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© 2018 Pat Reepe

Herstellung und Verlag:

BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt

ISBN: 978-3-7528-4448-1

Für meine Jazmen.

Inhaltsverzeichnis

PROLOG

Fast schon schwül lastete die Luft schwer auf der kleinen Wiese.

Bunte Blütenkelche, grade im Begriff sich für den neuen Tag zu öffnen, unterbrachen fröhlich das Grün der wilden Gräser.

Die goldene Sonne malte einen letzten Eindruck von Hochsommer in den fast herbstlichen Himmel. Dessen wolkenloses Blau an diesem Tag auch nicht vom kleinsten Lüftchen getrübt werden sollte.

Nichts würde sich unter der brennenden Sonne mehr als unbedingt nötig bewegen.

Einzig eine kleine Gruppe Vlind surrte bereits tapfer durch die flirrende Luft.

Geteilt in Zweiergruppen sammelten sie die wertvollen Tautropfen ...

KAPITEL 1

„Ist das eine Hitze!“

Rima stöhnte und wischte sich mit dem Arm ein paar Schweißtropfen von der Stirn.

„Das ist ja echt kaum auszuhalten.“

Neben ihr stopfte Arya gerade den letzten Tautropfen in ihren Köcher. Sah dann zu ihrer Freundin auf. Rima hatte Recht. Es war schon jetzt viel zu heiß, die Luft schien beinahe still zu stehen. Das Arbeiten in der prallen Sonne war fast unangenehm.

Ihr Blick blieb an der Gestalt ihrer Freundin, den schönen rotbraunen Flügeln, hängen. Wie bei allen anderen weiblichen Vlind auch, waren ihre Kleider hauchdünn, kompliziert und aufwendig verwoben aus den so seltenen Seidenfäden der großen Wiesenspinne. Doch an Tagen wie diesem halfen weder ihre bloßen Arme noch die nackten Füße, um ihnen irgendeine Form der Abkühlung zu verschaffen.

Arya flatterte ein wenig schneller mit ihren Flügeln. Ein Versuch, sich selbst ein wenig kühle Luft zu zufächeln. In ihre eigenen Gedanken versunken, beobachtete sie ihre Freundin, wie diese sich umständlich ein paar feuchte blonde Strähnen aus dem Gesicht strich.

„Wir sind hier eh fertig. Lass uns doch mal schauen, ob wir irgendwo eine schattige Blüte finden können.“

„Oh ja!“ Rima nickte dankbar und schwang sich neben ihrer Freundin in die Luft.

Am Feldrain, unter der ausladenden Krone einer alten Kastanie, wurden sie schließlich fündig. Die beiden Vlind liessen sich Seite an Seite auf einer Klatschmohnblüte nieder. Deren tiefes Rot einladend aus dem tristen Grün der Gräser winkte und sich dabei doch furchtbar mit dem Rostton in Rimas Flügeln biss, kaum dass sie sich auf der Blüte niedergelassen hatte.

Arya verkniff sich ein Grinsen und schnappte sich beherzt den nächsten Tautropfen.

„So ein elender Mist!“, Rimas erboste Stimme ließ sie direkt wieder aufschauen.

„Es ist heiß, es klebt sowieso schon alles an mir. Und jetzt bin ich auch noch an den vermaledeiten Pollen gekommen. Das ist doch nicht zu fassen!“

Arya verdrehte stumm die Augen. Einen Kommentar ersparte sie sich lieber. Zu gut kannte sie das aufbrausende Temperament ihrer Freundin, welches so völlig gegensätzlich zu ihrem Eigenen war. Dennoch hatten sich die beiden Mädchen, quasi auf den ersten Blick, sofort verstanden. Inzwischen waren sie die besten Freundinnen, teilten Freud und Leid. Und auch, wenn die Eine die Beweggründe der Anderen nicht immer nachvollziehen konnte, waren sie doch immer und beinahe bedingungslos füreinander da. Rimas Aufregung um die Hitze und den Pollen konnte Arya allerdings mehr als gut nachvollziehen. Ewig nur Tau zu sammeln war ihr zuwider. Bei solchen Temperaturen, wie heute, war es eine ziemlich schweißtreibende Arbeit. Wenn man dann noch mit Pollen in Berührung kam, wurde der Tag unerträglich. Der Pollen ließ sich kaum abwischen. Klebte auf der Haut. Zäh wie Honig. Rima würde nur ein Bad im Fluss helfen.

Arya stopfte den Tautropfen in ihrer Hand in den Köcher und riskierte dann einen Blick hinein. Zu gut drei Viertel war er schon gefüllt. Lange würde es also nicht mehr dauern, bis Rima ihr Bad nehmen konnte. Sie sah auf und begegnete dem Blick ihrer Freundin. Rima hatte die Hände in die Hüften gestemmt und sah sie strafend an.

„Sag mal, was machst du denn?! Du hörst mir ja gar nicht zu.“

Nur ein kleines bisschen schuldbewusst zuckte Arya mit den Schultern.

„Ich arbeite! Was denkst du denn?! Deswegen sind wir doch hier!“, gab sie fast trotzig zurück.

„Außerdem je eher wir hier fertig sind, desto eher kannst du den klebenden Pollen abwaschen.“

„Sag bloß! Und deswegen kannst du mir nicht mal zuhören? Ich rede und rede! Und du ignorierst mich. Schöne Freundin.“

„Rede halt nicht so viel! Arbeite lieber. Mein Köcher ist fast voll. Was ist mit deinem?“

Rima schnitt ihrer Freundin eine Grimasse.

„Ach komm schon! Je schneller dein Köcher voll ist, desto früher kannst du dein Bad nehmen!“, lenkte Arya ein.

„Oh ja! Das ist auch dringend nötig.“ Rima drehte sich einmal um die eigene Achse. „So kann ich Nerut ja unmöglich unter die Augen treten!“

Ach ja, Nerut! Arya konnte sich gerade noch eben so ein Seufzen verkneifen. Nerut war Rimas Lieblingsthema. Seit 2 Monaten, 3 Wochen und 6 Tagen. Immer wieder drehten sich ihre Gedanken und ein Großteil ihrer Gespräche um den jungen Sammler. Aber wenigstens hatte Rima wieder begonnen zu arbeiten.

„Weißt du, dass Nerut mich gestern gefragt hat, ob wir uns nicht einen Korb teilen wollen?“

Arya schüttelte stumm den Kopf. Ertrug geduldig den schwärmerischen Vortrag ihrer Freundin. Sie gönnte Rima ihr Glück. Nerut war ein netter Kerl, genauso blond und blauäugig wie Rima. Mit seinem zitronengelben Flügeln harmonierte er perfekt mit dem Rostton von Rima. Sie gaben ein hübsches Paar ab. Zudem war Nerut ein bodenständiger und ruhiger Junge. Das perfekte Gegenstück zu Rimas überschäumendem Temperament. Nichtsdestotrotz hatte Arya heute keine große Lust den Lobeshymnen Rimas zu lauschen. Aber auch nicht genug Glück, dass das ihrer Freundin verborgen geblieben wäre.

„Arya!“

„Ja, sag mal, was ist denn heute mit dir? Du bist so abwesend!“

Arya zuckt mit den Schultern.

„Nichts! Es ist heiß!“

„Pfff“, Rima schürzte die Lippen. „Das hier ist übrigens die Stelle.«

„Was für eine Stelle?“

Rima verdrehte die Augen.

„Wenn du mal zuhören würdest …“

Arya verpasste ihrer Freundin einen Stoß mit dem Ellenbogen.

„Mecker nicht! Erzähl lieber. Was ist mit dieser Stelle?“

Rima verzog das Gesicht, konnte dann aber doch nicht widerstehen, ihrer Freundin die Geschichte noch einmal zu erzählen. Rima liebte gute Stories. Auch wenn die hier, zugegebenermaßen, ein bisschen gruselig war.

„Also gut. Hör zu. Nerut …“

Bei der Erwähnung des Namens ihres Freundes hob Arya drohend die Augenbrauen. Doch Rima winkte beschwichtigend ab.

„Hör doch erstmal zu. Also, Neruts Gruppe war gestern hier, zum Tau sammeln. Sie waren fast fertig, als irgendwas einen Teil der Gruppe aufgeschreckt hat.“

„Irgendwas?“

„Oder Irgendwer“, Rima zuckte mit den Schultern.

„Die Sammler konnten es nicht sagen. Sie haben nichts gesehen. Nur das die Stängel wie wild umherwirbelten und es furchtbar laut war.“

Arya kniff angestrengt die Augen zusammen. Heute war es ruhig. War es doch?!

„Als das was- auch- immer näherkam, haben sie fluchtartig den Heimweg angetreten. Die ganze Gruppe war zittrig und verstört. Sogar Nerut!“

„Hmm“, Arya beobachtete immer noch die Wiese um sich herum. Rima folgte ihrem Blick.

„Es scheint heute alles ruhig zu sein.“

„Hmm.“

„Vielleicht sollten wir dennoch näher bei den Anderen bleiben?“ Unsicher deutet Rima auf die restlichen Sammler ihrer Gruppe.

„Ach was“, Arya straffte sich. Sie würde sich doch nicht einfach so ins Bockshorn jagen lassen. Sie hatte keine Angst. Es war ein schöner ruhiger Tag. Obwohl die langen Halme der wilden Gräser schon ein bisschen raschelten. Aber die Blütenkelche waren allesamt sehr voll und schwer, die Gräser an sich schon sehr hoch. Vermutlich lag es daran. Wirklich still ist es auf einer Wiese niemals ganz vollkommen. Oder? Ach verdammt. Da auch Arya das Gefühl der Unsicherheit nicht abzuschütteln vermochte, folgte sie ihrer Freundin näher zu den anderen Sammlern.

„Was hältst du eigentlich von Dilbar?“

Irritiert, ob des plötzlichen Themenwechsels, stoppte Arya abrupt neben ihrer Freundin.

„Wieso?“

„Na ja ...“ Rima warf einen vorsichtigen Blick in Aryas Richtung.

»Dilbar gehört doch zu Neruts Sammler - Gruppe.

Und er weiß von Nerut und mir und dass du und ich Freunde sind.“

„Ja und?“

Rima verdrehte theatralisch die Augen.

„Mensch, Nerut meint, Dilbar sei unsterblich in dich verknallt. Und wir sollten euch beide einander vorstellen.“

„Mich und diesen Gockel?“ Arya warf ihrer Freundin einen strafenden Blick zu.

„Niemals!“

„Mensch Arya! Gib ihm doch erstmal eine Chance. Du kennst ihn doch gar nicht. Vielleicht trügt der erste Eindruck ja.“

Selbst für Arya hörte es sich an, als versuche Rima mehr sich selbst, als ihre Freundin, zu überzeugen.

„Ja vielleicht. Aber ich glaube eher nicht.“

Zu oft hatte Arya den stolzen Vlind aufgeplustert mit offenen Flügeln herumstolzieren sehen. Klar war er eine Augenweide. Seine leuchtend petrolfarbenen Flügel, mit der auffallend goldenen Zeichnung waren schön und selten. Nur dummerweise wusste das Dilbar auch. Arya hielt ihn für furchtbar eitel und oberflächlich.

„Ach komm schon. Er hat sicher noch andere Qualitäten.“

Arya bedachte Rima mit einem finsteren Blick.

„Du meinst, er kann noch mehr? Mehr als nur schön auszusehen?“

„Arya!“ Rima zerrte unsanft an den langen schwarzen Haaren ihrer Freundin. „Manchmal bist du echt unmöglich!“

Sie baute sich vor Arya auf.

„Weißt du, das ist echt nicht nett. Aber klar, wäre er ein Heiler, würdest du dich wohl mehr für ihn interessieren.“

Die Erwähnung des Heilers hob Aryas Stimmung nicht gerade. Aus zusammengekniffenen Augen starrte sie ihre Freundin finster an.

„Aber Dilbar hat auch Qualitäten. Nerut meinte, er wäre ein hervorragender Flieger. Als sie sich gestern vor dem was- auch- immer in Sicherheit gebracht haben, war er einer der Schnellsten!“

„Klar doch! Auf der Flucht, vor etwas das er noch nicht mal gesehen hat, war er der Schnellste! Prima!“

„Man Arya. Vergiss doch mal deinen Heilertrip. Der guckt dich doch nicht mal mit dem Arsch an.“

„Ich will von dem auch gar nicht angeguckt werden“, fauchte Arya zurück.

„Nein! Du willst lieber selber ein Heiler werden“, konterte Rima aufgebracht.

„Aber du bist nun mal kein Kerl und nicht ausgewählt worden. Wirst du das irgendwann akzeptieren?“

Arya biss sich auf die Lippen und schwieg. Rima hatte zielsicher ihren wundesten Punkt getroffen. Ein einfacher Sammler zu sein, reichte Arya tatsächlich nicht. Sie liebte die Natur, kannte alle Pflanzen und Kräuter und hatte einen ausgeprägten Faible für Magie. So gerne wäre Arya ein Heiler geworden. Aber, und auch da hatte Rima Recht, Heiler konnte man nur werden, wenn man ein männlicher Vlind war und zudem vom Hohen Rat der Vlind ausgewählt wurde. Arya war Keins von Beidem. Trotzdem konnte und wollte sie nicht aufgeben.

„Diesen Gesichtsausdruck kenne ich!“, stellte Rima auch just in diesem Moment fest.

„Du hast dich schon wieder beworben?!“

Das war keine wirkliche Frage. Daher beschloss Arya, auch gar nicht erst zu antworten. Die Ablehnung, die ihr am Morgen zugestellt worden war, hatte schon genug geschmerzt. Sie brauchte nicht auch noch einen Streit darüber mit Rima. Wütend stopfte sie den letzten Tautropfen in ihren Köcher. Fertig. Wenigsten etwas war geschafft. Ein Blick auf Rima zeigte ihr aber, dass sie so einfach nicht davonkommen würde.

„Mensch Arya, gib´s doch auf. Die lassen dich niemals Heiler werden! Selbst wenn du dich noch 200 mal bewirbst!“ Rima hatte sich regelrecht in Rage geredet.

Angesichts Aryas verkniffenem Gesichtsausdruck tat es ihr aber schon fast wieder leid. So legte sie versöhnend einen Arm um Aryas Schultern. Dass die laufenden Ablehnungen ihre Freundin verletzten, konnte sie schon verstehen. Arya musste damit aufhören.

„Heiler werden nur die Jungs. Und du bist nun mal Keiner. Deswegen werden sie deine Bewerbungen immer wieder ablehnen.“, sagte sie sanft.

Arya nickte. Genau das war das Problem.

Das Volk der Vlind folgte jahrhundertealten Traditionen. Nur Männer durften Heiler werden. Nur Männer konnten mit der Magie eines Heilers umgehen.

Pfff, Bullshit. Es wurde Zeit, dass mit diesen antiquierten Ansichten Schluss gemacht wurde. Das war doch längst überholt.

Arya kannte sich mindestens genauso gut mit Pflanzen und Heilkräuter aus, wie jeder Heiler. Das Wissen, welches man sich nicht in der Natur aneignen konnte, die Kniffe und Drehs, Geheimrezepte und besondere Wurzelkreationen wurden von Heiler zu Heiler, von Generation zu Generation weitergegeben. Das konnte man ihr nicht vorwerfen.

Auch nicht die fehlende Magie, mit der die besonderen Tränke zubereitet wurden. Denn die Magie wurde von den Erdgeistern verliehen. Kein Vlind besaß von Haus aus magische Kräfte.

Alles zusammen genommen war Arya also nicht schlechter geeignet, ein Heiler zu sein, als jeder andere Vlind im Schwarm. Nur weil sie ein Mädchen war, wurde sie gar nicht erst in Betracht gezogen. Das konnte Arya nicht auf sich sitzen lassen. Sie konnte nichts für ihr Geschlecht. Leistung sollte einfach mehr zählen als falsche uralte und längst eingestaubte Strukturen!

