Die Vergangenheit schläft nicht: Detektei Vokker: Ein Wien Krimi
Published by CassiopeiapressAlfredbooks, 2021.
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Die Vergangenheit schläft nicht
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Detektei Vokker Ein Wien-Krimi Band 5
von Roland Heller
Der Umfang dieses Buchs entspricht 152 Taschenbuchseiten.
Der große Geldraub von 2012 konnte nie aufgeklärt werden. Als nun Jahre später plötzlich der erste Schein aus dieser Millionenbeute auftauchte, war klar, dass die Jagd nach der Beute von damals eröffnet war.
Ausgerechnet der gewaltsame Tod eines ehemaligen Kollegen bringt Detektiv Vokker auf die richtige Spur. Er steht allein gegen die halbe Unterwelt in einem Fall, in den er mehr oder weniger durch Zufall hineingestolpert war.
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Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books, Alfred Bekker, Alfred Bekker präsentiert, Casssiopeia-XXX-press, Alfredbooks, Uksak Sonder-Edition, Cassiopeiapress Extra Edition, Cassiopeiapress/AlfredBooks und BEKKERpublishing sind Imprints von
Alfred Bekker
© Roman by Author
Nach Romanmotiven von Guy Brant
Cover: Nach Motiven – von Steve Mayer, 2021
© dieser Ausgabe 2021 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen in Arrangement mit der Edition Bärenklau, herausgegeben von Jörg Martin Munsonius.
Die ausgedachten Personen haben nichts mit tatsächlich lebenden Personen zu tun. Namensgleichheiten sind zufällig und nicht beabsichtigt.
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Harald Vokker -Detektiv
Florian Mittendorfer -Sein Compagnon
Ivo Barisic -Chef der Mordkommission, Inspektor
Navid Senner -Er wird in Sigis Bar erschossen.
Sigi Schäfer -Wirt von Sigis Bar
Gipsy Lahnstein -Senners Freundin
Bernd Imlauer -Toter im Büro – Anlageberater
Jonas Gantner -Safeknacker
Josef Müller -Ein verhinderter Attentäter
Robert Lahnstein -Bruder von Gipsy Lahnstein
Richard Lahnstein -Der ältere Bruder von Gipsy und Robert Lahnstein
Jürgen Bilgeri -Ein sadistisch veranlagter Verbrecher
Manfred Winter -Er stirbt bei einem Flugzeugunfall
Gloria Winter -Seine Frau
Gregor Sieber -Zeitungsredakteur
Richard Hans -Teppichhändler
Kerber -Besitzer der Lollipop-Bar
Hilda Förster -Seine Sekretärin
Markus Hammer -Fotograf
Ludwig -Ein Gangster
Donald Feuerbach -Noch ein Gangster
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Ich hielt augenblicklich inne, als das Geräusch an meine Ohren drang.
Wassertropfen.
Ihr monotones Glucksen hatte einen Unterton, als wollten sie mich verlachen. Ich atmete mit offenem Mund. Der Killer musste ganz in meiner Nähe sein.
Um mich herum war es stockdunkel. Ich stand mit dem Rücken zur Wand, in der Rechten meine entsicherte Glock. Ich wusste nicht, wohin der Keller führte und wo er endete.
Der Mörder war auf seiner Flucht vor mir die Treppe hinabgeeilt. Er kannte sich im Labyrinth dieser Gänge anscheinend bestens aus. Weshalb sonst sollte er mich hier hereingelockt haben. Jetzt war ich mir nicht mehr sicher, ob er sich noch in diesem Irrgarten von Räumen aufhielt. Vielleicht hatte er den Fabrikkeller schon wieder verlassen.
Ich stieß mich von der Wand ab und tastete mich weiter vorwärts. Die Wand war feucht und grobkörnig. In der Luft hing ein fauler, modriger Geruch. Die leere Fabrik stand vor dem Abbruch, das wusste ich. Aber wie so viele Abbruchruinen dämmerte sie schon seit Jahren vor sich hin, ohne dass die Abbrucharbeiter auftauchten.
Wahrscheinlich wimmelte es hier unten von Ratten. Ich war hinter einer menschlichen Ratte her. Ich verfolgte den Mann, der Navid Senner getötet hatte.
