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Wünsch dich ins Wunder-Weihnachtsland
Erzählungen, Märchen und Gedichte zur Advents- und Weihnachtszeit
Band 6
Martina Meier (Hrsg.)
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Personen und Handlungen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.
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© 2020 – Papierfresserchens MTM-Verlag GbR
Mühlstr. 10, 88085 Langenargen
Alle Rechte vorbehalten. Taschenbuchausgabe erschienen 2013.
Titelbild: Heike Georgi
Lektorat und Herstellung: Redaktions- und Literaturbüro MTM
ISBN: 978-3-86196-268-7 - Taschenbuch
ISBN: 978-3-96074-327-9 - E-Book
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Verträumt saß Klara am Frühstückstisch. Die Tafel war reichlich gedeckt mit Marmelade, Honig, Spiegeleiern, Milch, Cornflakes, Obstsalat und Brötchen. Der Kieferntisch war über hundert Jahre. Fast so alt wie Großmama, die mit ihr speiste. Diese lebte mit ihrer Haushälterin in dem riesigen Haus. Sechs Wochen durfte Klara auf diesem wundervollen Anwesen die Ferienzeit verbringen. Es war ein herrlicher Sommertag. Durch die Fenster strahlten die ersten funkelnden Sonnenstrahlen.
„Klara, mein Liebes. Was gedenkst du heute zu unternehmen?“
„Ich dachte mir – der Dachboden. Dort oben liegen wunderbare Schätze und …“
„Dann wünsche ich dir gutes Gelingen. Zur Mittagszeit speisen wir im Saal. Ich bitte dich pünktlich zu erscheinen“, bemerkte die betagte Dame, stand auf und ließ Klara allein.
Das Mädchen schob hastig den Stuhl zurück und eilte hinaus in den Flur. Flott rannte sie die Treppenstufen, die mit einem roten Läufer belegt waren, hinauf. Ihre braunen Locken tanzten bei jedem Schritt im Takt auf und ab. Da war sie. Die rote Tür mit dem goldenen Rand aus Rebenblättern. Behutsam drückte sie den Griff und der Eingang öffnete sich. Klara schaltete die verstaubte Lampe an. Überall standen Omas Schätze. Sie waren mit weißen Bettlaken zugedeckt. Es gab Hunderte davon. Ihre Schritte hinterließen auf dem Holzfußboden staubige Abdrücke. Klara fühlte sich wie in eine andere Zeit zurückversetzt. Gespannt lief sie durch die Bühne und hob vereinzelt Laken an. Sie sah ein altes Klavier, ein Dreirad, ein rotes Sofa, einen braunen Schrank und eine Truhe. Vergnügt tanzte sie zwischen den weißen Stoffen im Kreis umher. Wie eine Prinzessin fühlte sie sich. „La, la, laa, la, la, la, laa ...“, sang sie glücklich.
In ihrer Ausgelassenheit verhakte sich ihr Schuh und sie stolperte über ein Laken. Klara plumpste auf den Popo. „Aua!“ Das würde einen blauen Fleck geben.
Den Stoff riss sie beim Aufstehen von einem wunderschönen Puppenhaus herunter. Klaras Augen strahlten. Das Dach war gedeckt mit roten Dachschindeln. Die blaue Holzbretterverkleidung umzierte das Bauwerk. Edle weiße Fenster schmückten die Schönheit. Nur die Farbe war an einigen Stellen abgeblättert. Klara beugte sich hinab und blickte mit ihren blauen Augen in das Innere.
„Oh“, sagte sie. Das hatte sie sich schon immer gewünscht. Eine Ballerina stand im unteren Zimmer auf einem weißen Podest. Die eine Hand elegant in die Höhe gestreckt. Die andere zeigte hinab auf die Erde. Ein rosa Rüschenkleid umspielte ihren zierlichen Körper. Vorsichtig tastete sie nach der Öffnung. Unbedingt wollte sie die Spieluhr aufziehen und die Ballerina tanzen sehen. Eine kleine Einkerbung war hinter der losen Schindel zu spüren. Klara schob sie ein bisschen weiter zur Fensterscheibe und entdeckte einen alten verrosteten Schalter. Angespannt drückte sie den Knopf.
Plötzlich knarzte und knatterte das Haus. Die Wände bewegten sich zur Seite und gaben den Blick auf die Tänzerin frei. Musik ertönte und die Figur tanzte im Gleichklang im Kreis. Unerwartet zerfloss der Raum und wurde immer größer und höher. Die weißen Bettlaken wirkten riesig, wie ein Gletscher. Die Fußbodenritzen wurden tief und breit. Staubflocken sahen aus wie riesengroße Schneegebilde. Klara musste husten und Tränen schossen ihr aus dem Augenwinkel.
