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RUDOLF BUCHBINDER
DER LETZTE WALZER

33 Geschichten
über Beethoven, Diabelli
und das Klavierspielen

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Dieses Buch entstand nach Gesprächen zwischen Rudolf Buchbinder und Axel Brüggemann, aufgezeichnet von Axel Brüggemann.

Besuchen Sie uns im Internet unter: amalthea.at

Inhalt

Thema

Variation Nr. 1Leitmotiv meines Lebens

Variation Nr. 2Für Elise und für Profis

Variation Nr. 3Das Marketing-Genie

Variation Nr. 4Wanderung durch Wien

Variation Nr. 5Jedem Komponisten ein Baum

Variation Nr. 6Der kuriose Komponist

Variation Nr. 7Beethoven lässt sich bitten

Variation Nr. 8Vom intimen zum großen Konzert

Variation Nr. 9Das ungehörte Testament

Variation Nr. 10Was ich (nicht) denke, während ich spiele

Variation Nr. 11National und international

Variation Nr. 12Schubert, das andere Genie

Variation Nr. 13Die ersten Kompositionen treffen ein

Variation Nr. 14Künstler spielen für ein Autograf

Variation Nr. 15Czernys Beethoven

Variation Nr. 16Boogie-Woogie

Variation Nr. 17Ich zieh den Hut vor seinem Mut

Variation Nr. 18Antonia von Brentano

Variation Nr. 19Geheimnis einer Locke

Variation Nr. 20Der Uraufführer Hans von Bülow

Variation Nr. 21Andere über die Variationen

Variation Nr. 22Beethovens Mozart

Variation Nr. 23Was für ein Krickelkrackel

Variation Nr. 24Variation und Veränderung

Variation Nr. 25Üben mit einem Komponisten

Variation Nr. 26Gedanken eines Klavierspielers

Variation Nr. 27Beethoven und das Geld

Variation Nr. 28»Raptus-Variation«

Variation Nr. 29Beethoven für die Jugend

Variation Nr. 30Wem gehört Beethoven?

Variation Nr. 31Gedanken zum 250. Geburtstag

Variation Nr. 32Beim Betrachten einer Beethoven-Büste

Variation Nr. 33Zurück zu sich selbst

Zum Weiterlesen und Nachblättern

Bildnachweis

Namenregister

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Thema

Kaum ein anderes Werk begleitet mich so lange und so intensiv wie Ludwig van Beethovens Diabelli-Variationen. Im Jahr 1819 schickte der Wiener Musikverleger Anton Diabelli einen kleinen Walzer an verschiedene Komponisten und bat sie um eine individuelle Variation. Allein Beethoven antwortete nicht mit einer Variation, sondern – nach vier Jahren Arbeit – mit 33 Veränderungen, die Diabelli sofort veröffentlichte.

Hans von Bülow, der Dirigent und Pianist, nannte die Diabelli-Variationen einmal den »Mikrokosmos des Beethoven’schen Genius«. Die Idee dieses Buches ist es, aus diesem Mikrokosmos heraus ganz unterschiedliche Beethoven-Ideen zu entwickeln, das Genie aufzufächern und ganz nebenbei meine persönliche Beziehung zum Klavierspiel und zu jenem Komponisten zu beschreiben, der mich und mein Leben begleitet wie kein anderer.

Für mich wird in den Diabelli-Variationen die Größe Beethovens deutlich: Humorvoll, wütend, melancholisch oder swingend – es gibt keinen Seelenzustand, den er hier nicht beschreibt. Außerdem sind die Diabelli-Variationen Musik über Musik, eine Fortsetzung von Bachs Goldberg-Variationen und bis heute ein Labyrinth ganz unterschiedlicher Querverweise, Zitate und Verbindungen.