Ein kühler Luftzug schlug mir entgegen. Der Kellergang machte einen scharfen Knick nach links. Ich stieß gegen eine in die Wand eingelassene Stahlleiter und hob den Kopf. Über mir sah ich ein kreisrundes Loch. Es bildete den Rahmen für einen klaren funkelnden Sternenhimmel.
Ich kletterte vorsichtig die Leiter hinauf und fragte mich, was geschehen würde, wenn ich meinen Kopf ins Freie steckte. Möglicherweise wartete der Killer nur darauf, dass ich ihm auf diese Weise ein Ziel bot.
Ich blieb mit Kopf und Schultern unterhalb der Öffnung und zog meine Füße auf den Leitersprossen so weit heran, dass ich mich wie eine Stahlfeder abschnellen konnte. Im nächsten Moment war ich draußen.
Nichts regte sich. Die düsteren Konturen der toten Fabrik zeichneten sich deutlich vor dem hellen Nachthimmel ab. Ich beeilte mich, von dem offenen Kanaldeckel wegzukommen, und trat in den Schatten des Gebäudes.
Ganz in der Nähe sprang ein Wagenmotor an. Ich rannte los. Als ich um die Ecke des Gebäudes bog, sah ich die roten Hecklichter des Wagens vor mir. Sie zogen ab und wurden rasch kleiner, als der Wagen auf das offene Fabriktor zuraste. Größe, Format und Anordnung der Heckleuchten machten klar, dass der Killer einen großen SUV fuhr, aber welchen, das konnte ich nicht erkennen.
Ich sah, wie der Wagen in die Straße einbog und steckte die Glock in den Schulterhalfter zurück. Ich hatte einen hässlichen Geschmack im Mund.
Ich verließ das Grundstück, eilte durch die enge Seitengasse und erreichte den Tatort: Sigis Bar.
Vor dem Eingang hing eine Menschentraube. Zwei uniformierte Polizisten hatten alle Hände voll zu tun, die Neugierigen zurückzudrängen. Ich kämpfte mich bis zur Tür vor, wies mich den Polizisten gegenüber aus und betrat das Lokal.
Navid Senner lag noch immer dort, wo er vor meinen Augen zusammengebrochen war. Am Fuße der Theke. Seine Rechte war zur Faust geballt, das Gesicht dem Boden zugewandt.
„Haben Sie ihn erwischt?“, fragte mich der Wirt. Sigi Schäfer war ein bekannter ehemaliger Boxer, der auch schon in einigen Fernsehfilmen mitgewirkt hatte, hauptsächlich um Werbung für sein Lokal zu machen, das als sein finanzielles Standbein galt, seit er für den Ring zu alt geworden war.
Sein Lokal war urgemütlich. Das Publikum setzte sich aus Angehörigen der Mittelklasse zusammen, vornehmlich aus freiberuflichen Journalisten, Grafikern und Malern. Im Moment hatte der Tote hier aber jede Behaglichkeit verdrängt. Schäfers Bar war zum Schauplatz eines Mordes geworden.
Ich blickte den toten Senner an und fragte mich, was er von mir gewollt hatte. Er hatte keine Chance gehabt, sich mir anzuvertrauen. Der Killer hatte unmittelbar hinter Senner das Lokal betreten und zweimal abgedrückt.
Senner war buchstäblich in meine Arme gefallen. Ich hatte ihn behutsam zu Boden gleiten lassen und auf ein letztes Wort, auf eine Erklärung von ihm gewartet, aber sie war nicht gekommen. Dann war ich nach draußen gerannt, vorbei an den vor Schreck erstarrten Gästen, dem Killer hinterher.
Auf der Straße hatte ich zunächst seinen Vorsprung verringern können, aber als er in ein Abbruchhaus abbog und im Keller verschwand, konnte er seinen Vorsprung wieder ausbauen. Im Dunkel des Fabrikkellers war es ihm gelungen, mich abzuschütteln.
Ich wies auf den Toten. „Ist er oft zu Ihnen gekommen?“, fragte ich Sigi Schäfer.
