SÖREN KITTEL

INSELHOPPING INDONESIEN

IN EINEM LAND OHNE ZEIT

www.dumontreise.de

Für Tomma

INHALT

Kapitel 1 Maila – Bernds Traum von der Insel

Kapitel 2 Nias – Der letzte Missionar

Kapitel 3 Samosir – Wo der See deinen Namen trägt

Kapitel 4 Weh – Denken an die Große Welle

Kapitel 5 Jakarta – Moloch mit Herz

Kapitel 6 Yogyakarta – Das Haus der Taube

Kapitel 7 Tana Toraja – Die Ahnen bleiben unter uns

Kapitel 8 Una Una – Kleine Inseln, große Dramen

Kapitel 9 Lembeh – Shabbat Shalom in Manado

Kapitel 10 Ternate – Das weiße Krokodil und die Gewürzinseln

Kapitel 11 Palangka Raya (Kalimantan, Borneo) – Waldbrände und Waldmenschen

Kapitel 12 Mandomai (Kalimantan, Borneo) – Langhäuser und Popmusik

Kapitel 13 Balikpapan (Kalimantan, Borneo) – Reiche Stadt und arme Tiere

Kapitel 14 Labuhan Deli Gefängnis – Rückkehr nach Medan

Kapitel 15 Komodo – Die Insel der bedrohten Drachen

Kapitel 16 Bali – Das Aufladen der Tempelbatterie

Kapitel 17 Arborek – Probleme im Paradies

Kapitel 18 West-Papua – Das Ende von Indonesien

Epilog

Tipps zum Weiterlesen und Weiterhören

Danksagung

Kapitel 1

Bernds Traum von der Insel

Maila

Größe: ungefähr 1000 m²

Einwohner: 1 (sowie 2 Katzen und 1 Schlange)

Danke: danke

Ich denke, das muss eine Wolke sein, die sich vor die Sterne geschoben hat. So eine längliche Wolke, die quer über den Himmel reicht. Quer über den gesamten sichtbaren Himmel. Bernds Stimme ist ganz klar in der Dunkelheit zu hören, als er sagt: »Ich dachte auch erst, das sei eine Wolke, aber das ist keine Wolke, Mann, das ist die Milchstraße.« Auch daran gewöhne man sich, fügt er an, hier draußen. Wie an die Einsamkeit, an das Schnarren und Schnalzen und Rascheln aus dem Miniwald seiner Insel. Aber das Beste seien all die Sterne am Himmel. Vorher hätte er nur Kassiopeia und den Kleinen und Großen Wagen gekannt. Aber hier draußen auf seiner Insel sehe man auch den Krebs, die Fische – und dieser helle Punkt, nicht weit vom Mond entfernt, das müsse der Saturn sein. Ich kann im Dunkeln hören, wie Bernd lächelt. Es ist die Art, wie er spricht, er klingt so zutiefst zufrieden. Er sagt: »Weißt du, in der Nacht ist es hier eigentlich am allergeilsten.«

Ich hatte von Bernd zum ersten Mal gehört, als ich drei Monate zuvor in meinem Fitnessstudio in Berlin auf dem Bauch lag. Das Studio hat wie so viele hier einen exzentrischen Namen, Urban Gladiators, und alle sprechen einander mit Vornamen an und klatschen sich nach dem Training ab, als wären sie coole Kids. Neben mir lag Alex auf dem Bauch. Wir machten beide den »Skorpion«. Eine Dehnübung, bei der man das rechte Bein zum linken Arm bewegt, ohne die Schultern anzuheben. Ich erzählte ihm von meinem Plan, nach Indonesien zu fahren, um ein Buch zu schreiben. Er sagte: »Ach, Indonesien … Ich glaube, ein Freund von mir hat sich da gerade eine Insel gekauft, den solltest du besuchen.« Ich kannte Alex schon drei Jahre, und wir hatten fast ausschließlich über Muskelkrämpfe und Duschbad-Duftrichtungen geredet, Locker-Room-Talk unter Männern eben. Aber dann tauschten wir Kontakte aus, und sein Kumpel Bernd antwortete noch am gleichen Tag.

Bernd ist 39 Jahre alt und kommt eigentlich aus Süddeutschland. Er schrieb mir, dass er die Insel, auf der er wohnt, nicht gekauft, sondern nur gemietet habe. Eigentlich seien es sogar zwei Inseln, zwischen denen er mit einem kleinen Boot in zehn Minuten hin- und herfahren könne. 7000 Euro habe er bezahlt, für 30 Jahre. »Das sind umgerechnet rund 250 Euro pro Jahr, oder 20 Euro im Monat«, rechnete er vor. Dafür dürfe er mit den Inseln machen, was er wolle. »Ich will hier Ökotourismus im kleinen Stil aufbauen.« Um den Indonesiern zu zeigen, dass es auch anders gehe, als großen chinesischen Unternehmen dabei zuzusehen, wie sie eine Insel nach der anderen mit riesigen Resorts verschandeln. »Aber die wenigsten hier machen ja ihre Arbeit gern oder haben überhaupt irgendeine Leidenschaft.« Per Mail diskutierten wir über Korruption und darüber, wie kolonial die Idee sei, »denen zu zeigen, wie es geht.«

Natürlich kamen wir auch auf mein Lieblingsthema, wenn es um Indonesien geht: den Umgang mit Zeit. In Sumatra ist eigentlich alles »Gummizeit«. Gummizeit ist ein Begriff, den jeder kennen sollte, der sich länger in Indonesien aufhält. Oder noch besser Jam Karet, wie er auf Indonesisch heißt, und am allerbesten gedehnt gesprochen: Jam Kaaaaaaret. Das sagen die Einheimischen immer dann, wenn irgendetwas länger braucht als geplant. Und das ist fast immer der Fall. Bernd schrieb: »Wenn Indonesier sagen: ›Einen Moment noch‹, sag ich immer: ›Nein, auf keinen Fall eine Gummistunde!‹«

Ich habe hingegen gelernt, in Indonesien einfach zu warten. In Deutschland ist es mir auch komplett unverständlich, warum man sich nicht an eine vorher verabredete Zeit halten kann. Aber hier ist es eben so: Busse fahren ab, wann sie wollen, Fähren fallen aus, Boote stehen vier Stunden länger am Kai, als es im Zeitplan steht. Diese Zeit, die dann abläuft, ist die Gummizeit. Wenn man es positiv auslegen möchte, könnte man auch sagen: Indonesier sind sehr duldsam.

Meine erste Erfahrung mit der Gummizeit habe ich bereits auf dem Weg zu Bernd gemacht. Eigentlich hatte ich gedacht, es würde länger dauern, bis Indonesien mich in dieses Zeitloch fallen lässt. Nachdem der Flug Berlin–Singapur reibungslos verlaufen und ich zwei weitere Flugstunden später schon in Medan gelandet war, schlief ich zunächst meinen Jetlag weg. Medan war im Lebaran-Fieber – Lebaran ist der wohl größte Feiertag des Landes, das Ende des muslimischen Fastenmonats. Das ist aber kein Fest, bei dem man als Tourist viel zu sehen bekommt. Es ist ein Tag für die Familie, ähnlich wie Weihnachten bei uns. Kinder, Eltern und Großeltern kommen zusammen und essen gemeinsam.

Ich hatte mich in ein kleines Hotel eingemietet, das ich besser nicht erwähne. Das Getrappel der Ratten vor der Zimmertür erinnerte mich daran, dass ich in Großstädten immer in eine gute Unterkunft investieren sollte. Aber ich konnte schlafen und verließ das Zimmer nur für kurze Stadtbesuche.

Am dritten Tag dann begann die Gummistunde morgens um vier Uhr. Ich hatte Medan verlassen und saß mitten auf Sumatra in einem Straßenrestaurant fest. Ich hatte eine Fahrt zur Westküste gebucht, um dort das Boot zu den Pulau Banyak zu nehmen, wo Bernds Mietinseln liegen. Pulau Banyak heißt »Viele Inseln« – passender lässt sich dieses Gebiet nicht beschreiben. Doch statt mich bis zum Hafen zu bringen, bat man mich mitten in der Nacht weit vor dem vereinbarten Ziel aus dem Auto. Auf einem großen Schild stand der Name des Ortes, der auch für mich mit meinen ganz passablen Indonesisch-Kenntnissen kompliziert klang: Penanggalan-Subulussalam. Ein Mann, der am Straßenrand saß und rauchte, sagte: »Hier müsste gleich ein Auto vorbeikommen, das dich zum Hafen bringt.« Da war es, das Signalwort: »gleich«. Jeden Augenblick, nur noch einen Moment.

Ich schwitzte. Um mich herum saßen mehrere Männer und tranken Kaffee. Ich atmete tief aus und lehnte mich auf dem Plastikstuhl, auf den ich mich gesetzt hatte, nach hinten. Ich dachte: Jetzt geht es los. Und: Habe ich da wirklich Lust drauf? Dann begann ich, genauer hinzuhören. Aus einem Wald hinter mir kamen die Geräusche, die nur der Dschungel hervorbringen kann: Kreischen, Zirpen, Fauchen. Die älteren Männer diskutierten darüber, wann das Auto kommen würde, das mir versprochen worden war. Ein paar Minuten später erklang von irgendwoher mitten in der Einöde der Muezzin mit dem muslimischen Morgengruß. Ich lächelte vor mich hin. Und ich dachte: Ja genau, jetzt geht es los, und es könnte nicht besser sein.

Die Minuten dehnten sich fast spürbar aus, ich bestellte einen Kaffee und noch einen zweiten und schaute mir das Eis am Stiel in der Kühltruhe an. Das Milcheis hatte abenteuerliche Formen angenommen. Und mir fiel ein, dass Stromausfälle hier sehr häufig sind. Mein bester Freund in Deutschland ist Arzt. Als wir einmal zusammen Indonesien bereisten, sagte er unentwegt einen Satz mit einem deutschen Wort, das so gar nicht in dieses Land hineinpassen wollte: »Denk an die Kühlkette!« Wenn Milcheis nicht durchgängig gekühlt wird, vermehren sich Bakterien, von denen ich hier nicht einmal träumen wollte. Also: »Kühlkette!« Und ich beschloss: lieber noch einen dritten Kaffee. Das Kaffeepulver setzt sich hier nie so ganz ab, sodass immer etwas davon im Mund zurückbleibt. Willkommen in Indonesien.

Ich gehöre in Berlin nicht gerade zu den geduldigen Menschen. Ich kann Stadtbewohner unter fünfzig Jahren, die auf der Rolltreppe stehen bleiben, schlicht nicht verstehen. Haben die nichts zu tun? Aber wenn ich in Indonesien bin, machen mir diese Zwangspausen nichts aus. Hier weiß ich, dass die Welt sich nicht danach sehnt, möglichst effektive, kurze Wege zu finden. Hier laufen die Dinge nach einem Plan, der sich mir entweder nicht erschließt oder den es schlicht nicht gibt.

Es würde sicher bald weitergehen. Ich saß ja erst … eine Stunde und zwanzig Minuten. Ein neues Geräusch mischte sich in den Klangteppich. Ein Hahn krähte. Nach einer weiteren halben Stunde ging dann auf einmal alles ganz schnell: Ein Kleintransporter hielt an, in dem genau noch ein Platz frei war. Ich stieg ein und legte meinen Kopf auf meine Reisetasche. Eineinhalb ruckelige Stunden später kam ich am Hafen von Singkil an.

Dort gab es mehr Kaffee, es war inzwischen fast acht Uhr. Einige Männer, die in einer kleinen Hütte am Kai beisammen saßen, freuten sich über den Besuch aus Berlin und überreichten mir einen bunten Strauß an einander widersprechenden Angaben dazu, wann das nächste Boot in Richtung der Inseln fahren würde: »Gerade eben hat eines abgelegt. Da war noch Platz.« – »Jetzt gleich müsste ein Boot kommen, aber das ist schon voll.« – »In drei Stunden wollte ein Freund von mir los, der nimmt dich mit.« – »Heute fährt kein Boot mehr.«

Ich lächelte und legte mich auf eine Bank, bis es wie aus Eimern zu gießen begann. Als ich Bernd per Handynachricht die Situation schilderte, schickte er mir einen Smiley von seiner Insel und bot an, er könne mir jemanden mit einem Speedboat schicken. Ich entschied mich dafür, zu warten, denn das ist eigentlich immer die beste Wahl.

Nur eine Stunde später saß ich auf einem Holzboot inmitten von Süßigkeiten, die nur zu Lebaran ausgeteilt werden: Kekse, in Schokolade gedippt oder mit einem Marmeladenklecks in der Mitte, sowie Teigrollen aus Blätterteig. Ich gesellte mich zu einer kleinen Reisegruppe, zwei Indonesiern und einer Französin, die abseits der lauten Chinesen – die über die zusätzlichen Fahrgäste gnädig hinwegblickten – auf einer Decke saßen. Wir redeten. Die Indonesier waren aus Jakarta gekommen, die Französin gab in Malaysia Tangounterricht. Die dreistündige Überfahrt, für die wir nur etwa drei Euro bezahlten, verging wie im Flug.

Auf der Insel Tuangku lernte ich meine neuen Reisebegleiter besser kennen. Der eine Indonesier, Liong, lebte auf Sumatra, der zweite, Pajas, in Jakarta. Die Französin Nina war wie ich allein unterwegs. Mit einem kleineren Boot ging es für uns alle von Tuangku nahtlos weiter auf die wirklich kleine Insel Sikandang. Dort würde Bernd mich abholen.

Sikandang lässt sich in einem einstündigen Spaziergang umrunden. In der Mitte ist dichter Wald, der wegen der Tiere gemieden werden sollte. Wir hielten uns daran, der Strand beschäftigte uns ohnehin genug, ich hatte lange nicht mehr einen so friedlichen Ort gesehen und war begeistert.

Das Mobiltelefon zeigte immerhin am Strand Internetverbindung an, Bernd schrieb, er werde am nächsten Tag kommen. Also blieb ich über Nacht. Die Strandhütten waren auf einfache Stelzen gebaut. Ich saß auf der Veranda und schloss die Augen. Elvis – der indonesische Betreiber des Resorts hieß wirklich so  – kam vorbei, brachte eine Kokosnuss mit einem Strohhalm und sagte, dass es in zwei Stunden Abendessen gebe. Drei Mahlzeiten waren bei den umgerechnet 12 Euro pro Tag mit inbegriffen. Hier hätte ich es lange aushalten können, hier war Gummizeit die einzig richtige Zeitrechnung. Der Abend endete mit einem Kartenspiel, dessen Regeln genau für den Zeitraum des Inselaufenthalts in meinem Kopf blieben.

Am nächsten Morgen kam Bernd. Elvis kannte ihn, und die beiden tauschten Neuigkeiten aus. Es sei ungewöhnlich ruhig für den Beginn der Saison, sagte Elvis. Bernd berichtete, dass er eine Woche lang Besuch auf seiner Insel gehabt habe. Eine Gruppe von Batak – eine Volksgruppe Nordsumatras – sei vorbeigekommen, und jeder habe sich ein Projekt auf der Insel gesucht. Einer habe die Küche aufgebaut, ein Zweiter an der Hütte gearbeitet, und die Dritte habe einen kleinen Garten angelegt. »Es ist unglaublich hier«, erzählte Bernd anerkennend, »du lässt irgendwo einen Strauchsamen fallen und, boom, ein paar Tage später musst du den Strauch zurückschneiden, weil er sich sonst zu sehr ausbreitet.« Dann zeigte er eine Verletzung am Arm. Leider würde das Klima auch dafür sorgen, dass Wunden langsamer heilen. Die Schramme wäre in Deutschland schon längst zugewachsen.

Bernd war mir von Anfang an sympathisch. Ein echter Träumer, oder besser: ein richtiger Einsiedler. Den Kopf hatte er rasiert und sich dafür einen langen Bart stehen lassen. In Berlins Hipster-Cafés hätte das genauso gut gepasst wie auf eine einsame Insel. Vielleicht war er etwas zu dünn, das feuchte, löchrige T-Shirt stand ihm jedenfalls vom Körper ab. In Jakarta wäre er so an der Tür einiger Restaurants abgewiesen worden. Aber weiter entfernt von der Hauptstadt hätte dieses Fleckchen hier nicht sein können. Elvis und er tauschten sich noch über die aktuellen Wasserpreise auf der Hauptinsel aus, und dann schoben wir das Boot zurück ins Wasser und stiegen ein.

Auf der Überfahrt zu seiner Insel zeigte Bernd auf eine andere Insel und machte ein Zeichen wie »Das ist die Insel, die ich vorhin meinte«, denn der Motor war zu laut für ein Gespräch. Vor der Abfahrt von Sikandang hatte er erzählt, wir würden an weiteren Inseln vorbeifahren, die noch »zu vermieten« seien. Bei einer davon sei »die Hälfte der Insel für 9000 Euro für 30 Jahre zu haben.« Die Insel war sehr groß, und vom Boot aus war nur ein sehr langer, komplett leerer Strand zu erkennen, dahinter krumme Palmen, manche so weit in Richtung Wasser gebogen, dass man Sorge um sie hatte. Für einen Moment war da der Gedanke: Was wäre, wenn man dort leben würde? Jeden Morgen zum Rauschen der Brandung aufstehen, jeden Abend die Sonne fotoreif untergehen und die Sterne aufleuchten sehen. Die Tage mit Büchern und dem Handy verbringen. Und fast gleichzeitig die Frage: wozu? Mir kam einer der unzähligen Einsame-Insel-Cartoons aus dem New Yorker in Erinnerung: Ein Einsiedler sitzt auf seiner Insel unter der einzigen Palme, und in seiner Gedankenblase steht: »Ich kann es nicht erwarten, allen zu Hause zu erzählen, dass ich eine eigene Insel habe.«

Dabei wäre das sogar möglich. Selbst als wir den Strand von Bernds Insel ansteuerten, hatte ich noch vollen Empfang auf meinem Mobiltelefon – wie übrigens häufig in Indonesien. Der Netzausbau im Meer vor Sumatra ist allemal besser als der zwischen Zwickau und Bautzen.

Kurz bevor wir am Strand anlegen konnten, hörte ich ein lautes Krachen, gefolgt von Bernds Fluchen. »Ich glaube, ich bin in eine Koralle gefahren.« Das Wasser ist hier so flach, dass es nur bis zum Oberschenkel reicht. Offenbar verbergen sich unter der Oberfläche aber dennoch immer wieder spitze Steine und Korallen. Bernd nahm das Paddel und meinte, wir würden später untersuchen, ob etwas kaputt sei. Ich nahm meine Tasche und ging mit einem mulmigen Gefühl von Bord. An Tag vier meiner Reise durch Indonesien befand ich mich an dem am weitesten von menschlicher Zivilisation entfernten Ort, und der Motor des einzigen Bootes war vielleicht nicht mehr zu gebrauchen. Aber ein anderer Teil von mir meinte, das würde sich schon ergeben: Jetzt bin ich erst mal, wo ich bin.

Ich deponiere meine Tasche in der einzigen Hütte der Insel, die vielmehr ein mit einer Plane überdachter Verschlag ist. Vor diesem Holzbau befindet sich eine Feuerstelle, rundum stehen ein Tisch und eine Bank, ein paar Meter weiter ist eine »Küchenzeile« aufgebaut. Das Prinzip »offene Küche« erreicht auf dieser Insel ein ganz neues Level. Sie ist notdürftig von einem Baum überdacht, der Gasherd und die Arbeitsfläche sind ebenfalls sehr improvisiert: ein Tisch mit Kochfläche, darüber unzureichend eine Plane befestigt. An einem Ast hängen mehrere Fertignudelsuppen, und unter der Küchenzeile liegen verschiedene Gemüsesorten, alle nicht mehr ganz frisch. Bernd öffnet eine Instant-Packung. Ihr Inhalt ist verschimmelt.

Fünf Meter daneben steht ein Fernseher auf einem umgestürzten Baum. Eigentlich nur die Fernsehröhre. Bernd hat sie gefunden und gedacht, dass sie doch ein schönes Kunstobjekt abgebe, hier draußen. Am Strand ist eine Hängematte zwischen den Bäumen aufgespannt, eine weitere hängt im Verschlag über meiner Tasche.

Zwei Katzen schleichen zur Begrüßung um mich herum. »Das sind Wladimir und Angela«, sagt Bernd. Er erzählt, dass er hier mehrere Monate mit einem russischen Ehepaar zusammengelebt habe. Der Mann habe Katzen gewollt, weil die sich selbst beschäftigen und ihre Nahrung suchen könnten. Sie holten vom Festland zwei Katzen auf die Insel und gaben ihnen die Vornamen der Staatsoberhäupter ihrer beider Länder. Angela war leider irgendwann verschwunden, eine weitere Katze wurde geholt. »Aber ich habe der Neuen noch keinen eigenen Namen gegeben, vielleicht heißt sie einfach auch weiterhin Angela.« Eigentlich habe Bernd sich einen Affen zulegen wollen. Der würde durch die Bäume springen, und er könnte ihn trainieren. »Aber die Art und Weise, wie Tiere hier in den Wäldern gejagt, verkauft und gequält werden, ist zu furchtbar, das kann ich nicht unterstützen.« Und wer sollte sich um das Tier kümmern, wenn er einmal für mehrere Tage in die Stadt fahren müsste?

Außer diesen beiden Tieren lebe noch eine Schlange auf der Insel. »Sie ist grau«, sagt Bernd, mehr wisse er nicht über sie, auch nicht, ob sie giftig sei. »Aber sehr schüchtern.« Habe ich schon erwähnt, dass ich Schlangen hasse – und gleichzeitig fasziniert bin, wenn sie auftauchen? Als Kind habe ich immer unter meinem Bett nachgeschaut, ob da auch keine Schlange ist. Hier würde ich also allabendlich den Bereich unter meiner Hängematte (und vielleicht auch darin?) inspizieren müssen, ob sich dort ein graues Reptil aufhält …

Bernd sieht nach dem Boot. Ich setze mich auf die Bank und frage, wo ich etwas zu trinken finde. Bernd ruft, ich solle in eine der Kisten neben der Gäste-Hängematte schauen, da sei Zitronenlimo drin. Mehr brauche er nicht als Limo und Wasser. Wasser nehme er aber nur zum Kochen.

Dann kommt er mit der zerstörten Schiffsschraube vorbei: »Das wird dauern, die zu ersetzen.« Ich frage höflich, ob ich helfen könne, und füge hinzu, dass ich leider keine Ahnung von Motoren und Booten, geschweige denn von Schiffsschrauben habe. Bernd hat sich das handwerkliche Wissen hier draußen mühsam antrainiert.

