cover

Für Angel Marie
In Liebe

Wenn unsere gemeinsame Zeit hier auf Erden auch viel zu kurz war, so bleibst Du doch für immer ein wesentlicher Teil unseres Lebens …

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Abtreibung? In Auftrag gegebener Mord am eigenen Kind? Für viele ein heiß diskutiertes Tabuthema. Für mich schon seit jeher Ursprung des Bösen – und absolut undenkbar!

Was aber, wenn etwas passiert, das die eigenen Überzeugungen komplett ins Wanken bringt? Was, wenn man erfährt, dass das absolute Wunschkind, das man unter dem Herzen trägt, keine Chance auf Leben hat? Dass es nur geboren werden würde, um kurze Zeit später jämmerlich zu sterben?

Gibt einem das nicht doch das Recht, diese hoffnungslose Schwangerschaft vorzeitig abbrechen zu lassen? Hat man als verantwortungsvoller Mensch sogar die Pflicht dazu? Oder muss man den Dingen trotzdem ihren Lauf lassen, ohne einzugreifen? Dieses Wissen einfach verdrängen und der Dinge harren, die da kommen werden? Wäre das der bessere Weg? Besser für wen? Für einen selbst? Für das ungeborene Kind?

Auf diese Frage gibt es keine wirkliche Antwort. Keine Patentlösung. Als werdende Mutter ist es eigentlich absolut unmöglich, solch eine Entscheidung zu treffen. Und doch wird man gezwungen, sich zu entscheiden. Ob man will oder nicht.

Sobald man die schreckliche Wahrheit erfahren hat, gibt es kein Zurück mehr, kann man sich nicht mehr unwissend stellen. Sobald man vom „Baum der Erkenntnis“ gegessen hat – der laut Bibel schon Adam und Eva zum Verhängnis wurde – beginnt der grausame Gewissenskonflikt. Der Alptraum, aus dem es kein Erwachen gibt.

Ich selbst habe genau das erlebt. Das Unfassbare wurde für mich Wirklichkeit. Es war ein überaus schmerzhafter innerer Prozess, der viele Fragen und noch mehr Zweifel aufgeworfen hat. Doch letztendlich habe ich mich entschieden. Irgendwann inmitten des ganzen Chaos kam ich an den Punkt, an dem mir klar wurde, dass es für mich nur einen Weg gibt – nur einen Weg geben kann.

Wenn es uns gelingt, die Vielzahl unserer Gedanken auf einen Punkt zu konzentrieren, wird es in uns still, und wir erkennen zugrunde liegende Wahrheiten wie zum ersten Mal.

(Ziegler 1994)

Ich habe mich aus Liebe zu meiner Tochter so entschieden, wie ich es für richtig hielt – in der verzweifelten Hoffnung, dass dies auch in ihrem Sinne war.

Es wird immer Menschen geben, in deren Augen mein Weg der falsche war. Solche, die sich sicher sind, dass sie an meiner Stelle ganz anders gehandelt hätten. Die Wahrheit jedoch ist: Kein Mensch dieser Welt kann sich wirklich vorstellen, wie er sich verhalten, was er tun oder lassen würde – solange er noch nie in einer solchen Situation war.

Ich spreche aus Erfahrung, denn auch ich hatte nicht die geringste Vorstellung davon, wie grausam und unmenschlich das Schicksal sein kann. Bis zu jenem Tag im Dezember, seit dem nichts mehr so ist, wie es vorher war …

Dieses sensible Thema kann man meiner Meinung nach nicht einfach so pauschalisieren. Es gibt hier – wie so oft im Leben – nicht nur schwarz oder weiß. Sondern auch viele verschiedene Grautöne.

Mein Buch soll in erster Linie sogenannte „Sterneneltern“ ansprechen. Inzwischen weiß ich, dass es viel zu viele Leidensgenossen gibt, die ebenfalls um ihr Kind trauern müssen. Und die Erkenntnis, mit seinem Schicksal nicht alleine dazustehen, kann erfahrungsgemäß tröstlich sein.

Geteiltes Leid ist hierbei zwar nicht halbes Leid, wie es im Volksmund so schön heißt. Der Austausch mit Gleichgesinnten hilft aber manchmal, seinen eigenen Verlust anzunehmen und nicht daran zu zerbrechen.

Ich hoffe daher, meine Zeilen können zumindest einigen „verwaisten Eltern“ etwas Trost spenden. Wenn mir das gelingt, hat sich das Schreiben meines Buches bereits gelohnt.

Ganz besonders aber wünsche ich mir, dass meine Geschichte anderen Betroffenen helfen kann, die sich gerade in einer ähnlich ausweglosen Situation befinden wie ich damals. Ich möchte ihnen Mut machen. Mut dazu, ihren ganz eigenen Weg zu finden und zu gehen. Auf ihr Herz zu hören, ohne sich dabei von anderen beeinflussen zu lassen.

Im Vertrauen darauf, dass alles, was sie aus reiner Liebe zu ihrem Kind entscheiden, gar nicht falsch sein kann. Und dass es trotz der abgrundtiefen Verzweiflung auch ein „Leben danach“ gibt.

Man kann – und man wird – einen Weg finden, um mit der Entscheidung zu leben und klarzukommen. Ganz egal, wie diese ausfällt. Versprochen.

Es gibt eigentlich kein Schicksal. Es gibt nur Entscheidungen. Manche Entscheidungen sind leicht, manche nicht. Und das sind die, auf die es ankommt, die uns zu dem Menschen machen, der wir sind.

(Carrey 2007)

Alles, was ich hier schildere, ist genau so passiert. Dies sind meine realen Erlebnisse und meine wahren Gefühle. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind also nicht rein zufällig.

Allerdings habe ich – zum Schutz der Privatsphäre aller Beteiligten – die Namen verändert (außer, sie wollten ausdrücklich genannt werden) und sämtliche Ortsangaben weggelassen.

Der Lauf des Schicksals

Die Bestellung (Freitag, 29. Juni 2012)

Es ist unser letzter Abend an der Playa de Palma auf Mallorca. Gemütlich schlendern wir noch einmal im Dunkeln die lange Strandpromenade entlang. Wir – das sind unser knapp zweijähriger Sohn Niklas (der sich im Buggy kutschieren lässt), mein Mann René und ich. Die Menschen, die bald zu deiner Familie werden sollen.