„Nein“, antwortete der Barbesitzer. »Ich sah ihn heute zum ersten Mal.“
„Überhaupt — oder nur als Gast?“
„Überhaupt“, sagte Schäfer.
Ich runzelte die Augenbrauen und fragte mich, warum Navid Senner dieses Lokal als Treffpunkt gewählt hatte, eine Bar, von der er anscheinend nur den Namen und die Adresse gekannt hatte.
„Ich habe ein gutes Gedächtnis für Gesichter“, fügte Sigi Schäfer hinzu. „Ich wüsste es genau, wenn er schon mal hier gewesen wäre.“
Ich nickte und schaute mich in dem Lokal um. Die Gäste machten ziemlich betretene Gesichter. Niemand fehlte. Sie hatten sich ausnahmslos an meine Aufforderung gehalten, das Eintreffen der Mordkommission abzuwarten.
„Sind Sie ’n Bulle?“, fragte mich Schäfer. Ich zeigte ihm meinen Ausweis. „Ah, ein Privatdetektiv“, murmelte er beeindruckt. Dann zog er hörbar die Luft durch die Nase. „Ziemlich unangenehm für Sie, was?“, fragte er.
„Das drückt es milde aus“, sagte ich.
Sigi Schäfer hatte recht. Am nächsten Tag würde die Presse über die Polizei im Allgemeinen und über mich im Besonderen herfallen.
Privatdetektiv unfähig, Ermordung eines Informanten zu vereiteln!
Niemand würde fragen, wie es dazu gekommen war.
Verdammt, ich hatte am Tresen mit dem Rücken zur Tür gesessen und Navid Senner erwartet. Ich hatte nicht ahnen können, dass er von einem Killer verfolgt wurde. Als ich die Schüsse hörte und vom Hocker sprang, war es bereits zu spät gewesen.
„Wer von Ihnen hat den Mörder gesehen?“, fragte ich in die Stille hinein.
Die Mehrzahl der Gäste senkte die Blicke. Einige schauten mich an. Niemand antwortete.
„Setzen Sie sich bitte auf die Plätze, die Sie einnahmen, als die Schüsse fielen“, bat ich.
Zwei Männer wechselten die Stühle, die anderen blieben sitzen. Ich ging auf einen Graukopf zu, der ein dunkelgrünes Samtsakko mit schwarzen Reverseinfassungen trug und das so aussah, als sei es vor zwei Tagen vom Pariser Montmartre importiert worden.
„Sie saßen mit dem Gesicht zur Tür“, stellte ich fest. „Sie müssen den Mörder gesehen haben.“
„Es kam zu plötzlich“, meinte der Mann. „Ich war in Gedanken. Ich starrte in mein Bier. Als es knallte, zuckte ich hoch. Ich glaube nicht, dass ich den Mann wiedererkennen würde. Er hatte den Hut tief in die Stirn gezogen. Jetzt fällt mir ein, dass er Handschuhe trug — beigefarbene Sporthandschuhe, wie sie früher Autofahrer benutzen. Sie kennen diese Dinger — die mit dem offenen Rücken.“
„Wie alt war er?“
„So um die dreißig herum, würde ich sagen.“
Das kam hin. Der Mörder war ungewöhnlich behände gewesen. Ein Älterer hätte das nicht geschafft.
„Versuchen Sie sich an seine Kinn- und Augenpartie zu erinnern“, bat ich ihn.
„Hm, das Kinn war eckig. Ein richtiger kleiner Kasten. Die Augen? Dunkel, glaube ich. Aber darauf möchte ich mich nicht festlegen. Wie ich bereits erwähnte, ging alles viel zu schnell — und bei künstlichem Licht wirken alle Augen dunkler.“
Ich nickte und beugte mich über den Toten. Als er mir in die Arme gefallen war, hatte ich ein Abzeichen an seinem Anzugrevers gesehen. Ich fasste unter Senners Körper und zog die Anstecknadel aus seinem Jackett.
Sie hatte die Form eines Dreiecks. Ein gelbes Emaille-Feld wurde von einem blauen Silberrand eingefasst. In dem Feld befand sich ein Ritterhelm. Über dem Helm war die Abkürzung P. M. H. zu sehen. Die Anstecknadel hatte etwa die Größe eines Daumennagels.