Ein Jahr nach Beethovens Variationen hat Anton Diabelli auch die 50 Variationen der anderen Komponisten herausgegeben. Für mich war der 250. Geburtstag Beethovens Anlass, um im Projekt Diabelli 2020 Komponisten unserer Zeit zu beauftragen, Variationen auf Diabellis alten Walzer zu schreiben. In Konzerten und einer Einspielung für die Deutsche Grammophon spiele ich sowohl Beethovens Diabelli-Variationen als auch ausgewählte Variationen seiner Zeitgenossen und natürlich die von mir in Auftrag gegebenen Variationen.

Dieses Buch erzählt in 33 Kapiteln, die ich Variationen nenne, vollkommen unterschiedliche Geschichten über Beethoven, über die Diabelli-Variationen und über das Klavierspiel. Ein pianistisches Panoptikum über Beethovens letzten Walzer, von dem ich hoffe, dass es Sie inspiriert.

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Variation Nr. 1

Leitmotiv meines Lebens

Im November 1960 schrieb mir mein wunderbarer Lehrer Bruno Seidlhofer mit einem blauen Kugelschreiber auf die Wiener Urtext-Ausgabe von Beethovens Variationen für Klavier folgende Widmung: »Meinem lieben Rudolf Buchbinder mit den besten und herzlichsten Wünschen für die Zukunft.« Der Musikwissenschaftler und Leiter der Gustav Mahler Gesellschaft, Erwin Ratz, hatte das Heft damals herausgegeben, Seidlhofer hatte die Fingersätze beigetragen. Und nun widmete er mir, seinem Schüler, ein Exemplar. Zwei Jahre, nachdem ich in seiner Meisterklasse an der Musikhochschule in Wien aufgenommen worden war. Ich war damals 13 Jahre alt. Seidlhofer, zu dessen Schülern auch Martha Argerich und Friedrich Gulda gehörten, nannte mich in der Regel weder Rudolf und schon gar nicht Buchbinder – ich war für ihn einfach der »Burli«. Und für den »Burli« lagen die Diabelli-Variationen, die er mir an diesem Tag überreichte, als Aufführungsstücke noch in weiter Ferne.

Zwei Jahre später kam Seidlhofer erneut mit Diabelli zu uns Schülern – dieses Mal mit einer wunderbaren Idee. Er wollte einen Diabelli-Abend veranstalten, und dafür sollte der »Burli« die ersten 25 der 50 Variationen des sogenannten »Vaterländischen Künstlervereins« spielen (da sie alphabetisch geordnet sind, waren es die Variationen von »A« wie Ignaz Aßmayer bis »M« wie Joseph Mayseder). Ein Kommilitone übernahm den zweiten Teil (von Ignaz Moscheles bis Johann Hugo Worzischek), und eine finnische Studentin durfte schließlich Beethovens 33 Veränderungen spielen.

Erst heute wird mir bewusst, was für einen Eindruck dieser Aufführungsabend bei mir hinterlassen hat. Diabellis Walzer und seine verschiedenen Variationen sollten mich ein Leben lang begleiten, ja sie wurden ein Schlüsselwerk für mein Verständnis von Beethoven und des Klavierspiels an sich.

1973, elf Jahre nach unserem studentischen Diabelli-Aufführungsabend an der Musikhochschule, war es für mich selbstverständlich, dass ich in den Berliner Teldec-Studios nicht nur Beethovens Diabelli-Variationen einspielte, sondern auch die 50 Variationen des »Vaterländischen Künstlervereins«. Das war ich meinem Lehrer Seidlhofer schuldig. Soweit ich weiß, war es damals die einzige Einspielung aller 50 Variationen, und viele Menschen bekamen diese weitgehend unbekannten Stücke nun zum ersten Mal zu hören.