Bislang bist du nur ein Plan beziehungsweise ein Vorsatz. Unser „neuestes Projekt“. Oder, wie die Spaßvögel sagen würden: ein „schmutziger Gedanke“. Drei Jahre haben wir uns nämlich als den idealen Altersabstand für unsere beiden Kinder vorgestellt. Aber man weiß ja nie genau, wie schnell es klappt und sich eine gewünschte Schwangerschaft einstellt.

Für Niklas mussten wir damals fünf Monate „üben“. Wenn es diesmal ungefähr wieder so lange dauert, wird unser Timing perfekt sein.

Also habe ich kurz vor unserem Abflug in den Urlaub die Pille abgesetzt. Eigentlich war das erst einen Monat später geplant – zu meinem Geburtstag. So wie wir es damals vor gut drei Jahren auch gemacht hatten. Doch dann war die Packung schon einen Monat früher aufgebraucht.

„Was soll’s?“, dachte ich mir, „auf einen Monat mehr oder weniger kommt es nun auch nicht an!“

War das mein „Fehler“, den ich begangen habe? Wäre alles ganz anders gekommen, wenn ich noch länger verhütet hätte und nicht ausgerechnet in diesem Monat schwanger geworden wäre? Oder war es von Anfang an vorherbestimmt, dass wir genau das erleben müssen, was dann gewissermaßen als Kettenreaktion folgte?

War es mein Schicksal, das schon längst auf mich wartete? Oder habe ich den Lauf der Dinge beeinflusst durch das, was ich spontan an diesem letzten Urlaubsabend tat?

Immer und immer wieder stellte ich mir rückblickend diese Frage, ohne jemals eine Antwort darauf zu erhalten. Fest steht nur, dass ab hier das Schicksal unaufhaltsam seinen Lauf nahm.

Als wir nun so nebeneinander über die Promenade spazieren, hänge ich etwas sentimental meinen Gedanken nach. Ich lasse den vergangenen Urlaub noch einmal im Geiste Revue passieren. Es waren wirklich tolle Tage! Auch wenn über den „Ballermann“ sehr viele Vorurteile kursieren und die „Partyurlauber“ von den Medien regelmäßig in schlechtes Licht gerückt werden – ich liebe es, hier zu sein!

Nirgendwo fühle ich mich freier und ausgelassener, nirgends sonst habe ich jemals mitreißendere Stimmung erlebt. Dies ist „meine Insel“. Als ich das erste Mal hier war, hat mich sofort das Fieber erfasst, und seitdem bin ich fast jedes Jahr wiedergekommen.

Zwar dachte ich immer, wenn ich erst einmal ein Kind hätte, würde Urlaub am Ballermann endgültig der Vergangenheit angehören.

Doch der Versuch hat uns gezeigt, dass man an der weitläufigen Playa de Palma beides sehr gut kombinieren kann: Familien-Bade-Urlaub tagsüber, Partyleben am Abend.

Während Niklas selig in unserer Apartmentanlage schlief – sicher überwacht durch die geniale Babyphone App auf meinem Smartphone –, waren mein Mann und ich jeden Abend gleich nebenan in meinem Lieblingslokal „Bierkönig“ beim Feiern. Im Fall der Fälle wären wir innerhalb von zwei Minuten bei ihm gewesen, was jedoch kein einziges Mal nötig war.

Es hat meinem Mann und mir total gut getan, ein paar Abende mal wieder etwas zusammen unternehmen zu können. Für einige Stunden nicht nur Eltern zu sein, sondern auch ein Ehepaar, das sich gemeinsam „in der Welt da draußen“ amüsiert.

„Oh ja, es war wirklich ein sehr schöner Urlaub“, denke ich mit einem zufriedenen Seufzen. Ganz bewusst habe ich die Zeit genossen, jeden Moment davon in vollen Zügen ausgekostet.

Und jetzt, als wir unseren letzten Abendspaziergang machen, verabschiede ich mich innerlich von meiner Lieblingsinsel. In dem Bewusstsein, dass ich nächstes Jahr im Sommer nicht hier sein werde. Zumindest hoffe ich es. Da habe ich nämlich Wichtigeres geplant.

Ich weiß zwar nicht genau, wie lange es dauern wird, bis ich wieder schwanger bin. Aber innerhalb eines Jahres – so hoffe ich inständig – wird es doch wohl klappen!

Plötzlich habe ich eine „Eingebung“. Ich lasse meine Schuhe auf der Promenade stehen, klettere über die niedrige Steinmauer und wate durch den dunklen, kühlen Sand aufs Meer zu.

Dort bleibe ich einige Minuten stehen, genieße den lauen Wind auf meiner Haut und die warmen Wellen, die meine Füße umspielen.

Ich bewundere den kilometerlangen Ausblick bis in die Bucht der Hauptstadt Palma mit ihren tausenden, funkelnden Lichtern. All das präge ich mir noch einmal ganz genau ein – damit die Erinnerung daran ausreicht, bis wir irgendwann wieder herkommen.

Dieser Moment fühlt sich regelrecht magisch an.

„Moment mal! Das wär doch eine gute Gelegenheit …“

Mir kommt eine Idee. Ich werde das Gleiche versuchen, wie vor meiner ersten Schwangerschaft. Damals hatten wir bereits vier erfolglose „Übungszyklen“ hinter uns. Normalerweise noch keine lange Zeit und total im Rahmen, das war mir klar. Trotzdem machte ich mich mit jedem Monat, der verging, mehr verrückt. Hatte ich doch mit meinem Exmann ungefähr zwei Jahre lang versucht, schwanger zu werden – ohne Erfolg.

Die Angst kam wieder hoch, vielleicht niemals ein Kind bekommen zu können. Also beschloss ich, dem Glück etwas auf die Sprünge zu helfen. Wozu hatte ich denn schließlich die unzähligen „Psychobücher“ in mich hinein gefressen?

„Bestellungen beim Universum“ stand in einem der Bücher. Hört sich doch sehr vielversprechend an!

Ich erinnere mich noch genau an meine „Bestellung“ von damals.

Ich bin schwanger mit unserem

kerngesunden Wunschkind.

Diese Suggestion habe ich mir dann im fünften „Übungszyklus“ im Geiste vorgesagt – immer und immer wieder. So lange, bis ich Kopfschmerzen bekam und fast verrückt geworden bin.

Silvester 2009 auf 2010 haben mein Mann und ich nach einem guten Essen beim Mexikaner auf der Brücke das Feuerwerk einer größeren Stadt in der Nähe angeschaut. Das war ebenfalls so ein magischer Moment. Ähnlich dem, wie ich ihn im Moment erlebe – nur wesentlich kälter. In dieser Silvesternacht habe ich meinen Wunsch gedanklich noch ein letztes Mal ganz bewusst ins Universum geschickt. Zehn Tage später durfte ich dann einen positiven Schwangerschaftstest in der Hand halten.

Wer weiß, ob an diesem „kosmischen Bestellservice“ (Mohr 1999) überhaupt was dran ist? Kann natürlich auch reiner Zufall gewesen sein, dass es ausgerechnet in diesem Monat schließlich geklappt hat. Aber noch ein Versuch kann ja nicht schaden!

Diesmal will ich meinen Wunsch jedoch etwas konkretisieren. Beim ersten Kind war mir das Geschlecht total egal. Nach unserem wunderbaren, kerngesunden Sohn hätte ich jetzt aber sehr gerne noch eine Tochter. So, wie ich es mir immer ausgemalt hab.

Also nur eine kleine Umformulierung, dann ist alles perfekt! Hier stehe ich nun am Strand im knöcheltiefen Wasser, blicke hinauf zum Sternenhimmel und sende meine „Bestellung“ hinaus ins Universum.

Ich bin schwanger mit unserem

kerngesunden Wunschtochter.

Ein euphorisches Gefühl erfasst mich. Ich bilde mir ein, die Kraft sogar spüren zu können, die meinen Wunsch hinauf zum unendlichen Nachthimmel begleitet.

So – das wäre erledigt! „Dann mach mal schön, liebes Universum“, denke ich gutgelaunt, während ich durch den Sand zurück zu meinem Mann und unserem Sohn stapfe.

Nicht ahnend, dass soeben ein Stein ins Rollen gebracht wurde, der eine ganze Lawine auslösen wird. Eine Lawine, die uns mitreißt in den gähnenden Abgrund. Direkt in unser sicheres Verderben.

Erste Anzeichen

Nun hat sie also begonnen – die „Hibbelzeit“. Schon jetzt hasse ich es! Zu gut kann ich mich noch an das Gefühl erinnern.

Jeden Monat aufs Neue steigt die Hoffnung, je mehr man sich dem Zyklusende nähert. Zählt die Tage, rechnet nach. Wagt einen Schwangerschaftstest, der natürlich blütenweiß bleibt. Trotzdem noch ein Hoffnungsschimmer. Könnte ja auch nur zu früh zum Testen gewesen sein. Doch dann: Erste Blutspuren! Ende aller Illusionen, der Traum zerplatzt wie eine Seifenblase, nur noch Frust und Resignation bleiben übrig.

Und dann: Neues Spiel, neues Glück! Mit dem Mut der Verzweiflung auf in den nächsten „Übungszyklus“.

Bäh! Wieso kann man diese nervige Phase nicht einfach überspringen? Eine Schwangerschaft an sich dauert doch schon lange genug. Und wenn man dann auch noch monatelang darauf warten muss, dass diese sich endlich einstellt … Ist doch echt unfair!

„Oh Mann“, denke ich genervt, „wieso mache ich mich nur schon wieder so verrückt? Eigentlich wollte ich es doch locker angehen lassen!“ Ja – das wollte ich. Doch leider gehört Geduld nicht gerade zu meinen Stärken.

Und meine ständigen Recherchen im Internet machen das Ganze auch nicht besser. Ich hatte vor, mich zu informieren, wie lange es nach Absetzen der Pille dauert, bis sich der Zyklus wieder eingespielt hat. Was ich da lese, gefällt mir jedoch ganz und gar nicht!

Man solle gleich den ersten Zyklus nach dem Einnahmestopp möglichst intensiv nutzen, weil viele Frauen gerade in diesem außerordentlich fruchtbar seien, da der Körper quasi noch auf schwanger „programmiert“ sei. Nachdem die Wirkung der Pille komplett nachgelassen hat, sei es dagegen umso schwieriger, schwanger zu werden, weil der Zyklus dann komplett durcheinanderkomme und der Körper verrückt spiele.

Oh nein! Das darf doch nicht wahr sein.

Dass mein Mann und ich die letzten paar Wochen „intensiv genutzt“ haben, kann ich leider ganz und gar nicht behaupten. Auf Mallorca waren wir wie immer im „Freizeitstress“. Und seit wir wieder daheim sind, ging es ziemlich turbulent zu, so dass unsere sexuellen Aktivitäten sich ebenfalls sehr in Grenzen hielten.

Außerdem habe ich keine Ahnung, wann mein Eisprung jetzt – ohne Pilleneinnahme – stattfindet. Das macht es doch noch viel unwahrscheinlicher, zufällig einen „Treffer“ zu landen! Also darf ich mich wohl wieder auf eine monatelange Wartezeit einstellen. Ätzend!

Glücklicherweise gibt es ja noch ein paar Methoden, mit denen man seinem Glück etwas auf die Sprünge helfen kann. Zum Beispiel Ovulationstests oder Temperaturmessung zur Eisprungbestimmung. Damit wollte ich aber jetzt noch nicht anfangen, sondern die Dinge erst einmal „laufen lassen“. Immer ganz locker – haha!

Trotzdem habe ich in den letzten Wochen meinen Körper genau „beobachtet“. Es soll ja angeblich Frauen geben, die ihren Eisprung ganz genau spüren können. Und tatsächlich hatte ich an zwei Tagen – die gut eine Woche auseinander lagen – ein kurzes Stechen im Bauch. Dies habe ich in meinem Kalender vermerkt, um rückblickend vielleicht feststellen zu können, dass an diesem Tag tatsächlich mein Eisprung stattgefunden hat. Die wenigen Gelegenheiten, bei denen wir für ein Baby „geübt“ haben, sind dort ebenfalls eingetragen.

Dann schauen wir doch einfach mal, ob das Universum meine Bestellung schnell bearbeitet!

An einem Sonntagnachmittag gehen mein Mann und ich mit Niklas eine große Runde spazieren. Plötzlich spüre ich immer wieder ein Stechen ganz seitlich in der Brust, nur knapp unterhalb der Achselhöhle. Seltsam. Vorsichtig taste ich mit dem Finger an der Stelle herum. Es wird doch wohl kein Knoten in der Brust sein? Oder gibt es vielleicht einen ganz anderen Grund …?