„Hierher.“
„Wer ist da?“, fragte sie ängstlich, aber was ihr mehr Furcht bereitete, war die Tatsache, dass sie offenbar geschrumpft war! Sie fühlte sich winzig wie eine Fliege.
„Hierher.“
Klara traute ihren Augen nicht. Die Ballerina stand am Rand des Häuschens und winkte sie zu sich. „Du kannst sprechen? Was ist mit mir passiert?“
Langsam lief sie durch die Staubwolken auf das hölzerne Puppenhaus zu. Die Tänzerin reichte ihr die Hand und half ihr über die Schwelle. „Willkommen in meiner Welt. Ich bin Iana.“ Sie umarmte sie herzlich. Alles war normal groß – die Möbel, Wände und Türen.
„Danke. Ich bin Klara. Wie ist das möglich?“ Und in Gedanken fragte sie sich: „Bin ich etwa auf den Kopf gefallen und träume das nur?“
„Magie. Komm ich zeige dir mein Haus.“ Iana schnappte sich ihre Finger und die Mädchen sprangen aufgeregt durch die Wohnung. Es war alles schlicht und einfach eingerichtet. Ein Wohnzimmer mit einem lila Sofa. Die Esszimmereinrichtung bestand aus einem Tisch und vier Stühlen. Im Obergeschoss gab es ein blaues Badezimmer und ein großes Schlafzimmer. Ein richtiges Mädchenzimmer – ganz in Rosa.
„Es ist traumhaft. Wohnst du allein?“ Klara ließ sich auf das Bett fallen.
Iana grinste. „Ja und nein. Du bist doch jetzt hier.“
Klara grübelte. „Ist es nicht langweilig, den ganzen Tag auf einem Podest zu stehen und zu tanzen.“
Die Ballerina lachte. „Nein, es ist herrlich“, sagte sie und zerrte Klara vom Bett. Die Mädchen tanzten vergnügt im Kreis herum, bis es ihnen schwindelig war. Sie kicherten.
„Kannst du ein Geheimnis für dich behalten?“, fragte Iana. Klara nickte. „Schließe die Augen.“
Klara vertraute ihr und schloss die Lider. Die Ballerina nahm ihre Hand und führte sie. Sie hörte ein Gemurmel und es klopfte drei Mal. Schritt für Schritt zog Iana sie weiter. Plötzlich war es sehr kalt – richtig eisig.
„Kann ich die Augen öffnen?“, bat sie aufgeregt.
„Jetzt darfst du.“
Was sie sah, konnte sie kaum glauben. Die Mädchen standen mitten im Schnee. Es war Winter. Die Bäume waren schneebedeckt. Strahlend weiße Flocken fielen vom milchigen Himmel. Ein eisig kalter Wind strich ihr um die Nase. Klara lachte wie ein kleines Kind.
„Es … es ist unbeschreiblich schön. Wo sind wir?“
„Im Schneemannland. Hinter den Hügeln, gleich hier vorne, kannst du das Dorf der Schneemänner sehen. Aber sie dürfen uns nicht bemerken.“
„Warum?“
„Das Geheimnis muss behütet bleiben. Niemand darf erfahren, wo sie im Sommer wohnen.“
Klara war neugierig und stapfte durch den knirschenden Schnee. Iana lief ihr hinterher. Es war ein anstrengender Weg nach oben. Langsam fror sie in ihrem roten Sommerkleid. Vorsichtig legte sie sich am Hügelkopf auf den Bauch und spähte hinunter. Nur einen kurzen Blick. Sie sah Hunderte Schneemänner, große, kleine, dicke, dünne …
„Wir sollten zurück“, ermahnte Iana sie und zog an ihrem Rock. Klara drehte sich strahlend um, stand auf und folgte ihr. Am Ausgangspunkt angekommen, schaute sie sich um. Wo war die Tür?
„Augen schließen“, sagte Iana. Wieder schloss Klara ihre Lider. Ein Gemurmel, drei Mal klopfen und sie waren im Schlafzimmer des Puppenhauses.
„Besuchst du mich morgen?“, fragte die Ballerina mit einer Schneeflocke im blonden Haar.