Mein größtes Ziel in jener Zeit war es aber, irgendwann einmal sämtliche Sonaten Beethovens aufzunehmen. Doch ich wusste, dass ich diesen Gipfel behutsam stürmen musste, und hatte mir vorgenommen, zunächst einmal alle anderen Klavierwerke Beethovens in Angriff zu nehmen. Die ersten Stücke wurden auf sechs Langspielplatten dokumentiert, und 1976 bekam ich die Möglichkeit, erneut sechs Platten einzuspielen – dieses Mal mit sämtlichen Beethoven-Variationen. Ich entschloss mich, auch die Diabelli-Variationen erneut aufzunehmen, da es mir falsch schien, eine alte Aufnahme in das groß angelegte Beethoven-Projekt einzuschmuggeln. Also hieß es: noch einmal Diabelli – zum zweiten Mal in drei Jahren.

Viel später, als einer meiner eigenen Schüler mir von seiner Begegnung mit dem großartigen bulgarischen Pianisten Alexis Weissenberg erzählte, musste ich sehr lachen. Denn durch ihn erfuhr ich, welchen Spitznamen ich inzwischen bei meinen Kollegen hatte. Mein Schüler hatte Weissenberg berichtet, dass er bei mir studierte. Weissenberg soll ihn angeschaut und geschmunzelt haben, um dann trocken zu sagen: »Ah, bei Monsieur Diabelli!«

Tatsächlich hat mich in dieser Zeit kein anderes Werk Beethovens so sehr beschäftigt und herausgefordert wie die Diabelli-Variationen. Mein Onkel hat früh damit begonnen, all meine Auftritte in einem schwarzen Leitz-Ordner zu verzeichnen, und ich habe dieses kleine Ritual mit viel Spaß fortgesetzt. Jedes halbe Jahr trage ich meine letzten Auftritte in diesen Ordner ein. Und so kann ich nun feststellen, dass ich die Diabelli-Variationen bislang genau 99 Mal öffentlich gespielt habe. Der Zufall will es, dass ausgerechnet die Aufführung im Wiener Musikverein zum 250. Beethoven-Jubiläum und zum Auftakt des Projektes Diabelli 2020 das 100. Mal sein wird, dass ich diese Stücke öffentlich spiele.

Als ich beschlossen habe, Beethovens 33 Veränderungen 44 Jahre nach der letzten Einspielung erneut aufzunehmen (dieses Mal für die Deutsche Grammophon), war mir sofort klar, dass sich mein ganz persönlicher Diabelli-Kreis nur schließen würde, wenn ich die Variationen erneut – so wie einst mit Bruno Seidlhofer – mit jenen Variationen der Komponisten des »Vaterländischen Künstlervereins« zusammenbringen würde. Mit dieser Überlegung ging die Idee des Projektes Diabelli 2020 einher, in dem sich die Vergangenheit und die Gegenwart miteinander vereinen sollten: Warum nicht Komponisten unserer Zeit vor jene Herausforderung stellen, der sich einst auch der junge Franz Liszt, der jugendliche Franz Schubert und der weise Carl Czerny gestellt haben? Warum nicht mit Diabelli-Variationen unserer Zeit den Bogen in die Vergangenheit schlagen?

Vor mir liegen die Noten, die Bruno Seidlhofer mir vor 60 Jahren geschenkt hat: ein unscheinbares weißes Heftchen, das für mich aber eine große Bedeutung hat. Mit gelber Farbe hat mein Lehrer, als wir später gemeinsam an Beethovens Diabelli-Variationen gearbeitet haben, hier seine Anmerkungen für mich eingeschrieben: Pedal-Anweisungen, Pausen und Gestaltungsvorschläge. Wenn ich heute, mit 73 Jahren, daran zurückdenke, wie Bruno Seidlhofer mir, dem 13-jährigen »Burli«, mit seinem Kugelschreiber seine Widmung auf die Beethoven-Variationen kritzelte, frage ich mich, ob er sich damals schon vorstellen konnte, welch großen Einfluss dieses Geschenk auf mich, auf mein Musizieren und mein Leben haben würde. Kaum eine andere Komposition Beethovens verfolgt mich so lange, so intensiv und fordert mich noch heute immer wieder zu einer neuen, tiefen Begegnung mit diesem einzigartigen, in allen Formen Grenzen überschreitenden Komponisten heraus wie das op. 120. Beethovens letzter Walzer ist, wenn man so will, eines meiner Lebens-Leitmotive geworden.

