die Autorin:

Silke Bauerfeind wurde 1970 geboren und lebt mit ihrer Familie in der Nähe von Nürnberg. Sie studierte Kulturwissenschaften mit den Fächern Literaturwissenschaft, Philosophie und Geschichte und arbeitet als Autorin, Bloggerin und freischaffende Künstlerin.

Neben den beiden Lyrikbänden „Wunderstachelblumenanderswelt“, „Da Capo al Fine“ und dem Erzählband „Blütenschwarz“ veröffentlichte sie gemeinsam mit der autistischen Malerin Kristin Behrmann das Kunstbuch „Meine Lieblingsfarben klingen“.

Einen umfassenden Einblick in ihre Arbeiten geben ihre Websites:

www.silke-bauerfeind.com und www.ellasblog.de

© 2016 Silke Bauerfeind, zweite, leicht veränderte Auflage 2019

Herstellung und Verlag:

BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt

ISBN 9 783741 258633

Umschlaggestaltung: Kristin Behrmann

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und der Autorin unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Inhalt:

Mein Körper fühlt – mich?

Meine Augen sehen dich.

Es denkt in mir – wer bin ich?

Klug und voller Liebe erkennst du mich

Mein Kind

Wunder

Klarheit

Sinn.

Zu diesem Buch

Vor einigen Jahren initiierte ich die Website Ellas Blog (www.ellasblog.de). Als Mutter eines nicht-sprechenden frühkindlichen Autisten war es mir ein Bedürfnis, Erlebnisse zu schildern und Erfahrungen weiterzugeben und damit anderen Eltern in ähnlicher Situation ein Gefühl von Solidarität zu vermitteln. Aber auch praktische Hilfestellungen in Form von Checklisten und Tipps finden häufig Platz innerhalb der Beiträge.

Mit der Zeit wurde Ellas Blog zu einer beliebten Anlaufstelle für Familien mit autistischen Kindern. Anekdoten aus dem Alltag und Anregungen für die Bewältigung täglicher Herausforderungen sind regelmäßig zu lesen. Darüber hinaus kommentieren Autistinnen und Autisten oder beteiligen sich mit Gastbeiträgen, was ich persönlich als sehr wertvoll empfinde.

Auch von Pädagogen, Ärzten und Therapeuten bekomme ich Rückmeldung darüber, dass die Eindrücke über das Familienleben mit autistischen Kindern bereichernd seien. Sie würden dazu beitragen, den Kontext der Kinder und auch die Denk- und Fühlweise von Eltern besser zu verstehen.

In diesem Buch greife ich diese Erfahrungen nicht nur auf, sondern erweitere sie durch die Schilderungen anderer Eltern.

Um möglichst vielfältige Erfahrungswerte in dieses Buch einbringen zu können, hatte ich im Vorfeld einen sehr persönlichen Fragebogen entwickelt und an diejenigen verschickt, die sich gerne an der Befragung beteiligen wollten. 1 Es handelt sich um keine wissenschaftlich fundierte Auswertung mit repräsentativen Ergebnissen. Ich bekam jedoch in den 183 Rückläufen sehr unterschiedliche Antworten zu Themen, die uns alle mehr oder weniger beschäftigen. Die Unterschiedlichkeit in der Betrachtung mancher Fragestellungen, Ereignisse und Entwicklungen fließt in dieses Buch mit ein, so dass nicht nur meine eigene Sichtweise transportiert wird.

Das Lesen der Antworten hat mich sehr berührt, oftmals fühlte ich mein eigenes Empfinden gespiegelt, manchmal las ich aber auch völlig unerwartete Antworten, die mein Denken in Bewegung brachten und mir halfen, eingefahrene Denkmuster zu reflektieren und manchmal auch zu verlassen.

Bereits beim Verschicken der Fragebögen hatte ich darum gebeten, nicht die realen Namen der Kinder und anderer Familienmitglieder anzugeben. Außerdem habe ich die Namen noch einmal abgeändert, wenn ich Auszüge aus den Antworten zitiere.

Bei allen, die mir mit dem Zusenden der Antworten ihr Vertrauen schenkten, möchte ich mich noch einmal herzlich bedanken. Ohne euer Mitwirken hätte das Buch in der vorliegenden Form nicht entstehen können. Außerdem versichere ich, dass, wie versprochen, vor Veröffentlichung dieses Buches alle Fragebögen gelöscht beziehungsweise vernichtet wurden.

Ich wollte eigentlich niemals autobiographisch schreiben und damit mein Privatleben an die Öffentlichkeit preisgeben. Der Gedanke, Menschen zu begegnen, die mein Buch gelesen haben und damit Teile meines Innersten kennen und detaillierte Informationen über meine Familie haben, ist ein bisschen gruselig. Daher schütze ich auch die Privatsphäre meiner eigenen Familie, indem ich sehr persönliche Ansichten und Beziehungen zu nahen Familienmitgliedern in die allgemeine Befragung miteinfließen lasse.

Aus diesem Grund habe ich übrigens auch meinen Alias Ella für den Internet-Blog geschaffen. Er enthält neben eigenen Gedanken auch beobachtete und mir erzählte Schilderungen. Ella ist somit authentisch, aber nicht real.

Das Verfassen dieses Buches ermöglichte mir, Blogartikel zu überarbeiten und manche Gedanken und Erzählungen auszubauen. Ein Beitrag, der im Internet platziert wird, sollte eine gewisse Länge nicht überschreiten, um ihn für das schnelllebige Netz interessant zu halten. Beim Lesen eines Buches konzentriert man sich länger auf Gedankengänge oder Erzählungen, lässt sich nicht so schnell von blinkenden und aufpoppenden Nebenschauplätzen ablenken und kann sich damit auch gut an einen Lieblingsplatz verkriechen.

Daher habe ich bereits veröffentlichte Beiträge vertieft, in neue Zusammenhänge gestellt und ohne den Gedanken an eine internetkompatible Anzahl von Zeilen ergänzt.

Zum Aufbau des Buches

Der erste Teil dieses Buches beschäftigt sich mit dem Themenkomplex Autismus. Es gibt unzählige Fachbücher über das Autismus-Spektrum; dieses Buch ist kein weiteres Fachbuch, sondern nähert sich der Thematik aus der Elternperspektive und wird daher mit vielen Erfahrungswerten angereichert. In diesem Sinne habe ich einige Informationen zusammengestellt, die sich in der Vergangenheit bereits bewährt haben und die zum Teil auch zum Weitergeben gedacht sind. Die meisten Checklisten und Zusammenstellungen findet man auch als kostenlosen Download auf Ellas Blog.