„Ja! Aber wie komme ich nach Hause?“
„Du musst nur über die Schwelle.“
Die Mädchen umarmten sich und liefen die Treppe hinunter. Ein letzter Blick auf Iana und Klara ging hinaus aus der Tür in ihre Welt. Wie von Geisterhand verschwamm alles um sie herum und wurde immer kleiner. Sie wuchs und stand vor dem verzauberten Puppenhaus. Die Ballerina war verstummt und stand regungslos auf dem Podest.
„KLARA-DENISE RICHARDSON.“
Wie spät war es? Großmutter rief nach ihr. Eilig sprang sie an den zugehüllten Gegenständen vorbei, die Treppe hinab in den Saal.
„Großmama, ich …“
„Fräulein Richardson. Die Mittagszeit ist seit dreißig Minuten um. Wo treibst du dich rum?“ Oma reichte ihr die Hände.
„Ich war im Schn…“, stockte Klara und blickte sie verträumt an.
„Du hast eisig kalte Finger“, dann stockte sie. „Aber … das Schn…“, grinste Großmutter nun verschwörerisch.
Von jenem Tag an besuchte Klara die Ballerina und verbrachte wundervolle Stunden im Schneemannland.
Nicole Schmieder ist staatlich examinierte Krankenschwester und wurde 1979 in Bayern geboren. Heute lebt die Autorin mit ihrem Mann und ihren zwei Kindern in der Nähe von Stuttgart. Schon als Kind liebte sie Geschichten und las mit den Jahren sehr viele Bücher. Dies inspirierte sie, ihre Leidenschaft umzusetzen, und fortan widmete sie sich einer Schreibausbildung. Gegenwärtig sind ihre Kurzgeschichten in diversen Anthologien zu finden und sie betätigte sich als Rezensentin für verschiedene Buchverlage.
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Am Nikolaustag sammelt der Nikolaus bei den Kindern die Wunschzettel ein. Das ist der letzte Termin. Immerhin muss er zusammen mit seinen Helfern ja noch die Geschenke basteln. Und dann noch alle Geschenke auf den Wunschzetteln abhaken, damit nichts vergessen wird und auch alles richtig ausgeliefert werden kann. Anschließend wird alles in den jeweiligen Weihnachtssack verstaut und oben an dem Sack ein Schild mit dem Namen und der Anschrift der Familie befestigt.
Im letzten Jahr hatte ich die Gelegenheit, den Weihnachtsmann ein Stück des Weges am Heiligen Abend zu begleiten. Ich hatte die Aufgabe, ihm bei den Familien vor der Tür den richtigen Weihnachtssack auf die Schulter zu heben, bevor er klingelte oder an die Tür klopfte.
So war es auch bei der Familie Klapper.
Der Weihnachtsmann rückte seine Mütze gerade, strich sich den Bart und sagte dann, er könne nun den Sack auf den Rücken nehmen. Mit einem kräftigen „Hau ruck“ hob ich den Sack an. Mann oh Mann, war der schwer. „Da hat sich wohl einer aus der Familie Steine gewünscht“, stöhnte der Weihnachtsmann, als er mit beiden Händen über seine rechte Schulter griff und den oben zusammengebundenen Beutel zu fassen kriegte.
„Weihnachtsmann, sei mal bitte ganz still“, sagte ich. „Hörst du das auch?“
„Was soll ich hören? Drinnen bei Familie Klapper wird schon kräftig gesungen, das höre ich“, antwortete der Weihnachtsmann.
„Das meine ich nicht. Hörst du nicht das Ticken?“, hakte ich nach.
Der Weihnachtsmann lauschte. „Ja“, flüsterte er nach kurzer Zeit, „jetzt höre ich es auch. Was ist das?“
Uns beiden wurde es angst und bange. In einer Zeit, in der man leider viele unangenehme Dinge hört, kann man nicht wissen, ob da vielleicht etwas Gefährliches im Sack versteckt wurde. Der Weihnachtsmann bat mich, bei der Stelle anzurufen, die den Geschenkesack gepackt hatte. Ich tat es, aber leider ging um diese Zeit keiner mehr ans Telefon. Waren wohl alle selbst beim Feiern.
„Es hilft nichts“, sagte der Weihnachtsmann, „es ist spät und alle warten.“ Er klingelte bei Familie Klapper.
Es dauerte auch nicht lange, da wurde ihm geöffnet. Der Weihnachtsmann nahm auf dem Sessel Platz und hörte sich die Weihnachtslieder an, welche die Familie so fleißig geübt hatte. Der Weihnachtsmann hatte seine wahre Freude daran, wie schön die Familie singen konnte. Ein Weihnachtslied nach dem anderen wurde angestimmt. Der Weihnachtsmann sang fröhlich mit.
Währenddessen hatte ich mit meinem Handy bei der Polizei angerufen. Ich schilderte kurz, dass in einem Sack etwas merkwürdig tickte und dass ich um schnelle Hilfe bitten würde, da der Weihnachtsmann schon bei der Familie in der Wohnung sei. Der Polizist auf der Wache versprach, so schnell wie möglich zu kommen. Wir sollten nur nicht das Geschenk auspacken lassen und möglichst dort warten.
Ich klingelte bei Familie Klapper. Der Vater öffnete die Tür. Im Korridor bat ich ihn, dass er den Weihnachtsmann doch an die Tür holen solle.
Dies tat er auch. Ich flüsterte dem Weihnachtsmann leise ins Ohr, dass ich bei der Polizei angerufen und um schnelles Kommen gebeten habe. Er, der Weihnachtsmann, sollte darauf achten, dass das tickende Geschenk wenn möglich nicht verteilt und schon gar nicht ausgepackt werde. Der Weihnachtsmann versprach mir dies.
Wieder im Weihnachtszimmer angekommen, wollten die Kinder ihre Geschenke. Der Weihnachtsmann kam nun aber in Bedrängnis. Er musste irgendwie die Zeit überbrücken, bis die Polizei kam. Er erzählte, wie es heute bei den anderen Kindern zugegangen war, die er besucht hatte. Er erzählte ausschweifend von Familie Bremerich, die vier Kinder hat. Jedes einzelne Geschenk wurde erläutert.
Noch keine Polizei da.
Dann schilderte er seine Erlebnisse bei Familie Kummer. Und während er die Puppenkleider von Elsbeth Kummer beschrieb, klingelte es.
„Nanu“, sagte Vanessa, die kleine Tochter, „kommt da etwa noch ein Weihnachtsmann? Mir soll’s recht sein. Vielleicht packt der seinen Geschenkesack schneller aus. Ich mach mal auf.“ Sie sprang zur Tür, öffnete und erschrak. Kein Weihnachtsmann stand vor ihr, sondern ein Polizist.
„Wo ist der Weihnachtsmann, wo ist der Geschenkesack?“, stieß er hastig hervor.
Das hörte der Weihnachtsmann und kam sofort, den schweren Sack hinter sich her ziehend, in den Korridor. „Da ist er. Hören Sie nur.“
Der Polizist lauschte.
„Ja, Sie haben recht. Es tickt merkwürdig.“
Das Gespräch auf dem Korridor veranlasste nun auch den Rest der Familie, zur Tür zu kommen. Mein Gott, war das voll in dem kleinen Flur: Jeder wollte nach vorn, jeder wollte genau sehen, was sich dort im Sack tat.
Oma, die nicht ganz so stabil auf den Beinen war, fiel beinahe um und konnte nur mit aller Kraft von Opa aufgefangen werden, der dadurch selbst ins Straucheln kam und Halt am Telefonbord fand. Dabei löste sich das Brett aus der Wand. Knall, bumm landete das Telefonbord samt Telefon auf dem Boden. Die Mutter bückte sich, um Brett und Telefon wieder aufzuheben. Beim Aufrichten stieß sie allerdings mit dem Kopf an den Schreibblock des Polizisten, der gerade den Sachverhalt notieren wollte. Aus dem Wort „tickt“ wurde nur ein langer Strich quer über das Papier, sodass die fast voll beschriebene Seite des Protokolls nicht mehr zu verwenden war und der Polizist mit rotem Kopf das Blatt abriss und von vorn mit seinen Notizen anfangen musste.
„Ich setze mich am besten an einen Tisch“, sagte er mürrisch. Er versuchte, sich den Weg in die Küche zu bahnen. Dabei stieß er aus Versehen sehr heftig mit dem Weihnachtsmann zusammen. Dieser torkelte wie ein angeschlagener Boxer hin und her und drohte nun wie bei einem K.O. in sich zusammenzusacken. Der Vater streckte schon die Arme aus, um ihn aufzufangen. Der siebenjährige Sohn Chris aber fasste beherzt nach dem Bart des Weihnachtsmannes und zog ihn daran nach vorn.
Durch den Schmerz kam der Weihnachtsmann gleich wieder zu sich. Er schüttelte sich wie ein Hund, der aus dem Wasser kam, schob seine Mütze zurecht und verlangte nach einem Stuhl. Dort erholte er sich ziemlich schnell.