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Variation Nr. 2

Für Elise und für Profis

Auf die Frage, wer Beethoven war, gibt es für mich keine klare Antwort: Beethoven war so vieles. Vor allen Dingen war er ein Kind seiner Zeit. Einer Zeit, die sich im andauernden Wandel befand. Ein Zustand, der mir als Kind der Nachkriegszeit unvorstellbar ist. Ich habe nur eine Staatsform kennengelernt, zum Glück war es die Demokratie. Auch meine Welt hat sich verändert, aber nie wurde sie derart aus den Angeln gehoben und infrage gestellt wie jene Welt, die Beethoven umgab.

Er wuchs in Bonn auf, wo die Kölner Kurfürsten Maximilian Friedrich und Max Franz eine aufgeklärte und liberale Politik betrieben, und ging 1792 nach Wien, das mit 250 000 Einwohnern durchaus schon eine Weltstadt war. Hier wurde der moderate Kaiser Leopold II. gerade von seinem Sohn Franz II. beerbt, der die humanistischen Reformen des Vaters schnell kassierte. Beethoven erlebte, wie Napoleon mit dem Ruf nach Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit durch Europa tobte, er unterstützte den Franzosen als Hoffnungsträger des Humanismus, bis der sich am 2. Dezember 1804 selbst zum Kaiser krönte, und Beethoven – so das Wort, das man ihm in den Mund legt – angeblich erkannte, dass Napoleon auch nur einer sei »wie alle anderen«. Beethoven erlebte die Schlacht von Austerlitz, komponierte mit Wellingtons Sieg eine Art akustische Kriegsbeschreibung vom Untergang Napoleons bei Waterloo (bei der Uraufführung wirkten übrigens viele Komponisten der Diabelli-Variationen mit), er erlebte das Ende der alten europäischen Ordnung und die Neuordnung Europas beim Wiener Kongress, für den Österreichs Außenminister Metternich umgerechnet eine Milliarde Euro ausgab, um die Gäste aus aller Welt zu unterhalten. Das damalige Kulturangebot wurde unter anderem vom Walzerkönig Johann Strauß gestaltet, aber auch Beethoven gab in dieser Zeit drei erfolgreiche sogenannte Akademien und wurde zum Ehrenbürger Wiens ernannt.

All die existenziellen Umbrüche, die Beethoven erlebte, beeinflussten natürlich auch seine Musik. Am besten ist seine Zerrissenheit vielleicht am Titel der dritten Symphonie abzulesen, die Beethoven Bonaparte nannte, was er aber nach der eigenhändigen Kaiserkrönung Napoleons wieder zurücknahm.

Doch nicht nur die Zeitläufte bestimmen den Klang eines Komponisten, sondern auch dessen jeweilige Auftraggeber. Beethoven lebte von musikbegeisterten Zeitgenossen wie Graf Ferdinand von Waldstein, der ihn in Bonn unterstützte und 1792 seine Reise nach Wien finanzierte. Dort nahmen sich dann unter anderem Joseph von Lobkowitz und Karl von Lichnowsky seiner an. Das neue Bürgertum und der Adel waren die aufsteigende Klasse und verlangten – anders als zuvor die Kirche – Musik, die auffiel, die größer, radikaler und provokanter war als alles zuvor. Dennoch schrieb Beethoven natürlich auch für amtierende Machthaber und Könige, unter ihnen Zar Alexander I., Preußen-König Friedrich Wilhelm II., der König von Schweden und Erzherzog Rudolph. Zuweilen war aber auch die Liebe sein Auftraggeber, und er komponierte für Damen, die sein Herz gewonnen hatten, oder für musikalische Dilettanten, die sich in den Wiener Salons ein Stelldichein gaben. Außerdem spielte Beethoven regelmäßig auf den damals beliebten Klavierduellen, bei denen er andere Pianisten durch seinen Einfallsreichtum und seine technischen Qualitäten quasi von der Bühne fegte. All diese verschiedenen Auftraggeber bestimmten ebenfalls die Vielfalt seiner Kompositionen.