„Quatsch“, sage ich mir sofort, „steigere dich da ja nicht in irgendwas rein!“ Ein Stück weiter muss ich plötzlich ganz dringend pinkeln. Zum Glück sind wir gerade außerhalb des Dorfes, so dass ich mich hinter einem Busch verkriechen kann.

Nach unserem Spaziergang schaffe ich es gerade noch so bis nach Hause, wo ich sofort wieder aufs Klo stürze. Wirklich komisch.

Als am Tag danach auch noch ein regelmäßiges Ziehen in der Leiste dazu kommt, fange ich wirklich an, mir Gedanken zu machen. Kann es tatsächlich möglich sein, dass ich schon schwanger bin?

Bei der Vorstellung werde ich ganz aufgeregt. Und beschließe, morgen früh einfach mal einen Test zu wagen. Ich habe mir ja extra eine Großpackung billiger Frühtests aus dem Internet schicken lassen, um sie nach Lust und Laune „verbraten“zu können.

Meinem Mann erzähle ich noch nichts von meinem Verdacht. Erst will ich selbst Gewissheit haben. Gesagt – getan!

Der nächste Tag ist angebrochen. Gespannt sitze ich neben dem Teststreifen, den ich zuvor vorschriftsmäßig in ein Glas mit dem ersten Morgenurin getaucht hab. Laut Packungsbeilage sollen diese Frühtests frühestens sieben Tage nach der Befruchtung ein positives Ergebnis anzeigen können. Das erste Mal, als ich ein „verdächtiges“ Stechen im Bauch als möglichen Eisprung in meinem Kalender erfasst habe, ist knappe zwei Wochen her. Falls es damals zu einer Befruchtung kam, müsste der Frühtest also schon etwas anzeigen.

Und sollte der Eisprung zum zweiten Eintrag hin erfolgt sein, wäre das erst vor sechs Tagen gewesen. Also zu früh für einen Test. Aber das würde ja auch bedeuten, dass ich die ersten „Schwangerschafts-anzeichen“ bereits vier Tage nach der Empfängnis bemerkt habe. Das ist doch komplett unmöglich – oder doch nicht?

Während ich noch grüble, ist die angegebene Reaktionszeit abgelaufen. Tatatata … Der Test ist negativ. War ja klar! Sicher habe ich mir alles nur eingebildet. So ist das doch immer, wenn Frau auf den Eintritt einer Schwangerschaft wartet. Da wird jedes kleine Zwicken genau beäugt und sonst was hineininterpretiert. Nur gut, dass ich dem potentiellen werdenden Vater nichts von meinem Verdacht erzählt habe! Wozu unnötig die Pferde scheu machen? Es wäre ja wirklich zu unwahrscheinlich gewesen, wenn es gleich im ersten Zyklus nach der Pille geklappt hätte.

Bauchgefühl wird zur Gewissheit

Am nächsten Tag – einem Mittwoch – fahre ich nachmittags in den Supermarkt zum Einkaufen, während Niklas nebenan bei meiner Mama im Garten bleibt. Es ist ein heißer, sonniger Tag. Die beiden plantschen während meiner Abwesenheit vergnügt im Pool.

Als ich meinen Einkauf beendet habe und an der Kasse warte, spüre ich plötzlich wieder dieses verräterische Ziehen in der Leiste. Ganz deutlich. „Test hin oder her“, denke ich mir. „Ich fresse einen Besen, wenn ich nicht schwanger bin!“

Auf dem Heimweg im Auto läuft „Tage wie diese“ von den Toten Hosen im Radio. Den tollen Song haben wir auf Mallorca rauf und runter gehört, weshalb ich viele glückliche Stunden – besonders im „Bierkönig“ – damit verbinde.

Mit einem Mal fühlt es sich an, als sei ich wieder mittendrin. Auf „meiner“ Insel. Gleichzeitig erfasst mich die totale Euphorie. Ich drehe die Lautstärke hoch und singe lauthals mit. Ein tiefes Glücksgefühl erfasst mich. Es kommt mir vor wie ein Zeichen, dass dieses Lied gerade jetzt läuft.

Mein Entschluss steht fest, gleich daheim nochmal einen Schwangerschaftstest zu machen. Ich brauche einfach Gewissheit! Wieder warte ich gespannt die Reaktionszeit ab. Will den Test schon ernüchtert weglegen. Doch da! Als ich den Streifen im direkten Tageslicht am Fenster hin und her drehe, sehe ich doch glatt eine zweite, zarte Linie. Zwar noch sehr, sehr schwach – aber tatsächlich da!

Mit einem kleinen Aufschrei schlage ich mir die Hand vor den Mund. Ich bin total aufgeregt, als mir bewusst wird, was das bedeutet.

„Schwanger! Ich bin tatsächlich schwanger!“, jubiliere ich innerlich. Unser kleiner Niklas wird großer Bruder. Das heißt – wenn alles gut geht. Bis dahin ist es nämlich noch ein sehr weiter Weg, darüber bin ich mir im Klaren.

Vielleicht bin ich ja noch nicht einmal am berüchtigten „Nicht-Mens-Tag“ angekommen – dem Zeitpunkt, zu dem normalerweise die Periode einsetzt, wenn keine Schwangerschaft eingetreten ist. Oder wenn die befruchtete Eizelle wieder abgeht, weil irgendetwas damit nicht in Ordnung ist … Aber so weit will ich gar nicht denken. Obwohl es bekanntlich sehr oft passiert. Darum wird auch immer wieder davon abgeraten, zu früh zu testen.

All das weiß ich. Habe mich über das ganze Thema bestens informiert. Wofür gibt es denn das Internet? Und mein Forum, in dem ich schon seit meiner Schwangerschaft mit Niklas tätig bin und mich fleißig mit Gleichgesinnten austausche. Trotzdem konnte ich es nicht lassen …

Jetzt weiß ich es also – und habe doch keine Gewissheit. Mir bleibt nur abwarten. Aber egal was kommt: Im Moment bin ich schwanger. Genau, wie meine „Anzeichen“ es mir verraten haben. Mein Bauchgefühl hat mich nicht getäuscht. Und dieses Gefühl will ich einfach genießen.

Es ist so aufregend! Neues Leben hat sich in mir eingenistet. Eine Seele will zu uns kommen. Du willst zu uns kommen. Vielleicht sogar als die Tochter, die ich mir „bestellt“ habe? Kann es tatsächlich möglich sein, dass das Universum so schnell und zuverlässig liefert?

Bis zum nächsten Morgen behalte ich mein kleines, süßes Geheimnis für mich. Dann mache ich gleich nach dem Aufstehen noch einen Test – diesmal mit Morgenurin und im Beisein meines Mannes. Die zweite Linie ist schon ein klein wenig stärker. Ein gutes Zeichen! Nun weiß also auch dein Papa, dass unser zweites Kind unterwegs ist. Er freut sich ebenfalls sehr darüber, ist aber nicht wirklich überrascht. Irgendwie hatte er wohl ebenfalls schon geahnt, dass es direkt geklappt haben könnte. Und im Gegensatz zu mir auch nicht den geringsten Zweifel daran gehabt, dass ich schnell wieder schwanger werden würde.

Gutgelaunt macht dein Papa sich auf den Weg zur Arbeit und lässt mich allein mit Niklas – und mit dir. Mit dir. Ich muss mich erst einmal an den Gedanken gewöhnen, dass du nun bei mir bist!

Immer noch kann ich kaum glauben, dass es tatsächlich sofort im ersten Zyklus geklappt hat. Es kommt mir irgendwie zu einfach vor. Keine monatelange Warterei, kein nerviges „Hibbeln“, keine mehrfachen Enttäuschungen. Entbindung wäre im Frühjahr 2013. Ich hätte also noch rechtzeitig vor dem „kritischen“ Alter von fünfunddreißig Jahren, ab dem man automatisch als Risikoschwangere gilt, die Familienplanung abgeschlossen.

Kann das Leben tatsächlich so perfekt sein? „Freu dich noch nicht zu früh!“, warnt mich meine Vernunft. „Es kann doch noch sehr vieles schiefgehen. Die berüchtigten ersten drei Monate der Schwangerschaft, die als besonders kritisch gelten, sind noch lange nicht vorbei.“ Am späten Nachmittag überkommt mich urplötzlich und ohne Vorwarnung noch ein ganz anderes Gefühl – der erste, schwangerschaftsbedingte „Hormonangriff“? Mit einem Mal bekomm ich regelrechte Panik. Angst vor der eigenen Courage.

„Oh Gott, was haben wir da nur angerichtet?“, frage ich mich für einen Moment. Ich muss wieder an unseren erst kurz zurückliegenden Urlaub denken. Nur eine von vielen tollen Reisen, die wir schon zusammen mit Niklas unternommen haben. Wir hatten unser Leben zu dritt doch gerade so schön eingerichtet! Der Alltag funktionierte. Alles lief so schön „rund“.

Wie soll es denn werden, wenn bald noch ein weiteres kleines Menschlein dazukommt? Wie werden wir klarkommen mit zwei Kindern? Wird Niklas zu kurz kommen? Können wir ihm noch genug „bieten“? Wird er sich vernachlässigt fühlen? Wie wird er es verkraften, uns „teilen“zu müssen?

Mit all diesen Fragen haben wir uns doch noch gar nicht wirklich beschäftigt, das Szenario noch gar nicht in aller Konsequenz durchgespielt. Ja, natürlich haben wir uns ein Geschwisterchen für deinen Bruder gewünscht. Aber dass es jetzt sofort geklappt hat, überrumpelt mich doch ziemlich.

Ich sitze im Wohnzimmer auf dem Boden, beobachte Niklas beim Spielen und fühle mich irgendwie … schuldig. Tränen laufen mir übers Gesicht. Was ist nur mit mir los? Sind meine Gefühle normal? Oder bin ich komplett durchgeknallt? Wie dem auch sei – jetzt ist es zu spät für meine Zweifel. Wir haben dich eingeladen, und du hast beschlossen zu kommen.

Von unserer Seite aus gibt es also kein Zurück mehr. Wenn die Natur es nicht doch noch anders entscheidet, werden wir in einem Dreivierteljahr zu viert sein.

In den nächsten Tagen teste ich noch einige Male, um sicherzugehen, dass du dich nicht doch wieder verabschiedest. Da ich davon ausgehe, noch nicht einmal den gefürchteten „Nicht-Mens-Tag“ erreicht zu haben, fühle ich mich wie auf einem Pulverfass. Das Ergebnis ist ein immer deutlicheres „Positiv“.

Der digitale Test mit Wochenbestimmung, den ich extra noch in der Apotheke gekauft habe, sagt „schwanger 1 – 2 Wochen“. Das würde ja genau zum Zeitpunkt des zweiten mutmaßlichen Eisprungtermines passen. Und gleichzeitig bedeuten, dass ich wirklich meinen Eisprung spüren konnte, schon am vierten Tag nach der Befruchtung die ersten Schwangerschaftsanzeichen bemerkt habe und nach einer Woche der Frühtest bereits positiv anzeigte. Die spätere Ultraschalluntersuchung bei meiner Frauenärztin mit genauer Größenmessung des Embryos wird zeigen, dass es sich tatsächlich so verhalten hat.

Unglaublich! Ich bin fasziniert, wie bewusst ich diesmal alles wahrgenommen habe, die Signale meines Körpers richtig deutete. Ganz anders als in meiner ersten Schwangerschaft. Nur das Wesentliche, das Einzige, was wirklich zählt, konnte ich nicht spüren. Und war deshalb monatelang absolut ahnungslos, welcher Wahnsinn mich noch erwarten sollte …

Heimlichkeiten

Nun ist also erst einmal Geheimniskrämerei angesagt. Wir haben beschlossen, vorerst noch niemandem von den frohen Neuigkeiten zu erzählen – nicht, solange meine Schwangerschaft noch auf so wackeligen Beinen steht.

Bei meinen Eltern ist das jedoch gar nicht so einfach. Da wir Haus an Haus wohnen, treffen wir uns regelmäßig – gerade jetzt im Sommer. Und trinken normalerweise auch gerne ein Bierchen oder einen Martini zusammen. Da müsste es doch sofort auffallen, wenn ich plötzlich nicht mehr „mitmache“.

Ich hoffe, dass niemand Verdacht schöpft.

Auch ein größerer Arbeitseinsatz steht in den nächsten Tagen an. Mehrmals fahren wir ins Nachbardorf zum Schreiner, der uns den lange geplanten Carport in unserer Einfahrt errichten wird. Wir haben vereinbart, die Einzelteile dafür selbst zu streichen, um Kosten sparen zu können. Meine Mama hilft uns dabei tatkräftig. Für sie und deinen Papa nehme ich ein „Arbeitsbier“ mit.

Wird ihr auffallen, dass ich keines trinke?

Während der Arbeit plagen mich immer wieder Gewissensbisse. Es sind neben unzähligen Brettern auch ziemlich schwere Balken dabei, die wir streichen und danach zur Seite heben müssen. Ab und zu spüre ich dabei ein richtiges Ziehen im Unterleib. Hoffentlich schadet das der beginnenden Schwangerschaft nicht! Und der Farbgeruch, den ich einatme – kann der dir irgendwie gefährlich werden?

Jedes Mal, wenn ich zur Toilette renne – was nicht gerade selten ist –, schau ich ängstlich nach, ob ich kein Blut am Klopapier entdecke.

„Oh Mann – wieso musste ich nur so früh testen?“, frage ich mich. „Jetzt habe ich den Salat. Ich mache drei Kreuzzeichen, wenn dieser verflixte Nicht-Mens-Tag vorbei und damit sicher ist, dass die Schwangerschaft bestehen bleibt!“ Und dann können es auch alle, die mir nahe stehen, erfahren. Von der „Faustregel“, in den „gefährlichen ersten drei Monaten“ niemandem etwas zu erzählen, habe ich noch nie was gehalten.

Wozu auch? Selbst falls noch etwas schiefgehen und es zu einer Fehlgeburt kommen sollte: So ein einschneidendes Ereignis könnte und wollte ich gar nicht vor meinem engeren Umfeld verheimlichen. Außerdem soll die kleine Seele, die da zu uns kommen will, von Anfang an wissen, dass sie bereits fest „eingeplant“ ist. Damit sie gar nicht erst auf „dumme Gedanken“ kommt.

Outing I

Endlich ist es so weit! Der Nicht-Mens-Tag ist vorbeigegangen, ohne dass ich meine Periode bekommen habe. Heute Abend feiern wir im kleinen Kreis meinen vierunddreißigsten Geburtstag – nur mit meinen Eltern und meinem Bruder zusammen. Ein perfekter Anlass, um die Schwangerschaft zu verkünden!

Es ist traumhaftes Wetter – genau so, wie es sich gehört für Ende Juli. Dein Papa grillt und wir speisen auf der Terrasse. Schon während des Essens kribbelt es in meinem Bauch, als wäre ich frisch verliebt. Ich bin so aufgeregt!

Wie deine Großeltern wohl auf die Ankündigung ihres zweiten Enkelkindes reagieren werden? Werden sie sich freuen, oder eher erschrocken sein? Vielleicht finden sie den Altersabstand zwischen dir und deinem Bruder ja zu gering und sind der Meinung, wir hätten uns noch länger Zeit lassen sollen? Ich hoffe nicht! Die Meinung meiner Eltern war – und ist – mir nämlich von jeher sehr wichtig.

Nachdem wir genüsslich zu Ende geschlemmt haben, geben dein Papa und ich uns verstohlen ein Zeichen. Die Stunde der Wahrheit! Wir verschwinden in der Küche, um Gläser mit Sekt einzuschenken. Für mich natürlich ein Schwangerengerechtes ohne Alkohol.

Als wir die Getränke servieren, klopft mir das Herz bis zum Hals. Wir stoßen miteinander an. Zuerst auf meinen Geburtstag, dann jedoch verkündet dein Papa: „Es gibt aber noch einen anderen Grund …“ und überlässt mir das Wort. Alle Blicke sind jetzt auf mich gerichtet. Die Spannung steigt.

Doch ich bringe keinen Ton heraus. „Also, ich könnte es mir ja denken – wenn du nicht gerade Sekt trinken würdest …“, bemerkt meine Mama. Die Augen meines Papas und Bruders werden immer größer, als ihnen langsam die Bedeutung ihrer Worte dämmert.

„Der ist alkoholfrei“, antworte ich und bemerke, wie mir vor Rührung die Tränen in die Augen steigen. Gefühlsausbruch der zweite! Die Hormone leisten wieder einmal ganze Arbeit.

„Niklas wird großer Bruder!“, bringe ich mühsam hervor, während ich weiter um Fassung ringe.

So – jetzt ist es raus! Die Reaktionen auf das „Outing“ sind positiv – wenn auch etwas überrascht. Deiner Oma gegenüber hatte ich vor einigen Monaten bereits einmal erwähnt, dass wir ab meinem Geburtstag wieder anfangen wollen zu „üben“. Dass ich nun schon schwanger bin, hätte sie deswegen nicht gedacht. Genau so wenig wie ich. Aber: Unverhofft kommt bekanntlich oft.

Ich bin total froh und erleichtert, dass meine Familie sich so mit uns freut. Jetzt steht unserem doppelten Glück – mit bald zwei Kindern – nichts mehr im Wege.

So dachte ich an diesem glücklichen Abend. Ich konnte ja unmöglich ahnen, wie sehr ich mich damit irren sollte …

Schlechtes Timing

Bei aller Freude über die unverhofft schnell eingetretene Schwangerschaft wird mir jedoch noch am selben Abend bewusst, dass der Zeitpunkt dafür nicht gerade glücklich „gewählt“ ist. Der voraussichtliche Entbindungstermin, den ich mir – bezogen auf den mutmaßlichen Eisprung – selbst ausgerechnet habe, ist der 3. April 2013. Genau der Tag, an dem meine Eltern aus ihrem zehntägigen Osterurlaub auf Gran Canaria zurückkommen werden. Mist. Wir brauchen für den „Tag X“ deine Oma doch als Babysitterin für Niklas! Falls es also früher losgehen sollte – was ja nicht selten passiert –, hätten wir ein Betreuungsproblem.

„Selber schuld“, witzelt deine Oma, „wenn ihr bei eurer Planung unseren Urlaub nicht berücksichtigt. Unser Termin war nämlich früher da!“ „Sehr lustig!“, entgegne ich. „Ihr seid ja auch mindestens dreimal im Jahr im Urlaub. Wenn ich mich danach richten sollte, dürfte ich nie schwanger werden.“

Einen Monat später hätte es tatsächlich besser gepasst. Aber wer kann das schon so genau planen? Ich konnte ja wirklich nicht ahnen, dass es diesmal sofort im ersten Zyklus klappt. Jetzt ist das Kind jedenfalls schon in den Brunnen gefallen. Und bis zur Entbindung zum Glück noch jede Menge Zeit. Irgendein „Plan B“ wird uns schon einfallen.