Die Tür öffnete sich. Inspektor Barisic, Dr. Faber, der Polizeiarzt, und ein paar Männer der Mordkommission betraten das Lokal. Während sich der Arzt neben Senner hinkniete, suchten sich die Fotografen die besten Aufnahmewinkel heraus. Inspektor Barisic zog mich beiseite. Er verlor kein Wort darüber, dass ich ihn aus seinem gemütlichen Heim gerissen hatte.
„Wie ist es passiert?“, fragte er.
„Navid Senner rief mich gegen siebzehn Uhr im Büro an“, berichtete ich. „Er machte einen erregten Eindruck und sagte, dass er mich unbedingt sprechen müsste — aber nicht in meinem Büro. Er wollte nicht riskieren, dass ihn jemand sah, wie er eine Detektei betrat. Er schlug dieses Lokal vor und nannte als Zeit zweiundzwanzig Uhr fünfzehn. Ich war pünktlich zur Stelle.“
„Sie kannten den Mann?“, unterbrach mich Barisic.
„Flüchtig“, nickte ich. „Er war noch vor vier Jahren ein Angehöriger der Stadt-Polizei und hatte gerade begonnen, sich die Karriereleiter hochzuarbeiten, aber dann zwang ihn seine angegriffene Gesundheit zum Ausscheiden aus dem Dienst. Nach seiner Genesung versuchte er sein Glück zunächst als Mitglied eines Werkschutzes, dann machte er sich selbständig und wurde Privatdetektiv.“
„Ein Kollege von dir“, sagte der Inspektor sinnend.
Barisic betrachtete den Toten. Senner trug einen nicht ganz neuen Anzug, der an den Ellenbogen stark glänzte. Die Schuhe waren ebenso alt und ausgetreten.
„Besonders gut kann es ihm dabei nicht gegangen sein“, meinte der Inspektor.
„So sieht es aus“, gab ich zu. „Ich weiß nur, dass sein Büro in einer guten Gegend liegt.“ Ich überlegte kurz. „Seine abgetragene Kleidung gehörte vielleicht zu seiner Tarnung. Eigentlich habe ich ihn ja als stets elegant gekleidet in Erinnerung.“
„Okay“, sagte Barisic. „Was passierte, als er hereinkam?“
„Ich sah ihn nicht hereinkommen. Ich hörte nur die Schüsse und zuckte auf meinem Barhocker herum. Navid Senner torkelte getroffen auf mich zu, der Mörder stürmte hinaus.“
„Sie haben ihn nicht gesehen?“
„Nur seinen Rücken. Ich folgte ihm bis in die verlassene Fabrik, dort schaffte er es, mich im Keller abzuschütteln. Ich habe das Gefühl, dass er sich dort auskannte. Er hatte seinen Wagen auf dem Fabrikgrundstück geparkt und konnte entkommen.“
„Konnten Sie das Kennzeichen erkennen?“
„Nein. Alles, was ich erkennen konnte, war, dass er vermutlich einen großen SUV fuhr.“
„Vermutlich?“
„Es war dunkel und die Sicht im Fabrikhof schlecht. Bis hier her drang nur wenig Licht.“
„Das ist nicht gerade viel, was du zu bieten hast.“
Ich zeigte dem Inspektor das Abzeichen. „Das Ding trug Senner an seinem Revers.“
Barisic betrachtete die Nadel kopfschüttelnd. „Sehe ich zum ersten Mal. Kennen Sie den Verein?“
„Nein. Haben Sie was dagegen, wenn ich die Nadel zunächst behalte? Ich benachrichtige Sie, sobald ich weiß, welchem Klub sie als Aushängeschild dient.“
„Okay“, sagte Barisic und setzte dann hinzu: „Meine Leute werden sich auch in der Fabrik umsehen. Vielleicht entdecken wir dort einen Hinweis auf den Mörder.“
Die Fotografen hatten ihre Aufnahmen geschossen. Dr. Faber drehte behutsam den Kopf des Toten herum. Sigi Schäfer, der interessiert zusah, trat einen Schritt zurück.
„Das ist ein anderer!“, stieß er hervor. „Das ist nicht der Mann, der beim Hereinkommen erschossen wurde!“
Einige der Gäste sprangen auf. Ich war mit zwei Schritten bei dem Toten.
Ich blickte in ein Gesicht, das alle vertrauten Züge verloren zu haben schien.
*
„Wir waren alle hier — die Gäste, Jürgen, der Mixer, und ich“, sagte Sigi Schäfer hochgradig erregt. „Keiner von uns hat den Toten angefasst!“
„Das kann ich beschwören“, sagte einer der Gäste.
„Es muss der Mann sein“, meinte ein anderer. „Seht euch doch mal den Anzug an — den trug er, als er hereinkam.“
Natürlich war es Navid Senner. Daran gab es keinen Zweifel. Und doch war er es nicht. Sein Gesicht hatte sich völlig verändert. Es sah blau und verquollen aus wie bei einem Erdrosselten. Er sah sich selbst nicht mehr ähnlich.
„Die beiden Kugeln haben gründliche Arbeit geleistet“, meinte Dr. Faber leise. „Er muss sofort tot gewesen sein — na ja, sagen wir in zwei, drei Sekunden. Aber da ist etwas, das mir sehr zu denken gibt.“ Wie zur Verstärkung seiner Worte wies er noch zusätzlich auf das aufgeschwollene Gesicht des Toten.
„Was ist es?“, dränge Barisic.
Der Arzt kam mühsam auf die Beine. Er massierte sich den Rücken. „Oh, dieser verdammte Ischias!“, ächzte er. „Es sind die Kugeln“, fuhr er dann halblaut fort. „Ich habe das Gefühl, dass sie nicht nur aus Blei bestanden.“
„Sondern?“, forschte Barisic.
„Sie enthielten zusätzlich eine chemische Substanz“, meinte Dr. Faber. „Die Obduktion wird Genaueres ergeben. Wie soll ich Ihnen das erklären? Wir wissen, dass die meisten Armeen für den Notfall mit chemischen Kampfstoffen ausgerüstet sind. Es handelt sich dabei vornehmlich um Spezialgranaten, die von der Artillerie verschossen werden können — oder um Bomben. Ich habe das sichere Empfinden, dass der Tote mit einer Miniaturausgabe eines solchen Geschosses ins Jenseits befördert wurde.“
„Welchen Sinn sollte das haben?“, fragte der Inspektor verwundert. „Man kann den Tod nicht steigern. Was ein Klumpen Blei schafft, kann eine giftige Chemikalie nicht nachvollziehen. Man stirbt nur einmal.“
„Wie erklären Sie sich dann die Veränderungen im Gesicht des Opfers?“, fragte der Arzt. „Seine Zunge ist um das Doppelte ihrer Normalgröße angeschwollen...“
Ich stieß einen Pfiff aus. „Als ich Senner zu Boden gleiten ließ, war er noch nicht tot. Ich wartete vergeblich auf sein letztes Wort. Jetzt ist mir klar, weshalb es nicht kam. Das Gift gelangte schlagartig in Senners Blutkreisbahn und lähmte sein Nervensystem. Damit sind Ziel und Wirkung des Geschosses erklärt — es verhindert, dass der Sterbende noch etwas sagen kann.“
„Davon habe ich noch nichts gehört“, brummte Inspektor Barisic. „Zweifellos wäre das eine teuflische Erfindung.“
„Das ist eine teuflische Erfindung“, berichtigte der Polizeiarzt.
„Wer kommt an so eine Munition heran?“, wollte ich wissen.
„Jemand, der entweder gute Verbindungen oder sehr viel Geld hat“, meinte der Arzt Dr. Faber in seiner pragmatischen Art. „Vielleicht wollte der Täter auf Nummer Sicher gehen, da Dutzende von Mördern nur deshalb gestellt und verurteilt werden konnten, weil ihre sterbenden Opfer vor dem Tod mit zwei, drei Worten entscheidende Hinweise auf den oder die Täter zu geben vermochten.“
Ich blickte Sigi Schäfer an. „Kennen Sie jemanden in der Gegend oder unter Ihren Gästen, der einen großen SUV fährt?“, erkundigte ich mich.