Der zweite Teil legt den Schwerpunkt auf das Empfinden und auf die Entwicklung von Eltern, die ein autistisches Kind großziehen.

Wir alle durchlaufen unterschiedliche Lebensphasen, die uns prägen, verändern und oftmals verbinden. Unseren Kindern kann es nur gut gehen, wenn es uns Eltern gut geht und daher halte ich es für wichtig, immer wieder das eigene Leben zu reflektieren und gut für sich zu sorgen.

Insgesamt ist meiner Meinung nach entscheidend, auch der Sichtweise von Autistinnen und Autisten Raum zu geben. Daher habe ich mich intensiv mit Betroffenen ausgetauscht, die kommunikativ deutlich fitter sind als zum Beispiel mein Sohn und mir so die autistische Perspektive näher bringen können. Es ist unverzichtbar, sich auf diese Weise mit dem Thema auseinanderzusetzen, denn wer weiß besser, wie es ist mit Autismus zu leben, als ein autistischer Mensch? Daher bin ich sehr froh über vielfältige Kontakte, die es mir möglich machten, Gesprächsinhalte in dieses Buch zu integrieren, aber auch direkte Zitate einzubauen.

Weil es auch autistische Eltern autistischer Kinder gibt und ich daher davon ausgehe, dass auch Menschen mit Autismus dieses Buch lesen, werden Redewendungen als Hilfestellung entsprechend gekennzeichnet. Überall dort, wo ein (rw) auftaucht, ist der Inhalt bitte nicht wörtlich zu verstehen.

In diesem Buch finden sich also mehrere Themenkomplexe, innerhalb derer sich verschiedene Beiträge versammeln – das sind meine Gedanken, gesammelte Eindrücke aus der Umfrage, kleine Anekdoten, Gedichte oder andere freie Textformen. Und es wird auch Raum sein für deine eigenen Gedanken, die du vielleicht spontan festhalten möchtest.

Das Buch muss nicht von vorne bis hinten durchgelesen werden, um die einzelnen Teile zu verstehen. Es kann auch direkt ein Thema aufgeschlagen werden, das möglicherweise gerade aktuell ist und brennt (rw). So wird dieses Buch vielleicht zu einem stetigen Begleiter in ganz unterschiedlichen Lebensphasen.

Als Anrede habe ich, wie du schon gemerkt hast, das lockere „du“ gewählt, da ich ein „Sie“ in diesem Zusammenhang für zu unpersönlich und unnatürlich empfinde. Ich hoffe, dass es mir nicht als mangelnder Respekt ausgelegt wird.

Möglichkeiten und Grenzen dieses Buches

In den meisten Anleitungen und Ratgebern zum professionellen Schreiben steht: „Richten Sie sich nicht nach dem, was der Markt verlangt und was gerade ‚gut geht’, sondern schreiben Sie über etwas, für das Sie brennen, über etwas, das Ihre Herzensangelegenheit ist.“

Nach bisher vier veröffentlichten Büchern, weiteren angefangenen und noch unvollendeten Romanfragmenten, ungeschliffenen Kurzgeschichten, die in der digitalen Schublade ihr Dasein fristen, und einigen Stufendiagrammen samt unvollständiger Plots, bin ich mit diesem Buch bei „meinem aktuellen Thema“ angekommen. Bevor ich mich den anderen Projekten widmen kann, musste jetzt zuerst dieses Buch geschrieben werden.

Ich verfüge über keine medizinische, therapeutische oder pädagogische Ausbildung, sondern habe Kulturwissenschaften mit den Fächern Literaturwissenschaft, Philosophie und Geschichte studiert. Was mich veranlasst, dieses Buch zu schreiben, ist die Tatsache, dass ich Mutter zweier wunderbarer Kinder bin. Mein Sohn ist derzeit 16 Jahre alt und erhielt vor zehn Jahren die Diagnose frühkindlicher Autismus mit hyperkinetischer Begleitkomponente. Seitdem ist einige Zeit vergangen – Zeit mit vielen Erlebnissen, Gedanken, Erfahrungen, guten und weniger guten Abschnitten, Begegnungen und Entwicklungen, über die ich im Februar 2014 begann auf Ellas Blog zu schreiben.

Das Autismus-Spektrum ist groß und vielfältig. Wie wir alle wissen, unterscheidet sich jeder Autist2 vom anderen, wie auch jeder andere Mensch sich von seinen Mitmenschen unterscheidet.

Mein Sohn spricht nicht und kommuniziert über Gebärdensprache, er hat einen unschlagbaren Humor und das Talent, trotz einiger herausfordernder Eigenheiten die meisten Menschen im Sturm zu erobern (rw). Er braucht Hilfe bei alltäglichen Handlungen wie Essen, Trinken, Anziehen, Toilettengängen und Hygiene und wird wegen Selbstgefährdung und Weglauftendenz rund um die Uhr beaufsichtigt. Für Ellas Blog und dieses Buch gab ich ihm den Namen Niklas.

Meine hier geschilderten persönlichen Erfahrungen beziehen sich auf das Leben mit ihm und ich bin mir darüber bewusst, dass nicht alles, was wir erleben, typisch für jede Form von Autismus ist. Daher erhebt auch dieses Buch nicht den Anspruch, für jede Familie mit einem autistischen Kind zu sprechen. Die erwähnte Umfrage und der Kontakt mit weiteren Familien tragen zwar dazu bei, dass andere Perspektiven und Erlebnisse in die Schilderungen einfließen, dennoch bleibt aber das Erleben in meiner eigenen und von Familien mit ähnlich stark von Autismus betroffenen Kindern wie Niklas vorherrschend. An einigen Stellen werde ich darauf wiederholt hinweisen, um Missverständnissen vorzubeugen.

Besonders wichtig ist mir noch klarzustellen, dass keine der Informationen und Erzählungen in diesem Buch dafür geeignet sind, Eigendiagnosen zu stellen. Für das Stellen von Diagnosen, das Einschätzen geeigneter Medikation oder therapeutischer Vorgehensweisen bedarf es immer qualifizierter Beratung und Betreuung, die dieses Buch nicht leisten kann und auch nicht möchte.

Aber ich wünsche mir, dass sich Eltern, Angehörige und Freunde mit ihren Gedanken, Gefühlen und Erlebnissen weniger alleine fühlen und vielleicht den einen oder anderen Tipp beim Lesen mitnehmen können.

Und ich wünsche mir, dass Fachleute, Ärzte, Therapeuten, Lehrer und andere, die beruflich oder ehrenamtlich mit Autisten und ihren Familien zusammenarbeiten, einen authentischen und intensiven Einblick in deren Leben bekommen.

Herzliche Grüße und hoffentlich bereichernde Stunden mit diesem Lese- und Erfahrungsbuch,

Silke Bauerfeind


1 Der Fragebogen findet sich im Anhang dieses Buches.

2 Der Einfachheit halber ist im Folgenden meistens von „der Autist“ die Rede, gemeint ist selbstverständlich auch die weibliche Form.

I - Ein Kind mit Autismus begleiten

autismus – alles und nichts

er ist alles und nichts

erreicht mich im innersten

und umgibt mich wie eine haut

er ist mir eingebrannt, pulsiert in mir

und lässt mich so sein

wie ich bin

er gehört zu mir

wie dein lachen

das mich glücklich macht

er fließt durch mich

umschwebt

unseren gemeinsamen raum

berührt dich

gleichermaßen wie mich

und wirft uns aus der bahn

er gehört zu mir

wie dein streicheln

in aufgeregten stunden

er kommt und geht

und ist dennoch immer da

er ist wie ein filter

durch den ich die welt sehe

dich wahrnehme und erfahre

wie ich bin und nicht bin oder sein soll

er gehört zu mir

wie dein halt

den du mir täglich schenkst

er ist meine vergangenheit

mein jetzt und meine zukunft

er gestaltet, was ich für möglich halte

wünsche und in mir trage

ich spiegele mich in ihm

weil er ich ist – so wie du du bist

er gehört zu mir

wie deine liebe

die du mir in schweren stunden zeigst

er hat keine größe, schärfe oder milde

er ist nur durch mich erlebbar

nicht greifbar und nachfühlbar

er ist ein teil von mir

ohne mich ist er nichts

er ist nur weil ich bin

er gehört zu mir

wie ich zu dir

und du zu mir

Gestatten? Ich heiße Autismus …

… und gehöre jetzt zu deinem Leben.

So ähnlich muss es sich vor etwa zehn Jahren auf einer Ebene angehört haben, von der ich damals so gut wie noch nichts wusste und die ich daher nicht wahrnehmen konnte. Ich hörte die Worte, etwas anders formuliert, aus dem Mund des Kinderpsychiaters, aber was es wirklich bedeutete, konnte ich damals nur ansatzweise vermuten.

Vielleicht war mir dieser Satz aber auch schon vor etwa siebzehn Jahren zugeflüstert worden, als ich meinen Sohn das erste Mal nach einer anstrengenden Geburt in den Armen hielt – diesen kleinen Kämpfer, der nicht lauthals wie einige Jahre zuvor seine Schwester das Leben schreiend begrüßte, sondern leise wimmernd, noch lange Zeit orientierungslos wirkend, bei uns ankam.

Sechs Jahre sollte es dauern bis wir an jenem Nachmittag von Niklas‘ Kinderpsychiater die Diagnose frühkindlicher Autismus mit hyperkinetischer Begleitkomponente erfuhren. Damit wurde ein Schlusspunkt hinter eine lange Reise des Suchens nach einer Diagnose gesetzt.

Das Gedicht autismus – alles und nichts, das vor diesem Kapitel abgedruckt ist, konnte ich erst nach vielen Jahren des Lernens mit und über das Leben mit einem autistischen Kind schreiben. Es drückt unter anderem aus, dass Autismus nicht etwas ist, das einem Menschen irgendwann einmal übergestülpt wird (rw) und das man mit irgendwelchen Therapien, Medikamenten, Diäten oder gar Operationen wieder beseitigen könnte. Nein, Autismus durchdringt die Persönlichkeit eines Menschen und macht ihn zu dem, der er ist, inklusive aller Begabungen und Schwierigkeiten.

Diese Erkenntnis halte ich für eine der wichtigsten, die man auf dem gemeinsamen Weg mit seinem Kind erhalten kann. Davon hängt ab, ob und wie weit wir Eigenheiten und Eigenwilligkeiten akzeptieren und ob wir versuchen, einen Weg zu finden, auf dem jeder er selbst bleiben kann. Und davon hängt auch ab, ob wir uns nachhaltig dagegen sträuben, den Autismus unseres Kindes in unserem Leben zu akzeptieren und zuzulassen oder ob wir uns auf dieses neue Leben mit seinen vielfältigen Facetten, Herausforderungen und Schönheiten einlassen.

Damit schließe ich selbstverständlich ein, dass Kinder gefördert werden sollten, aber eben auch, dass sie in ihrem Anderssein akzeptiert werden müssen, um ihre Persönlichkeit entfalten (rw) zu können.

Daher ist die Überschrift „Gestatten? Ich heiße Autismus und gehöre jetzt zu deinem Leben“ auch umgekehrt natürlich nicht so gemeint, dass alles, was einen Menschen mit Autismus ausmacht, nur sein Autismus wäre. Er ist ein unwiderruflicher Teil unserer Kinder, ist mit ihnen verwoben und macht sie zu den einzigartigen Menschen, die sie sind. Aber der Autismus ist nicht alles, was einen Menschen mit Autismus ausmacht.

Dieses Buch gibt im folgenden ersten Teil in Form integrierter Erfahrungsberichte einen Überblick über das Autismus-Spektrum, erhebt dabei jedoch nicht den Anspruch, umfassend aufzuklären. Vielleicht wünschst du dir, dich und euer Familienleben in den Erfahrungen anderer gespiegelt zu finden, dich bestätigt und solidarisch aufgehoben zu fühlen. Vielleicht wünschst du dir für deine Arbeit mit autistischen Menschen einen intensiven Einblick in deren Familienleben.

Eventuell ist es auch möglich, auf der Grundlage aufgedeckter Gemeinsamkeiten Neues zu entdecken.

Allgemeine Informationen und Alltagsbeispiele

Erste Anzeichen

Oft wird die Frage gestellt: „Woran hast du eigentlich gemerkt, dass dein Kind autistisch ist?“ oder „War das von Anfang an so?“

Weil die Kinder im Autismus-Spektrum sehr verschieden sind und meine Erfahrung nicht alle Antwortmöglichkeiten abdeckt, habe ich mich umgehört und gesammelt, wie das bei anderen Familien war. Dabei wird deutlich, dass die Auffälligkeiten manchmal bereits von Geburt an bemerkt, manchmal aber auch erst im Kindergarten- oder Schulalter offensichtlich werden. (Auch wenn in Zukunft sog. leichte, mittlere oder schwere Diagnosen im Autismus-Spektrum gestellt werden, da die Übergänge zwischen den einzelnen Formen von Autismus fließend sind, werden bei den geschilderten Erfahrungen die Diagnosen angegeben, die bei den Kindern in der Vergangenheit gestellt worden waren.)

Daniela sagte mir: „Als mein Sohn dreieinhalb war, wurde ich im Kindergarten darauf angesprochen, dass irgendetwas anders ist als bei anderen Kindern. Es war aber noch nicht greifbar und so vergingen weitere Jahre ohne Diagnostik. Erst in der zweiten Klasse wurde er als Atypischer Autist diagnostiziert.“

Meltem schrieb, dass sie immer schon das Gefühl hatte, mit ihrer Tochter sei etwas anders. Durch Zufall stieß sie auf die Beschreibung des Asperger-Syndroms und hatte ein „Aha-Erlebnis“ nach dem anderen. Die Diagnostik schloss sich an und der Verdacht bestätigte sich. Ihre Tochter war zu diesem Zeitpunkt schon 14 Jahre alt.

Susanne erzählte von den Auffälligkeiten ihres Sohnes im Kindergarten. Das deckte sich mit den Erfahrungen zuhause, denn bis zu seinem vierten Lebensjahr hatte er sich normal entwickelt. Dann blieb plötzlich nach und nach die Sprache aus, Gelerntes verlor sich wieder und er zog sich zurück. Sie wurden von der Frühförderung betreut. Mit fünf Jahren wurde ihr Sohn als Atypischer Autist diagnostiziert.

Bernd erzählte mir von Stereotypien, die mit eineinhalb Jahren bei seinem Sohn auffielen. Dazu kam ein ausgeprägter Sortier- und Ordnungsdrang. Er hatte dazu einen nahezu mikroskopischen Blick, erkannte jeden Fussel oder Krümel auf Oberflächen und sortierte sie zur Seite. Die Diagnose Asperger-Syndrom erhielt sein Sohn mit knapp vier Jahren.

Angela schrieb: „Wir ahnten schon lange, dass etwas nicht stimmt, aber es ging trotzdem irgendwie weiter. Als er in die Schule kam, hatte er aus heiterem Himmel Wutanfälle und Schreiattacken. Wir wussten damals nicht, warum. Heute weiß ich, dass er von einem Overload3 in den nächsten rutschte. Die Diagnose Asperger-Syndrom erhielt er, als er acht Jahre alt war.“

Miro sagte mir, dass sein Sohn als Baby und Kleinkind unauffällig war und sich normal entwickelte. Er zeigte allerdings kein Hungergefühl und wurde daher nach Stundenplan gefüttert. Erst im Kindergarten wurde auf Rafaels untypisches Spiel- und Sozialverhalten hingewiesen. Nach ausgedehnter Diagnostik habe sein Sohn mit acht Jahren die Diagnose Asperger-Syndrom erhalten.

Die Kinder mit frühkindlichem oder Kanner-Autismus sind fast immer schon von Geburt an oder kurz darauf auffällig:

Marianne schrieb mir: „Mein Sohn hat von Anfang an sehr viel geschrien, lange keinen Blickkontakt aufgenommen und war äußerst berührungsempfindlich. Die Sprachentwicklung blieb aus, er entwickelte auch kein Spielverhalten. Ich recherchierte selbst im Internet und kam irgendwann um das Thema Autismus nicht mehr herum. Als mein Sohn vier Jahre alt war wurde frühkindlicher Autismus diagnostiziert.“

Susa erzählte mir, dass ihr Sohn sich während der Schwangerschaft kaum bewegt hatte und als Baby wie ein kleines Kätzchen gejammert und nie richtig laut geschrien habe. Es schien ihm gleichgültig zu sein, wer ihn auf den Arm nahm, er machte keinen spürbaren Unterschied zwischen fremden Personen und Eltern. Zudem war er hypoton, spuckte viel Milch und Brei wieder aus. Die Hypotonie führte auch regelmäßig zu Verstopfungen, weil der Darm zu träge war. Dazu kamen eine fehlende Sprachentwicklung und motorische Entwicklungsverzögerungen – er konnte erst mit vier Jahren laufen. Nach Ausschluss einiger genetischer Syndrome folgte mit fünf Jahren die Diagnose frühkindlicher Autismus.

Romina schrieb: „Meine Tochter schlief eigentlich nie. Sie machte niemals Mittagsschlaf, schlief nicht normal ein, sondern nur aus Erschöpfung, wenn es gar nicht mehr anders ging. Insgesamt ist ihr Schlafbedürfnis bis heute sehr gering. Sie spricht nicht und verhält sich anderen gegenüber distanzlos. Wir erhielten die Diagnose frühkindlicher Autismus, als Romina drei Jahre alt war.“

Tom erzählte vom Kinderarzt, der der Familie behutsam Untersuchungen im Sozialpädiatrischen Zentrum empfahl, da er eine Diagnose im Autismus-Spektrum vermutete. Damals war sein Sohn erst ein Jahr alt, lautierte nicht, schlief kaum, konnte noch nicht laufen und hatte scheinbar kein Interesse an seiner Umwelt. Es bestätigte sich mit drei Jahren die Diagnose frühkindlicher Autismus.

Dirk schrieb mir, dass sein Sohn schon von Geburt an anders war. Er schrie viel, kam nie zur Ruhe, schlief wenig, behielt kaum Essen bei sich und entwickelte keine motorischen Ambitionen zum Krabbeln oder gar Laufen. Das Sprechen, das mit etwa drei Jahren einsetzte, war ein echolalisches: er wiederholte alles, was er hörte, unzählige Male, beteiligte sich aber nicht adäquat an Gesprächen. Schnell war er frustriert und wurde aus für die Familie damals unverständlichen Gründen sehr wütend. Mit vier Jahren bekam er die Diagnose frühkindlicher Autismus.

Auch bei Annas Sohn fiel auf, dass er nicht reagierte, wenn man ihn rief, dass er selten Blickkontakt aufnahm und sich keine Sprache entwickelte.

Bei Adis Tochter waren es zusätzlich der Zehenspitzengang und die flatternden Arm- und Handbewegungen, die auffielen.

Beide spielten nicht mit Spielzeugen, sondern beschäftigten sich vor allem über den Mund mit auch ungenießbaren Materialien. Sie erhielten mit drei Jahren die Diagnose frühkindlicher Autismus.

Bei den Schilderungen einiger Eltern fiel mir auf, dass es manchmal einen großen Unterschied macht, ob das autistische Kind bereits ältere Geschwister hat oder nicht. Wenn noch kein anderes Kind da ist oder es keine näheren Erfahrungen mit Kindern in der Familie oder im Freundeskreis gibt, ist die allgemeine Verunsicherung darüber, ob man alles richtig macht, verständlicherweise größer. Leider wird einigen Eltern in dieser Situation von manchen Fachleuten eingeredet, sie seien mitschuldig an der Situation, weil sie ihr Kind überbehüten oder zu wenig fördern würden.