Um die Bedeutung der Diabelli-Variationen zu verstehen und sich über Beethovens kompositorische Breite klar zu werden, über sein transzendentes musikalisches Denken ebenso wie über seine Bodenständigkeit, sei mir ein kurzer Exkurs in eine vollkommen andere Beethoven-Welt erlaubt. Ist es nicht amüsant, dass eines der weltweit bekanntesten Klavierstücke Beethovens nicht op. 57, die Apassionata, oder op. 106, die Hammerklaviersonate, nicht seine Klaviersonate Nr. 32, op. 111, und auch nicht die Diabelli-Variationen sind, sondern ein knapp dreiminütiges Gelegenheitswerk, das nicht einmal eine Opus-Zahl trägt? Der Klavier-Gassenhauer Für Elise! Während Beethovens Spätwerk, seine komplexen Streichquartette ebenso wie seine Klavierwerke, es weit über seinen Tod hinaus (manche bis heute) schwer hatten, begleitet ein Stück wie Für Elise unseren profanen Alltag. Es läuft sogar in den Warteschleifen unserer Telefonanlagen, wird auf kleine, kitschige Spieluhren gepresst und in jedem Souvenirladen (selbst in den Beethoven-Museen in Wien) feilgeboten. Da ich ein begeisterter Cineast bin, finde ich es spannend, dass ausgerechnet Für Elise Filmgeschichte geschrieben hat, obwohl ihm jede Eigenschaft üblicher Filmmusik abgeht. In Rosemaries Baby von Roman Polański wird es in der Nachbarwohnung geübt und erklingt als nervige und gespenstische Vorahnung, in Lizenz zum Töten begleitet Für Elise sogar eine Liebesszene von James Bond (was heute betrachtet fast schon unfreiwillig komisch wirkt), und wenn der geniale österreichische Schauspieler Christoph Waltz als typischer Nazi in Quentin Tarantinos Inglourious Basterds auftritt, erklingt ebenfalls Für Elise – dieses Mal als ironischer Kommentar deutscher Hochkultur, die so gar nicht zum Nationalsozialismus zu passen scheint. Was Christoph Waltz freilich nicht davon abhält, bereits in den ersten Minuten versteckte Juden ausfindig zu machen und zu erschießen.

Was ich sagen will: Es ist dieses – im Vergleich zu den Diabelli-Variationen – nun wirklich nicht geniale Gelegenheitswerk, das überall zitiert wird, wenn Beethoven gemeint ist. Da hält höchstens das Anfangsmotiv der fünften Symphonie oder Beethovens neunte Symphonie mit, der Stanley Kubrick in Uhrwerk Orange ein Denkmal gesetzt hat. Chuck Berry hat Beethoven einen eigenen Rock’n’Roll-Song komponiert, die Beatles (ebenfalls Beethoven-Liebhaber) ließen auf einer ihrer Platten die Mondscheinsonate rückwärtslaufen. Es besteht also kein Zweifel, dass Beethoven in der Rock- und Popkultur als Idol aufgenommen wurde. Nur das Spätwerk, zu dem auch die Diabelli-Variationen gehören, hat es bis heute nicht in die Populärkultur geschafft. Immerhin hat sich Thomas Mann ausführlich mit dem op. 111 auseinandergesetzt. Aber ein Film, der sich mit den Diabelli-Variationen beschäftigt, ist zumindest mir nicht bekannt. Das verwundert natürlich auch nicht, denn sie sind viel zu komplex, zu tief und ungreifbar. Alles andere als eine populäre Oberfläche, und genau darin liegt wohl auch ihr eigentlicher Wert.