Nachdem der Polizist in der Küche den Fall nochmals notiert hatte, griff er beherzt in den Sack, holte das tickende Päckchen heraus und las das anhängende Kärtchen. Dann sagte er zur Oma, dass sie leider das Geschenk nicht erhalten könne, da er es zum Revier mitnehmen müsse. Da war die Oma aber traurig. Er fügte noch hinzu, dass sie es ja nach den Feiertagen abholen könne, wenn es sich als ungefährlich entpuppt. Dann fuhr er mit dem Päckchen zurück zu seiner Polizeiwache.
Es wurde dann aber doch noch ein gemütlicher Weihnachtsabend. Und was konnten die Kinder am ersten Schultag nach den Weihnachtsferien alles in der Schule berichten! Stolz erklärte Chris der Lehrerin und allen Mitschülern: „Es gibt ihn doch, den Weihnachtsmann. Er war bei mir. Ich habe immer gedacht, der Vater meines besten Freundes spielt Weihnachten bei uns den Weihnachtsmann. Aber der hat keinen weißen Bart. Und wenn er es gewesen wäre, dann hätte doch der Bart abgehen müssen, als ich ihn daran festgehalten habe. Ging er aber nicht. Der war tatsächlich echt.“
Und dann erzählte er die ganze chaotische Begebenheit.
Charlie Hagist ist 66 Jahre alt. Er ist seit 44 Jahren verheiratet und hat ein 13-jähriges Enkelkind, für das er seit seiner Pensionierung gerne Geschichten schreibt. In seinen kleinen Geschichten versucht er immer, ein Thema kindgerecht zu verpacken
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Schneeflocken fielen in der kalten Luft zu Boden. Mindestens ein Meter dieses Wintertraums überzog das Land. Die Wolken hingen an diesem Abend tief, nur ab und an rissen sie auf und zeigten den sternenübersäten Himmel. Diesen Blick in das Firmament bekam man einzig und allein, wenn man abgelegen von jeder Zivilisation war.
Trotzdem sah man hinter einem Hügel Rauchsäulen aufsteigen, die auf Leben hindeuteten. Oder?
Das Klingeln von Glöckchen unterbrach die Stille. Es kam von einem Schlitten, der von Schneefüchsen gezogen wurde und die Anhöhe hinaufpreschte. Der Rodelschlitten war beladen mit Holz und der Fahrer war kein Mensch. Eher ein Menschlein, klein wie ein Kind.
Nichtsdestotrotz erkannte man, das er ausgewachsen war, denn er trug ein Kinnbärtchen. Es handelte sich um einen Elf, ein dicker Wollmantel schützte ihn vor der Kälte, ebenso eine Mütze, welche ihm ins Gesicht hing. Sein Name war Buttercreme, und obwohl er ihn hasste, hörte er jederzeit darauf. Seine Laune war miserabel, da er hinausgeschickt wurde, um Holz zu holen. Das war eigentlich Arbeit für die Anfänger. Allerdings konnte der Weihnachtsmann sehr überzeugend sein.
Buttercreme spornte noch einmal die Füchse an. An der Kuppel des Hügels angekommen, blickte man hinab in ein kleines Tal. Darin stand ein Fachwerkhaus mit unzähligen Schornsteinen, aus denen es qualmte. Der Wind blies heute kräftig und wehte ihm ein Duft von Schokolade, Zimtwaffeln, Anisplätzchen und allem, was es an Weihnachten gab, entgegen. Dieser Geruch zauberte ein Lächeln in das grimmige Gesicht. Der Gedanke, dass er jetzt bald Feierabend hatte, machte ihn glücklicher.
Der Schneefall hatte nachgelassen, als er an der Einfahrt zum Haus ankam. Mit großen Buchstaben war zu lesen:
Am Nordpol 1
„Hallo Buttercreme!“, begrüßte eine rothaarige Elfe ihn. Sie hatte eine gekringelte Strumpfhose und ein braunes Kleid an.
„Hallo Zuckerwatte“, sagte er zu ihr und im gleichen Moment fragte er sich in Gedanken, wer sich ihre Namen ausgedacht hatte.
„Und gibt es etwas Neues da draußen?“
„Was soll es da geben? Schnee, Schnee und nochmals Schnee.“ Buttercreme sprang vom Schlitten und zog die Mütze aus. Er hatte ebenfalls rotes Haar und Sommersprossen im Gesicht, obwohl er noch niemals einen Sommer erlebt hatte.