„Nein, Ich kenne meine Gäste, nicht ihre Wagen.“
Ich nickte, steckte mir Senners seltsames Abzeichen an die Unterseite meines Anzugrevers, wechselte noch einige Worte mit Inspektor Barisic und verließ dann das Lokal. Ich hatte Mühe, ein paar neugierige Reporter abzuschütteln, die sich in der Bar eingefunden hatten, und kletterte in meinen Jaguar. Inzwischen war es dreiundzwanzig Uhr zehn geworden. Ich fuhr zu Senners Detektei.
Navid Senners Büroräume befanden sich in einem modernen zehnstöckigen Gebäude, das Büros und Apartments beherbergte. Als ich meinen Wagen in die Kellergarage des Gebäudes lenkte, sah ich, dass in Senners Büro noch Licht brannte.
Ich fand eine freie Box und fuhr mit dem Lift in die fünfte Etage. An diesem Korridor lagen nur Büros; es war dementsprechend still und leer. Ich näherte mich der Eingangstür zu Senners Büro auf Zehenspitzen.
Die Tür hatte eine Milchglasscheibe.
Navid Senner, Privatdetektiv.
Der Name stand in schwarzen, nur leicht verschnörkelten Lettern darauf. Das Ganze machte einen vornehm-seriösen Eindruck und passte in eine Umgebung von Anwalts- und Patentbüros. Es passte jedoch nicht zu der Aufmachung, in der es Senner erwischt hatte.
Ich hörte dumpfe Geräusche, die ich nicht gleich zu deuten wusste. Sie wiederholten sich in unregelmäßigen Abständen und ähnelten harten Faustschlägen. Ich riss die Tür auf und sprang über die Schwelle.
Mein Kraftaufwand erwies sich als unnütz, der erhoffte Überraschungseffekt verpuffte. Das kleine, modern eingerichtete Vorzimmer war leer. Die Tür zu Navid Senners Privatbüro stand jedoch weit offen.
„Ist da jemand?“, rief eine Mädchenstimme.
Im Rahmen der Tür tauchte eine junge Frau auf. Sie war dunkelhaarig und grünäugig. Ich schätzte die Frau auf zweiundzwanzig. Sie hatte eine Figur, die zum Träumen einlud, aber ich war nicht hergekommen, um meine Phantasie auf den Spielplatz zu schicken.
„Ich bin Harald Vokker“, sagte ich.
„Mein Name ist Gipsy Lahnstein“, stellte sich das Mädchen vor. Sie hatte zwei Wurfpfeile in der rechten Hand — bleistiftlange Metallkörper mit Stabilisierungsflossen aus Plastik und nadeldünnen Stahlspitzen.
„Ist Gipsy der echte Name?“, entfuhr es mir wenig diplomatisch, denn der Vorname passte irgendwie nicht zu dem Nachnamen.
Sie blickte mich nicht gerade freundlich an. War ihr Blick zuallererst von Skeptik geprägt, so zeigte sich nun ihr Ärger über meine Frage deutlich.
„Ich habe nicht vor, mich mit Ihnen über meinen Namen zu unterhalten“, sagte sie scharf.
„Tut mir leid, der Name ist ungewöhnlich in unseren Breiten.“
„Vielleicht haben meine Eltern ihn mir deshalb gegeben“, sagte sie und zog damit einen Schlussstrich unter dieses Thema.
Ich ging auf die Frau zu in das Büro. Sie trat zur Seite. Ich ließ die gepolsterte Tür hinter mir und schaute mich in Senners Büro um. Das Interieur war gediegen und teuer. Neben dem Safe lehnte eine lebensgroße Fotografie von Senner an der Wand. Sie war auf fingerdicken Kork geklebt und hatte dem Mädchen als Zielscheibe gedient. Ein halbes Dutzend Pfeile steckte in Navid Senners Kopf. Sie hatten die dumpfen Geräusche verursacht.
„Ist das Ihr Werk?“, fragte ich das Mädchen.