Beethovens Mut, sich in dieser Komposition eine Freiheit von allen Zwängen zu nehmen, ist in seiner Radikalität noch heute äußerst modern. In den Diabelli-Variationen folgt er keinem Zeitgeist, befriedigt keinen Repräsentationsanspruch eines adeligen Gönners oder eines politischen Herrschers und zielt auch nicht darauf ab, möglichst oft in den Wiener Salons gespielt zu werden – dafür sind die Variationen schlicht zu kompliziert.

Ich finde es wichtig, die Diabelli-Variationen aus diesem Grundgedanken heraus zu verstehen. Musikhistoriker fragen sich, warum Beethoven sich ausgerechnet von einem eher simplen Walzer wie dem von Anton Diabelli zu einem der komplexesten Werke inspirieren ließ. Meine Antwort ist: Vielleicht weil Diabellis Vorlage ihn in keine Richtung drängte, weil die Einfachheit des Themas (Beethoven nannte es despektierlich einen »Schusterfleck«) ihm alle Freiheiten gab, weil der Walzer, den Diabelli ihm schickte, nicht gesellschaftlich, musikhistorisch oder irgendwie anders konnotiert war. Beethoven entwickelte offenkundig Spaß daran, Diabellis Material zu nehmen und es auf seine Möglichkeiten hin zu untersuchen. Dabei wurde er von keiner Verpflichtung getrieben, allein von den Möglichkeiten, die ihm die Noten und seine Fantasie boten.

Natürlich hätte Beethoven dem Verleger Anton Diabelli – so wie alle anderen Komponisten – einfach nur eine Variation schicken können, um mehr wurde auch er nicht gebeten. Stattdessen arbeitete er in unregelmäßigen Abständen vier Jahre lang an diesem Thema. Eine derartig lange Arbeitsphase ist nicht einmal lukrativ, und ich bin sicher, dass Beethoven geahnt haben wird, dass es die Variationen auch beim Publikum schwer haben würden. Ich gehe davon aus, dass Beethoven die wirklich wichtigen Werke seiner späten Phase hauptsächlich für sich allein geschrieben hat. Weil er sie schreiben musste.

Das wirklich Faszinierende an den Diabelli-Variationen ist, dass sie gleichsam alles sind und nichts Konkretes wollen. Sie sind in erster Linie Beethovens Beschäftigung mit dem, wofür er steht, sie sind Musik über die Musik. Zuweilen konkret über die musikalische Vergangenheit (Beethoven nimmt Bachs Goldberg-Variationen auf, zitiert Haydn, Mozarts Don Giovanni und immer auch sich selbst), aber auch über die Gegenwart und die Zukunft der Musik. Beethoven war so visionär, dass die Diabelli-Variationen erst 30 Jahre nach Drucklegung und weit nach Beethovens Tod durch Hans von Bülow uraufgeführt wurden. Beethoven hat sich in den Diabelli-Variationen von der Welt und von ihren Erwartungen befreit. Er wollte nicht mehr für irgendwelche Elises schreiben, sondern für Profis – oder mehr noch: für sich selbst und die Nachwelt.

Es wäre genauso absurd, Beethoven nur auf sein Spätwerk zu reduzieren, wie es absurd wäre, ihn nur mit Für Elise in Verbindung zu bringen. Beethoven war – und das macht ihn so besonders – vielfältig, ein Kind seiner Zeit, das aber immer wieder die Konventionen seiner Zeit gesprengt hat, vollkommen neues Terrain betrat und eine Welt erschuf, die für uns heute noch ein spannendes, emotionales und visionäres Rätsel ist.

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Variation Nr. 3

Das Marketing-Genie

Man mag darüber lamentieren, dass Marketing, Public Relations, Branding oder Öffentlichkeits-Strategien eine so große Rolle im modernen Musikbetrieb spielen – früher trug all das noch den schönen Namen »Werbung«. Aber Fotoshootings, Interviews und TV-Auftritte gehören längst zum Geschäft, und alles braucht – so sagen es PR-Experten – eine Story, ein Narrativ, einen PR-Plan. Nur so könne man Bach, Brahms oder eben Beethoven verkaufen. Wer die Geschichte der Diabelli-Variationen kennt und sich mit der schillernden Figur Anton Diabellis auseinandersetzt, weiß allerdings, dass all das überhaupt nicht neu ist. Im Gegenteil: Einige unserer Klassik-Marketing-Strategen könnten selbst heute noch einiges von Anton Diabelli lernen.