An die Eltern, die noch keine Diagnose haben und ganz am Anfang stehen: Lasst euch keine Schuldgefühle einreden, nehmt die inzwischen sehr guten Informationsmaterialien selbstbestimmt und selbstmündig zu Hilfe, wenn ihr auch aufgrund der oben gesammelten Erfahrungen den Verdacht habt, euer Kind könnte irgendwo im Autismus-Spektrum „zuhause sein“.

Alles, was ich aufgeführt habe, sind nur einzelne, persönliche Schilderungen. Sie sind nicht vollständig und eignen sich nicht dazu, Eigendiagnosen zu stellen. Eine Diagnose kann nur durch eine qualifizierte Kinder- und Jugendpsychiatrie gestellt werden, die zudem auch die Differentialdiagnostik im Blick hat. Hier sind die Zuständigkeiten von Bundesland zu Bundesland manchmal unterschiedlich geregelt. Informationen gibt es zum Beispiel in den Autismus-Kompetenzzentren.


3 Erläuterungen dazu im Kapitel „Andere Wahrnehmung führt zu ungewohntem Verhalten“

Diagnosen nach ICD und DSM

Autismus beschreibt eine Variante der Entwicklung des Gehirns, die sich besonders in den Bereichen der Wahrnehmung und der Kommunikation zeigt und somit Auswirkungen auf alle Alltagsbereiche hat. Man spricht von einem Autismus-Spektrum, das bisher in drei grobe Bereiche gegliedert war: frühkindlicher Autismus, atypischer Autismus und Asperger-Autismus. Das wird sich jedoch ändern.

Als weltweit wichtigste Grundlage für die Diagnostik innerhalb der Medizin steht die Klassifikation ICD zur Verfügung. ICD ist aus dem Englischen übersetzt die Abkürzung für „Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme“. Die ICD-10 entspricht der momentan gültigen Version von 2012. In Deutschland sind Ärzte verpflichtet, Diagnosen nach der aktuell deutschen Version ICD-10-GM zu verschlüsseln. Der Katalog ist ein systemisches Verzeichnis und in verschiedene Kapitel unterteilt, deren Diagnosen jeweils mit einem bestimmten Buchstaben beginnen. Diagnosen aus dem Autismus-Spektrum beginnen mit dem Buchstaben „F“. Nach dem Buchstaben schließen sich Ziffern an, die die Diagnose weiter spezifizieren. Unter „F84.x“ finden sich der frühkindliche und atypische Autismus, das Asperger-Syndrom und das Rett-Syndrom.

Für die Diagnose einer psychischen Störung beziehungsweise von Verhaltensauffälligkeiten gibt es außerdem den amerikanischen Katalog DSM „Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders“, auf Deutsch „Diagnostisches und Statistisches Handbuch psychischer Störungen“. Im Gegensatz zum international gültigen ICD-10 ist der DSM ein nationales Klassifikationssystem der USA und beinhaltet genauere diagnostische Kriterien, ohne interkulturelle Perspektiven zu berücksichtigen. Dafür beinhaltet der Katalog jedoch Differenzierungen hinsichtlich Geschlecht und ethnischer Herkunft. Seit Mai 2013 gibt es den aktuell gültigen DSM-V. Neue Diagnosen kamen dazu, andere wurden gestrichen. Für ADHS-Diagnosen gelten jetzt zum Beispiel strengere Kriterien.

Als Diagnosekriterien für alle Formen des Autismus wurden Störung der sozialen Interaktion und Kommunikation, stereotype und repetitive Verhaltensweisen und Beginn in der frühen Kindheit definiert. Diese werden bei jedem Betroffenen in verschiedene Schweregrade eingestuft. Diese Einstufung in mild, mittel oder schwer ist neu im DSM-V und soll unter anderem dazu dienen, Verläufe besser zu dokumentieren und mit Kurzzeittherapien schneller reagieren zu können.

Kritiker führen an, dass sich der DSM-V zu sehr an Symptomen orientiert und nicht ausreichend empirisch und wissenschaftlich belegt sei. Wegen der Möglichkeit, jede Verhaltensauffälligkeit als milde Störung zu diagnostizieren, wird zudem eine Flut an Diagnosen befürchtet. In diesem Zusammenhang wird kritisch auf die Verbindung von Autoren des DSM-V und der Pharmaindustrie, die von zu verschreibenden Medikamenten profitieren würde, hingewiesen.

Was bedeutet das für Diagnosen im Bereich Autismus?

Forscher gehen aktuell davon aus, dass es sich bei den autistischen Formen wie dem frühkindlichen Autismus, atypischen Autismus und dem Asperger-Syndrom um ein Spektrum von sehr milden bis schweren Verlaufsformen einer Entwicklungsstörung handelt, die bereits in der frühen Kindheit beginnt. Daher werden im neuen DSM-V alle Formen in einer Kategorie Autismus-Spektrum-Störung zusammengefasst. Besonderes Augenmerk liegt bei der Einstufung in mild, mittel und schwer auf den Diagnosekriterien soziale Interaktion, Kommunikation, repetitive Verhaltensweisen und fixierte Interessen. Außerdem spricht man nicht mehr von einer mentalen Retardierung, sondern von einer intellektuellen Behinderung.

Manche befürchten, dass es für Asperger-Autisten in Zukunft schwieriger werden wird, eine Diagnose zu bekommen oder dass durch die Möglichkeit der Klassifizierung in Schweregrade nur eine milde Form des Autismus-Spektrums bescheinigt wird und notwendige Therapieformen in Folge dessen nicht mehr genehmigt werden. Selbst wenn man das Asperger-Syndrom als milde Form des Autismus bezeichnen würde, bedeutet das jedoch nicht, dass weniger Probleme damit verbunden sind – es sind lediglich andere Probleme und Bedarfe an Hilfestellung als zum Beispiel beim frühkindlichen Autismus angezeigt.

Je nach Diagnosespektrum kann der DSM Ersatz oder Ergänzung für die Systematisierung nach ICD-10 sein. Voraussichtlich 2018 (der Termin wurde schon mehrfach verschoben) wird das auch für Deutschland gültige und überarbeitete ICD-11 erscheinen; das DSM-V wird hierfür als Vorlage dienen.

Der Vollständigkeit halber sei hier noch darauf hingewiesen, dass außerdem für Deutschland auf Initiative der Fachgesellschaften Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie e.V. und Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde e. V. aktuell eine Leitlinie zur Diagnostik und Therapie von Autismus-Spektrum-Störungen entsteht. Den Fortschritt der Erarbeitung dieser Leitlinie ist im Internet auf der Seite der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften e. V. (AWMF) zu verfolgen.

Diagnosewerkzeuge

Es ist davon auszugehen, dass viele Eltern mit ihren Kindern immer noch lange Odysseen zurücklegen müssen, bevor eine Diagnose aus dem Autismus-Spektrum gestellt wird. Zuvor tappen viele lange im Dunkeln (rw) oder sehen sich mit Fehldiagnosen konfrontiert. Wenn der Verdacht auf eine Diagnose im Autismus-Spektrum aufgekommen ist, stehen je nach Alter des Kindes unterschiedliche Instrumente für die Diagnostik zur Verfügung. Es handelt sich dabei meist um eine Kombination aus körperlicher Untersuchung, dem Ausfüllen von Fragebögen, Spiel- und Verhaltensbeobachtung, Gesprächen sowie Befragung der Eltern oder einer nahen Bezugsperson. Bei den Befragungen geht es um die bisherige Entwicklung des Kindes und um mögliche Auffälligkeiten in Bezug auf Autismus bei anderen Familienmitgliedern. Augenmerk wird bei der Auswertung auch darauf gelegt, Differentialdiagnosen (andere, ähnliche Diagnosen) und Komorbiditäten (Begleiterkrankungen, zusätzliche Erkrankungen oder Probleme) im Blick zu haben, die je nach Alter des Kindes und Ausprägung der Symptome eventuell mit Autismus verwechselt werden könnten beziehungsweise zusätzlich beachtet werden müssen. Die einzelnen Verfahren sollen an dieser Stelle nicht im Detail vorgestellt werden, können aber in einschlägiger Fachliteratur nachgelesen werden.

Wie entsteht Autismus?

Die Ursachen für die Entstehung von Autismus sind bis heute nicht vollständig geklärt. Es spielen mit Sicherheit mehrere Faktoren eine Rolle. Genetische Einflüsse und wahrscheinlich biologische Abläufe vor, während und nach der Geburt können die Entwicklung des Gehirns beeinflussen und Autismus auslösen. Dabei kommt es zu einer Veränderung der Entwicklung des Nervensystems, wobei die genauen Mechanismen noch nicht erforscht sind.

Autismus entsteht ganz sicher nicht durch Erziehungsfehler oder familiäre Konflikte. Weitere Faktoren werden diskutiert und kontinuierlich erforscht.

Häufige Symptome

Für verschiedene Altersgruppen existieren jeweils Kataloge mit Symptomen, die auf eine mögliche Diagnose im Autismus-Spektrum hindeuten. Diese Symptome sind zunächst wie Warnhinweise zu verstehen und müssen über einen längeren Zeitraum beobachtet werden, bevor eine gesicherte Diagnose gestellt werden kann. Es muss nicht jedes Symptom auftreten und umgekehrt ist nicht jedes Symptom automatisch ein Hinweis auf Autismus. Für Kleinkinder sind hier zum Beispiel neben weiteren zu nennen: wenig Blickkontakt, kein Zeigen mit dem Finger, keine Rollenspiele und wenig Interesse an Interaktion mit Anderen.

Ich höre was, was du nicht siehst, und rieche, was du fühlst

Ein wichtiges Augenmerk liegt auf der besonderen Wahrnehmung autistischer Menschen. Diese kann zu großen Schwierigkeiten im Alltag führen, birgt aber auch außerordentliche Stärken. Es folgen einige Beispiele aus dem Alltag der Familien:

Die besondere Wahrnehmung

Es dauerte eine ganze Weile bis sie herausfanden, woran es lag. Die neue Erzieherin in der Schule wurde vom autistischen Nils nicht akzeptiert. Sobald sie sich ihm näherte, begann er zu toben. Das war von Anfang an so, ohne dass etwas Besonderes vorgefallen war. Alle waren ratlos. Bis ein Klassenkamerad schrieb: „Katis Duft schmerzt in der Nase.“ Per Nachfrage kam heraus, dass Nils das Parfum der Erzieherin nicht ertragen konnte. Es tat ihm in der Nase weh, sobald sie sich ihm näherte.

Sie verwendete ab sofort keinen Duft mehr und Nils akzeptierte sie.

Ein gemütlicher Nachmittag im Garten. Zwischendurch flog auch ein Hubschrauber vorbei und der Nachbar benutzte die Bohrmaschine. Auch der Rasenmäher gegenüber wurde angeworfen. Jan störte das alles nicht, er saß entspannt in seiner Hängematte. Dann begannen die Kirchenglocken zu läuten und er sprang auf, rannte ins Haus, schlug alle Türen hinter sich zu und verkroch sich unter einer Decke. „Am Wochenende ist es besonders schlimm“, sagt seine Mutter, „die Glocken läuten dann so oft, es ist eine regelrechte Qual für ihn, vor allem wenn es morgens um sechs schon beginnt.“

Es ist wunderschön mitzuerleben, wie Niklas seinen Papa abends nach der Arbeit freudig erwartet. Erstaunt bin ich immer wieder darüber, dass er die Schritte seines Papas und das Klimpern des Schlüssels durch mehrere Türen hindurch hört. Wenn wir im Sommer draußen warten, erkennt er Papas Auto am Sound des Motors, wenn es noch einige Straßen weit entfernt ist.

Kim will partout keinen Reis essen. Sie schreibt auf: „Reis ist ungeordnet. Ich weiß nicht, wie viele es sind.“ Thomas sträubt sich gegen Lebensmittel, die grün sind. Er schreibt: „Wenn ich grün sehe, schmeckt es krank.“ Und Melissa isst nichts, das größer als einen Zentimeter ist. Die Stücke müssen vorher entsprechend zerkleinert werden. „Mein Körper passt nicht zum Essen“, sagt sie, wenn die Portionierung nicht stimmt.

Wenn sich die meisten Menschen über die Sonne im Frühling freuen, wird es für uns schwierig. Niklas ist es zu grell, seine Augen schmerzen, aber eine Sonnenbrille setzt er nicht auf, da sie „fremd auf meiner Nase“ ist. Daher verbringen wir oft wunderschöne Sonnentage im Haus, zuweilen sogar im Keller, während draußen gespielt, getobt, gebadet wird. Wir sind meistens froh, wenn wieder Herbst ist.

Und irgendwann kommt der Winter und die Sonne ist nicht mehr so grell. Aber Niklas setzt keine Mütze auf, wickelt sich keinen Schal um, zieht keine Handschuhe an. Das sind Fremdkörper, die stören, drücken, unangenehm auf der Haut und am Körper sind. Die Ausflüge nach draußen sind dementsprechend kurz, wir sind „Drinnis“ im Winter ohne Schlittenfahren und längere Spaziergänge. Aber dafür sind Wahrnehmungsspiele wie Füße massieren, mit Wollsocken Arme und Beine entlangfahren, warmes Wasser in der Wanne blubbern lassen und kleine Lichterketten angesagt.