Sie schnaubte. Dem Hohen Rat würde sie es schon noch zeigen. Aufgeben würde sie nie!

„Du wirst nie aufgeben, oder?“ Arya schrak auf, als ihre Freundin ihre Gedanken so deutlich aussprach, als hätte sie sie hören können.

Das dumpfe Tröten aus dem Horn des Gruppenführers enthob sie einer Antwort. Der einmalige Laut forderte alle Sammler auf die Arbeiten einzustellen und sich beim Gruppenführer einzufinden.

Rima steckte den letzten Tautropfen ein und folgte dann ihrer Freundin zu dem Rest der Gruppe.

Tausammler zogen immer in wesentlich kleineren Gruppen los, als die Pollensammler. Der Tau war schwerer, die Köcher kleiner und eine kleine Gruppe weniger auffällig und damit besser geschützt, als eine größere Gruppe.

Die fünf restlichen Vlind gesellten sich zu Arya und Rima und direkt brach wildes Durcheinandergeschnatter aus.

Keinem gefiel die Hitze und Jeder war froh, für heute fertig zu sein.

Der Gruppenführer, Elos, rief seine Sammler zu Ordnung und informierte dann darüber, dass sie

zusammen mit der Gruppe von Nabilia zurückfliegen würden.

Die Ankündigung ließ die meisten Sammler grinsen. Wussten doch alle, dass Elos bis über seine beiden spitzen Ohren in die resolute Nabilia verliebt war. Die Beziehung war gerade am Anfang und die beiden Vlind suchten die gegenseitige Nähe, so oft sie konnten. Das der Eine auf den Anderen wartete, war also keine Seltenheit. Es störte auch kaum Jemanden. Rima sowieso nicht, gehörte doch Nerut zu Nabilias Gruppe.

Arya allerdings war genervt. Sie wollte zurück zum Heimatbaum. Wütend gab sie ihrem Köcher einen Schubs, um ihn auf ihren Rücken zu befördern. Allerdings war der Schwung viel zu groß. Einer der Träger blieb in der Spitze ihres linken Flügels hängen, der sich daraufhin nicht mehr ausklappen ließ.

Arya stürzte fast augenblicklich ab.

Hilflos ruderte sie mit den Armen in der Luft.

Mit nur einem Flügel konnte sie sich nicht in der Luft halten. Fast schon verzweifelt versuchte sie, den Gurt aus ihrem zweiten Flügel zu lösen. Ohne Erfolg.

Als sie das nächste Mal aufsah, war der Boden schon verdammt nah. Arya versteifte sich, ihr Herz schlug ihr bis zum Hals. Der Aufprall würde schmerzhaft werden.

...

Oder gar nicht erst stattfinden.

Zwei Arme fingen sie ungeschickt ab. Setzten sie einigermaßen schwungvoll auf dem Boden ab.

„Man, das war knapp.“

Arya erstarrte. Sie kannte diese Stimme.

„Meine Süße, was machst du denn für Sachen?“ Dilbar!

Arya überlief es heiß. Von allen Vlind musste ausgerechnet dieser Windbeutel sie retten. Sie knirschte mit den Zähnen.

„Liebes, hast du dir weh getan?“ Säuselte Dilbars leicht nasale Stimme nah neben ihr. Viel zu nah für ihre Begriffe. Arya schüttelte stumm den Kopf, während sie versuchte, Dilbars aufdringlichen Armen zu entkommen und nebenbei ihren Flügel aus dem Gurt zu befreien. Endlich gelang es. Mit einem Aufatmen spürte sie, wie der Gurt sich löste und auf Aryas Rücken rutschte.

Sofort tat sie einen Schritt von Dilbar weg und sah dem anderen Vlind ins Gesicht.

Nun ja.

Die blauen Augen. Das gleichmäßige Gesicht. Hübsch ist er ja schon, ging es Arya durch den Sinn.

„Du Süßester aller Vlinds, musst mehr auf dich Acht geben. Das hätte böse enden können.“

>Okay, er ist hübsch, solange er den Mund hält.<

Arya kniff die Augen zusammen.