Schon sein Name ist ein großer Marketing-Clou, der in diesem Fall von seinem Vater erfunden wurde. Der hieß eigentlich Nikolaus Demon, stammte aus dem oberösterreichischen Aurolzmünster im Innkreis und beschloss, um seine Karriere als Musiker zu beflügeln und der italienischen Mode gerecht zu werden, sich in Diabelli umzubenennen. Ein Umstand, der seinem Sohn später sicherlich geholfen hat. Der fiel zunächst als vorzüglicher Gitarrist auf. Wäre es nach seinen Eltern gegangen, hätte Anton Diabelli die Priesterlaufbahn eingeschlagen. Der Grundstein dafür war bereits gelegt, als er das Zisterzienserkloster Raitenhaslach besuchte. Doch nachdem es 1803 säkularisiert wurde, entschloss Diabelli sich gegen eine Priesterkarriere und suchte sein Glück als Komponist in Wien. Hier arbeitete er zunächst als Aushilfe in einem Druckhaus, komponierte und gründete später selbst einen Verlag, um seine eigenen Werke zu veröffentlichen. Dann schloss er sich mit dem Verleger Peter Cappi zusammen und schrieb – man kann es nicht anders nennen – Verlagsgeschichte.

Um Aufmerksamkeit auf seinen jungen Verlag zu lenken, kam Diabelli auf die geniale Idee, 50 bedeutende Komponisten in einem Sammelband zu vereinen. Er ließ sie Variationen auf einen Walzer schreiben, den er komponiert hatte. Das war in zweifacher Hinsicht geschickt, denn Diabelli vereinte zwei Modeerscheinungen: den Walzer, der in den Ballsälen Wiens getanzt wurde, und die Kunst der Variation, die sich in den bürgerlichen Salons und Wohnstuben großer Beliebtheit erfreute. Dazu muss man wissen, dass ein Büchlein mit Klavier-Variationen zur Zeit Beethovens ungefähr dem entsprach, was später die Schallplatte oder eine CD war und was heute ein Musik-Stream ist: eine Möglichkeit, die Musik großer Künstler in die eigene Wohnung zu holen.

Dass die Stars der Wiener Musikszene Diabelli jeweils eine Variation geschickt haben, war bereits die halbe Miete für den Erfolg seines Projektes. Als dann auch Beethoven – der damals wohl bekannteste und erfolgreichste Komponist Europas – zusagte, Variationen über das Walzer-Thema des Verlegers zu komponieren, schien der Erfolg seines Druckwerkes garantiert.

Doch als Diabelli Beethovens Variationen in den Händen hielt, muss er geschluckt haben. Ihm muss sofort klar geworden sein, dass es sich bei diesem Werk um schier unspielbare Musik handelte. Um Noten, die nicht dazu gedacht waren, die Salons zu erobern oder auf der Straße gepfiffen zu werden. Beethoven hatte dem Verleger intellektuelle Kopf-Musik geliefert, einen in Noten gegossenen Diskurs über die Philosophie und die Geschichte der Musik, über die Grenzen der Harmonie hinaus – und eine vollkommene Neuerfindung der Variation.

Wie sollte der Verleger ein derart unspielbares Machwerk, das sich an einen exklusiven Zirkel intellektueller Musiker richtete und nicht an den musikalischen Mainstream, verkaufen? Am 16. Juni 1823 setzte Diabelli eine Anzeige in die Wiener Zeitung, in der sich sein Marketing-Genie offenbarte. Er pries Beethovens Variationen als einen einzigen Höhepunkt der Musikgeschichte an: