beiden älteren Männer schienen um etwas zu feilschen, das Uldyssian für einen recht edlen purpurfarbenen Stoff hielt.

„Ah! Der gute Uldyssian!“ Der Kaufmann setzte vor jedermanns Namen ein „gut“, ausgenommen bei seinen eigenen Angehörigen. Es war eine Angewohnheit, die Uldyssian stets zum Lächeln brachte. Cyrus selbst schien es gar nicht zu bemerken. „Wie geht es Euch und Eurem Bruder?“

„Wir … wir sind wohlauf, Meister Cyrus.“

„Gut, gut.“ Mit diesen Worten widmete sich der Ladenbesitzer wieder seinen Geschäften. Mit dem Ring aus silbergrauem Haar um seinen ansonsten kahlen Schädel und seinen klugen Augen wirkte Cyrus auf ihn mehr wie ein Kleriker – wie jene, die sich in entsprechende Gewänder hüllten. Außerdem hatte Uldyssian aus dem Mund dieses Mannes schon sehr viel weisere Worte gehört. Er empfand großen Respekt vor Cyrus, was zum Teil auch damit zusammenhing, dass der Kaufmann – der gebildeter war als die meisten anderen Einwohner von Seram – Mendeln unter seine Fittiche genommen hatte.

Beim Gedanken an seinen Bruder, der mehr Zeit in den vier Wänden hier als auf dem Hof verbrachte, sah Uldyssian sich um. Auch wenn Mendeln ähnlich wie er selbst gekleidet sein würde – Stoffhemd, Kilt und Stiefel – und die Brüder einander hinsichtlich der Augen und der breiten Nase ähnlich sahen, genügte ein Blick auf ihn, um bei jedem Betrachter die Frage aufzuwerfen, ob er tatsächlich ein Bauer war.

Obwohl er auf dem Hof aushalf, war das Bestellen der Felder eindeutig nicht Mendelns Berufung. Er interessierte sich schon immer mehr dafür, Dinge zu studieren – ob es Käfer waren, die sich in den Boden eingruben, oder Worte auf irgendeinem jener Pergamente, die Cyrus ihm auslieh.

Uldyssian konnte ebenfalls lesen und schreiben, und darauf war er auch stolz. Doch er sah nur die praktische Seite dieser Fertigkeiten. Es gab Gelegenheiten, bei denen ein Vertrag geschlossen werden musste, und da war es notwendig, Dinge niederzuschreiben und Gewissheit zu haben, dass sie auch das aussagten, was alle Beteiligten meinten. Das verstand der ältere Bruder durchaus. Doch lesen um des Lesens willen oder um etwas zu erfahren, was für die täglichen Arbeiten nicht von Bedeutung war … einen solchen Wunsch konnte Uldyssian nicht nachvollziehen.

Seinen Bruder, der diesmal mit ihm ins Dorf geritten war, konnte er nirgends entdecken, doch dafür wurde er auf etwas anderes aufmerksam. Es war ein Anblick, der auf schmerzhafte Weise wieder die Erinnerung an den Vorfall im Boar’s Head wach werden ließ.

Im ersten Moment glaubte er, die Gestalt sei eine Gefährtin des Missionars, der an ihn herangetreten war. Doch als sich die junge Frau etwas mehr in seine Richtung drehte, erkannte der Bauer, dass sie völlig andere Gewänder trug. Sie waren von einem tiefen Azurblau, auf der Brust befand sich ein stilisierter goldener Widder mit großen gewundenen Hörnern, und darunter sah Uldyssian ein schillerndes Dreieck, dessen Spitze genau bis zu den Hufen des Tieres reichte. Ihr Haar trug die Frau schulterlang. Ihr Gesicht war rund, jugendlich und äußerst attraktiv. Doch ihr fehlte es an etwas – und das war der Grund, weshalb Uldyssian für sie keinerlei Verlangen verspürte: Es war, als sei sie lediglich eine leere Hülle, kein lebendiger Mensch.