Am nächsten Morgen brechen dein Papa und ich ganz früh auf zu einem Meeting meiner Firma in einer fünfhundert Kilometer entfernten Stadt. Niklas wird deshalb die nächsten zwei Tage bei Oma und Opa verbringen und auch das erste Mal bei ihnen übernachten. Hormongesteuert, wie ich gerade bin, ist es ein komisches Gefühl, ihn dort „abzugeben“. Aber ich freue mich auch auf das Event und darauf, etliche bekannte Kollegen wiederzutreffen. Inzwischen war ich nämlich schon jahrelang auf keinem solchen Meeting mehr. Nachdem mein Gruppenleiter vor fünf Jahren ganz plötzlich verstarb, ist unsere früher so tolle Truppe sehr schnell auseinandergebrochen, und ich bin seitdem gewissermaßen „Einzelkämpferin“.

Pünktlich treffen wir vor Ort ein und haben noch Zeit für einen Spaziergang. Am Nachmittag findet der offizielle Teil mit verschiedenen Reden und Ehrungen statt. Abends werden dann alle Teilnehmer mit Bussen zu einem nahegelegenen Partylokal gebracht, um dort zu feiern. Ich unterhalte mich mit einer Kollegin aus meiner ehemaligen Gruppe, die ich schon länger nicht mehr getroffen habe, über das Thema Nachwuchs. Sie erzählt von ihren Enkelkindern, ich von unserem Sohn. Direkt wie sie ist, spricht sie mich darauf an, ob wir denn noch mehr Kinder wollen.

„Ja, schon“, bestätige ich. „Na dann los!“, meint sie verschmitzt. Ich lächle nur und denke mir: „Wenn du wüsstest …“

Meine Firma hat wie üblich weder Kosten und Mühen gescheut, um ihre Mitarbeiter an diesem Abend so richtig zu verwöhnen. Beinahe pausenlos ist Servicepersonal im Einsatz, um Getränke nach Wunsch zu servieren. Krüge mit Bier, Rot- oder Weißweinflaschen, Sektgläser – meine Kollegen lassen es sich schmecken. Alles ist frei. Und selbst fahren muss an diesem Abend auch niemand mehr, weil wir alle in einem luxuriösen Fünf-Sterne-Hotel übernachten dürfen.

Etwas neidisch beäuge ich das „Trinkgelage“ der anderen, während ich mir verstohlen ein alkoholfreies Bier bestelle und dabei hoffe, dass es niemand mitbekommt. Ich will ja nicht, dass gleich publik wird, was „mit mir los ist“. Im Nachhinein betrachtet hätten wir wohl doch lieber erst einen Monat später anfangen sollen, an einem Baby zu „basteln“ …

Zuerst das schlechte Timing beim Entbindungstermin – und jetzt muss ich den anderen beim Trinken zuschauen, wenn ich schon einmal bei so einem tollen Event dabei bin. „Aber was soll’s?“, tröste ich mich. „Ich weiß ja schließlich, wofür. Wenn ich nächstes Frühjahr ein gesundes Baby im Arm halten darf, ist mir das jedes Opfer wert!“

Ja – wenn …

Das Schicksal hatte es doch längst anders entschieden.

Outing II

Am Tag nach unserer Rückkehr treffe ich mich abends mit meinen Freundinnen Renate, Evelin und Mandy. Ich habe sie ins Café Relax eingeladen, um meinen Geburtstag nachzufeiern.

Es freut mich sehr, dass wir einen gemeinsamen Termin gefunden haben. So kann ich die Gelegenheit nutzen, um allen dreien gleichzeitig die guten Neuigkeiten mitzuteilen. Es soll sich ja keiner benachteiligt fühlen.

Der Abend ist wunderbar warm, darum setzen wir uns im Freien an einen Tisch.

Meine Freundinnen überreichen mir ihre Geschenke. Von Mandy bekomme ich eine gelbe Thermoskanne, auf die sie mit schwarzem Edding etwas geschrieben hat:

Viel Spaß beim Abwarten und Tee trinken.

Ich folge ihrer Aufforderung und schraube den Deckel auf, obwohl ich mir schon längst denken kann, um was es geht. Mandy weiß nämlich auch, dass wir jetzt wieder anfangen wollten zu „üben“.

Als ich die Packung mit Ovulationstests und den Schwangerschaftstest aus der Kanne ziehe, muss ich mich anstrengen, um mir ein Lachen zu verkneifen. So schnell wollte ich mein Geheimnis eigentlich noch nicht lüften! Doch ich schaffe es nicht, meiner Freundin Evelin was vorzumachen. Sie sieht es mir wohl sofort an der Nasenspitze an, dass da „was im Busch ist“.

„… oder bist du schon schwanger?“, sagt sie mir auf den Kopf zu. Strahlend bestätige ich ihre Vermutung. Die Mädels sind ziemlich verblüfft. Damit hatte wohl noch niemand gerechnet. Mandy wirkt ein klein wenig enttäuscht, weil ich ihr Geschenk nun nicht mehr brauche. Und wenn schon!

Die Kanne werde ich doch trotzdem benutzen. Und was die Tests angeht: Darauf kann ich gerne verzichten. Ich bin heilfroh, dass ich den ganzen Kram gar nicht mehr nötig habe. Überglücklich, dass sich mein Wunsch so schnell erfüllt hat, dass ich eben nicht mehr „Abwarten und Tee trinken“ brauche. Und ich freue mich sehr, dass nun auch meine Freundinnen von diesem Glück wissen.

Insgesamt kommt mir deren Reaktion auf die Eröffnung meiner Schwangerschaft allerdings recht verhalten vor.

„So habe ich mir das eigentlich nicht vorgestellt“,denke ich etwas ernüchtert. Erst ein Jahr später – lange nach den schlimmen Ereignissen – wird Renate mir gestehen, dass sie sich damals gar nicht richtig mit mir freuen konnte, weil sie von Anfang an ein schlechtes Gefühl hatte …

Frauenarzt-Termin

Endlich habe ich die scheinbar endlose Wartezeit überstanden: Der Tag der ersten Untersuchung beim Frauenarzt ist da. Aufgeregt sitze ich im Wartezimmer. Hoffentlich bin ich bald an der Reihe!