„Vielleicht sollte ich es ab sofort übernehmen, auf dich zu achten! Was meinst du?“

„Bloß nicht!“

Arya schluckte. Mist, hatte sie das laut gesagt?

Dilbar ließ theatralisch die Mundwinkel hängen. Also ja, sie hatte.

Fast sofort tat es ihr leid. Immerhin hatte Dilbar sie gerettet und Recht hatte er auch. Das hätte für sie ziemlich böse oder zumindest äußerst schmerzhaft enden können. Also machte Arya einen Schritt auf den anderen Vlind zu.

„Also das heißt, dass ich hoffe, dass mir sowas Dummes nicht nochmal passiert. Danke! Danke, dass Du mich aufgefangen hast.“

Dilbar strahlte über´s ganze Gesicht.

„Wir sollten zurück zu den Anderen“, Arya schlug probehalber mit den Flügeln.

„Ja, komm, ich helfe dir.“ Bevor Dilbar nach ihrem Arm fassen konnte, hatte Arya sich mit ein paar gekonnten Flügelschlägen bereits in die Luft erhoben. Nur fast absichtlich außerhalb Dilbars Reichweite.

Angekommen bei der Gruppe, erkundigten Rima und Nerut sich direkt nach Aryas Befinden.

„Mir geht’s gut“, winkte Diese nur mürrisch ab.

„Ich konnte die Hübsche gerade noch auffangen“, prahlte da Dilbar direkt mit der Heldentat los. Das war ja noch unausstehlicher wie nur eitel zu sein. Glücklicherweise bliesen in diesem Moment beide Gruppenführer zum Aufbruch und die kleine Schaar Vlind setzte sich in Bewegung.

„Meine Hübsche, was meinst du zu einem Spaziergang um den Heimatbaum, wenn wir zurück sind?“, flüsterte Dilbar ihr zu. Der eitle Vlind hatte sich den Platz direkt neben Arya gesichert.

„Zwei so Schönheiten wie wir müssen doch einfach zusammengehören. Nicht wahr?!“ Erwartungsvoll strahlte Dilbar sie an.

Arya zwang sich zu einem halben Lächeln.

„Vielleicht“, und beeilte sich den anderen Vlind zu folgen.

KAPITEL 2

>Was in Drei - Teufels - Namen stimmt denn bloß mit mir nicht?!<

Frustriert ließ Arya das Kinn auf ihre, in sich verschränkten Hände sinken. Mit angezogenen Beinen und auf den Knien abgestützten Ellenbogen hockte sie auf dem Felsen.

Es war der Größte der Findlinge. die hier, mitten im Wald, den kleinen Fluss leicht anstauten. Das machte das hektische Wasser ruhiger und erlaubte den Vlind, es überhaupt zu betreten, ohne direkt von der Strömung mitgerissen zu werden.

Nur ein paar Meter flussaufwärts befand sich ihr Heimatbaum. Auf einer kleinen Lichtung, die zum Fluss hin leicht abfiel. Diese Stelle nutzten die Vlind zum Baden.

Arya konnte sie hören, wie sie sich lachend unterhielten und sich dabei den Pollen vom Körper wuschen.

Die Magie, die den Heimatbaum schützte, umfasste auch die Badestelle am Fluss. Reichte aber nicht, bis zu Aryas Versteck.

Kaum einer der anderen Vlind verließ den Schutz des Magieschildes, wenn es nicht unbedingt sein musste. Daher kannte auch kaum ein anderer Vlind Aryas Lieblingsplatz.

Einmal abgesehen von ihrer Freundin Rima. Aber Rima hatte derzeit ja nur Augen für Nerut.

Und da Arya sich nicht ständig wie ein lästiges Anhängsel fühlen wollte, hatte sie sich in den letzten Tagen immer öfter hier hin zurückgezogen. Die drei großen alten Rhododendren schirmten sie vor allzu neugierigen Blicken ab.

So konnte Arya ganz ungestört ihren Gedanken nachhängen. Oder, so wie heute, einfach missmutig ins Wasser starren.

Es wollte ihr absolut nicht in den Kopf, warum alle anderen mit den ihnen zugeteilten Rollen und Aufgaben glücklich und zufrieden waren und sich nur in ihr der Widerstand regte.

Widerstand gegen eine Zuordnung, eine Zugehörigkeit zu einer Gruppe, getroffen über ihren Kopf hinweg.

Arya konnte sich mit der Haltung des Hohen Rates dazu überhaupt nicht arrangieren.

Noch bevor ein Vlind seine Flugfähigkeit erreichte, wurden seine Aufgaben, und damit ja auch irgendwie sein Lebenszweck festgelegt.

Der Hohe Rat der Priester entschied, wer Sucher, Sammler und Heiler wurde. Keiner hatte ein Mitspracherecht.

Arya knirschte angesichts dieser Willkür mit den Zähnen.

>Nur weil es seit Jahrhunderten so gemacht wird, ist es noch lange nicht richtig!<

Der Hohe Rat hatte Arya zum Sammler verdammt. Zumindest empfand sie es so. Denn Arya wäre lieber ein Heiler geworden.

Doch die Priester hatten anders entschieden. Was Arya wollte, war egal.

Gerade dieses Sture, sich auf uralte Regeln berufen, war es, dass Arya keinen Frieden finden ließ.

Sage und schreibe elf Mal hatte sie sich beworben. Und genau elf mal war sie abgelehnt worden. Abgelehnt aus nur einem Grund: Sie war ein Mädchen.

Arya wusste nicht, was sie mehr schmerzte: die totale Ignoranz ihrer Werte und Kenntnisse oder die diskriminierende Bewertung ihres Geschlechts.

Jedesmal aufs Neue fühlte sie die Demütigung. Dennoch konnte sie nicht anders, als sich immer wieder neu zu bewerben.

Rima hatte heute Morgen beim Tausammeln versehentlich den Nagel auf den Kopf getroffen und ihr damit einen erneuten Stich versetzt.

Dabei meinte es Rima nur gut. Sie wusste genau, wie die ständigen Ablehnungen Arya schmerzten. An manchen Tagen kam einfach alles zusammen. Erst wurde ihr morgens die erneute Ablehnung des Hohen Rates zugestellt, dann bohrte Rima in der Wunde. Auch wenn sie Recht hatte, es hatte verdammt weh getan. Selbst das Unverständnis der Freundin schmerzte ein bisschen. Und dann quasi als Krönung, fiel sie auch noch dem Windbeutel Dilbar in die Arme. Ausgerechnet!

Wütend sprang Arya von ihrem Stein auf. Doch noch bevor sie sich in die Luft schwingen konnte, wurde sie am Arm gepackt und eine bekannte Stimme säuselte:

„Hallo meine Schöne! Rima hatte ja tatsächlich Recht. Sie hat mir verraten, dass ich dich hier finde.“

Arya fuhr zusammen.

>Dilbar, ausgerechnet Dilbar!<, schoss es ihr durch den Kopf. >hatte ich nicht gerade gedacht, der Tag könnte nicht mehr schlimmer werden?!<

Sie drehte sich zu dem ungebetenen Gast um, der ihrer ungeachtet eifrig weiterredete.

„Mein Herzchen“, blubberte Dilbar. „Was ist das hier? Ich konnte es ja nicht glauben, dass du dich wirklich alleine und ungeschützt außerhalb des Magieschildes herumtreibst. Was machst du denn hier? Weißt du denn gar nicht, wie gefährlich das ist? Du Dummchen brauchst wirklich Jemanden, der auf dich Acht gibt!“

Er legte einfach einen Arm um ihre Schultern.

„Hier kann dich jeder unserer Fressfeinde einfach so vernaschen. Dabei würde doch viel lieber ich das tun.“, grinste er ihr anzüglich ins Gesicht.

In Arya hingegen stieg die blanke Wut auf.

Erst drang er auf so dreiste Weise in ihren heiligen Rückzugsort ein und hielt sich anschließend noch für absolut unwiderstehlich. Es war nicht zu fassen.

Rima konnte echt was erleben, wenn sie sie in die Finger bekam.