Solchen wie ihr war er früher schon begegnet. Sie war eine absolute Anhängerin ihres Glaubens. Er kannte auch diese Gewänder, und die Tatsache, dass sie allein dort stand, veranlasste ihn dazu, sich voller Angst umzusehen. Sie reisten niemals allein, sondern immer zu dritt, je einer für jeden ihrer Orden …

Serenthia wollte ihm irgendeine Spielerei zeigen, doch Uldyssian hörte sie nur reden, ohne ein Wort wahrzunehmen. Er überlegte, ob er den Raum verlassen sollte.

Dann gesellte sich eine zweite Gestalt zu der Frau, ein Mann mittleren Alters von kraftvoller Statur und mit aristokratischen Gesichtszügen, der mit seinem Kinngrübchen und der ausgeprägten Stirn auf das schwache Geschlecht die gleiche Wirkung haben musste, wie das Mädchen auf Männer. Er trug ein goldenes Gewand mit engem Kragen. Auf dem Stoff war ebenfalls das Dreieck zu sehen, diesmal jedoch über einem grünen Blatt.

Der Dritte aus der Gruppe war noch immer nirgends zu sehen, doch Uldyssian wusste, er konnte nicht weit weg sein. Die Diener des Tempels der Triune blieben nie lange voneinander getrennt. Während die Missionare der Kathedrale des Lichts oftmals allein wirkten, handelten die Akolythen der Triune im Einklang miteinander. Sie predigten den Pfad der Drei, der lenkenden Geister Bala, Dialon und Mefis, die angeblich wie liebevolle Eltern oder freundliche Lehrer über einen Sterblichen wachten. Dialon war der Geist der Entschlossenheit, was der starrsinnige Widder versinnbildlichte. Bala stand für die Schöpfung, dargestellt als Blatt. Mefis, dessen Diener momentan fehlte, verkörperte die Liebe. Die Akolythen dieses Ordens trugen einen roten Kreis auf der Brust, das übliche kehjanische Symbol für das Herz.

Da er die Predigten aller drei Orden längst kannte und er das Debakel aus der Taverne nicht wiederholen wollte, versuchte Uldyssian sich in den Schatten zurückzuziehen. Unterdessen war Serenthia endlich aufgefallen, dass er ihr längst nicht mehr zuhörte. Sie stemmte die Hände in die Hüften und warf ihm einen Blick zu, der ihn, als sie noch ein Kind gewesen war, immer hatte einlenken lassen. „Uldyssian! Ich dachte, du wolltest dir ansehen, was …“

„Serry“, unterbrach er sie und benutzte ihren Kosenamen. „Ich muss mich auf den Weg machen. Hat mir dein Bruder zusammengestellt, um was ich ihn bat?“

Während sie nachdachte, schürzte sie die Lippen. Uldyssian betrachtete aus dem Augenwinkel die beiden Missionare, die in eine Unterhaltung vertieft waren. Beide machten einen verwirrten Eindruck, so als sei etwas entgegen ihren Vorstellungen verlaufen.

„Thiel sagte mir nichts, sonst hätte ich davon gewusst, dass du in Seram bist. Ich werde ihn suchen und fragen.“

„Ich komme mit.“

Alles war besser, als den Jagdhunden der Triune ausgeliefert zu sein. Der Tempel war einige Jahre vor der Kathedrale gegründet worden, doch inzwischen schien der Einfluss von beiden gleich groß zu sein. Es hieß, der Hohe Magistrat von Kehjan sei mittlerweile ein Bekehrter des Tempels, während der Lord-General der kehjanischen Wache angeblich Anhänger der Kathedrale war. Der Zwist zwischen den Magierclans – der inzwischen oftmals an kriegerische Auseinandersetzungen grenzte – hatte viele dazu veranlasst, bei einer der beiden Religionen Zuflucht zu suchen.

Ehe Serenthia ihn in den hinteren Teil des Gebäudes führen konnte, wurde sie von Cyrus zu sich gerufen. Mit einem entschuldigenden Blick in Uldyssians Richtung ging sie hinüber zu ihrem Vater.

