Die besten
Geschichten
Umschlaggestaltung: Thomas Hofer, Reproteam-Druck GmbH., Graz
Titelbild: Thomas Kranebitl
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ISBN 978-3-7020-1328-8
eISBN 978-3-7020-1902-0
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© Copyright by Leopold Stocker Verlag, Graz 2011
Printed in Austria
Textverarbeitung: Klaudia Aschbacher, A-8111 Judendorf-Straßengel
Druck: Druckerei Theiss GmbH, A-9431 St. Stefan
Vorwort
Rita d’Aron
„Ibex“ – unter dem türkischen Halbmond
Wolfgang Freiherr v. Beck
Am Kobel – Der Aurach-Hirsch
W. Brenner
Ein schöner Damenschmuck
W. Brenner
Zwischen Nacht und Tag
M. Burger
Der „Fremde“ vom Finsterwald
A. Hönig
Abgestürzt und dennoch
H. Horneck
Nur ein Schneehase
H. Horneck
Die Jäger
W. Jansen
Der Große Hahn
J. Karner
Der rote Fleck
E. Müller
Im Schattenschwand
J. Puvak
Der Blutbär
R. Semper
Der Hängengebliebene
R. Schwarz
„Vielleicht reißt’s auf!“
R. Schwarz
Murmeljagd am Tauern
P. Zechner
Als die Wipfel brachen
P. Zechner
Adlerjagd
Kronprinz Erzherzog Rudolf
Fünfzehn Tage auf der Donau
Ludwig Ganghofer
Auerhahnfalz
Ludwig Ganghofer
Der Graben-Teufel
Literaturverzeichnis
Dass das Thema Jagd viele Facetten aufweist, darf mittlerweile als bekannt vorausgesetzt werden. Auf Jäger übt insbesondere die Bergjagd eine ganz besondere Anziehung aus; vielen gilt sie sogar als „Krönung des Weidwerks“. Da nimmt es nicht weiter wunder, dass Jäger gerade hier viele spannende Erlebnisse zu berichten wissen, und zwar durch alle Zeiten hindurch.
Daraus entspann sich die Idee, doch einmal die packendsten und faszinierendsten Bergjagdgeschichten aus Jagdbüchern, die nicht mehr greifbar sind, in einem Sammelband zusammenzuführen. Um das Buch abzurunden, wurde überdies auf drei Erzählungen von zwei Autoren zurückgegriffen, die in ihrer Zeit das waren, was wir heute als „Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens“ bezeichnen, nämlich auf Kronprinz Rudolph und Ludwig Ganghofer. Anhand der hier gesammelten Berichte können auch jüngere Jägergenerationen eine Anschauung von den Jagderzählungen vergangener Tage bekommen. Die Orthografie und Schreibweisen der Originalfassungen wurden beibehalten.
Aus der Vielzahl von Büchern die fesselndsten Bergjagdgeschichten herauszufiltern und nach Wildart zu ordnen, um aus diesen wiederum die besten für ein Buch auszuwählen, ist naturgemäß eine komplexe Aufgabe. Wir hoffen, dieser Aufgabe gerecht geworden zu sein. Geordnet wurden die Erzählungen im Übrigen alphabetisch nach Autor – und nicht nach Wildart oder Jahreszeit. Auch wenn die Geschmäcker bekanntlich verschieden sind, hoffen wir dessen ungeachtet mit dieser subjektiven Auswahl auch Ihren Geschmack getroffen zu haben. Viel Spaß beim Lesen!
Walter Gaigg (Hg.)
Steyrling, Frühjahr 2011
Nach einem scheußlich verregneten und kalten Sommer 1984 suchen wir, da wir uns ja schon in einem etwas reiferen Alter befinden, nach etwas Sonne und Wärme. Selbstverständlich kann dieser Hunger nach Sonne und Wärme von meinem Mann, dem passioniertesten Jäger, den ich kenne, nur in Verbindung mit einer Jagd gestillt werden. Kein einziger Steinbock befindet sich bis dato unter unseren Trophäen, daher liegt es doch klar auf der Hand, daß wir nach Kleinasien müssen. Sollen sich doch im Taurus-Gebirge Prachtexemplare des „Ibex“ tummeln. Dazu die Nähe des östlichen warmen Mittelmeeres, antike hellenistische Anlagen, wesentlich besser erhalten als in Griechenland – Herz, was willst du mehr!
Der Flug nach Antalya ist nicht anstrengend, nach etwa drei Stunden werden wir vom Jagdleiter empfangen, der gleich den Aufbruch ins Revier für vier Uhr festlegt. Ich wundere mich ja schon seit Jahrzehnten, warum die Jünger des edlen Weidwerks immer in der Nacht losziehen, kommt man doch nach meinen Erfahrungen erst gegen Mittag oder oft gar erst in der Abend dämmerung zum Schuß. Es liegt wohl daran, daß die Jäger vor lauter Aufregung der zu erwartenden Jagderlebnisse ohnehin nicht schlafen können.
Wie dem auch sei … nach einer Stunde Autofahrt in schwärzester Nacht, durch Nadelwälder bergauf, hört die Straße auf, dafür stehen im Scheinwerferlicht einige Türken da, teils in Uniform, teils in echtem Räuberzivil. Nun erst wird es klar, daß diese Türken ausschließlich türkisch sprechen; wir stehen ziemlich betropetzt herum, weil wir uns überhaupt nicht verständlich machen können; nur eines ist unmißverständlich klar: daß wir uns auf der Jagd nach einem Steinbock befinden. Einer dieser knorrigen Männer hat eine Taschenlampe, hinter der wir ziemlich flotten Schrittes bergauf steigen. Lang hält sich dieses flotte Tempo allerdings nicht, da der Weg doch sehr steil und steinig ist. In der ersten Morgendämmerung dämmert es auch mir, daß wir uns nicht auf einem Weg, sondern höchstens auf einem Wildwechsel, der bei Steinböcken sehr sprunghaft ist, befinden.
Man muß sich zwischen Dornbüschen, Sträuchern, von Fels zu Fels springend und kletternd, fortbewegen. Die Felsen sind durch Witterungseinflüsse scharfkantig korrosiert und vermitteln den Eindruck einer Mondlandschaft. Das Schuhwerk ist hier von vordringlicher Bedeutung. Auf jeden Fall ist eine starkprofilierte Gummisohle nötig. Die Felsen sind steil abfallend, das Geröll rutscht leicht weg, jetzt weiß ich ganz genau, warum diese Böcke Steinböcke heißen. Es wird heller, und kurze Zeit später glühen die bizarren Felsformationen auf. Der Anblick ist unbeschreiblich schön. Nadelgehölze, die unseren Parapluiebäumen in Mödling gleichen, steile Schluchten, durch die man die dahinterliegenden Gipfel sieht.
Wir klettern immer höher. An den gegenüberliegenden Hängen sehen wir kleine Rudel von Steinböcken, die immer wieder im Buschwerk verschwinden, dann wieder auf den Felsen stehen und mit ihren Vorderläufen grazil Äste niederhalten, um zu den frischeren Blättern zu gelangen. Sie bewegen sich sehr langsam, manche stehen minutenlang wie Statuen und äugen talwärts, was bedeutet, daß man besser von oben zum Schuß käme. Ich denke schon an eine leichte Jagd, weil sie sich so ruhig verhalten, bis ich daraufkomme, daß die Distanz etwa fünfhundert Meter beträgt. Da können sie leicht so ruhig stehen! So weit drüber zu halten, ist selbst bei einem sehr guten Schützen ein unsicherer Schuß! Außerdem haben wir bisher nur Böcke mit etwa einem halben Meter Hornlänge ausfindig gemacht, das ist zu wenig, da das Horn erst ab 50 Zentimeter die typisch gebogene Form zeigt.
Es wird merklich heißer, unser Gang wird schleppender, und mein Mann betont immer wieder, daß wir eigentlich über eine unheimlich gute Kondition verfügen – allerdings mit etwas wackeliger Stimme. Wir sind nun sechs Stunden unterwegs, eine Übung, die wir auf Spazierwegen spielend absolvieren, aber hier in freier Wildbahn ist es ganz anders.
Unter einer wunderschönen Föhre lassen wir uns nieder. Die Türken im Türkensitz – wir wissen nicht, wohin mit unseren Beinen. Nicht nur, daß ich die Sitzgewohnheiten der Türken bewundere, auch ihre Eßgewohnheiten erstaunen mich.
Einer zieht etliche, in eine Zeitung gewickelte sorgfältig gefaltene dünne Pergamentbögen aus der Tasche, reißt ein Viertel DIN A4-Format ab und wickelt weißliche Körner hinein. Ich denke mir: wenn der das jetzt anzündet und raucht, bin ich in eine Haschisch-Gesellschaft geraten. Aber er schiebt es in den Mund und kaut. Dann streut er Salz auf den nächstliegenden Stein, schält sorgfältig eine Zwiebel, viertelt einen Paradeiser und lädt mich mit einer Handbewegung freundlich ein, zuzugreifen. Schon aus reiner Höflichkeit tue ich es. Oh, welch ein Genuß!! Der Pergamentbogen war dünn gewalztes Weißbrot, die weißen Körner waren trockener Ziegenkäse, die Zwiebel war mild, der Paradeiser von köstlichem Geschmack! Dazu in Plastikflaschen mitgebrachtes Quellwasser vom Taurus. Diese Kombination war einfach köstlich. Wie überhaupt die türkische Küche das hält, was die griechische verspricht. Nun sehe ich unsere türkischen Gastarbeiter aber in ganz anderem Licht.
Nach einer Stunde Rast wird weitergepirscht. Wir sind nun oben und ziehen den Kamm entlang. Immer wieder können wir Steinböcke sehen, doch viel zu weit und zu jung. Der Abstieg ist für mich sehr beschwerlich, oft fürchte ich abzustürzen, und meine Knie zittern. Aber meine ersten Worte in perfektem Türkisch kann ich schon: Oto nerde? (Wo ist das Auto?) Su nerde? (Wo ist Wasser?)
Vor Einbruch der Dunkelheit sind wir endlich unten angelangt. Das Auto wartet hier und bringt uns zu einem gepflegten Dinner ins Hotel. Diese Zwölf-Stunden- Pirsch war im großen und ganzen sehr abenteuerlich und imposant – wenn man es durchhält.
Am nächsten Tag wird um drei Uhr früh geweckt. Ich aber verspüre keinerlei Lust, wieder zwölf Stunden als Steinbock-Imitation auf den Felsen herumzuhüpfen. Ich bleibe also provokant liegen und springe lieber, während ich meinen Mann im Gebirge weiß, von den Küstenfelsen ins glasklare und warme Meer. Das ist vielleicht ein Genuß!
Um einundzwanzig Uhr, in völliger Finsternis, kommen die Jäger zurück. Ein Kollege aus Oberösterreich mit einer Trophäe von 61 cm Länge, ein Kollege aus Frankreich mit einer solchen von 150 – combien? – Mais oui, cent cinquante – mais millimetres! (Macht nichts, er hat dafür drei Flaschen Sekt spendiert.)
Mein Mann konnte nichts erlegen, dafür aber kann er kaum mehr gehen. Auch in den nächsten Tagen haben wir kein Weidmannsheil. So kommen wir als „Schneider“ nach Hause.
Die „feinen“ Jäger sollen jetzt bitte nicht weiterlesen!! Kennen Sie übrigens die Steigerung von imposant?
1: im Po Sand …
2: im Hintern Steine …
3: im A … Geröll.
Durch die Jagd im Taurus am eigenen Leibe erfahren.
RITA d’ARON (geb. 1925) war schon als Kind humorvoll, optimistisch, kameradschaftlich – Eigenschaften, die ihr dann später geholfen haben, die schweren Kriegszeiten zu überstehen, ohne ihre positive Lebenseinstellung zu verlieren. Bald nach ihrer Graduierung zum Diplomkaufmann ehelichte sie einen jungen Staatsbeamten. Ihre hausfraulichen Pflichten konnten sie nicht davon abhalten, ihr Studium mit einem Dr. rer. oec. abzuschließen.
Doch dem nicht genug – die junge Doktorin wollte auch noch ein Handwerk erlernen. Da sie aus einer alten Wiener Fleischhauerfamilie stammt, war es ihr Bestreben, Fleischermeisterin zu werden. Selbstredend wurde das Vorhaben auch konsequent durchgeführt.
Trotz aller beruflichen, hausfraulichen und sportlichen Tätigkeiten begleitete sie ihren von der Jagdleidenschaft „geplagten“ Ehemann auf seinen Jagdreisen in alle Welt.
Schon öfters hörte ich, meistens von gleichaltrigen Jagdfreunden und nur selten oder nie von jungen Jägern, die herbe Kritik, in meinen Jagdbüchern vermisse man zuweilen echtes, spannendes Geschehen. Jagdgeschichten seien doch schließlich dazu da, jagdliche Erfolge oder auch Mißerfolge möglichst anschaulich zu schildern, und das manifestiere sich letzten Endes halt im Knall der Büchse und im Doppelknall der Flinte. Bei mir werde man, sicherlich nicht langweilig, auf die Folter gespannt, und dann geschehe meistens nichts, es fällt kaum ein Schuß! Ob mir vielleicht nicht doch die ganz echte, die ganz große Jagdpassion fehle oder abhanden gekommen sei? Schon das weitgehende Überwechseln von der lauten zur „stillen Büchse“, zu meiner Kamera, deutet möglicherweise in diese Richtung!