Eigentlich habe er schon immer weg von Deutschland gewollt, sagt Bernd, weit weg. Er findet, dass die Deutschen gar nicht wüssten, wie gut es ihnen gehe, und trotz all des Wohlstands immer im Stress seien. Sie begeben sich in ein Rattenrennen, das sie nach und nach kaputtmache. »Wir haben doch alles, Essen, Medizin und einen Raum zum Schlafen.« Ihm ging es auf die Nerven, dass die ganz Schlauen plötzlich vegan leben wollten. »Das sind doch Luxusdiskussionen, die wir uns nur erlauben können, weil es woanders auf der Welt diesen Luxus nicht gibt.«

In den letzten Jahren in Deutschland hat Bernd vor allem bei Start-ups in Karlsruhe und Hamburg gearbeitet. Er entwickelte Spiele für Mobiltelefone, in denen man Welten erschaffen, gegen fremde Mächte Kriege gewinnen, mit Zaubersprüchen den Drachen besiegen kann. Dann kam er nach Berlin und wurde Talent-Betreuer für YouTube, kümmerte sich um die Menschen, die einen eigenen Videokanal haben und dafür bezahlt werden, sich vor der Kamera zu schminken oder Einkaufstipps zu geben. Weil das Hauptquartier von YouTube in San Francisco sitzt, arbeitete er oft abends und nachts. Dadurch traf er immer seltener Freunde, da das Kino-Kneipen-Leben nun mal meist zu diesen Zeiten stattfindet. Man kann fast sagen, er lebte schon damals auf einer Insel, nur eben im Stadtteil Lichtenberg in Berlin. Für ihn war klar, dass er das nicht lange mitmachen wollte, das halbe Leben im Büro, dann nach Hause und die restliche Zeit mit Computerspielen verbringen. Seine Arbeitsenergie immer wieder aufladen, nur damit jemand anderes, der einmal eine gute Idee hatte, noch reicher wird. Bernd wollte selbst eine gute Idee haben.

Im Jahr 2017 nahm er sich eine Auszeit. Er wollte das Abenteuer nicht mehr am Bildschirm erleben, sondern am eigenen Körper, und machte sich auf die Reise.

Unterwegs entdeckte er immer wieder Orte, die ihn begeisterten, zum Beispiel kleine Inseln vor Kambodscha, auf denen US-Hippies ihren Lebensabend verbrachten. Und dann die Pulau Banyak in Indonesien, wo alles zu passen schien. Ein Brite erzählte Bernd, dass man hier einige Inseln mieten könne, für sehr wenig Geld. Er fand die Insel Maila, oval, mit einem kleinen Mischwald darauf und Palmen, die wie grüne Cocktail-Schirmchen herausragten. Bei einer Art Insel-Versammlung stellte Bernd sich den gewählten Vertretern von Pulau Banyak vor und musste darlegen, was er mit »seinen« Inseln vorhabe. Er überzeugte sie schließlich davon, dass sein »Ökotourismus« funktionieren könne. Das ungewöhnlichste Airbnb am Ende der Welt.

In dem ich jetzt zu Besuch bin. Inzwischen ist es dunkel geworden, wir sitzen auf der Bank, jeder ein Bier in der Hand, das ich mitgebracht habe, und Bernd erzählt, während er etwas genervt die Katzen von den Tellern mit den restlichen Nudeln wegschiebt, von seinen Problemen hier. »Weißt du, sie wollen einfach ständig Geld von mir, vor allem die Muslime. Sie leihen sich etwas, und wenn ich es zurückfordere, sind sie schlecht gelaunt. Wenn ich ihnen aber nichts leihe, beenden sie nicht selten beleidigt das Gespräch.« Einmal habe er mit seinem Boot das Boot eines Indonesiers berührt. Sie hätten sich die Stelle gemeinsam angeschaut, außer einer kleinen Schramme war nichts zu entdecken. »Trotzdem präsentierte mir der Mann ein paar Wochen später eine Rechnung über zweihundert Euro.« Dass das Boot auf dem Papier dazu noch einen anderen Namen hatte als das Boot, mit dem er kollidiert war, ließ der Mann nicht gelten. Es kam zum Streit, den Bernd nicht richtig führen konnte, weil er kaum Indonesisch spricht.

Ich bekomme den Eindruck, dass es für ihn mitunter unglaublich schwierig sein muss, hier zu überleben. Nur wenige Indonesier sprechen ein konversationssicheres Englisch. Und noch weniger verstehen es, wenn jemand aus dem Westen plötzlich kein Geld mehr hat. Außerdem ist es in diesem Land absolut ungewöhnlich, gern allein zu sein. Ich bin auf meinen Reisen häufig mitleidig gefragt worden, warum ich keine Freunde habe. Dass man manchmal das Auf-sich-gestellt-Sein genießt, dieser Gedanke existiert in Indonesien nicht. Wenn ich in Jakarta meinen Freunden erzähle, dass ich am nächsten Tag in den Zoo oder in eine Shopping Mall gehen wolle, sagt sofort jemand: »Ich komme mit, sonst bist du so allein.« Das könnte daher kommen, dass vor allem Java so dicht besiedelt ist. 170 Millionen Menschen leben allein auf dieser Insel. Ein Sprichwort lautet: »Wenn du auf Java etwas tust, dann schaut immer jemand zu.« Und das kann man fast wörtlich nehmen. Indonesier haben das in eine Tugend umgewandelt – sie begleiten einander im Alltag, wann immer es geht.

Bernd sucht auch eine Partnerin. Er hat schon verschiedene Frauen kennengelernt. »Sie waren immer sehr hübsch«, sagt er, »aber eben etwas jung, so Anfang 20, und sie konnten so gut wie nie Englisch.« Außerdem hatten die Gespräche mit den Vätern, die ihre Töchter vorführten, eine seltsame Stimmung. Sie redeten vom Brautpreis, und es klang für Bernd immer nach einem Kauf. Er würde lieber jemanden in seinem Alter treffen, mit dem er abends eine Serie auf seinem Mobiltelefon anschauen kann. Das tut er gern. Als er einmal in Medan war, blieb er extra etwas länger, um die letzte Folge Game of Thrones noch auf einem großen Bildschirm im Hotel sehen zu können. Damals hatten sie erste Hütten auf seiner Insel gebaut. Als er nach Maila zurückkam, war ein Teil dieser Hütten abgebrannt, Bernd hat sie nicht wieder aufgebaut. »Ich weiß bis heute nicht, wer es war, vielleicht einige Fischer von den umliegenden Inseln.« Die seien oft sehr reserviert, wenn er sie treffe.