„Warte hier, ich bin gleich zurück.“

„Ich werde allein nach Thiel suchen“, schlug er vor.

Serenthia musste bemerkt haben, wie er flüchtig zu den Missionaren schaute. Ihre Miene nahm einen ermahnenden Ausdruck an. „Uldyssian, nicht schon wieder.“

„Serry …“

„Uldyssian, diese Leute sind Gesandte eines heiligen Ordens! Sie wollen dir nichts Böses! Wenn du dich doch wenigstens dazu durchringen könntest, sie anzuhören! Ich sage ja nicht, dass du dich gleich einem von ihnen anschließen sollst, aber die Botschaften, die beide predigen, sind es wert, gehört zu werden.“

Sie hatte ihn schon einmal so ermahnt, gleich nachdem er in der Taverne den Missionar der Triune zurechtgewiesen und nachdem er lang und breit darüber gesprochen hatte, dass das gewöhnliche Volk keinen von ihrer Art brauchte. Boten die Akolythen sich etwa an, die Schafe zu scheren oder die Ernte einzubringen? Halfen sie, die von Schlamm und Morast verschmutzte Kleidung zu reinigen, oder gingen sie zur Hand, wenn ein Zaun repariert werden musste? Nein. Uldyssian hatte bei dieser und bei späteren Gelegenheiten klar und deutlich gesagt, dass sie alle nur eines konnten: den Menschen eintrichtern, ihre Konfession sei besser als jede andere. Und das, obwohl diese Menschen kaum etwas mit den Vorstellungen von Engeln und Dämonen anfangen konnten, geschweige denn an sie glaubten.

„Sie können noch so schöne Worte wählen, Serry, aber ich sehe nur, wie sie sich gegenseitig zu übertrumpfen versuchen und wer mehr Narren für sich gewinnen kann, als würde das einen von ihnen zum Sieger machen.“

„Serenthia“, rief Cyrus erneut. „Komm zu mir, Mädchen!“

„Vater braucht mich“, erklärte sie mit bedauerndem Blick. „Ich bin gleich zurück. Bitte, Uldyssian, reiß dich zusammen.“

Der Bauer sah ihr nach, wie sie davoneilte, dann versuchte er sich auf einige der Objekte zu konzentrieren, die im Handelshaus zum Verkauf oder Tausch standen. Es gab Werkzeuge aller Art, die auf dem Hof von Nutzen sein konnten, unter anderem Hacken, Schaufeln und eine Auswahl an Hämmern.

Uldyssian strich mit dem Finger über die Klinge einer neuen Eisensichel. Handwerklich stellte sie das Beste dar, was man in einem Dorf wie Seram finden konnte. Allerdings hatte er davon gehört, dass auf einigen Höfen nahe Kehjan manche Lords ihre Arbeiter bereits mit Sicheln arbeiten ließen, deren Kanten aus Stahl waren. Eine solche Entwicklung war für Uldyssian weitaus bedeutender als irgendwelche Worte, die sich dem Geist und der Seele widmeten.

Plötzlich ging jemand zügig an ihm vorbei in den hinteren Teil des Gebäudes. Uldyssian sah goldblondes, hochgebundenes Haar und den Anflug eines Lächelns, bei dem der Sohn des Diomedes hätte schwören können, es habe ihm gegolten.

Ohne sich dessen im ersten Moment bewusst zu sein, folgte Uldyssian der Adelsfrau, die durch die Hintertür verschwand, als sei sie hier zuhause.

Er durchschritt die Tür nur einen Augenblick später, und zunächst konnte er von der Frau keine Spur entdecken. Was er stattdessen sah, war sein Wagen, der tatsächlich beladen war. Thiel konnte er nirgends ausmachen, doch das war nichts Ungewöhnliches. Wahrscheinlich half Serenthias Bruder bereits einem anderen bei dessen Arbeit.