„Schnee ist doch gut, oder? Stell dir vor, es wäre keiner mehr da.“
Er hatte keine Lust zu reden, winkte Zuckerwatte ab und ging in sein Zimmer. Aber dazu musste er erst durchs Haus des Weihnachtsmanns, wo die anderen Elfen wohnten. Es war wie eine große Familie, allerdings hatte Buttercreme die Nase voll. Nicht von den Elfen, aber von der Arbeit. „Ständig diese Spielzeuge machen, die von den Kindern auf der Welt nicht respektiert werden!“, dachte er wütend. „Meist werden die Sachen schon innerhalb von einem Tag mutwillig kaputt gemacht.“ Dies sah er nicht mehr ein. „Es kostete viel Mühe, die Spielsachen herzustellen und die Bälger zerstören alles. Der Weihnachtsmann äußert sich dazu in keinster Weise. Warum auch, er stellt die Spielwaren ja nicht her. Er hat nur einmal ihm Jahr Stress und wir, die Elfen?“ Schleunigst ging er durch den Flur und ignorierte die gut gelaunten Arbeitskollegen.
Erleichtert kam er in seinem Zimmer an und schloss fix die Tür hinter sich. Er atmete tief durch und kickte seine Schuhe in die Ecke. Anschließend machte er es sich in dem Sessel bequem und schaltete den Fernseher an. Eine Dokumentation erweckte sein Interesse. Es ging darum, warum Kinder keinen Bezug mehr zu ihren Sachen hatten und warum sie so aufgedreht waren. Forscher behaupteten, dass ihre Umwelt daran schuld war. Soviel geschah jeden Tag um die Kinder herum, sodass ihre Sinne die ganze Zeit über beansprucht waren. Dadurch wären sie überfordert – und das zeigte sich in ihrem übermütigen Verhalten.
Aber Buttercreme wusste den wahren Grund. „Die Bälger sind zu verwöhnt“, grummelte er vor sich hin. Ärger packte ihn erneut. Was konnte er bloß dagegen unternehmen? In zwei Tagen war Weihnachten. Ein schrecklicher Plan entstand in seinem Kopf.
Als er am nächsten Morgen zum Weckruf „Stille Nacht“ die Augen aufschlug, waren diese zwar rot unterlaufen, aber das Grinsen ließ nichts Gutes erahnen. Er stand auf und machte sich auf den Weg in die Werkstatt. Noch bevor er ankam, hörte er aufgeregte Schreie von den Elfen.
Er trat in die Arbeitsräume und erblickte sofort den Weihnachtsmann. Dieser trug eine normale Jeans und ein Holzfällerhemd, bloß der Bart und das Haar waren voll wie eh und je. „Was ist denn hier los, meine Freunde?“
„Weihnachtsmann, unsere Arbeit wurde sabotiert!“, sagte eine aufgebrachte Elfe.
„Inwiefern?“
„Holzspielzeug ist angesägt worden, Schrauben entfernt und ganz viele andere Sachen!“
„Was bedeutete das für uns?“, wollte er wissen.
„Das heißt, dass die ganze Arbeit umsonst war. Wir bekommen dies alles nicht mehr bis morgen repariert.“
„Das wäre ja schrecklich“, sagte er und blickte nachdenklich in den Raum. Dann fiel sein Blick auf den sommersprossigen Elf. „Buttercreme!“
Der Elf zuckte zusammen, als wäre er auf frische Tat ertappt worden. „Ja, Chef?“
„Komm mit mir. Du bist der Erfahrenste hier. Wir müssen eine Lösung finden.“
Er folgte dem Weihnachtsmann ins Büro. Dieser setzte sich an den Schreibtisch, der am Ende des Raumes stand. „Setzt dich, mein Freund“, sagte er zu dem Elfen.
Unbehaglich nahm dieser Platz und legte sofort los. „Also, Weihnachtsmann, das ist keinesfalls zu schaffen.“
„Uns bleibt keine Wahl. Wir müssen! Ich wäre der erste Weihnachtsmann, bei dem Weihnachten ausfällt, und glaub mir, das möchte ich nicht in meiner Chronik stehen haben. Es muss eine Möglichkeit geben!“ Er blickte gedankenversunken auf den Schreibtisch, in den ein Bildschirm eingelassen war, und Buttercreme rutschte unwohl auf dem Stuhl hin und her. Der Weihnachtsmann hob kurz den Blick und schaute auf den Elfen. „Schau dir das an“, sagte er schließlich. Buttercreme musste sich strecken, um zu sehen, was der Weihnachtsmann meinte. Beide schauten jetzt auf den Bildschirm.
„Was ist das?“, fragte der Elf.
„Hier beobachte ich die Kinder.“
Buttercreme sah einen Raum voller Kinder, in dessen Mitte ein Weihnachtsbaum stand. Zehn Kinder sangen fröhlich ein Lied – bis auf ein Mädchen, das sich Abseits aufhielt und traurig drein schaute.
„Was ist mit diesem Kind?“, fragte Buttercreme.
„Das ist Anna. Sie ist noch nicht lange in dem Kinderheim. Vor drei Monaten hat sie ihre Eltern bei einem Autounfall verloren. Jetzt hat sie niemand, der sich um sie kümmert.«
„Das ist ja furchtbar“, sagte der Elf betroffen.
„Ja, dieses Schicksal ist schrecklich und jetzt habe ich noch nicht einmal ein Geschenk für Anna, das sie ablenken könnte.“
Buttercreme war völlig elend zumute. An so etwas hatte er nicht gedacht. Er hatte stets nur ein Bild von Kindern, die keinen Respekt zeigten, im Kopf. Aber Anna ging ihm nicht aus dem Sinn. Er brach in Tränen aus. „Es tut mir so leid. Ich war es, der alles sabotiert hat. Ich dachte, die Kinder respektieren unsere Arbeit nicht. Ich wollte doch niemals ...“
Der Weihnachtsmann unterbrach ihn. „Schon gut, Buttercreme. Ich sehe, dass du es bereust und es dir leidtut.“
„Aber was ist mit den Geschenken?“, fragte der Elf und wischte sich die Tränen weg.
„Ich wäre doch nicht der Weihnachtsmann, wenn ich dieses Problem nicht in den Griff bekommen könnte.“ Der weiße Bart verzog sich zu einem Lächeln.
Im gleichen Moment riss eine Elfe die Tür auf. „Es ist alles repariert! Wie von Geisterhand!“
Der Weihnachtsmann zwinkerte Buttercreme zu. „Dann soll morgen Weihnachten stattfinden und Buttercreme begleitet mich.“ Der Elf war überrascht, dass er mitgenommen werden sollte.
Am nächsten Tag machte er sich mit dem Weihnachtsmann auf den Weg, um viele Kinder glücklich zu machen. Denn es gab nichts Schöneres.
Oliver Lehnert ist 34 Jahre alt und wohnt im Saarland. Zu seinen Hobbys zählen, neben dem Schreiben und Lesen, Fußball und Laufen. Bisher hat er einige Kurzgeschichten in Anthologien veröffentlicht sowie auf seiner Facebook-Seite „Lesefelder“, auf der die User per Wahlverfahren die Themen der nächsten Kurzgeschichte mitbestimmen können. Oliver Lehnert arbeitet derzeit an seinem vierten Roman.
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Als Anakin an einem Dezembermorgen die Augen öffnete …
„Ach wie ... schön.“ Er schaute mit leicht geöffneten Augen aus seinem Fenster, das umhangen war mit weißen Gardinen und blauen Pünktchen. Sein großer Teddy Charlie starrte auf ihn. „Hurra, Hurra!“ Stolpernd sprang Anakin aus seinem Bett, schmiss seine hellblaue Bettdecke auf den Boden und rief staunend: „Es schneit, es schneit.“
Er schnappte sich Charlie an seinem braunen Teddyarm und huschte fröhlich die Treppen runter. „Mama, es schneit.“
Seine Mutter, die zwei Tage vor Weihnachten noch einmal an Plätzchennachschub in der Küche hantierte, nahm Anakin in den Arm, streichelte ihm über sein blondes Haar und schaute ihm in seine strahlend blauen Augen „Ja, mein Schatz. Heute Mittag bauen wir einen großen Schneemann.“
Anakin konnte es kaum erwarten. Zwei Tage waren nun vergangen und heute war der Tag, auf den der kleine Anakin schon das ganz Jahr wartete. Heute war Weihnachten. Heute stand Anakin besonders früh auf. Eigentlich hatte er sich aber vorgenommen, ganz lange zu schlafen, damit es nicht so lange dauerte, bis er seine Geschenke bekommen würde. „UAAAAH …“ Mit einem großen Gähnen setzte er sich auf und zog verschlafen seine hellblauen flauschigen Pantoffeln an. „Endlich! Endlich! Charlie, heute ist Weihnachten.“
Mama und Papa hatten schon gemeinsam den Tisch gedeckt. Es roch nach frischen Brötchen und durch die Nase krabbelte ein süßer Zimtgeruch, der vom Tee kam. Liebevoll frühstückten sie zusammen und auch Charlie bekam seinen Stuhl – so wie jeden Morgen. Am Mittag dann ging es zum Schlittenfahren. Danach wurde ein zweiter lustiger Schneemann gebaut, damit der andere nicht so alleine stand. Das war sogar eine Schneedame mit einem roten Damenhut und einer pinken Schürze mit Herzchen darauf. Am Abend wurde ein riesiger Tannenbaum aufgestellt, der bis zur Decke reichte.
Mama, Papa, Anakin und natürlich, wer durfte nicht fehlen? Charlie! Er musste auch dabei sein und schaute zu, wie die Familie den Baum schmückte. Weihnachtskugeln in allen Farben, Zuckerstangen, Bonbons, eine wunderschöne Lichterkette: Der Baum war der schönste, den Anakin sich vorstellen konnte. Aber wo waren die Geschenke? Keine in Sicht. Anakin rieb sich am Kopf und wunderte sich.
Ein bisschen Zeit verging, dann gab es ein leckeres Weihnachtsessen. Danach spielten Mama, Papa und Anakin Spiele.
Auf einmal klopfte es an der Türe. Papa öffnete sie langsam. Wer war das?
Ein Weihnachtsmann mit einem langen Bart stand in der Türe mit einem riesigen Sack voller Geschenke. „G...Geschenke!“, rief Anakin glücklich. Darauf hatte Anakin das ganze Jahr gewartet, auf ein wunderschönes Weihnachtsfest. Er umarmte Mama und Papa überglücklich und hatte sogar Charlie einen ganz, ganz kurzen Moment vergessen. Was gibt es Schöneres als glückliche Kinderaugen an Weihnachten.
Mari Schwarzer
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„Nun ist der Winter da“, ruft Mama Iris und schaut ins Kinderzimmer, wo ihre beiden Kinder friedlich spielen. „Schaut mal aus dem Fenster, es schneit!“ Lara und Henning springen auf und laufen ans Fenster. „Oh, sind das aber dicke Flocken, da können wir bald Schlitten fahren, oder Mama?“
„Ja, morgen werden wir den Schlitten vom Dachboden holen oder ich sage es gleich dem Papa und bitte ihn, heute Abend den Schlitten zu holen. Dann sind wir ganz sicher, dass wir ihn morgen früh nehmen können. Ich bringe euch dann mit dem Schlitten zum Kindergarten, ist das ein Angebot?“ Die Kinder jubeln und tanzen vor Freude.
„In zehn Minuten wird zu Abend gegessen, also räumt auf und wascht euch die Hände.“ Mama geht zurück in ihre Küche und deckt den Tisch.
Es klingelt. „Das wird der Papa sein“, ruft Mama und geht die Tür öffnen. Nein, es ist Frau Nachbarin. „Guten Abend Frau Ludwig! Wie geht es Ihnen?“
„Ich bin hier, um Ihnen etwas Wichtiges zu sagen. Wir ziehen schon in zwei Tagen um. Nicht wie geplant nach dem Weihnachtsfest. Unser Großvater ist erkrankt und braucht unsere Hilfe. Jetzt muss alles schnell gehen.“
„Ja, dann wünsche ich Ihnen, dass alles so wird, wie Sie es sich wünschen“, antwortet Mama Iris. „Schade, dass wir Weihnachten nicht zusammen feiern können. Es wäre in diesem Jahr das vierte Mal. Unsere Zwillinge waren alle ein Jahr alt, als wir unser erstes Weihnachtsfest zusammen feierten. Das war immer sehr schön!“
„Die Wohnung ist schon wieder vermietet“, antwortet Frau Ludwig. „Wir kommen noch, um Auf Wiedersehen zu sagen. Bis bald. Tschüss.“
Frau Ludwig ist gerade gegangen, da kommt Papa ins Haus.
„Wir können gleich essen“, ruft Mama Iris und füllt die Teller mit Gemüsesuppe.
Am Tisch wird dem Papa erzählt, was sich bei der Familie Ludwig ereignet hat und dass sie schon in zwei Tagen auszieht. Der Papa ist erstaunt und meint: „Dann bin ich gespannt, wer unser neuer Nachbar sein wird. Freuen wir uns mal darauf.“
„Papa, kannst du uns den Schlitten vom Dachboden holen. Mama bringt uns morgen damit zum Kindergarten.“
Stille Nacht, heilige Nacht.
Lore Buschjohann aus Gütersloh schreibt gerne Kindergeschichten. Einige dieser Geschichten wurden bereits in Anthologien veröffentlicht.