Rita sitzt mit ihren Eltern im Biergarten und genießt Bratwurst mit Fanta. Es ist ein guter Ausflug ohne Zwischenfälle bis sich eine Fliege auf den Tellerrand setzt. Rita hält inne und isst weiter, als die Fliege verscheucht ist. Dann schwebt sie an Ritas Ohr vorbei:

Rita springt auf, fegt mit einem Arm drei Teller und zwei Gläser vom Tisch, wirft die Bierbank um und rennt schreiend, sich die Ohren zuhaltend, davon. „Das Summen einer Fliege hat ihr schon immer Schmerzen im Ohr bereitet“, sagt ihre Mutter.

Zu Beginn ihres Vortrages bittet die Autistin darum, dass keine Bilder mit Blitzlicht gemacht werden sollen, weil sie das grelle Licht nicht ertragen kann. Sie hält ihren Vortrag ohnehin bereits mit Sonnenbrille und berichtet von ihrem Studium der Physik und über die Strukturierungsmethoden, die ihr dabei helfen, Aufgaben zu bewältigen. Sie erzählt von ihrer wissenschaftlichen Arbeit und vom Forschungsprojekt im Bereich der Quantenphysik, über das sie ihre Masterarbeit schreiben wird. Dann das Blitzlicht.

Sie springt auf, schreit, wirft den Tisch um, das mobile Mikrofon schleudert sie ins Parkett zu den Zuschauern. Dann verschwindet sie beim Seitenausgang.

Markus liebt lange Haare, sie werfen im Schein der Sonne einen schönen weichen Schatten und fühlen sich auf der Haut wie Seide an. Er nimmt gern lange Haarsträhnen von Mädchen oder Frauen und lässt sie durch seine Finger gleiten, hält sie hoch ins Sonnenlicht und freut sich über das Gefühl auf seiner Haut.

Timo beruhigt sich, wenn man seinen Arm knetet. Es soll dabei möglichst viel Druck ausgeübt werden, nicht zu sanft, denn „das Leichte sticht wie Nadeln“, sagt er.

Knusper, knusper, Knäuschen…

… Wer knabbert an meinem Häuschen?

Der Wind, der Wind, das himmlische Kind?

Wohl kaum! Bei uns knuspert und knabbert Niklas an fast allem. Es scheint ein unwiderstehlicher Drang zu sein und führt dazu, dass Möbel mit den Zähnen angeraspelt, T-Shirts – besonders am Kragen – zerbissen und Bücher gegessen werden. Auch Taschen, Jacken und Schuhe sind gefährdet, auffälligerweise immer vorrangig die aus dem teuersten Material – scheint nicht nur mehr zu kosten, sondern auch besser zu schmecken. Autogurte, Stühle, Tischtennisplatten, Klaviere….., ich könnte das endlos fortführen. Nichts ist sicher. Jacken kaufe ich zum Beispiel nur noch in Schlupfversion, weil Reißverschlüsse natürlich auch angeknabbert werden und dann nicht mehr schließen. Bei einer Schlupfjacke bleibt diese wenigstens noch dreiviertel geschlossen, selbst wenn der Reißverschluss nicht mehr funktionstüchtig ist.

Zum Anknabbern, Abbeißen und Abraspeln kommt an manchen Tagen auch noch ausgiebiges Ablecken hinzu. Er leckt seine eigenen Hände, aber auch Stuhllehnen, Körbe, Türen – egal ob zuhause oder woanders – hingebungsvoll ab und würde das wohl stundenlang fortführen, wenn wir ihn nicht hin und wieder davon abhielten. Denn das Waschbecken beim Zahnarzt, der Stuhl in der Gaststätte oder die Toilettentür bei Freunden müssen ja nun doch nicht sein.

Warum ist das so? Warum macht er das?

In den Checklisten der Vorsorgeuntersuchungen werden im Bereich Wahrnehmung in Bezug auf Autismus Eigenheiten aufgeführt wie: „kratzt, schabt oder leckt an Gegenständen, Kleidung und Personen“ und „fühlt, riecht oder klatscht an Objekten und Materialoberflächen“.

Nicht nur in Anlehnung an diese Checklisten gehe ich davon aus, dass das Knabbern, Beißen und Lecken einen starken Reiz im Bereich der Wahrnehmung auslöst. Etwas wird aufgenommen, was über reines Sehen und Tasten nicht möglich ist. Bei anderen Autisten werden starke Reize zum Beispiel vorrangig über den visuellen Kanal aufgenommen. Kinder starren dann lange in helles Licht, spielen mit Leuchtquellen und ähnlichem.

Ein kategorisches Unterbinden dieser Eigenstimulation ist meiner Meinung nach nicht förderlich, weil sich dann Frust aufbaut. Außerdem muss die Neugier auf das Material, der Wunsch es sich über den Mund zu erschließen, in gewisser Weise gestillt werden. Allerdings sollte es sich nicht zu einem Zwang entwickeln und die Toleranz bei der Auswahl der Gegenstände hat natürlich auch Grenzen.

Daher mein Tipp: Soweit es möglich ist, wertvolle Gegenstände außer Reichweite schaffen und eine Umleitung des Interesses anstreben.

Das Anknabbern nicht einfach unterbinden, sondern eine Alternative anbieten. Es gibt zum Beispiel Kauringe oder Kautücher, die bei uns gut funktionieren. Niklas hat oft eines per Clip an der Hose dabei. Das beruhigt ihn und er weiß, dass er jederzeit die Möglichkeit hat, darauf herumzubeißen.

Die Gutachterin vom MDK (Medizinischer Dienst der Krankenkassen) war übrigens sehr beeindruckt, als wir ihr zeigten, aus welcher Mauerecke Niklas ein Stückchen heraus gebissen hatte. Und nein – wir wohnen nicht in einem Lebkuchenhaus.

Andere Wahrnehmung führt zu ungewohntem Verhalten

Zu wissen, welche besondere Sensibilität das eigene Kind hat, ist sehr hilfreich, weil man Strategien entwickeln kann, die Situationen zu vermeiden oder sie zu entschärfen. Bei Niklas ist es vor allem der Hörsinn, gefolgt vom Sehen. Wenn er plötzlich ausflippt, hängt es meist mit der Wahrnehmung in diesen Bereichen zusammen und gerade weil die Quelle nicht immer eindeutig auszumachen ist, hilft oftmals ein Ortswechsel – ein anderes Zimmer, Stockwerk, Gebäude verlassen oder eine Fahrt im Auto.