Da er die Ware bereits bezahlt hatte, begab Uldyssian sich zu seinem Wagen. Als er näher kam, sah er neben seinem Pferd etwas Grünes aufblitzen.

Es war sie, die Edelfrau. Sie stand auf der anderen Seite neben dem Tier, sprach leise mit ihm und streichelte mit ihrer schlanken Hand das Maul. Uldyssians Pferd schien von ihr wie gebannt zu sein und stand völlig reglos da. Der alte Gaul war ein Sturkopf, und nur, wer ihn gut kannte, konnte sich ihm nähern, ohne Gefahr zu laufen, gebissen zu werden. Dass diese Frau genau das schaffte, war für den Bauern eine bemerkenswerte Tatsache.

Sie bemerkte ihn und lächelte ihn an, was ihr ganzes Gesicht strahlen und ihre Augen aufleuchten ließ.

„Verzeiht mir … ist das Euer Pferd?“

„Das ist es, Mylady … und Ihr habt Glück, noch immer beide Hände zu besitzen. Es beißt gern zu.“

Wieder strich sie über das Maul, und das Tier zeigte nach wie vor keine Regung. „Oh, mich würde er nicht beißen.“ Sie beugte sich vor, bis ihr Gesicht auf gleicher Höhe mit dem Maul war. „Stimmt’s? Das würdest du nicht, oder?“

Uldyssian machte unwillkürlich einen Satz nach vorne, da er fürchtete, sie könnte sich irren. Aber auch jetzt geschah nichts.

„Ich besaß einmal ein Pferd, das diesem hier sehr ähnlich war“, fuhr sie fort. „Es fehlt mir sehr.“

Auf einmal wurde ihm bewusst, wo sie beide sich befanden, und er sagte: „Herrin, Ihr solltet Euch nicht hier aufhalten, sondern bei der Karawane bleiben.“ Manchmal waren Reisende mit Händlern unterwegs, weil sie so den Schutz der Wachen des Händlers genossen. Uldyssian konnte nur vermuten, dass dies auch auf diese Frau zutraf, wenngleich es so schien, als sei sie ohne Eskorte unterwegs. Selbst im Schutz einer Karawane war eine junge Frau, die allein reiste, Gefahren ausgesetzt. „Ihr wollt doch nicht hier zurückgelassen werden.“

„Aber ich reise nicht mit der Karawane“, erwiderte die Edelfrau. „Ich reise überhaupt nirgendwohin.“

Er wollte nicht glauben, dass er richtig gehört hatte. „Mylady, Ihr beliebt zu scherzen! An einem Ort wie Seram gibt es nichts für Euch …“

„Es gibt auch sonst nirgends etwas für mich. Warum also nicht Seram?“ Sie verzog den Mund zu einem zaghaften Lächeln. „Und Ihr müsst mich auch nicht ‚Mylady‘ oder ‚Herrin‘ nennen, sagt Lylia zu mir …“

Uldyssian wollte etwas darauf erwidern, doch in diesem Augenblick hörte er, wie hinter ihm die Tür aufging und Serenthia ihm zurief: „Da bist du ja! Hast du Thiel gefunden?“

Er schaute über die Schulter. „Nein, aber es ist alles hier, Serry.“

Plötzlich schnaubte sein Pferd und wollte vor ihm zurückweichen. Uldyssian bekam das Zaumzeug zu fassen und gab sich alle Mühe, das widerborstige Tier zu bändigen. Die Augen waren weit aufgerissen, die Nüstern aufgebläht, und er bekam den Eindruck, dass sein Pferd erschreckt oder verängstigt war. Das ergab keinen Sinn, denn sein Gaul konnte Serenthia besser leiden als ihn. Und die Edelfrau …

Sie war nirgends zu sehen! Uldyssian suchte verstohlen die Umgebung ab, während er sich fragte, wie sie spurlos hatte verschwinden können. Er vermochte ziemlich weit zu schauen, doch überall entdeckte er nur weitere Fahrzeuge. Wenn sie nicht auf einen der abgedeckten Wagen geklettert war, konnte sich der Bauer ihren Verbleib nicht erklären.