„Er hat’s verdient“, schimpfte Gipsy Lahnstein. „Navid hat mich versetzt.“
„Sie sind mit ihm befreundet?“
„Ich war’s“, sagte sie. „Jedenfalls bis heute. Damit ist es jetzt aus. Kein Mann hat das Recht, mich ohne Entschuldigung sitzenzulassen.“
„Navid war verhindert“, sagte ich. „Wann wollten Sie sich mit ihm treffen?“
„Um zehn.“
„Jetzt ist es halb zwölf. Warum haben Sie so lange auf ihn gewartet?“, fragte ich.
„Um ihm den Marsch zu blasen!“, sagte die junge Frau. Sie wandte mir den Rücken zu und verschoss die beiden Pfeile. Einer traf Senners Kopf, der andere die Wand. Die Frau drehte sich anschließend herum und mir zu. „Und was tun Sie hier — um diese Zeit?“
Ich nahm die Anstecknadel von Navid zur Hand und zeigte ihr das Abzeichen. „Kennen Sie das?“
„Nein. Sind Sie Mitglied eines Geheimklubs?“, wollte sie wissen.
Ich schüttelte den Kopf. „Es gehört Navid. Sie müssen es schon einmal bei ihm gesehen haben.“
„Navid trägt keine Abzeichen — auch keine Ringe“, meinte die Frau. „Er hasst solchen Klimbim.“
„Seit wann sind Sie mit ihm befreundet?“
„Was geht Sie das an?“, fragte sie scharf.
Ich zeigte ihr meinen Ausweis. Sie drehte ihn vor und zurück, als bezweifelte sie die Echtheit des Ausweises. Dann gab sie ihn mir zurück.
„Hat er was ausgefressen?“, wollte sie wissen. Ich schüttelte den Kopf und steckte den Ausweis wieder ein.
„Wir kennen uns ein Vierteljahr“, sagte sie.
„Sie sind jünger als er“, stellte ich fest. „Viel jünger sogar.“
„Zwölf Jahre“, nickte Gipsy Lahnstein. „Na, und? Ich mache mir nichts aus Männern meines Alters. Sie haben kein Format.“
„Wann haben Sie Navid das letzte Mal gesehen oder mit ihm gesprochen?“
„Gestern“, sagte die Frau. „Wir haben miteinander telefoniert und dabei ausgemacht, uns um zehn bei ihm zu treffen. Hier im Büro.“
„Wie sind Sie hereingekommen?“
„Die Tür war offen“, sagte sie. „Ist Navid was passiert? Sie stellen so merkwürdige Fragen.“
„Er ist tot“, sagte ich.
Die Frau starrte mich an. Dann drehte sie sich langsam um. Sie musterte das pfeilgespickte Foto von Navid Senner, gab sich einen Ruck und ging darauf zu. Sie zog die Pfeile aus der Zielscheibe, einen nach den anderen. Sie ließ sie einfach zu Boden fallen. Dann warf sie ihre Arme um den Pappkameraden und begann zu schluchzen. Ich trat an den Schreibtisch. Auf der grünen Unterlage entdeckte ich drei Briefe, zwei Drucksachen und einen Umschlag, der von der größten Bank des Landes stammte. Ich riss den Bankbrief auf. Mir fiel ein Kontoauszug entgegen. Navid Senners Guthaben betrug dreihundertsiebenundzwanzigtausend Euro und zweiundvierzig Cent.
Gipsy Lahnstein drehte sich um. Ihr Gesicht war tränenüberströmt. „Wer hat es getan?“ fragte sie.
Ich gab keine Antwort. Ich starrte den Kontoauszug an. Navid Senner war reich gewesen, sehr reich sogar. Ich dachte an seine abgetragenen Schuhe und den abgewetzten Anzug. Ich verstand das alles nicht.
„Wer hat es getan?“, fragte das Mädchen erneut und trat an den Schreibtisch. Sie stützte sich mit beiden Händen auf die Platte. Ihre Stimme bebte, aber es war keine Angst darin. „Ich bringe den Kerl um!“
„Wussten Sie, dass Navid reich war?“, fragte ich sie.
„Klar wusste ich das“, antwortete sie. „Er zahlte mir fünfhundert im Monat plus Miete.“