Weil ich solchen Kritikern gegenüber nur selten Lust empfinde, tiefschürfend zu diskutieren, stelle ich ihnen oft nur die einfache Frage, ob sie trotz vorgerückten Alters gleich mir auch heute noch liebend gern bereit sind, lang vor Tau und Tag in die abgelegenste Ecke des Reviers zu „radeln“ oder auch zu gehen, um dort mit echter Jägerlust, von der sie immer so gern reden, auf einen bescheidenen Knopfbock und im Herbst auch auf eine Geiß zu pirschen? Und wenn ich ihn oder sie nicht kriege, am nächsten Morgen, wenn noch die Sterne am Himmel stehen, wieder?
Im übrigen ließe sich doch gerade das, was sie bei mir so schmerzlich vermissen, heute bei so vielen Kollegen in reichlichem Maß und in bester Qualität finden. Da fällt nicht nur auf jeder zweiten Seite ein Hirsch oder ein Bock um – vom weidgerechten Tod eines Tieres oder einer Geiß liest man zwar viel seltener, aber der ist ja auch bei weitem nicht so spannend – wir erfahren als hochwillkommene Zugabe so gut wie immer die genauen Maße der erbeuteten Trophäe: Stangenlänge rechts, Stangenlänge links, Endenzahl, Rosenumfang, Perlung, Auslage, Geweihgewicht, nationale und internationale Bewertungspunkte nach der jeweiligen und langweiligen Formel, und was sonst noch alles ad majorem Sankti Huberti gloriam dazu gehört.
Es soll in unserem Jahrhundert sogar einen Jagdschriftsteller gegeben haben, der auf den genialen Einfall kam, nicht nur die Fotos der erbeuteten Jagdtrophäen aus aller Welt, sondern auch die einer Reihe von sehr schönen Damen dem Leser vorzustellen, die bei der Ausübung seines Weidwerks irgendwie mitgewirkt haben. Eine besonders originelle Art von Streckenlegung, könnte man da beinahe sagen. Der Absatz des Buches soll übrigens ein reißender gewesen sein.
Was ich meinen Kritikern freilich nie sage: Die präzise Angabe von Maßen und Gewichten hat nur dann einen Sinn, wenn es dem Erzähler vorher gelingt, den Leser mit seiner Pirsch auf Bock und Hirsch soweit vertraut zu machen, daß dieser ohne zu großen Aufwand an Phantasie den Eindruck gewinnt, alles oder wenigstens einiges miterlebt zu haben, sozusagen „dabei gewesen zu sein“.
Es ist schon wahr, der sogenannte „Trophäenkult“ hat viel zu der großen Verwirrung beigetragen, unter der Jäger und Jagd heute nicht wenig zu leiden haben. Es ist ein kleiner Teufelskreis, aber leider von großer Tragweite. Liebt einer seine erbeutete Krone oder Krücke oder den präparierten Hahn nicht, freuen sie ihn nicht, weiß er sie nicht zu schätzen, oder er verbannt sie gar, von der putzmittelbesessenen Ehehälfte „erfolgreich beraten“, auf den Speicher oder in die Tiefe des Kellers, dann verdächtigen wir ihn wohl zurecht, er sei kein Jäger. Liebt er sie zuviel, geht er nur ihretwegen hinaus, oder er schielt nach Rekorden, dann wissen wir es genau, er ist kein Jäger! Das Gute liegt auch hier in der goldenen Mitte. Doch was findet in unserer hektischen Zeit der Mensch, und anscheinend besonders der Jägermensch, schwerer als jene so naheliegende und doch immer so ferne „aurea mediocritas“? Wir erleben es heute fast jeden Tag im Kampf der Jäger gegen ihre zahlreichen Feinde.
Friedrich v. Gagern, der erbeuteten Rehkrone lebenslang bis an den Rand der Besessenheit verfallen, hat es am Schluß seines letzten Buches geahnt: „Diese Freude an der Krone, am Beutestück! Oft habe ich darin geschwelgt, sie besungen, sie gefeiert; oft auch, wenn sie mir und bei anderen gefährlich zu entarten drohte, mit vielen guten Gründen und entblößender Selbstverhöhnung herabgesetzt und zu anderen Einbildungen aufs Narrenschiff geschickt. Es gibt vielleicht einen Weg der Versöhnung – über Goethe – Goethe, in dem beinahe jede menschliche Rechnung aufgeht, entschuldigt so auch jene unsere jägerische Besessenheit. Der Gehörnkult, artet er nicht in hohle Prahlsucht aus, ist – bei manchen wenigstens – etwas wie eine Goethesche Schwäche. Möge das für meine eigenen Sünden in Tat wie Schrift gelten.“
So sagte der große, der Natur eng verbundene Jäger in einer ergreifenden Rückschau kurz vor seinem Tod. Bis zu Goethe kann und mag ich ihm hier wohl nicht folgen. Aber seine in die Zukunft gerichtete Ahnung wurde voll wahr: Die „manchen“ sind noch weniger geworden, die hohle Prahlsucht feiert, unserer Zeit wohlangemessen, ungeahnte Triumphe.
Derselbe Jägerdichter Gagern hing in den Jahren der Reife der Fährte seiner hohen Jagdgesinnung mit solcher Hingabe nach, daß er jedwede Jagdausübung während der Paarungszeit des Wildes rundweg als gemein und niederträchtig ablehnte. Ob übers Ziel hinausschießend oder nicht, die zweifellos edle Einstellung führte ihn so weit, daß er eine hübsche Geschichte von Hermann Löns, die den Schnepfenstrich im Frühlingswald meisterhaft schildert, als „Oberkitsch“ geißelt.
Hermann Löns war alles andere als ein „Trophäenjäger“, eher zu wenig als zu viel. Von den Jägern, die nur aus Prahlsucht, Geltungsbedürfnis oder Rekordgier hinausgehen, pflegte er zu sagen, solche Leute hätten von der Jagd „keinen Tau von einem Dunst von einer Ahnung“. Jede Art von grüner Großtuerei war ihm in tiefster Seele verhaßt. Löns sah als Jäger immer das Kleine am Wegesrand, nahm es auf und machte Großes daraus. Darum ist er für mich heute noch der Größte.
Auch in der folgenden Geschichte spielt die Jagdtrophäe, so wie ich sie sehe, eine gewichtige Rolle, wenn nicht die Hauptrolle. Zugleich will ich versuchen, jenen Kritikern, die ich eingangs erwähnte, zu beweisen, daß ich an der wahren Jägerlust niemals Mangel litt. Und ein dritter Grund: Die Zeit, die ich in und um den „Kobel“ erlebte, beinhaltet aus meiner Sicht einen der unvergeßlichsten Tage eines Jägerlebens.