Etwas besonders intensiv zu empfinden, kann sehr schön sein. Aber im Alltag eines Autisten kann es zu einem großen Hindernis werden, wenn unvermittelt Geräusche oder Gerüche auftreten, denen man nicht (sofort) ausweichen kann. Gerade diese Erlebnisse sind Auslöser für Reaktionen, die in der Öffentlichkeit nicht verstanden werden, vielleicht Angst machen und zu distanziertem Verhalten führen. Ich erkläre die Überempfindlichkeit im Bereich der Wahrnehmung daher immer sehr schnell, wenn wir jemanden treffen oder neue Bezugspersonen mit ihm zu tun haben, damit Niklas besser verstanden wird und ihm gegebenenfalls geholfen werden kann.

Kennzeichnend für autistische Wahrnehmung ist, dass Sinneseindrücke wie Sehen, Schmecken, Hören, Riechen und Fühlen zu stark, zu schwach oder verzögert auftreten können. Manchmal können Eindrücke auch nicht gefiltert werden – alles ist gleich laut, gleich hell usw. Das Sich-Konzentrieren auf ein Gespräch wird nahezu unmöglich, weil das Gesprochene aus allen anderen Geräuschen nicht oder nur schwer herausgefiltert werden kann.

Auch die Tatsache, dass Mimik und Körpersprache nicht automatisch gedeutet werden können, fällt in den Bereich der Wahrnehmung und führt häufig zu Missverständnissen. Viele Autisten nehmen im Gesicht ihres Gegenübers eher die Details wahr, wie die Nase, ein Auge, den Mund, eine Augenbraue, eine Sommersprosse. Sich nicht in diesen Details zu verlieren beziehungsweise sich nicht nur auf ein solches Merkmal zu fixieren und die Teile zu einem charakteristischen Ganzen zusammenzufügen, ist eine große Herausforderung für viele Autisten. Daher haben einige auch Probleme, Menschen wiederzuerkennen, die sie noch nicht häufig gesehen haben. Das Gesicht als Ganzes wird nicht unbedingt abgespeichert, sondern eher einzelne Details.

Manchmal stehen wir ratlos und erschöpft vor unseren Kindern, weil sie plötzlich ausflippen, ausfällig oder aggressiv werden, schlagen, kratzen, spucken oder auch völlig abschalten. Nicht immer ist es möglich herauszufinden und nachzuvollziehen, warum sie sich so verhalten. Aber es gibt immer einen Grund, auch wenn wir ihn nicht (sofort) erkennen. Die Kinder wollen nicht bewusst zerstören oder verletzen, es macht ihnen keine Freude, sich selbst und ihre Bezugspersonen in diese Situationen zu bringen. Viele Autisten artikulieren, unglücklich darüber zu sein, ihre Impulse zeitweise nicht kontrollieren zu können.

Niklas schrieb eines Tages auf, dass es ihm leidtut, wenn er schlägt und beißt, er würde das gar nicht wollen, „aber es kommt so aus mir raus.“

Es folgen einige Beispiele, an deren Anfang jeweils Verhaltensweisen stehen, die sicher viele schon miterlebt haben. Vielleicht können diese Beschreibungen neue Impulse geben:

Unruhe, Rückzug, Ohren zuhalten, Stereotypien

Manchmal stauen sich viele Reize an – das vorbeifahrende Auto, die summende Biene, das Gespräch nebenan, das Radio – alles kumuliert sich so lange bis es wie ein lautes undurchdringliches, ungefiltertes Getöse auf Autisten einwirkt, es kommt zu einem sog. Overload. Es können auch Gefühle sein, die sich anstauen, oder zu viele zu schnell nacheinander gestellte Fragen, die zu dieser Reizüberflutung führen.

Viele reagieren darauf mit Unruhe, Rückzug oder Ohren zuhalten.

Manche Autisten haben gelernt, sich selbst zu stimulieren, um sich vor einem Overload zu schützen beziehungsweise aus diesem wieder herauszukommen: zum Beispiel durch monotones Singen, das Aufsagen von Reimen, Hin- und Herschaukeln, Drehen von Gegenständen und ähnliches. Manchmal kann es helfen, diese Stimulation von außen zu unterstützen, indem man Hände, Beine oder Arme massiert oder zum Beispiel einen warmen Waschlappen auf die Stirn legt. Es ist aber individuell sehr unterschiedlich, ob das Kind dies in dem Moment zulassen möchte. Daher bitte vorsichtig ausprobieren.

Aggressionen, Kopf schlagen, Schreien, Gegenstände werfen, Beißen, Schlagen

Die Folge eines Overloads ohne Rückzugsmöglichkeit kann der sog. Meltdown (= „Kernschmelze“, Wutausbruch) sein. Die Betroffenen schreien laut, werfen Gegenstände und haben keine Kontrolle mehr über ihr Verhalten. Manche verletzen sich selbst, schlagen mit dem Kopf an die Wand oder beißen sich, um alle anderen Reize, die sie nicht beeinflussen können, zu überdecken. Allerdings kann das Schmerzempfinden herabgesetzt sein, so dass Verletzungen in dem Moment nicht unbedingt bemerkt werden. Es ist ein Akt der Verzweiflung, weil alles entgleitet.

Die meisten Autisten wollen in dieser Situation nicht angefasst werden, es wäre nur ein weiterer Reiz. Man sollte auch nicht anfangen, auf sie einzureden, denn auch das ist ein weiterer Reiz. Gut und wichtig ist es, in der Nähe zu sein, darauf zu achten, dass sich niemand verletzt und abzuwarten. In extremen Fällen kann eventuell ein Beruhigungsmittel gegeben werden, dies aber bitte unbedingt vorab mit einem Arzt besprechen, da einige Medikamente bei Autismus kontraindiziert sind, also gegenteilig oder gar nicht wirken.

Schaukeln, nicht ansprechbar sein, (in Decke) einrollen

Wenn kein Rückzug, keine Selbststimulation, kein Entrinnen aus dem Overload möglich ist, kann sich dieser auch zu einem Shutdown (= Abschalten) entwickeln. Manche Autisten liegen dann eingerollt in einer Ecke, ziehen sich eine Decke über den Kopf oder schaukeln mit dem Körper hin und her. Sie sind meist eine Zeit lang nicht mehr ansprechbar. Manchmal geht dem Shutdown auch ein Meltdown voraus. Es ist gut, dann einfach anwesend zu sein, sich ruhig zu verhalten und dafür zu sorgen, dass keine weiteren Reize auftreten. Das Bedürfnis nach Nähe oder auch Distanz kann in dieser Situation sehr unterschiedlich sein und muss unbedingt respektiert werden.

Stereotypien…