Serenthia kam zu ihm, da sein Verhalten sie ein wenig neugierig machte. „Wonach suchst du? Fehlt doch noch irgendetwas?“

Er riss sich zusammen, um zu antworten: „Nein, nein … wie gesagt, es ist alles da.“

Eine vertraute – und unerwünschte – Gestalt trat durch die Tür. Der Missionar sah sich um, als suche er etwas oder jemanden.

„Ja, Bruder Atilus?“, fragte Serenthia.

„Ich suche unseren Bruder Caligio. Ist er nicht hier?“

„Nein, Bruder, hier ist niemand außer uns beiden.“

Bruder Atilus musterte Uldyssian nicht mit dem üblichen religiösen Eifer, den der Bauer nur zu gut von anderen seiner Art kannte. Stattdessen war der Blick des Missionars geprägt von … Argwohn?

Er deutete gegenüber Serenthia eine Verbeugung an, dann zog er sich zurück. Sie wandte sich wieder Uldyssian zu. „Musst du schon so früh aufbrechen? Ich weiß, du fühlst dich in der Gegenwart von Bruder Atilus und den anderen nicht wohl, aber … könntest du nicht meinetwegen noch eine Weile bleiben?“

Aus unerklärlichen Gründen verspürte Uldyssian Unbehagen. „Nein … nein, ich muss zurück. Aber wo wir gerade davon sprachen, dass jemand gesucht wird – hast du Mendeln gesehen? Ich war davon ausgegangen, ihn bei deinem Vater zu finden.“

„Oh, das hätte ich dir sagen müssen! Achilios war vor Kurzem hier, und er wollte Mendeln etwas zeigen. Die beiden haben sich dann auf den Weg zum westlichen Wald gemacht.“

Uldyssian brummte missbilligend. Mendeln hatte ihm versprochen, rechtzeitig fertig zu sein, um mit ihm nach Hause zu reiten. Normalerweise hielt sein Bruder Wort, aber Achilios musste auf etwas Ungewöhnliches gestoßen sein. Mendelns größte Schwäche war seine unstillbare Neugier, was der Jäger eigentlich hätte wissen und nicht noch anstacheln sollen. Wenn der jüngere Sohn des Diomedes sich erst einmal mit einer Sache beschäftigte, verlor er jegliches Zeitgefühl.

Auch wenn Uldyssian nicht ohne seinen einzigen noch lebenden Angehörigen aufbrechen wollte, stand ihm nicht der Sinn danach, sich in der Nähe der Anhänger der Triune aufzuhalten. „Ich kann nicht bleiben. Ich werde mit dem Wagen Richtung Wald fahren und hoffen, den beiden dort zu begegnen. Sollte Mendeln aus irgendeinem Grund zurückkehren, ohne dass wir uns begegnet sind …“

„Werde ich ihm sagen, wo er dich finden kann“, versprach Serenthia, die aus ihrer Enttäuschung keinen Hehl machte.

Wieder fühlte sich der Bauer unbehaglich, nun aber aus einem nachvollziehbareren Grund. Er drückte sie kurz – und lediglich freundlich – an sich, dann stieg er auf seinen Wagen. Cyrus’ Tochter trat einen Schritt zurück, als er den alten Gaul antrieb, damit der sich in Bewegung setzte.

Er sah zu ihr zurück, als sich der Wagen voranbewegte, und sein eindringlicher Gesichtsausdruck sorgte dafür, dass sich ihre Miene ein wenig aufhellte.

Uldyssian nahm von ihrer Reaktion gar keine Notiz, denn seine Gedanken waren längst nicht mehr bei der schwarzhaarigen Tochter des Kaufmanns. Nein, das Gesicht, das sich in sein Gedächtnis eingebrannt hatte, gehörte einer Frau, deren Haar goldblond war.

Einer Frau, die einer Kaste angehörte, die weit – sehr weit – über der eines gewöhnlichen Bauern stand.