In den dreißiger Jahren, ich erinnere mich, es war gerade um die Zeit, als das Reichsjagdgesetz eingeführt wurde, dasselbe Gesetz, um das die halbe Welt uns länger als zehn Jahre beneidete und das heute, wo man vermeintlich alles viel besser weiß, auch in unserem eigenen Land gern als falsch und abwegig abgetan wird, pachteten mein jüngerer Bruder und sein norwegischer Freund Harald K. zusammen einen Teil der Gemeindejagd Fischbachau, genannt Rhonberg. Er lag geographisch in einem Dreieck, das durch die bekannten Orte Schliersee, Fischbachau und Bayrischzell gebildet wird. Dieses Rhonberg-Revier gehörte zu einem Zug stark bewaldeter Vorberge, der sich in westöstlicher Richtung, ungefähr parallel zum Fluß Leitzach, der auch gegen Süden die Jagdgrenze bildete, hinzog. Es war ein Rotwild-Rehwild-Revier, ohne Gams. Der Wald bestand fast ausschließlich aus Bauernwald, überwiegend jüngere Mischbestände aus natürlichem Anflug, noch ohne übermäßige Verfichtung, bot also dem Wild gute Äsung und Einstände. Aus der ganzen Pachtzeit, die immerhin eine Reihe von Jahren dauerte, kann ich mich an keinen einzigen Wildschadenfall von nennenswerter Bedeutung erinnern. Und die dortigen Bauern hätten in dieser Beziehung bestimmt nicht lange hinter dem Berg gehalten!
Die nördliche Jagdgrenze des Reviers verlief in ihrer ganzen Länge oben am Grat entlang. Die schattseitigen Hänge gehörten hinüber nach Schliersee, die meines Bruders und unseres norwegischen Freundes Harald waren fast ausschließlich sonnseitig. Das hatte den Nachteil, daß das Rotwild nur im Winter und Frühling herüben stand, während es in der Feistzeit und leider auch während der Brunft meist andere Gefilde vorzog. Man kann sagen, die Belastungen, in erster Linie die der Winterfütterung, so schön diese auch war, überwogen die Möglichkeiten jagdlicher Erfolge doch erheblich. Dies wurde durch einen für eine Gebirgsgegend nicht schlechten und durch die neu eingeführte Rehwildfütterung im Winter bald noch besser werdenden Rehwildbestand einigermaßen ausgeglichen. Im Juni vor Tau und Tag die dem Rhonberg vorgelagerten weiten Leitzachwiesen abzupirschen, die mir von früheren Fischerfreuden her wohlvertraut waren, bedeutete einen Genuß ganz besonderer Art. Freund Harald, der verhältnismäßig spät, und wohl von uns Brüdern angesteckt, zum Jäger, übrigens zu einem sehr tüchtigen und weltweiten, wurde, schätzte den Aufbruch zur Pirsch im Morgengrauen weniger, er liebte die Jagd am Abend.
Den großen Lichtseiten des neuen Reviers war die Jagdhütte zuzuzählen. Ich habe viele in meinem Leben gesehen und bewohnt, die Rhonberghütte konnte es an Liebreiz und Gemütlichkeit mit jeder anderen aufnehmen. Wie oft muß ich noch daran denken, wie wir im Tiefwinter – alle drei keine Skiläufer von Rang – mit unseren Eschenholzskiern und Haselnußstöcken den tief verschneiten Holzabfuhrweg in Richtung Fischbachau hinabfuhren! Übrigens, betrachtete man die Berge ringsum, gleichgültig ob das Wendelsteinmassiv im Süden oder die Bayrischzeller Berge und das Spitzinggebiet im Westen und Norden, dann wurde man sich sehr schnell bewußt: Der Rhonberg war kein Berg wie seine Brüder ringsum, ja nicht einmal ein richtiger Vorberg, sondern eigentlich nur ein großer, dichtbewaldeter Höhenzug, ein stattlicher, langgestreckter Waldhügel. Aber Harald und mein Bruder als Pächter und ich als oftmaliger Jagdgast mit freier Büchse liebten ihn, jedesmal wenn wir wieder in der Hütte eintrafen, mehr.
Als kleine, doch nicht zu unterschätzende „Schattenseite“ erwies sich alsbald der alte Jagdaufseher, den die beiden laut Vertrag für die noch laufende Pachtzeit hatten übernehmen müssen. Jeder Bergjäger weiß, von welcher Bedeutung ein gutes Verhältnis zwischen Jagdherrn, Jagdgästen und dem das Revier betreuenden Berufsjäger sowohl draußen im Wald wie auch ganz besonders drinnen in der Hütte ist. Eine solche Verbindung, ja Freundschaft ergibt sich in der Regel von selbst, dafür sorgt schon der erhabene, stille Bereich, in dem man sich bewegt. Ich glaube, ohne Übertreibung sagen zu dürfen, daß weder mein Bruder noch ich noch unser Freund Harald – mit ihm auf schlechtem Fuß zu stehen, war ohnehin undenkbar – auch nur einen einzigen Berufsjäger kannten, mit dem wir nicht mehr oder minder gern wieder auf die Pirsch gegangen oder abends in der Hütte am knisternden Herd beisammengesessen wären. Nur zu diesem einen führte kein rechter Weg. Ob es unsere oder seine Schuld war, soll hier gar nicht erst untersucht werden. Man kann auch nicht behaupten, der mürrische Sonderling hätte seine Pflichten als Jagdaufseher – er war kein geprüfter Berufsjäger – wesentlich vernachlässigt. Wir paßten einfach nicht zusammen, man begegnete sich nur, wenn es unumgänglich notwendig war, und ich erinnere mich an keinen einzigen gemütlichen Hüttenabend mit ihm.
Trotzdem fanden wir uns auch so am Rhonberg bald zurecht, und das, obwohl wir alle drei zur damaligen Zeit noch nicht über eine allzu große Erfahrung im Bergrevier verfügten. Wer ein paar Hirsche und Gamsböcke geschossen hat, ist deshalb noch lange kein hirschgerechter Bergjäger. Aus diesem Grund war die fehlende Verbindung mit der „vertraglich übernommenen Schattenseite“ doppelt bedauerlich.
Wie es in solchen Fällen oftmals geschieht, ergab sich auch am Rhonberg gleich im ersten Jagdjahr ganz von selbst und ohne besondere Abreden eine erfreuliche und allseits befriedigende Reviereinteilung.