Ich habe den Termin diesmal extra ein paar Tage später ausgemacht. In der Schwangerschaft mit Niklas konnte ich es damals kaum erwarten, mich untersuchen zu lassen. Das Ende vom Lied war dann, dass man außer „einer gut aufgebauten Schleimhaut“ nichts erkennen konnte und ich zwei Wochen zwischen Hoffen und Bangen verbringen musste, bis ich endlich zum nächsten Termin kommen durfte. Diesen Stress will ich mir diesmal ersparen.

Und meine Geduld soll tatsächlich belohnt werden. Als ich endlich auf dem Behandlungsstuhl sitze, dreht meine Frauenärztin den Monitor des Ultraschallgerätes zu mir herum. „Schauen Sie“, erklärt sie, während sie auf einen kleinen Fleck auf dem Bildschirm deutet, „dieser Punkt wird einmal Ihr Kind werden.“

Wow. Ich bin überwältigt. Jetzt ist es also amtlich. All die Tests, die ich daheim durchgeführt habe, haben mich nicht in die Irre geführt. Ich bin tatsächlich schwanger!

„… und beim nächsten Termin in zwei Wochen sollte man dann auch schon den Herzschlag sehen können“, stellt Frau Doktor mir in Aussicht. Damit bin ich auch schon wieder entlassen. Weitere Untersuchungen stehen heute noch nicht an.

Den Mutterpass soll ich erst nach dem erfolgreichen nächsten Termin bekommen. Auch die Hebamme wird mich dann durchchecken. Jetzt also erst einmal raus aus der Praxis und deinem Papa die gute Nachricht mitteilen. Sicher wartet er schon ungeduldig auf meinen Anruf. Und dann diesen wunderschönen Tag in vollen Zügen genießen. Wieder sind wir eine Hürde weiter. Einen Schritt näher dran an unserem zweiten Wunschkind – am Geschwisterchen für Niklas. Ich könnte die ganze Welt umarmen. Frage mich wieder einmal, womit ich so viel Glück verdient habe. Ohne zu ahnen, wie nahe ich dem Verderben bereits bin.

Outing III

Nun wollen wir auch die Familie deines Papas in meine Schwangerschaft einweihen. Seine Eltern – deine Großeltern – wohnen vierhundertfünfzig Kilometer entfernt in Thüringen, weshalb wir uns nur wenige Male im Jahr sehen. Sie hatten eigentlich vor, uns nächsten Monat zu Niklas zweitem Geburtstag zu besuchen. Doch deine Oma hat gerade wieder mit gesundheitlichen Beschwerden zu kämpfen, so dass daraus wohl nichts werden wird. Da wir keine Ahnung haben, wann es mit dem nächsten Treffen klappt, können wir diesmal die frohe Botschaft seinen Eltern leider nicht persönlich überbringen.

Als dein Onkel aus Unterfranken fürs Wochenende seinen Besuch ankündigt, beschließen dein Papa und ich, die Gelegenheit für ein „Outing“ zu nutzen. Dein Papa nimmt per Skype mit seinen Eltern Kontakt auf. Wir sitzen nebeneinander vor seinem Laptop und winken brav in die Webcam. Ich bin aufgeregt. Wie werden die Reaktionen ausfallen?

Nach einigem unverbindlichen „Smalltalk“ lassen wir die Katze aus dem Sack. Mit einem „Herzlichen Glückwunsch“ umarmt mein Schwager mich stürmisch. Die Begeisterung meiner Schwiegereltern hält sich eher in Grenzen. Oder kommt es mir nur so vor? Als wir ihnen damals von meiner ersten Schwangerschaft erzählt haben – im Rahmen einer Familienfeier –, gab es ein großes „Hallo“. Der Anlass seinerzeit war perfekt: Die ganze Familie zusammen in einem Raum, so dass alle es persönlich und zur gleichen Zeit erfahren konnten.

Diesmal habe ich den Eindruck, als würden die Neuigkeiten zur Kenntnis genommen – aber eben auch nicht mehr. Ich bin etwas enttäuscht. Vielleicht ist ihre Freude ja nur deshalb noch recht verhalten, weil in den ersten drei Monaten so viel schiefgehen könnte? Haben wir meine Schwangerschaft zu früh verkündet?

Immerhin lautet die landläufige Meinung, dass man damit bis nach Ablauf der „kritischen Zeit“ warten sollte. Aber nicht mit mir! Wofür noch warten? Schließlich erzählen wir ja nicht Hinz und Kunz, dass ich schwanger bin, sondern der engsten Familie, der wir auch den traurigen Fall einer Fehlgeburt nicht verheimlichen würden.

Mir ist schon klar, dass sich quasi alles noch „in der Schwebe“ befindet und gerade die nächsten paar Wochen besonders „risikoreich“ sind. Aber ich will nicht zulassen, dass meine Vorfreude dadurch getrübt wird. Einen möglichen negativen Ausgang der Schwangerschaft gar nicht erst in mein Bewusstsein lassen.

Positiv Denken. War ich nicht immer schon ein Verfechter davon? Ich will fest daran glauben, dass du bald zu uns kommen wirst. Darauf vertrauen, dass auch diesmal alles gut geht – so wie damals bei Niklas.

Immerhin haben wir mit ihm bereits einen kerngesunden Sohn. Also heißt das doch, dass ich in der ersten Schwangerschaft scheinbar alles richtig gemacht habe. Wenn ich diesmal einfach alles genau so mache, wird also hoffentlich wieder ein gesundes Kind „rauskommen“.

Und wann immer ich in den nächsten Wochen oder Monaten ins Zweifeln kommen sollte und Ängste auftauchen, werde ich mir einfach wieder meine aufgegebene „Bestellung“ ins Gedächtnis rufen:

Ich bin schwanger mit unserer

kerngesunden Wunschtochter.

Jawohl! Damit kann doch gar nichts mehr schief laufen! So sind sie. Meine Gedanken, mit denen ich mich immer wieder selbst beruhige. Vertrauensselig. Gutgläubig. Und hoffnungslos naiv. Aber das soll sich erst viel später herausstellen – und damit alle meine Überzeugungen und Glaubenssätze bis ins Mark erschüttern.

Dein großer Bruder