Wie konnte sie diesem Windbeutel ihr Versteck verraten. Arya ballte die Hände zu Fäusten, am ganzen Körper zitternd vor unterdrückter Wut.

Dilbar deutete ihr Zittern augenscheinlich anders. Denn er schlang nun auch noch den anderen Arm um Arya und zog sie ganz nah an sich heran. Mit der linken Hand strich er ihr beruhigend über den schmalen Streifen ihres Rückens, genau zwischen den Flügeln.

„Schh, schh Schätzelein, ich wollte dir Hübschen doch keine Angst machen.“

Stocksteif stand Arya da, mit allem hatte sie gerechnet, nur nicht damit.

„Komm, meine Schöne. Ich bringe dich zurück unter den Schutz des Magieschildes. Ab sofort werde ich besser auf dich achten. Du wirst nie wieder allein herumstreifen und dich aus dem Schutz des Heimatbaumes heraus verlaufen.“

„Nie wieder alleine?“

„Verlaufen??“

Arya stemmte Dilbar die Hände in die Brust. Sie wollte sich von ihm wegschieben, Abstand zwischen sie Beide bringen. Doch auch diese Geste missverstand Dilbar. Seine Arme schlossen sich fester um Arya und er beugte sich langsam etwas vor.

Und noch ehe Arya empört erklären konnte, dass sie lieber allein war als bei ihm und dass sie sich auch keinesfalls verlaufen hatte … küsste er sie.

Mitten auf den Mund.

Völlig überrumpelt tat Arya … gar nichts. Ihr Kopf war wie leergefegt. Sie stand nur da. Ließ den Kuss geschehen.

Dilbar löste sich von ihr. Arya wollte einen Schritt zurücktreten, aber ihr Körper gehorchte ihr nicht. So blieb sie, wo sie war.

Zumindest solange, bis das leicht debile Grinsen auf Dilbars Gesicht in ihr Bewusstsein drang und ihre Wut erneut anfachte. Doch der farbenfrohe Vlind merkte davon rein gar nichts. Zu gefangen war er in der Vorstellung, was für ein schönes Paar sie beide doch waren.

Er fasste Aryas Hand und zog sie hinter sich her, in Richtung Heimatbaum.

„Wir zwei Schönheiten müssen zusammen sein. Schließlich sind wir das hinreißendste Paar des ganzen Schwarms.“ Frohlockte Dilbar glücklich.

Mit einem Ruck entzog ihm Arya ihre Hand und blieb stehen. Sofort war Dilbar neben ihr.

„Schöne, hast du dich verletzt?“

Arya setzte bereits zu einer wenig freundlichen Antwort an, als plötzlich lautes Geschrei erklang.

„Das kommt vom Heimatbaum“, stellte Dilbar überrascht fest.

Dann musste sich der prächtige Vlind beeilen, um Arya folgen zu können. Diese strebte so wortlos wie eilig dem Heimatbaum entgegen.

Der Anblick, der sich ihr dort bot, war verstörend. Von der sonstigen Ordnung war nichts mehr zu spüren. Hunderte Vlind flogen kreuz und quer durcheinander. Sie jammerten und klagten, einige weinten.

Arya sah sich um, konnte aber keine unmittelbare Gefahr ausmachen. Wo war das Problem? Was hatte den Schwarm so aufgescheucht?

„Guter Gott. Was ist denn hier passiert.“

Arya beachtete Dilbar nicht weiter, sondern suchte die aufgelösten Vlind nach bekannten Gesichtern ab.

Auf einem Pilz, vor der Wurzel des Heimatbaumes sah sie Rima unruhig auf und ab gehen. Sofort flog sie auf ihre Freundin zu. Dass Rima nicht allein war, bemerkte Arya erst, als sie schon neben ihr auf den Pilzkopf landete. Nerut saß vor ihr. Ein Bild des Jammers. Mit gesenktem Kopf und hängenden Flügel starrte er auf seine in seinem Schoß ineinander verkrampften Hände.

„Nerut?“, Arya hockte sich vor ihn hin. „Was ist denn passiert?“

Rima legte ihr eine Hand auf die Schulter.