Harald, der älteste von uns dreien, erkor sich schon bald den „Hochgraben“ als sein Leibgehege. Dieser war ein wunderschöner, ruhiger Waldkessel, mit einigen großen Schlägen und herrlicher Sicht. Was nicht weniger wichtig war, er ließ sich von der Hütte aus auf ziemlich bequemem und ebenem Weg in ungefähr einer halben Stunde erreichen. Wer den „Hochgraben“ damals selbst gesehen hat, der hätte leicht glauben können, Harald hätte von dort im Lauf der vier oder fünf Jahre, in denen er ihn bejagte, so manchen guten Hirsch oder Rehbock „liefern“ müssen. Dem war aber nicht so. Viele Plätze, die auf Anhieb als besonders „g’fangig“ ins Auge stechen, täuschen und halten nicht das, was sie versprechen. So auch der „Hochgraben“. Wie oft kam Harald spät abends zur Hütte zurück, hängte Büchse und Hut an den Holzhaken und sagte nur „nichts gesehen“! Doch kein einziges Mal sah ich, daß er ein finsteres oder unzufriedenes Gesicht dabei machte. Wenn er Anblick hatte, war er restlos glücklich, gleich, ob es eine Rehgeiß, ein Fuchs, manchmal ein Tier mit Kalb – oder auch nur ein Waldkauz war, dem er auf dem Heimweg begegnete. Seine Jagdbeute, die er in der doch ziemlich langen Zeit heimbrachte, an einer Hand abzuzählen, wäre ein müßiges Unterfangen, sie hätte zu viele Finger! Den einzigen guten Rehbock schoß er im Juni unten in den Leitzachwiesen. Ich hatte ihn ausgemacht und, da er beim Abendansitz schwer zu haben war, Harald zu einer Frühpirsch von der Hütte ins Tal hinab überredet. Wie froh war ich, daß die Unternehmung, die lang vor Tau und Tag beginnen mußte, geradezu glänzend gelang!
Eines Septemberabends kam Harald nicht zur gewohnten Zeit vom „Hochgraben“ zurück. Mein Bruder und ich waren, obwohl wir einen viel weiteren Heimweg hatten, schon eine ganze Weile in der Hütte. Harald kam nicht. Draußen war es längst stockfinster. Mit wachsender Besorgnis schauten wir auf die Uhr und waren schon fast daran, zur Suche aufzubrechen, als wir ihn draußen vor der Hütte poltern hörten. Die Tür flog auf, im Rahmen stand Harald mit undefinierbarem, beinahe verstört wirkendem Gesicht – einen Fichtenbruch auf dem Hut! „Du hast was geschossen?“ riefen wir wie aus einem Mund. „Ja, einen Achterhirsch!“ Der glückliche Jäger stand noch so stark unter dem Eindruck des Erfolgs, daß seine todernste Miene beinahe komisch war.
Sofort brachen wir zum Ort der Tat auf. Da der Weg nicht weit war, beschlossen wir, den Hirsch noch zu bergen und zur Hütte zu liefern. Es war ein im Wildbret starker, ungefähr siebenjähriger Achter von mittelmäßigem, aber nicht unschönem Geweih, ein echter, karger Berghirsch. Er war suchend durch den Hochgraben gezogen, wobei ihn Haralds saubere Kugel ereilte. Die Freude kannte einfach keine Grenzen!
Viele, viele Jahre später besuchte ich Harald in Bad Aussee. Er hatte inzwischen viel und in manchen Erdteilen gejagt, und begehrenswerte Jagdtrophäen hingen in seinem schönen Haus. Ich suchte aber nur eine, fand sie schnell und blieb vor ihr stehen: dem „Achter vom Hochgraben“! Wie lange war das her, zehn Jahre, zwanzig oder gar dreißig? Ich las die Aufschrift auf der Hirnschale. Dann stand ich lange vor dem kargen Fünfpfundgeweih, in Gedanken vertieft. Es fiel mir auf, daß es auf einem besonders hübschen Schild montiert war. Erst nach einer Weile sagte Harald in seiner unbeschreiblich netten, ruhigen Art: „Du hast schon recht, auch mir ist er heute noch von allen bei weitem der liebste!“ Dabei hingen um ihn herum nicht wenige von der Steiermark, den Karpaten und vielleicht noch von weiter her, stolz an der weißen Wand, die an Gewicht und Punkten ihn alle gut um das Dreifache und mehr übertrafen, den schlichten Achter vom „Hochgraben“, vom Rhonbergrevier bei Fischbachau.
Mir selbst war der entlegene Revierteil „am Kobel“ vorbehalten. Doch darüber wird später noch ausführlich zu berichten sein.
Die zwei jagdbaren Hirsche pro Jahr standen natürlich den zwei Pächtern, Harald und meinem Bruder zu. Geschossen wurden sie nie, sie standen praktisch nur auf dem Papier – und im Winter an der Fütterung! Das freute uns zwar sehr, aber ansonsten glänzten sie zumeist durch Abwesenheit. Mein Bruder bevorzugte im Herbst die westliche Schmalseite des Rhonberges für seine jagdliche Tätigkeit, und das mit einer Ausdauer, welche diejenige Haralds am „Hochgraben“ beinahe noch übertraf. Das hatte aber auch einen besonderen Grund, und mit der Stelle, die er immer wieder mit an Verbissenheit grenzender Unverdrossenheit und Zuversicht aufsuchte, eine ganz besondere Bewandtnis.
Wenn ich heute an dem Platz stehe – das kommt zuweilen vor, denn mein Wohnsitz am Tegernsee ist nur fünfzehn Kilometer davon entfernt –, dann mag ich es kaum glauben, und es will mir einfach nicht mehr in den Kopf hinein, daß hier mein Bruder damals viele Morgen auf jenen Hirsch gelauert hat, von dem ich jetzt so einiges berichten will. Doch ich war selbst einige Male mit dabei und irre mich nicht: Es war fast genau da, wo heute die große, supermoderne Straßenkreuzung außerhalb des Ortes Neuhaus bei Schliersee das Haupteinfallstor in die bekannten, von München aus am schnellsten zu erreichenden Skigebiete bildet: Rechts Spitzing-Suttengebiet, geradeaus Bayrischzell, Sudelfeld, und wie sie alle heißen.
Abertausende von Autos ergießen sich jedes Wochenende aus der Großstadt in diese Gegend. Wer dort einen richtigen Autostau selbst erlebt oder auch nur mit eigenen Augen gesehen hat, und ein solcher ereignet sich beileibe nicht selten, der hat einen Vorgeschmack vom Skiwochenende von heute.
Aber nicht nur vom eigenen Auto ist der Skifahrer aus der Großstadt, der da draußen auf vierundzwanzig Stunden Erholung hofft, gefangen. Er ist weiter ein Gefangener der Bergbahn, des Skilifts – wie lange dauert es, zwei Stunden oder drei, bis man an der Reihe ist – und dann vor allem der Piste! Ein Gefesselter, nicht zuletzt auch an die Ungetüme seiner Skistiefel, natürlich dem letzten Schrei der Industrie, mit denen aber ein vernünftiger Mensch keine zwanzig Meter weit normal gehen kann. Doch das braucht man ja auch nicht mehr!
Zu meiner Zeit gab es auch gute Skistiefel, die waren noch aus Leder gemacht. Man konnte mit ihnen aufsteigen – das Wichtigste und Erholsamste von allem – man konnte abfahren, ohne Scheu richtig gehen und abends sogar tanzen!
Damals, es war jene Zeit, als wir auf den Hirsch jagten und das Auto gerade erst seinen Siegeszug begann, fuhren die meisten Menschen mit der Eisenbahn ins Skigebiet und sehr viele mit dem Fahrrad; am Samstag früh sechzig Kilometer hin, am Sonntag abend sechzig Kilometer zurück. Trotz der enormen körperlichen Anstrengung hatten sie alle viel fröhlichere Gesichter als jene, die sich heute im Schneckentempo und Benzinmief im eigenen Auto heimwärtsquälen.
Der größte Verlust im Vergleich zu damals ist, wie gesagt, der Aufstieg: Er war ebenso schön, wenn nicht schöner als die Abfahrt. Man sprach und lachte miteinander. Man hörte den Kolkraben rufen und den Schwarzspecht trommeln. Man genoß Sonne, Wolken und Bäume. Und kreuzte ein Scharl Gams oder ein anderes Wild unseren Weg, dann blieb man stehen und hielt das Maul, bis sie drüben waren. Und freute sich!
Der Aufstieg des Skifahrers ist, von wenigen Ausnahmen abgesehen, tot, eines der vielen Opfer von Industrie und Technik, die den Menschen das Leben schöner und leichter machen sollten. Dafür ermöglichen Bergbahn und Skilift dem Erholungsuchenden, daß er dreimal oder viermal am Tag die Piste herunterrasen kann, vorausgesetzt, daß er nicht an der Talstation jedesmal drei Stunden anstehen muß. Und die genußreiche Abfahrt? Sie ähnelt in vieler Hinsicht schon verblüffend dem Verkehr in der Großstadt.
„Wie lange brauchst du für die Lyra-Abfahrt?“ – „In sechs Minuten schaff’ ich sie leicht!“ – „Ich brauche nur fünf. Meine Bestzeit steht auf vier!“ – „Wo ist eigentlich die Marie? Die Marie müßte doch längst schon da sein!“
Die Marie hat sich bei der Abfahrt ein Bein gebrochen. Außerdem nur eine kleine Gehirnerschütterung. In längstens einer Stunde ist der Hubschrauber da und bringt sie ins Spital, nach Tegernsee oder gleich nach München.
Großartig, wie weit wir es gebracht haben, oder vielleicht nicht?
Wer da glaubt, der Skisport sei vor dreißig Jahren um kein Haar schöner gewesen als heute, sondern im Gegenteil, heute sei er viel schöner und eröffne ganz andere Möglichkeiten, der werfe doch einmal einen kurzen Blick auf den alpinen Ski-Rennsport, das durch das Fernsehen in unvorstellbarem Ausmaß hochgepeitschte Idol unserer Zeit und seine rasante Entwicklung. Da ich selbst, ehrlich zugegeben, nicht allzu viel mit der Faszination der Hundertstelsekunden und dem um sie erschallenden Begeisterungslärm anfangen kann, hier nur eine kleine, aber doch recht typische, erst kürzlich selbst erlebte Geschichte:
Ich saß abends nach der Jagd in einer gemütlichen Runde im Wirtshaus beim Abendessen. Neben mir ein nett und keineswegs dumm aussehender junger Mann von etwa zwanzig Jahren, Student aus München, wie sich später herausstellte. „Stellen Sie sich vor, was für ein Glück ich am vorigen Sonntag hatte“, so begann er voll Eifer seine Erzählung. „Wir waren in X-Dorf und wollten bei Herrn B. Kaffee trinken. Gar kein Darandenken! Hunderte von Autos, Tausende von Menschen in und um das Haus, ein unvorstellbares Gewimmel!“ In dem Haus wohnte die Tochter B., eine berühmte Skikönigin. Verständlich, jeder von den Tausenden wollte ein Autogramm von ihr ergattern mit dem vielsagenden Begleitwort „Skiheil!“, auch wenn wir jetzt Hochsommer hatten. So weit, so gut. „Trotz des Menschengewühls“, so fuhr mein Tischnachbar fort, „konnten meine Freundin und ich uns bis zur Garage von Fräulein B. durchkämpfen, in der ihr Sportwagen steht. Und es gelang uns tatsächlich, die Garagentür anzufassen!“
Ich bin weit davon entfernt, dem Irrtum zu verfallen, wir wären in meiner Jugendzeit gescheiter gewesen als die Jungen von heute. Aber ein solches Maß an Begeisterung für eine aus allen Fugen geratene Sportart wäre damals doch schwer denkbar gewesen. Erfolg der Massenmedien!
Zurück zu unserem Hirsch und ins Rhonbergrevier! Da, wo es vom Haupttal Schliersee-Bayrischzell berührt wurde, wies es eine besondere, auch jagdlich problemreiche Eigenart auf, die sich ungefähr so beschreiben läßt: Stand man oben am Waldrand und schaute auf den weiten Hang der Buckelwiesen hinab, fielen einem sofort drei gerade, parallel verlaufende Linien auf, die, nur wenig voneinander entfernt, unten das Tal durchzogen. Die oberste, also die dem Beschauer am Waldrand zunächst liegende Linie, war das stark aufgeschotterte Eisenbahngleis der Linie München-Schliersee-Bayrischzell. Unweit davon und nur ein wenig tiefer gelegen, zog sich die Staatsstraße in gleicher Richtung entlang. Und weitere fünfzig Meter rechts von ihr floß die Aurach, ein ungefähr drei Meter breiter, tiefer, forellenreicher Bach mit braunem, aber sauberem Moorwasser seiner Mündung in die Leitzach entgegen. Fuhr oder ging man nun auf der Hauptstraße, sah die Sache ungefähr so aus: Zur Rechten, kaum einen Schrotschuß von der Straße entfernt, floß gemächlich die Aurach dahin. Sie bildete auch die Jagdgrenze zum großen „Benzingrevier“, von dessen Inhaber wir bald noch hören werden. Auf der drüberen Seite der Aurach erstreckte sich ein langgezogenes, nur wenige hundert Meter breites Hochmoor, das bis an den Fuß der hier ansteigenden „echten Berge“ heranreichte. Zur Linken sah man, wie erwähnt, zur westlichen Schmalseite des Rhonberges über die steilen Wiesenhänge bis zum etwa vierhundert Meter entfernten Waldrand hinauf. Die gleich oberhalb der Staatsstraße verlaufende Eisenbahnlinie wies noch eine kleine, aber für uns Rhonbergjäger bedeutsame Besonderheit auf: Eine kleine Bahnunterführung, auch „Durchlaß“ genannt, in Form eines halbkreisförmigen Betonbogens. Durch diesen Durchlaß führte ein schlechtgepflegter Feldweg, der nur land- und forstwirtschaftlichen Zwecken diente und merkwürdigerweise vom Wild nur ungern als Wechsel benützt wurde.
Ich kann nicht mehr beschwören, war es im ersten oder zweiten Herbst der Rhonberg-Pachtzeit. Es muß aber wohl im zweiten Jahr gewesen sein, denn trotz des Umstandes, daß man verhältnismäßig nicht allzu oft und allzu lang im Revier weilen konnte, und obwohl, wie bereits erwähnt, die nötige Zusammenarbeit mit dem übernommenen Jagdaufseher stark zu wünschen übrig ließ, kannten wir uns alle drei schon ganz gut im Revier aus. Vor allem waren sich Harald und mein Bruder schon ziemlich klar darüber, daß sie ihre anfangs gehegten Erwartungen, soweit sie starke Hirsche betrafen, weit herabschrauben mußten. Dies empfand aber keiner von ihnen als besonderes Unglück. Und nebenbei – wie lächerlich billig waren in jenen Jahren die Jagdpachtpreise, wenn man sie mit den verrückt hohen von heute vergleicht.
Also, der zweite Herbst, Ende September, Anfang der Hirschbrunft. Harald hielt unverbrüchlich seinem geliebten „Hochgraben“ die Treue. Ich selbst, soweit ich nicht bis zu meinem ebenso abgelegenen wie zur Hirschbrunft wenig verheißenden „Kobel“ vordrang, versuchte, meinem Bruder bei seinem schwierigen jagdlichen Vorhaben behilflich zu sein. Denn ausgerechnet die Gegend der „drei parallelen Linien“ hatte er sich für die hohe Zeit der Hirsche auserkoren. Doch das sicher nicht ohne guten Grund!
Ziemlich lange lebten wir in dem Irrtum befangen, auf jener westlichen Schmalseite unseres Rhonberges ziehe das Hochwild trotz der unten vorbeiführenden Bahnlinie und Hauptstraße und der damit verbundenen Unruhe spätabends vom Wald herunter auf die Wiesenhänge und Buckelwiesen.
Die einmahdigen Flächen, wegen Bahn und Straße größtenteils nicht als Herbstweide verwendet, boten noch gute Äsung. Kamen wir nun spät am Abend mit Haralds Auto – er besaß schon eines – aus München, um den nächtlichen Aufstieg zur Hütte anzutreten, sahen wir zuweilen, wenn der Mond hell genug schien, das Hochwild als undeutliche Schemen oben auf den Buckelwiesen stehen. „Unser Rhonbergwild“, dachten wir dann natürlich. Manchmal flüchtete auch ein Stück Wild vor den Scheinwerfern über die Straße. „Das kam vom Rhonberg herunter, wo sonst sollte es herkommen?“
Der Verkehr auf dieser Hauptstraße im Fremdenverkehrsgebiet war damals schon rege, hauptsächlich im Hochsommer und im Winter; aber selbst da noch lächerlich gering im Vergleich mit heute, der Zeit nie abreißender Autoschlangen. Im Herbst und zur Zeit der Hirschbrunft war er von Sonnenuntergang bis Sonnenaufgang kaum in Rechnung zu stellen. Und das war natürlich von großer Wichtigkeit.
Immerhin dauerte es bis zum zweiten Herbst der Pachtzeit, daß wir die wahren Gewohnheiten des Wildes einigermaßen richtig zu beurteilen verstanden.
Während der Brunftzeit hatten wir nur wenig Hochwild im Revier stehen. Was an Hirschen einigermaßen mannbar war, zog über die Aurach hinüber ins Benzinger Revier oder über die Leitzach in die Hundhamer Berge. Denn dort waren die guten Brunftplätze. Unserem Rhonberg blieb die Stille, die uns aber keineswegs verdrossen machte, geschweige denn die Hoffnung sinken ließ. Und als der zweite Herbst ins Land zog, hatten wir eine große und aufregende Entdeckung gemacht:
So gut wie jeden Abend zog ein starkes Rudel Hochwild vom Benzinger Revier herüber auf die westlichen Wiesenhänge des Rhonberges. Freilich, bis es vom Berg, wo es seinen Einstand hatte, herunterkam, das ganze, immerhin einige hundert Meter breite Hochmoor mit der üblichen Vorsicht überquerte, um endlich über die Aurach, zugleich Jagdgrenze, dann über die Staatsstraße und das darüberliegende Bahngleis zu wechseln, das dauerte jedesmal eine wahre Ewigkeit für den der Dinge, die da kommen sollten, harrenden Jäger. Und dieser Jäger, so wurde es gleich nach der „Entdeckung“ beschlossen und ausgemacht, war mein Bruder.
Daß ein starker Hirsch beim Rudel stand, war seit dem 20. September klar, denn an diesem Tag ließ er uns zum ersten Mal seine Stimme hören – und was für eine Stimme! Ihn in Anblick zu kriegen oder gar ihn einigermaßen sicher anzusprechen, das war eine ganz andere Sache, obwohl er pünktlich jeden Abend hinter seinem kopfstarken Rudel erschien, aber nie vor zehn Uhr abends! Die Nacht verbrachte er mit seinem Harem ungestört auf den steilen Buckelwiesen zu Füßen des Rhonberges und schrie, daß die Erde zu erbeben schien.
Ende September wird es, je nach Wetter, zwischen halb sechs und sechs Uhr früh schußlicht. Unser „Aurach-Hirsch“, wie wir ihn alsbald tauften, verließ unsere Gefilde am Morgen ebenso pünktlich, wie er am Abend kam, nämlich schon gegen halb vier. Das war um gute zwei Stunden zu früh!
Von dem kleinen Heustadel aus, der gleich neben der Straße stand, wo wir das aufregende Geschehen jeden Morgen mit Auge und Ohr, aber viel mehr mit dem Ohr verfolgten, nahm es sich ungefähr so aus: Oben vom Rhonbergwaldrand, in dessen Nähe sich das Rudel während der Nacht mit Vorliebe aufzuhalten schien, stieg die Stimme, wenn es gegen Morgen ging, tiefer und tiefer langsam herab ins Tal. Entweder dröhnte der Kampfruf in die Benzinger Berge hinüber, dahin, wo die anderen Hirsche meldeten, oder, ewig unvergeßlich, schallte der urige Sprengruf einmal da, einmal dort über die schlafenden Buckelwiesen: Dumme, trügerische Hoffnung, wenn es noch weiter oben war, enttäuschendes Verzagen, wenn er schon zu weit herunterkam, bis die Resonanz der steinernen Bahnunterführung die mächtige Stimme des Geisterhirsches noch verstärkte.
Dann wird es plötzlich still. Totenstill. Der Wind steht gut, nicht nur gut, er ist todsicher. Wäre es anders, hätte man ja hier beim Stadel nie und nimmer gelauert! Blick auf das Leuchtblatt – halb vier! Der Hirsch verschweigt. Dann geht es Schlag auf Schlag in programmmäßiger Folge: Knirschende, rutschende Schottersteine auf dem Bahnkörper, einmal, zweimal, zehnmal. Nach zwanzig Sekunden Pause hastiges Klappern von Schalen über die harte Straße. Und schließlich seltsam saugende, dumpfe Laute – das Rudel setzt über die Aurach! Vielleicht noch ein gewaltiger Platscher im Wasser des Bachs. Das war wohl „er“, der schnell ein erfrischendes Morgenbad mitnimmt nach der kräftezehrenden Nacht. Jetzt sind sie alle drüben, jenseits der Aurach, jenseits der Jagdgrenze. Adieu, Aurachhirsch! Vielleicht auf morgen, wenn der Angrenzer uns nicht einen Strich durch die Rechnung macht. Er hätte es viel leichter als wir, wenn das Rudel bei ihm zu Berg in den Tageseinstand zieht.
Doch drüben fällt kein Schuß. Um halb sechs fängt der Hirsch wieder eifrig zu melden an. Wir hören ihm eine Zeitlang zu, dann gehen wir. Bis zur Rhonberghütte haben wir etwas mehr als eine Stunde.
Harald wartet schon mit dem Frühstück, das er jeden Morgen trefflich zubereitet. Er hat nichts gesehen in seinem „Hochgraben“ und auch nichts gehört. Und ist trotzdem bei bester Laune!
Unsere Aussichten auf den Gespensterhirsch an der Aurach waren alles andere als rosig. Da er die Wiesenleite am Rhonberg nur während der Nacht mit seiner mächtigen Stimme beehrte, schien seine Erlegung uns bald so gut wie unmöglich, ihn in Anblick zu kriegen, schwierig genug. Bei letzterem kam uns, völlig unerwartet, ein Zufall zu Hilfe. An einem der letzten Tage im September fuhren wir wieder einmal spät abends, von Schliersee kommend, nach Fischbachau. Als wir die bewußte Stelle unterhalb der Bahnunterführung absichtlich mit stark verminderter Geschwindigkeit passierten, überfiel plötzlich ein Hirsch mit anscheinend gutem Geweih hochflüchtig die Fahrbahn – dicht hinter ihm, aber trotz unserer gedrosselten Geschwindigkeit schon wesentlich näher, ein zweiter, der offensichtlich den Rivalen in Richtung Rhonberg hinauf sprengte.
„Das war er!“ riefen wir alle drei außer uns vor Erregung wie aus einem Mund. Und alle drei hatten wir, obwohl der ganze Vorgang nicht länger als höchstens drei oder vier Sekunden gedauert haben kann, genau das gleiche festgestellt: Der Verfolger war in seiner Gestalt ein Riese von einem Hirsch im Vergleich mit dem Verfolgten. Während dieser aber ein vielendiges Geweih auf dem Haupte trug, also zumindest ein Kronenzehner oder -zwölfer war, stach uns beim Verfolger die Endenarmut sofort ins Auge: Ein unheimlich hohes Geweih mit sehr starken Stangen, halbarmlangen, weit nach aufwärts geschwungenen Augenenden, aber sonst ziemlich nackt und leer. Ein alter Sechser, höchstens ungerader Achter, so lautete unsere übereinstimmende Meinung. Auf jeden Fall aber ein Prügelhirsch, geradezu ein Stier in seiner ganzen wuchtigen Erscheinung. Hier schien der Name „Stier“, wie die Graubündener Jäger jeden Hirsch, auch den Spießer vom ersten Kopf nennen, wahrlich nicht unangebracht. Es war ein überwältigendes Erlebnis, diese nächtliche Begegnung auf der Schlierseer Landstraße. Und auf dem kurzen Rest der Fahrt und auch noch beim Aufstieg zur Hütte wurde nicht viel gesprochen. So stark hatte uns die Erscheinung des Aurachhirsches in ihren Bann geschlagen.
Wer hätte es geahnt oder erhofft, die zweite Begegnung mit dem Gespensterhirsch sollte schon kurze Zeit später stattfinden. Nach einigen weiteren vergeblichen Versuchen – lebhafter Brunftbetrieb auf der Rhonbergleite während der Nacht, totale Leere und Stille bis lang nach Schwinden des Büchsenlichtes und schon lange vor Morgengrauen – gab es einen Wetterumschlag. Kälteeinbruch mit leichtem Schneefall bei Windstille. Am Abend des letzten Septembertages waren der Wald und die Buckelwiesen am Rhonberg weiß, eine verzauberte Landschaft.
Die Nacht zum 1. Oktober. Wir treten vor die Hütte. Es ist kalt, der Himmel hat aufgeklart – Hirschbrunftwetter! Hell scheint der Mond auf den schneeüberzuckerten Wald herab. Wenn wir „ihn“ heute nicht sehen, dann nie – wir müssen bald aufbrechen!
Harald streikt. Er möchte noch ein paar Stunden schlafen und dann nach seinem „Hochgraben“ gehen. Mein Bruder und ich ziehen allein los.
Schon gegen zwei Uhr früh sind wir unten auf der Hauptstraße, wo die drei „Parallel-Linien“ beginnen. Mit größter Vorsicht nähern wir uns dem kleinen Heustadel; wegen des Neuschnees und der Helle der Nacht muß man höllisch aufpassen, nicht eräugt zu werden. Es ist zwar weit hinauf über den Bahnkörper bis zur Rhonbergleite, doch man kann nie wissen in solch einer Nacht. Auch dem Wild ist der erste Schnee noch ungewohnt, und überall kann ein Paar wacher Lichter auf Posten stehen. Ein einziger Schrecklaut – welch ein Schreck für den Jäger – und aus ist der Traum!
Der Heustadel ist leider verschlossen. Zum Schießen wäre es von hier ohnehin viel zu weit.
Ich weiß heute nicht mehr, mit wieviel böser Absicht wir diesen nächtlichen Pirschgang begannen. Die Mondscheinjagd auf Schalenwild – mit Ausnahme auf Schwarzwild (!) – war, wenn ich mich recht entsinne, damals schon gesetzlich verboten. Das allein hätte aber das junge Blut wahrscheinlich nicht abgehalten. Ein Schuß auf den Aurachhirsch drei Stunden zu früh, das hätte man schon irgendwie hingekriegt. Ob das ungeschriebene Gesetz der Weidgerechtigkeit meinen Bruder zur Abstinenz vom Schuß in der Nacht veranlaßt hätte, wage ich nicht zu behaupten, ich will uns nicht besser machen, als wir waren. Ein großer Anstoß zur Enthaltsamkeit war sicher der Benzinger Jagdnachbar. Der noble, durch und durch korrekte und weidgerechte Jäger hätte für eine solche Nachtjagd auf den Brunfthirsch, ganz gleich wie weit von seiner Grenze entfernt, kein Verständnis aufgebracht und sie uns sicher schwer verübelt.