Mehr und mehr kommt heraus, wie dieses ideale Leben auf der Insel auch seine Tücken hat. Klar, es gebe Tage, da mache er nichts, weil es in Strömen regnet. Er liege dann unter einer Plane in der Hängematte und spiele auf dem Laptop Baldur’s Gate oder World of Warcraft. Aber wenn die Sonne so scheint wie heute, dann baue er aus einer Fernsehröhre eine Lampe oder schnitze ein Muster in eine Bank. Es gebe immer etwas zu tun auf der Insel. Auch manche seiner Besucher haben etwas Selbstgebautes hinterlassen, wie einen Stuhl oder eine Halterung für die Klobürste in einem Busch. Ja, eine Toilette hat er im Westflügel der Insel auch installiert, ein klassisches indonesisches Hockklo.

Gegen zehn Uhr abends legt Bernd Technomusik auf. Über den Tag hat eine Solaranlage den Generator mit Strom versorgt. Der reicht bei gutem Wetter für die ganze Nacht. Wir sitzen im Schein einer kleinen Lampe, die im Baum hängt. Es riecht süßlich, Bernd hat sich einen Joint angezündet. Er weiß, dass Kiffen im Land verboten ist. Aber das hier ist seine Insel, was soll schon passieren. Er bekommt es über eine Quelle auf dem Festland. »Sie nennen es Medizin, damit es keiner merkt.« Mir geht durch den Kopf, dass obat nicht nur Medizin, sondern auch einfach Drogen bedeutet. Die Feinheiten der Sprache kennt Bernd ganz offensichtlich noch nicht.

Er sagt, dass er manchmal tagelang niemanden sehe. Dann spreche er mit Angela und Wladimir. »Am liebsten wäre es mir, die Menschen würden denken, das hier sei eine Geisterinsel.« Er, der einzige Geist auf dieser Insel, das sei doch eine schöne Vorstellung. Die Technomusik erinnere ihn an die Zeit in den Clubs in Berlin-Friedrichshain. »Schön war es da.« Aber hier sei es noch besser. »In Europa war mir immer langweilig«, sagt er, »hier ist es das nie.«

Wir schweigen eine Weile, und es ist vollkommen still. Schließlich frage ich, was jetzt mit dem Motor sei. Bernd sagt: »Vergiss den Motor, geh zum Strand und schau nach oben.« Es sind nur drei Meter, aber wenn man erst einmal angefangen hat, auf einer kleinen Insel weit draußen im Meer in den Sternenhimmel zu schauen, will man ganz lange nichts anderes mehr tun.

Kapitel 2

Der letzte Missionar

Nias

Größe: 4700 km²

Einwohner: 640.000

Danke: saohagolo (gesprochen: sawa-gölö)

D as Bier schmeckt schal. Ich habe nur einen Höflichkeitsschluck getrunken und die 1-Liter-Flasche dann dem Mann auf dem Boot zurückgegeben. Es ist immerhin erst elf Uhr morgens, an einem Sonntag. Die fünf Männer sind gekommen, um mit Bernd zu feiern. Sie stammen ursprünglich von der Insel Nias, die etwas weiter südlich liegt. Dort seien alle Christen, und am Sonntag tränken sie immer ein Bier, sagt der Mann. Er nimmt einen letzten Schluck und wirft die Flasche ins flache Wasser, wo sie noch etwas hin und her schaukelt.

Bernd und ich schauen uns an. Aber wir sagen nichts. Es wundert mich, dass das Umweltbewusstsein der Indonesier in den vergangenen Jahren so wenige Fortschritte gemacht hat. Dabei merken doch schon jetzt alle Inselbewohner, welche Auswirkungen ihr jahrzehntelanger Umgang mit dem Müll hat. Viele Strände müssen fast täglich gesäubert werden, Taucher finden auf dem Meeresboden Müll von den 1960er-Jahren bis heute, und der Ruf der Hauptstadt Jakarta als »im Müll erstickend« hat sich weltweit herumgesprochen.

Doch diese fünf Indonesier würdigen die wegschwimmende Flasche keines Blickes. Sie kümmern sich um Bernds Motorschraube. Nach einer Stunde ist diese tatsächlich repariert, und Bernd kann mich am frühen Nachmittag zurück auf die Insel Sikandang bringen. Der Motor ist nach wie vor so laut, dass wir nicht reden können. Ich überlege für einen Moment, wie gut es sich anfühlen muss, inmitten dieses freundlich glitzernden Wassers einen Ort zu haben, an dem man sein eigenes Reich aufbauen kann. Bernd zeigt auf eine Regenwolke am Horizont und wiegt den Kopf hin und her. Er wird wohl nicht länger auf der Insel Sikandang bleiben können.

Als wir den Strand von Sikandang erreichen, sehe ich von Weitem mehrere Menschen, die ihr Mobiltelefon in die Höhe halten. Im Gegensatz zu Bernds Insel Maila ist diese Insel ein fast vollständiges Funkloch. Elvis, den wir bei der Ankunft treffen, sagt uns aber: »Wenn ihr dort an die Spitze des Strandes geht, könnt ihr sogar per Video telefonieren.«

Für mich ist das wichtig, weil ich vor meiner Abreise mit meiner dreijährigen Tochter etwas verabredet habe: Einmal in der Woche, jeden Samstag um elf Uhr, rufe ich sie an. Die erste Videokonferenz mit ihr funktioniert perfekt. Ich stehe am Ufer, hinter mir Palmen, um mich herum nur Strand. »So wie diese Insel hier gibt es in Indonesien gaaaanz viele«, sage ich. Dann zeige ich ihr Bernd, den Inselbewohner, und sein kleines Boot, aber nichts davon beeindruckt sie. Viel lieber möchte sie mir vom Kindergarten erzählen, wo sie gerade ein neues Lied gelernt haben. Ich merke schon jetzt, dass genau diese Anrufe mir helfen werden, nicht zu vergessen, dass sich die Welt zu Hause auch und vor allem ganz anders weiterdreht.

Die jungen Menschen, die sich mit mir das schwache Signal hier am Strand teilen, stellen sich als Tschechen heraus. Sie arbeiten bei einer NGO auf Sikandang, die mit fast zwanzig Freiwilligen hier ständig vor Ort ist, und bleiben jeweils für mindestens zwei Monate. Jeden Morgen schwärmen sie auf die umliegenden Inseln aus und sammeln Müll. Der zwanzigjährige Zwei-Meter-Mann, mit dem ich rede, stammt aus Brno und lebt seit zwei Monaten hier. Er wolle nächstes Jahr wiederkommen. Ihm gefalle diese Einsamkeit, und als er hört, dass sich unweit von hier ein Deutscher eine ganze Insel gemietet hat, bekommt auch er diesen verträumten Blick – wie jeder, dem ich davon erzähle.

Als wir am Abend in einer größeren Gruppe zusammensitzen, reden wir über die vielen Inseln, die wir kennen, reale und fiktive: die Schatzinsel, die Inseln von The Beach und Robinson Crusoe oder Skull Island, wo King Kong wütet. Elvis, in dessen Ferienhütte ich wieder übernachte, sagt, letztlich wolle auch er immer auf »seiner« Insel sein. Sikandang sei aber klein, und nicht immer seien alle Hütten wie jetzt ausgebucht. Er sei oft allein.

»Das dachte ich mir«, sagt Nina, die Französin, die auch noch auf der Insel ist, mit rollenden Augen ganz leise, sodass nur ich es hören kann. Und mir fällt wieder ein, wie sie mir erzählt hat, dass Elvis ein paarmal zu häufig seine Hand auf ihren Oberschenkel oder ihren Arm gelegt hat. Das war ihr unangenehm, auch deswegen möchte sie so bald wie möglich abreisen.

Elvis erzählt uns dann noch, dass er bereits im Gefängnis war. Er hatte Marihuana hinter seinem Haus angebaut, nur zwei Pflanzen – aber genug, um über ein Jahr hinter Gittern zu landen. Ich mag ihn trotzdem, seine leicht verschrobene Art, seine von Salzwasser und Alkohol gegerbte Haut und seine fast schon aufdringliche Art, die wahrscheinlich von der Einsamkeit herrührt. Aber weil Indonesien generell als sicheres Reiseland für allein reisende Frauen gilt, macht er mir auch bewusst, dass solche Frauen schnell ihre Grenzen aufzeigen müssen.

Ich mache mir kurz Sorgen um Bernd, denke an sein Gras, das er auf der Insel hat, aber da ruft auch schon jemand zum Abendessen: Fisch mit Reisnudeln und Gemüse. Später schlendern Freunde von Elvis vorbei. Sie haben Tuak dabei, den lokalen Schnaps aus dem Saft der Palmen. Gemischt mit Sprite ertrage man auch das, hat Bernd gesagt. Tuak ist hochprozentig, meist über 40 Prozent. Indonesier zünden gern einen Tropfen an, auf dem Tisch, und feiern dann den Moment, in dem die Flamme hochschlägt. Es wird ein langer Abend, an dem ich einige weitere nette Leute kennenlerne: zum einen die Niederländerin Ghazal und ihren Freund Fauzi, die mehrere Jahre gespart haben, um sich diese Reise leisten zu können. Seit vier Monaten sind sie unterwegs. Ein Ende ist vorerst nicht in Sicht. Wenn das Geld knapp werden sollte, wollen sie weiter nach Australien reisen und dort auf Farmen arbeiten. Auch mit Nina rede ich an diesem Abend lange. Sie wohnt eigentlich in Kuala Lumpur und gibt dort Tanzunterricht, aber sie fühlt, dass es nach zwei Jahren Zeit ist, heimzukehren nach Lyon. Vorher will sie zusammen mit Ghazal und Fauzi noch ein paar neue Inseln erkunden.

Nina kannte niemanden, als sie nach Indonesien kam. Und genau wie es ihr damals erging, ergeht es mir heute: Ich habe auf dieser Inselgruppe auf einen Schlag gleich mehrere neue Freunde gewonnen. Da ich keinen fixen Plan habe, außer auf irgendeinem Weg von hier Richtung Norden, an die Spitze von Aceh auf Sumatra zu reisen, horche ich auf, als die drei von der Insel Nias sprechen. Südlich gelegen, ein bisschen größer als Mallorca, bis vor hundert Jahren noch von Kopfjägern besiedelt, dann von deutschen Missionaren zum Christentum bekehrt. Sie fragen, ob ich mitwill, und ich bin sofort dabei. Elvis sagt, es gäbe schon am kommenden Tag eine Fähre dorthin. Wir müssten morgen früh zurück nach Singkil und könnten von dort mit dem Nachtschiff nach Gunungsitoli auf Nias.

Ghazal und Fauzi haben schon mehrere solcher Fahrten hinter sich, und ihnen graut davor. Mir fällt auf, dass ich schon seit einer Ewigkeit kein solches Schiff mehr genutzt habe. Als ich dann vor der Fähre stehe, kommen die Erinnerungen zurück. Ich war gerade zwanzig geworden und hatte ein Jahr Indonesischkurs hinter mir. Erich-Dieter Krause war mein Lehrer, er hat das Langenscheidt-Sprachlehrbuch geschrieben und war eine Institution in diesem Fach. Der Kurs in Leipzig war klein, zu fünft saßen wir zweimal in der Woche zusammen, und gleich in der ersten Stunde erklärte uns Herr Krause, dass Indonesisch nur ein Fünftel des deutschen Wortschatzes habe. Viele Worte werden zusammengesetzt: mata (das Auge) und hari (der Tag) ergeben »das Auge des Tages« – matahari gleich »die Sonne«.

Ich wusste damals wenig über Indonesien, nur dass es weit weg ist und aus Inseln besteht.

Im Sommer 1999 flogen wir zu dritt nach Bali und reisten mit genau dieser Art von Schiffen weiter über Lombok und Sumbawa bis nach Flores. Diese großen schwimmenden Metallbunker funktionierten im Grunde immer gleich: Nach unten kamen die Autos und Schwertransporter, die Bananenstauden und Melonenberge, im stickigen Zwischendeck waren auf meterlangen Liegen die Familien untergebracht, und oben an Deck saßen meist Männergruppen, rauchten und spielten Karten. Westliche Reisende wie wir hielten sich auch häufig an Deck auf, auch wenn da meist viel zu laut indonesischer Pop gespielt wurde und einem der Zigarettenqualm mit Nelkengeruch ins Gesicht wehte.

Offenbar hat sich seitdem nur wenig geändert, denn auch dieses Mal gehen wir vier zielstrebig an den Bananenstauden vorbei auf das Oberdeck und suchen uns einen Platz. Die Fahrt soll bis zum nächsten Morgen dauern, und wir richten uns eine Ecke des Schiffes so ein, dass wir dort schlafen können. Ghazal hängt ihre Hängematte zwischen zwei Metallsäulen und teilt sich mit Nina den Platz. Wir schauen uns den Sonnenuntergang an, und als es dunkel wird, ziehen wir uns auf unsere Schlafstätte auf dem Boden neben der Hängematte zurück. Es ist eine unruhige Überfahrt, das Schiff schaukelt zum Teil stark, zum Zigarettenrauch gesellt sich ein seltsamer Geruch aus einem der großen Rohre, das neben der Hängematte aus dem Boden ragt – zum Schlafen kommen wir so nicht, es ist eher ein Dösen.

Etwas gerädert erreichen wir die Insel Nias. Wir setzen uns in ein kleines Café an der Hauptstraße, um uns anschließend eine Unterkunft für die Nacht zu suchen. Keiner meiner Reisegefährten zweifelt daran, dass uns das innerhalb von Minuten gelingen wird. Und sie liegen richtig, ein paar Hundert Meter die Straße hinunter werden Fauzi und ich fündig. Ein Homestay, also eine Privatunterkunft, mit dem Namen »Wonderful Nias« hat zwei Zimmer für umgerechnet jeweils zehn Euro frei. Die Zimmer sind sauber, und wir dürfen den Fernseher im Wohnzimmer des Paares mitnutzen. Die Unterkunft wird von Hemin und ihrem Mann geleitet, die auch alles über die Insel zu wissen scheinen. Hemin selbst stammt aus Medan und hat sich hier mit ihrem einheimischen Mann ein Zuhause geschaffen. Als wir einziehen, werden wir von ihrer Hündin begrüßt, die nur deshalb so lautstark bellt, weil sie ihre vier kleinen Welpen beschützen muss.

Nachdem jeder von uns seinen Lieblingswelpen gewählt hat, erkunden wir die Umgebung um die Hauptstraße herum. Ich laufe allein in Richtung des Museums, das auf der Karte angezeigt wird: Museum Pusaka Nias – »Das Museum des Erbes von Nias«. Meine Reisegefährten haben schon genug indonesische Museen gesehen und wenig Interesse an weiteren staubigen Statuen. Dabei hat der Ort erstaunliche Bewertungen im Internet, unter anderem fällt der Satz: »Es ist das einzige Museum in Indonesien, das seinen Namen verdient.« Das wundert und reizt mich. Denn Indonesien ist wahrlich nicht für gut geführte Museen berühmt. Ich habe meine Magisterarbeit über indonesische Museen geschrieben und dafür einst vierzehn Museen auf Java und Bali besucht. Außerdem habe ich sechs Wochen ein Praktikum im größten Museum des Landes absolviert. Das Museum Nasional ist das vielleicht wichtigste Museum Indonesiens, aber trotz mehrerer Renovierungen ein eher trostloser Ort inmitten der tosenden Hauptstadt Jakarta. Nur vereinzelt verirren sich Touristen in das auch bei Tag dunkle Gebäude.

Als ich das Museum Pusaka Nias betrete, merke ich sofort, dass hier Ordnung geschaffen und vor allem gehalten wurde. Die Statuen sind nicht verstaubt, die Erklärungen zweisprachig und ausführlich, außerdem hat jeder Raum einen eindeutigen Schwerpunkt wie »Religiöse Objekte« oder »Dinge des täglichen Bedarfs«. Auch die Geschichte der Kolonisierung und Missionierung dieser Insel ist bis ins Detail dokumentiert.

Als ich die Ticketverkäuferin auf Indonesisch anspreche, dass ich sehr erstaunt sei, antwortet sie in fließendem Englisch: »Ja, das sagen viele. Dieses Museum ist besonders, aber es wurde auch nicht von einem Indonesier eingerichtet, sondern von einem Deutschen. Oh, da vorn ist er!«

So treffe ich Pater Johannes. Der 79 Jahre alte Kapuzinermönch läuft gerade quer über den Hof, vorbei an einem Denkmal für das große Erdbeben vom März 2005, bei dem fast tausend Menschen auf Nias starben. Das Denkmal besteht aus einem mehrere Meter hohen Gewirr von Draht – und dem kleinen, verbogenen Fahrrad eines Mädchens. Die elfjährige Theresia hat die Katastrophe nicht überlebt.

Der Pater erinnert sich, dass dieses Erdbeben vielen auf der Insel wie ein Weltuntergang vorkam. »Die Einheimischen dachten damals, dass die Insel komplett im Meer verschwinden wird«, erzählt er. »Ich bin damals mit einem Schild zum Hafen gegangen, auf das ich in der Sprache der Nias geschrieben hatte: Die Insel geht nicht unter, geht nach Hause und glaubt an Gott und nicht an Gerüchte!« Er hat das Schild für den Fall aufgehoben, dass er es noch einmal brauchen sollte. Denn er wird hier nicht mehr weggehen. »Ich bleibe hier, bis ich sterbe.« Nach Deutschland fährt er nur noch alle drei Jahre, um seine Freunde und seine Familie zu treffen. »Und ich schaue im Hofbräuhaus in München vorbei, weil die uns auch regelmäßig eine Summe spenden.«